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5.

Die Sommerferien waren gekommen. In hellen Scharen verließen die Schulkinder und das Lehrpersonal, verließ Alt und Jung, Groß und Klein, die Städte und suchte ein grünes Plätzchen im Freien auf; in Waldesnähe, auf dem Lande, in den Bergen und an der See. Vera Teuerkauf war mit einer Ferienkolonie an die Ostsee geschickt worden, Grete Taurig war zu Verwandten gereist, die in Schlesien ein Gut besaßen. Sophie Weinrich weilte im Harz, wo ein Onkel von ihr an einem schönen Fleckchen eine Fremdenpension eröffnet hatte und das gewandte Nichtchen zur Hilfe gut brauchen konnte.

Im Hause in der Schivelbeinerstraße war es still geworden, keine lärmende Kinderschar tobte mehr auf dem Hofe herum. Meister Fleck arbeitete bei offenem Fenster und freute sich an dem blühenden Beete seiner Wohnung gegenüber, wo Roselore schöne Geranien gepflanzt hatte, die herrlich gediehen. Im vierten Stock malte Edith Winter wie immer fleißig an ihren Blumenbildern, zu denen ihr Roselore unermüdlich die herrlichsten Modelle herbeitrug. Aber Ediths Wangen wurden dabei immer blasser und ihre Augen immer größer und leuchtender.

»Sie hat die Auszehrung!« sagte Frau Genovev' mitleidig. Roselore wußte es besser: die Sehnsucht war es, die an dem blonden Mädchen zehrte, die Sehnsucht nach der freien, grünen Natur da draußen, vielleicht nach hohen Bergen, wo Edelweiß blühte und Enzian, oder auch nach dunklen, unbekannten Wäldern, fern fern von hier, wo keines Menschen Fuß hingekommen war und wo die Conchita wuchs und blühte in den herrlichsten Exemplaren.

Ach, die Wunderblume von Übersee! Sie war für Roselore ein rechtes Sorgenkind. Manchmal schien es, als wolle sie nicht weiterleben, und ein anderes Mal konnte man fast erschrecken vor der wilden, ungezähmten Lebenslust, die ihr Wachstum emportrieb. Die Stauden hatten jetzt schon beinahe den oberen Rand des Balkongitters erreicht. –

Frau Stelling war mit Taddy und Pitt zur Großmutter gefahren. Tante Loni, die Lehrerin, hatte eine Wanderung durch das Riesengebirge unternommen. Roselore verrichtete ihr Amt als Hausmütterchen getreulich. Nur eines war ihr nicht recht und nicht angenehm dabei: Überall, wo sie sich sehen ließ, fragte man nach dem schwarzen Pitt.

Eines Tages war Pitt mit Taddy spazierengegangen, und der Weg führte sie an einem Feldrain entlang, wo Gänse weideten. Eng aneinander gedrückt, wollten die beiden vorüberschleichen, denn sowohl für Taddy wie für Pitt waren diese Vögel ein fremder und ungewohnter Anblick. Aber kaum hatte sie eines der Tiere erblickt, als es mit gespreizten Flügeln auf Pitt losging. Die übrige Schar folgte dem Beispiel der Anführerin, und so tat der unglückliche Pitt sein Bestes, was er konnte, und wandte sich zur Flucht. An dem laut heulenden Taddy vorbei schoß die wütende Gänseschar, bis er einige wohlgezielte Schnabelhiebe in seine nackten, schwarzen Beine davongetragen hatte. Dann kehrten sie, laut schnatternd, zu ihrem Weideplatze zurück.

»Weiße Vögel sein schwarze Teufel!« klagte Pitt, als ihm Frau Stelling mitleidig und tröstend seine Wunden verband.

»Wir werden zur Strafe nächstens eine von den Gänsen schlachten!« versuchte sie ihn zu beschwichtigen.

Da rollte Pitt seine großen Augen wild und voll Entsetzen.

»Schlachten! Aber nicht ich, Mammy, nein, nein … ich haben große Angst vor solche Tiere!«

»Nun, das brauchst du ja auch nicht. Das Schlachten wird Grand-Mammy schon selber besorgen. Aber mitessen wirst du dann sicher, denn ihr Fleisch schmeckt sehr schön.«

»Nein, nein, ich nicht essen solche weiße böse Tiere …« wehrte sich Pitt. »Wie heißen sie, Mammy?«

»Gänse nennt man sie, und ein einzelnes Tier heißt eine Gans. Es sind Vögel.«

»Keine richtigen Vögel sind das, Mammy, denn sie nicht können fliegen. Oh, eine Gans mit ihre zwei Beine kann schneller laufen als ein Elefant im Urwald mit vier Beine!«

Roselore wollte sich totlachen, als die dieses Erlebnis bei dem sonntäglichen Besuche in Biesenthal erfuhr. Dreimal wurde es ihr berichtet: zuerst von Taddy, dann von Pitt, und zuletzt von ihrer Mutter. Und zum ersten Male fühlte sie Dankbarkeit gegen Pitt, weil er den Gänsebraten nicht anrührte und ihr die Mutter deshalb ein Stückchen mehr davon auf den Teller legte. –

Oh, diese sonntäglichen Fahrten zur Großmutter waren herrlich! Dann stand jedesmal Liesel Wandler auf dem Bahnhof, winkte schon von weitem der Freundin entgegen, und sie gingen Arm in Arm durch die ländlichen Straßen, ganz so wie einst, und hatten einander viel, unendlich viel zu erzählen.

An einem solchen Sonntage war Pitt plötzlich verschwunden. Man rief nach ihm, suchte ihn überall. Endlich fand man ihn am Ufer des Flusses sitzend, die Füße im Wasser.

»Was tust du denn da?« rief ihm Roselore ärgerlich zu, denn sie hatte schon eine halbe Stunde lang vergeblich nach ihm ausgeschaut.

Pitt grinste sie vergnügt an.

»Ich was zu essen für Abend fange,« sagte er.

»Was meinst du denn, Pitt? Komm doch!«

Pitt zog seine Füße aus dem Wasser. Da hing an jeder seiner großen Zehen ein Krebs.

Roselore schrie auf. »Um Himmels willen, Pitt, das muß ja unendlich weh tun!«

Er löste mit voller Seelenruhe die Krebse von seinen Füßen, schob sie in ein Netz, in dem es schon lustig von solchen Tieren kribbelte und zappelte, und sagte, den Blick zu Roselore hebend:

»Mammy wird freuen über billiges Essen. Hab nix Geld gebraucht.«

Und er humpelte summend hinter Roselore her.

Sie mußte lächeln, ein wenig zärtliche Rührung regte sich in ihrem Herzen. »Wie ein treuer Hund hat er mich angeschaut,« dachte sie. »Ja, er ist ein guter Kerl!« –

Daheim ging es wie am Schnürchen. Wenn morgens der Vater gefrühstückt hatte und abgedampft war, brachte Roselore die Zimmer in Ordnung, besorgte ihre Blumen, machte die kleinen täglichen Einkäufe und ging dann zu Edith Winter, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Dabei plauderten sie, und Roselore lernte von Edith viel Neues. Edith hatte eine gute Schule besucht und war eine fleißige Schülerin gewesen. So vertiefte sich in Roselore das, was sie bereits gelernt hatte, und das Neue, was sie von Edith hörte, bereitete sie für späteres Lernen vor. Am häufigsten sprachen sie von der weiten Welt, von fremden Ländern, schönen Gegenden. Edith wäre gar zu gern einmal nach dem Süden gereist. Aber woher sollten ihr die Mittel dazu beschert werden?

»Sie müßten ein Stipendium erhalten,« meinte Roselore. »Aber wie kommt man dazu? Ich weiß nicht Bescheid.«

»Ich höre zu gern von Übersee erzählen,« setzte sie dann wie in Gedanken hinzu. »Wenn mein Vater noch einmal hinüber muß, will er mich mitnehmen, und Mammy kann dann zu Hause bleiben.«

»Ja, ach ja,« mischte sich Frau Winter seufzend ein. »Wäre ich damals zu meinem Onkel gezogen, als er mich aufforderte, dann ständen wir jetzt wohl besser da als heute.«

»Sie haben nichts wieder von Ihren Verwandten gehört?« fragte Roselore.

»Kein Wort. – Man scheint mich vergessen zu haben, und ich weiß den jetzigen Aufenthalt gar nicht. Denn sie werden den Wohnort gewiß inzwischen gewechselt haben, auch da drüben gab es unruhige Zeiten, die alles in Bewegung setzten. – Vielleicht sind sie auch längst tot.« –

»Erzähle mir noch einmal von der toten Stadt, der ›Città morta‹,« bat Roselore ihren Vater, als sie abends beisammen waren. Sie hatten einen kleinen Spaziergang gemacht, Roselore war dem Vater entgegengegangen, und sie hatten den Weg in den Park eingeschlagen, hoffend, hier unter den grünen Bäumen Erquickung und frischere Luft zu finden. Denn es war wieder ein überaus heißer und schwüler Tag.

»Was soll ich dir noch davon erzählen!« sagte der Vater. »Du hast es ja schon so oft gehört. Vielleicht finden Forscher dort unter den Trümmern noch interessante Dinge, dann werden die Zeitungen darüber berichten, und du kannst es lesen.«

Roselore hatte bis jetzt noch nicht viel Begehr nach Zeitunglesen verspürt. Jetzt aber blickte sie den Vater neugierig an.

»Steht denn so etwas auch in der Zeitung? Ich wußte es noch gar nicht,« fragte sie.

»Es kommt alles hinein, was die Menschheit interessiert,« entgegnete Herr Stelling lässig.

»Auch das von der ›toten Stadt‹?«

»Nun, in der amerikanischen Zeitung, die ich seit meiner Rückkehr von drüben hierher nachgeschickt bekomme, wird eine Kunde darüber sicher zu finden sein.«

»Dann werde ich einmal gut aufpassen, Papa, und deine amerikanische Zeitung lesen!« sagte Roselore erfreut.

»Ja, tu' das nur, mein Kind.«

Sie wanderten heim. Müde und schläfrig gingen sie in der mit Dünsten gefüllten Stadtluft dahin, und das Mädel dachte sehnsüchtig an das hübsche Häuschen der Großmutter in Biesenthal, das mitten in den Wiesen und Feldern lag und von den Winden umstrichen wurde. Das war im Sommer ganz herrlich. Im Winter freilich, wenn alles verschneit und vereist dalag und der kalte Wind um das Haus pfiff, war es minder behaglich dort.

In der Nacht vermochte Roselore keinen festen Schlaf zu finden. Unruhig warf sie sich von einer Seite auf die andere, so daß das Ruhebett, auf dem sie lag, in allen Fugen bebte. Sie meinte zuweilen einen feinen, wundersamen Duft zu verspüren, ganz ähnlich dem Heliotrop, und doch viel zarter. Und wie komisch das war: immer hatte sie das Gefühl, als wenn jemand sie anblicke, als wenn von irgendwoher ein Auge auf sie gerichtet sei.

Aber sie war zu träge, um aufzustehen und nach der Ursache von alledem zu forschen. Als dann der Morgen dämmerte, schlief sie endlich fest ein.

Sie schreckte aus ihrem Schlummer erst auf, als der Vater Lärm schlug und zur Küchentür hineinrief:

»Holla, kleine Haustochter, wo bleibt heute unser Morgenkaffee mit den frischen Semmeln? Es ist schon acht Uhr!«

Acht Uhr! Roselore sprang auf die Füße. Zu dieser Zeit begann sonst die Schule. Na, da hatte sie es aber gründlich verschlafen.

»Entschuldige, Papa,« rief sie zurück. »Jetzt soll es aber mit affenartiger Geschwindigkeit vor sich gehen!«

»Na, dann mach' rasch, Kind!« rief er zurück. »Ich werde unterdessen meine Zeitung lesen.«

Roselore kleidete sich blitzschnell an, Strümpfe und Schuhe ließ sie vorerst beiseite, da sie sich erinnerte, in dem rechten Strumpfe gestern ein Löchlein bemerkt zu haben. Das mußte nachher sogleich gestopft werden. Sie zündete das Gas an, setzte Wasser auf, tat Kaffee in die Mühle und wollte sich eben niederhocken, um die Kaffeebohnen zu mahlen …, da fiel ihr Blick durch den offenen Spalt der Balkontür hinaus und begegnete … ja, was war denn das? – Zwischen den grünen, fleischigen Blättern der Conchita lugte ja ein Menschenauge hervor! Ein richtiges Menschenauge!

Die Kaffeemühle in der einen Hand, mit der anderen sich an die Stirne fassend, eilte Roselore auf den Balkon hinaus.

Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Ihre Conchita blühte. Hell und weit geöffnet war der Kelch der Blume, die ihr von drinnen so unheimlich und seltsam erschienen war. Jetzt, bei genauerer Betrachtung, dünkte sie diese erste Blüte an dem Knollengewächs nicht fremdartiger wie jede andere Blume. Sie hatten ja alle einen eigentümlichen Zauber an sich, diese Kinder Floras: diese zarten, samtartigen Blütenblätter, der Kelch mit dem Geheimnis der Staubgefäße und Stempel, der zierliche, fadenzarte Stiel, auf dem eine Blüte sich in die Höhe hob. »Menschenauge« hatten die Eingeborenen die Blume genannt, oder Conchita – Sonnenschein. Bei einer Fernwirkung mochte diese Bezeichnung zutreffend erscheinen, denn die Form der Blüte war mandelartig wie der Schnitt des Menschenauges, die Blumenblätter von einem wunderschönen Rot, und der Kelch dunkel gefärbt. Auch schien ein zartes Leuchten von der Blume auszugehen. Roselore wußte schon seit langem, daß es phosphoreszierende Pflanzen gab, und sie wunderte sich daher über den leuchtenden Schimmer der Blume nicht allzusehr. Viel größer als ihr Staunen war ihre Freude.

Aber nun vernahm sie ein heftig klapperndes Geräusch in der Küche. Das Kaffeewasser kochte, und der Deckel sprang, durch den Dampfdruck getrieben, auf und nieder. Hurtig also den Kaffee gemahlen, damit der Vater seinen Morgentrank bekam.

In fünf Minuten war alles vollendet, der herzhafte Duft des Kaffees durchdrang die Wohnung und entlockte dem in der Stube harrenden Herrn Stelling ein lautes, behagliches »Ah!«

»Du wirst nachher noch einmal ›ah‹ sagen, wenn du erst sehen wirst, was sich über Nacht hier ereignet hat!« dachte Roselore frohlockend. Schnell entschlossen rückte sie ein Tischchen vor die Balkontüre, belegte es zierlich mit einem geblümten Deckchen, stellte hübsche Tassen hin, Brötchen, Butter und Milch, füllte den gebrühten Kaffee in die Kanne und trat dann ins Zimmer. Sie schob ihren Arm unter den des Vaters und sagte mit schelmischer Feierlichkeit:

»Ich lade dich ein, in Gesellschaft der Conchita heute den Kaffee einzunehmen, denn sie hat ihr Auge erschlossen.«

»Was?« Herr Stelling sprang wie elektrisiert auf. »Mädel, ist das wahr?«

»Überzeuge dich selbst, Papa, und stärke dich bei dem wundersamen Anblick dieser Blume ›Menschenauge‹ durch ein Schälchen duftenden Mokka.«

Mit ein paar langen Schritten war Herr Stelling an der Balkontür.

Und Roselore hatte recht geahnt; zum zweiten Male klang an diesem Morgen von seinen Lippen ein »Ah!«, aber dieses Mal noch viel freudiger als vorher.

»Es ist ein Wunder,« sagte er dann, die Finger ineinanderfügend. »Mädel, beherzige das wohl: Aus den dürren, trockenen Knollen sproßte neues Leben auf … hier im fremden Himmelsstriche, fern von der Heimat! Nur durch die Kraft … ja … was ist das für eine geheimnisvolle Kraft, die das kleine Küken aus dem Ei treibt und den Schmetterling aus der Verpuppung und diese wundersame Blüte aus der dürren Knolle! Das ist das Leben und Weben im All, Kind, jenes geheimnisvolle Fluidum, das wir nimmer begreifen, höchstens zu ahnen vermögen!«

Roselore war ganz erschrocken über die Erregung, in die ihr Vater geraten war. Noch niemals hatte er so seltene, tiefsinnige Worte zu ihr gesprochen. Das klang ganz so wie ein Vortrag in der Schule, wenn einmal etwas Besonderes los war. Aber ihr praktischer Sinn verankerte sich nicht in gänzlichem Staunen und schwärmerischer Bewunderung, sondern sie fragte nun schnell und auch ihrerseits erregt:

»Was soll ich nun tun, Papa, damit die schöne Blume nicht Schaden leidet? Soll sie in der Sonne stehen oder im Schatten? Muß ich sie reichlicher mit Wasser tränken, und darf ich überhaupt mit kaltem Wasser begießen? Papa, lieber Papa, ich möchte doch so gern, daß die Blume bleibt und nicht verwelkt!«

»Laß alles ganz so, wie du es bisher getan hast,« gab Herr Stelling zur Antwort. »Du siehst ja, daß unsere Wunderblume damit zufrieden war und dir ihre Dankbarkeit damit zu erkennen gibt, daß sie blühte. Aber von allzulanger Dauer wird ihre Pracht und Schönheit nicht sein. Alles, was geworden, ist der Vergänglichkeit unterworfen. Auch deine Conchita wird sterben müssen, wie jede Kreatur es muß.«

»Schade!« sagte Roselore bedauernd.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, in die Betrachtung der seltsamen Blume vertieft, die einen feinen, süßen Duft ausströmte. Dann sagte Roselore plötzlich:

»Ich werde Edith Winter bitten, die Conchita zu malen.«

»Willst du etwa den schweren Blumentopf vier Treppen hinauftragen und ebenso zurück?« neckte Herr Stelling. »Kind, du bist doch keine Athletin!«

»Edith muß eben zu uns kommen und die Blume hier malen,« entgegnete Roselore froh. »Pass' auf, Papa, das tut sie.«

»Ei, da bin ich doch neugierig darauf!« gab der Vater lachend zurück. –

Gar zu gern hätte Roselore nun alle ihre Freundinnen zusammengerufen und ihnen die seltene Blume gezeigt, aber sie waren ja allesamt unterwegs, in alle Winde zerstreut. Aber Frau Stelling kam am nächsten Tage, um sich die Blume anzusehen. Daß sie in der Hauptsache Besorgungen in die Stadt geführt hatten, verriet sie ihrem Mädel nicht. Und Roselore wiederum war zu Edith Winter herübergesprungen:

»Fräulein Edith, meine Blume blüht!«

Edith Winter war gerade eifrig an einem Kornblumenstrauß beschäftigt und sah gar nicht von ihrer Arbeit auf.

»Fräulein Edith, ich wollte Sie bitten, die Conchita zu malen!«

»Willst du sie denn vom Stocke abschneiden?« fragte die Malerin zurück.

»Aber, Fräulein Edith, wie können Sie das nur sagen! Dann würde die Conchita ja verwelken! Nein, Sie müssen zu mir heraufkommen, um die Blume zu malen!«

»Jetzt gleich?« fragte Edith Winter neckend.

»Na, sobald als möglich! Man weiß ja nicht, wie sie morgen aussehen wird. Papa hat gesagt, in den Tropen lebt alles viel schneller als bei uns im gemäßigten Klima. Solche Blumen wären oftmals nur das Märchen von einer Nacht.«

Jetzt wurde Edith interessiert, sie wandte den Kopf zu Roselore hin.

»Ist die Blume schön?« fragte sie.

»Wundervoll! Ein richtiges Märchenwunder ist sie, Fräulein Edith! Ihre Farben sind ein wundersames Rot in verschiedenen Tönungen. Ihr Kelch ist tiefblau und geheimnisvoll, und wenn es dunkel ist, strömt die Blume einen lichten Glanz aus.«

»Schön, liebe Roselore,« sagte Edith Winter. »Ich werde kommen, um deine Blume zu malen.«

»Wann?« fragte das Mädel erregt.

»Heute nachmittag.«

Roselore klatschte in die Hände, sie war ganz aufgeregt.

Sie eilte wieder in die Wohnung und verrichtete ihre Arbeiten, so schnell sie vermochte, um nur recht oft bei der Blume verweilen zu können. Diese entfaltete sich immer herrlicher. Ihre Farben wurden immer satter, die Form der Blütenblätter immer eigenartiger, und sie wuchs auch in die Breite. Jetzt erkannte man auch in der Nähe, daß sie einem Menschenauge ähnelte. Nur der Duft, der ihr entströmte, wurde in der Mittagshitze überstark, fast unerträglich, so daß Roselore die Balkontür schließen mußte.


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