Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII

Der verurteilte Bauunternehmer war nach Ablauf seiner Strafzeit aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hauste kümmerlich in einem kleinen Anbau seines früheren Eigentums, das unterdessen verkauft worden war, und verzehrte sich in vergeblichen Bemühungen um sein Recht. Mit Hilfe Meerengels und dank dem Eingreifen einer hohen Persönlichkeit der Kirche war es Zenobi gelungen, dem unglücklichen Mann eine untergeordnete Beschäftigung bei einem Architekten zu verschaffen, der staatliche Aufträge auszuführen hatte. Doch es hatte nicht den Anschein, daß es ihm zu einem ersprießlichen neuen Anfangen gedieh. Vor allem gab es Streit mit dem neuen Besitzer des Hauses, den der Entlassene als einen Räuber und frechen Eindringling in sein Eigentum bezeichnete und täglich mit Streit und Klagen belästigte. Zenobi sah den früh Gealterten oft, wie er vernachlässigt und gebeugt, unverständliche Worte vor sich murmelnd, durch die Straßen wankte, zuweilen stehenblieb und frühere Bekannte aufhielt, um ihnen den Fortgang seiner Angelegenheit zu erzählen. Die meisten hatten seinen Fall vergessen und wußten auf die wirren Reden kaum zu antworten, andere empfanden es als peinlich und ließen ihn stehen. Dann konnte es geschehen, daß er in Zorn geriet und den Davoneilenden Beschimpfungen nachschrie. Er kam auch ins Magersche Haus, um immer wieder von seinem Prozeß zu sprechen, und da es Zenobi nicht über sich brachte, dem geschlagenen Mann zu sagen, daß seine Bemühungen ohne Erfolg geblieben seien, mußte er neue sinnlose Vorschläge hinnehmen und sich anstellen, als nutze er sie, um die verlorene Sache weiter zu fördern. Schien es Zenobi zuweilen, als sei es ihm gelungen, den Mann bei einem Glas Wein heiterer zu stimmen und ihm zum neuen Beginnen Mut gemacht zu haben, so überzeugte er sich doch bald, daß jener in seiner Besessenheit verharrte. Mit der Zeit hatte der frühere Bauunternehmer die Gewohnheit angenommen, mit den Schutzleuten auf der Straße Händel zu suchen und in angetrunkenem Zustand zu randalieren. In der Vorstadt kannte ihn die Polizei und beachtete seine Reden nicht. Man ließ ihn laufen. Eines Tages aber erhielt Meerengel von dem Architekten, bei dem sie den Bauunternehmer untergebracht hatten, die Nachricht, daß dieser in einem entfernten Stadtteil sich ungehörig aufgeführt, auf dem Kommissariat die Beamten bedroht, Fenster eingeschlagen habe und in Haft genommen worden sei. Zenobi und Meerengel berieten, was zu tun sei.

»Das ist doch nicht zu ertragen«, rief Zenobi, »daß dieser Mensch für Monate oder länger wieder ins Gefängnis kommt! Jetzt werden sie ihn schon als Rückfälligen behandeln! Das wäre doch wahrhaftig der Triumph des Unrechts! ... Wir müssen ihn befreien.«

Meerengel war der gleichen Meinung: »Jetzt heißt es überlegen, an wen man sich da wendet«, begann er.

Doch Zenobi unterbrach ihn ungeduldig: »Das führt zu nichts! Wir selbst müssen es tun, und ohne Aufsehen!«

»Ja, aber wie?«

»Ich habe es! Und Sie sollen mir dabei helfen!« Er entwickelte seinen Plan. Meerengel stimmte zu und erklärte, es werde ihm eine Ehre sein, dabei mitzuwirken. Zenobi drängte, und sie machten sich unverzüglich an die Ausführung.

Sie begaben sich im Wagen nach dem ihnen von dem Architekten bezeichneten Polizeibüro und ließen sich zum Kommissar fuhren. Hier erfuhren sie, daß der Häftling nach der Polizeidirektion überführt worden war und von dort vielleicht schon weiter. Doch Zenobis ruhiges und imponierendes Auftreten bewirkte, daß sie genaue Angaben erhielten, an wen sie sich dort zu wenden hätten.

In dem düsteren und weitläufigen Gebäude wurden sie nach kurzem Warten zu einem älteren Beamten in Zivil geführt, der sich entgegenkommend nach ihren Wünschen erkundigte. Zenobi stellte sich als Professor Klinghofer, Leiter der Universitäts-Nervenklinik, vor, und Meerengel als seinen Assistenten Dr. Brunner. Sie wurden höflich gebeten, Platz zu nehmen.

Ein bedauerlicher Fall führe ihn hierher, begann Zenobi mit kaum zurückgehaltener Entrüstung. Infolge der Fahrlässigkeit des Personals sei ihm erst heute gemeldet worden, daß ein in seiner Behandlung befindlicher Patient unbeaufsichtigt die Klinik verlassen habe, und eben erfahre er, daß der Kranke in Haft genommen sei. Wie er höre, sei es dabei zu Unzuträglichkeiten gekommen ...

»Der Name?« –

»Ein Herr Steinwurz ... Adalbert mit Vornamen.«

»Böse Geschichte, Herr Professor«, sagte der Beamte, nachdem er einen Akt aus dem Regal genommen und eingesehen hatte. »Sachbeschädigung, Beamtenbeleidigung und Bedrohung, Widerstand ...«

»Ich bitte«, unterbrach Zenobi mit Autorität, »das interessiert uns gar nicht. Ich reklamiere einen Patienten, der in meiner Behandlung und unter meiner Aufsicht steht. Sein Zustand ist allerdings von solcher Art, daß er, in Aufregung versetzt, exzessiver Handlungen fähig ist, für die er aber nach dem Gesetz nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die Polizei hätte es mir melden sollen ...«

»Er hat nichts von der Klinik gesagt ... Nein. Es steht nichts drin, Herr Professor!« sagte der Beamte kopfschüttelnd.

»Bitte, Herr Doktor«, wandte sich Zenobi an Meerengel, »lesen Sie dem Herrn Oberkommissar die klinische Diagnose vor. Das wird ihn aufklären.«

Meerengel entnahm seiner Mappe, die er auf den Knien vor sich liegen hatte, ein Blatt und begann:

»Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Professor! ... Also: Es ist ein Fall von Paranoia im Anfangsstadium, die in der Form eines intermittierenden Verfolgungswahns auftritt. In solchen Momenten zeigt der Patient bei Widerspruch starke Neigung zur Aggression, die sich bis zur Tobsucht steigern kann ...«

»Das ist es«, bestätigte der Kommissar. »Er scheint ja nicht schlecht gewütet zu haben, nach dem Protokoll hier!«

»Fahren Sie fort«, sagte Zenobi, zu Meerengel gewandt.

»... Damit ist neben einiger Affektion der Bewegungsnerven zuweilen auch Amnesie verbunden ...«

»Gedächtnisschwund«, erläuterte Zenobi dazwischen.

»... besonders für kurz zurückhegende Ereignisse und Zustände, während länger Vergangenes leicht zur Reproduktion gebracht werden kann«, schloß Meerengel die Verlesung.

»Der Mann ist meines Erachtens in der Besserung begriffen«, vervollständigte Zenobi. »Sie können sich denken, welcher Gefährdung er durch die beständigen Erregungen der Haft ausgesetzt ist!«

»Ja, was machen wir da«, sagte der Beamte unschlüssig. Und nach einer Pause: »Wollen die Herren sich ein wenig gedulden, ich will mit dem Regierungsrat sprechen.«

Während sie warteten, wäre Meerengel fast aus seiner Rolle gefallen. Es wandelte ihn eine so heftige Lachlust an, daß bei dem Versuch, sie zu unterdrücken, sein ganzer Körper in Erschütterung geriet ... Da sprach Zenobi von seinem Platze aus, wo er in zwanglos würdevoller Haltung sitzengeblieben war, so wie ihn der Beamte verlassen hatte, die denkwürdigen Worte, welche Meerengel viel später mit tiefer Bewegung zu wiederholen pflegte, wenn er von Zenobi erzählte: »Ich muß sehr bitten, Herr Doktor! Lachen Sie nicht, wenn Sie im Dienst sind!«

Der Regierungsrat, zu dem der zurückgekehrte Beamte sie dann geleitete, war ein Mann von ausgezeichneten Formen, der Zenobi mit besonderer Zuvorkommenheit behandelte. Er eröffnete ihm, daß der Akt zum Glück noch nicht weitergeleitet worden sei, und nachdem auch er von dem Krankheitsbericht Kenntnis genommen, fuhr er fort:

»Auf Ihre dringlichen Vorstellungen hin, Herr Professor, kann ich also die Enthaftung anordnen. Ich würde es aber wegen aller möglichen Eventualitäten vorziehen, den Mann durch behördliche Organe an Ihre Klinik abzuliefern, und das könnte allerdings nicht vor morgen geschehen.«

»Das ist ausgeschlossen«, rief Zenobi abwehrend. »Bedenken Sie, Herr Regierungsrat, der Kranke ist jetzt bereits drei Tage in Haft. Die Pflichtvergessenheit des Personals fällt auf mich zurück. Wenn ich auch Ihre Gründe würdige, so bin ich vor allem Arzt ... Ich könnte auch den geringsten weiteren Aufschub nicht verantworten.«

Die in liebenswürdigster Form ausgetauschten Erklärungen zogen sich noch eine Weile hin, schließlich willigte der Regierungsrat ein.

»Wollen Sie ihn denn gleich mitnehmen?« fragte er.

»Dazu sind wir ja hergekommen«, erwiderte Zenobi einfach. »Mein Wagen wartet unten.«

»Sie machen Ihrem großen Ruf als Arzt und Mensch in gleicher Weise Ehre«, sagte der Regierungsrat mit einer Verbeugung und gab seine Weisungen. »Indessen mache ich Sie aufmerksam, Herr Professor, daß der Mann formaliter zunächst noch in Untersuchung bleibt. Wir werden sie natürlich aufheben, sobald wir Ihr ausführliches Gutachten haben. Solange aber bleiben Sie der Behörde für ihn verantwortlich. Eine Formalität nur, versteht sich ...«

»Ließe sich das nicht gleich erledigen?« fragte Zenobi hastig. »Herr Dr. Brunner wird so freundlich sein ...«

»O nein, Herr Professor«, unterbrach der Regierungsrat. »Machen Sie das nur in aller Ruhe in der Klinik ab und schicken Sie mir den Akt morgen ... Nur für dieses kurze Protokoll hier bitte ich um Ihre Unterschrift ... So – und nun möchte ich Sie nicht länger Ihren Patienten entziehen.«

Nach einer halben Stunde konnten sie in einem kahlen Wartezimmer den verwilderten und von seiner Befreiung völlig überraschten Bauunternehmer in Empfang nehmen und das Gebäude verlassen.

Am nächsten Tage schon schickte Meerengel den von einer neuen Verhaftung bedrohten und dadurch ernüchterten Mann mit einem Brief an den Verwalter auf das Gut seiner Großeltern. Diesen selbst schrieb er ausführlich, ohne jedoch die letzten Ereignisse zu erwähnen, und bat sie, sich des Unglücklichen anzunehmen, der durch ein an ihm begangenes Unrecht ruiniert worden sei.

Das hatte Erfolg. Der Bauunternehmer war dort zunächst in Sicherheit und fand sich fern seiner früheren Umgebung leidlich in eine neue Tätigkeit auf dem Lande. Bedenklicher aber war es um die Sicherheit seiner Befreier, besonders aber Zenobis bestellt, – Meerengel war während der ganzen Aktion kaum beachtet worden – als das erwartete Gutachten bei der Polizei nicht eintraf, dafür aber eine Anfrage in der Klinik bald aufdeckte, daß man einem kühnen Handstreich Unberufener beschämend erlegen war. Die Fahndung nach dem Bauunternehmer, dessen Vorgeschichte nun genauer erforscht wurde, schien jetzt Nebensache. Ihren ganzen Eifer aber setzte die Behörde in die Aufspürung des frechen, raffinierten Hochstaplers, der alte, gewiegte Polizeimänner so geschickt zu übertölpeln vermochte, und das in der Rolle einer stadtbekannten Persönlichkeit, mit der er nach der Beschreibung nicht die geringste Ähnlichkeit hatte! ... Professor Klinghofer selbst erzählte die Geschichte lachend überall herum. Sie kam dadurch, von allerhand Bemerkungen begleitet, ausführlich in die Zeitung und stachelte den Ehrgeiz der Polizei zur äußersten Anstrengung. Im ersten Ansturm stieß sie in Sackgassen vor. Es lag nahe, an irgendeinen der Polizei bekannten Spezialisten zu denken, der aus Rache oder aus reinem Übermut ihr einen Streich spielen wollte, denn die Person des Befreiten war bedeutungslos. Man forschte aber auch nach Übeltätern, die ihre Strafe in der gleichen Anstalt und zu gleicher Zeit mit dem Verhafteten verbüßt hatten. So griff man erfolglos herum, während jene, welche das Schicksal des Bauunternehmers kannten, bei dem plötzlich auch für ihn erweckten Interesse seine alte Angelegenheit wieder aufzunehmen Anlaß und auch den billigen Mut fanden, die kühne Befreiung öffentlich als gute Tat zu preisen. Dadurch wurde die Polizei auf eine andere Fährte gelenkt, und die Spuren wiesen nach dem Hause Mager. Als dann eines Tages ein etwas zu unauffälliger Herr erschien und mit der Miene eines jovial tuenden Verschwörers Fragen an Frau Mager richtete, deren Sinn zwar dunkel, deren Absicht aber nicht mißzuverstehen war, hielten Zenobi und Meerengel eine stille Beratung ab. Sie kamen überein, daß dem Hause vor allem jede Beunruhigung ferngehalten werden müßte. Deshalb war es geboten, daß einer nach dem anderen ohne Aufsehen verreiste.

Es war mitten im Sommer, und der Anlaß leicht gefunden, der sie beide auch für längere Zeit aus dem gefährlichen Umkreis der Nachforschungen entfernte. Zenobi begab sich als erster auf eine Ferienreise ins Gebirge, der, wie er ankündigte, noch eine Fahrt in Geschäften folgen sollte, und Meerengel verließ einige Tage später die Stadt, um seine Großeltern zu besuchen und dann eine Studienreise ins Ausland anzutreten. Auf dem Gute sollte er auch die Sicherheitsverhältnisse für den Bauunternehmer prüfen und nötigenfalls weiter für ihn sorgen.

*

Zenobi, der selten reiste und für den Reisen stets etwas Lockendes hatten, reiste diesmal in einem wohlbegründeten Inkognito und recht komfortabel. Seine Verhältnisse erlaubten ihm das, und die Tätigkeit in den feinen Modegeschäften hatte ihn in Hinsicht auf Garderobe, die schon stets Gegenstand seiner besonderen Sorgfalt war, fast an das Ziel seiner anspruchsvollen Wünsche gebracht. Er trug einen dunklen Flanellanzug, braune Schuhe, feingestreiftes Hemd, Foulard-Krawatte und braunen, weichen Filz. Er sah genau wie der feine ältere Herr auf Reisen aus und besaß auch alles, was dazu gehörte. In seinen Koffern lagen wohlverstaut Kleider und Sachen, die ein längerer Aufenthalt in den Bergen oder am Meer beanspruchen mochte, vom Bergsport und Tennis bis zur Abendunterhaltung im Kasino. Er saß bequem in seine Fensterecke zurückgelehnt und betrachtete hingegeben, wie es seine Gewohnheit war, das große Drehpanorama der Welt, das der gewaltige und unermüdliche Renner vor ihm in Bewegung setzte. Gegen Mitreisende war er höflich, doch zurückhaltend. Er war es längst gewohnt, daß die Menschen in seiner Nähe Vermutungen aller Art über ihn austauschten, und fand es jetzt am besten, sie darin nicht zu stören. Man sprach viel vom Krieg und riß sich um die Zeitungen. Ihm war Krieg schönes, großes Heldenleben; die Erinnerung an seine eigene Soldatenzeit widersprach durchaus nicht den Vorstellungen, die das vielgesprochene Wort in ihm erweckten. Auf dem Hügel waren die großen Generäle mit ihrer glänzenden Suite versammelt, vorne sprengten die berühmten Kavallerieregimenter zur Attacke vorbei, und rasselnd, mit schönem Schwung, fuhr die unerschrockene, leichte Artillerie – die beste der Welt – im Galopp auf und eröffnete das Feuer ... Er zweifelte nicht, daß ihm selbst im Kriegsfalle noch eine schöne Rolle vorbehalten war. Im übrigen vertiefte er sich nicht weiter in solche Vorstellungen. Nun er reiste, genoß er das Reisen, mit allem, was selbst das stundenlange Sitzen auf einer Polsterbank noch an Reizen bieten mochte, bis zum rhythmischen Gestampf der Räder, das wie Gesang war.

Nach dem Mittagessen war er in der Atmosphäre von Kohle und Sonnenstaub, der in einem schiefen Strahl vor ihm flimmerte, halb eingeschlummert. Während er alles um sich, wie vor einem Augenblick noch, wahrzunehmen glaubte, schlief er fast. Er sah ein hügeliges Seeufer mit Häusern und Gärten, das sich langsam entfernte. Ein blaugrüner See verbreiterte sich, goldgelbes Licht lag sanft über ihm und zitterte. Man sah nicht, woher es kam, keinen Himmel ... Dann stand alles still, wie in Ruhe erfroren, war ringsumher leer und lautlos und spiegelte Ruhe und Ferne, lustvoll beängstigend ... Und wie das Auge überwältigt blinzelte und in Angst vor dem Abschied die Erscheinung festhielt, war das Licht, heiteres Lebewesen, noch tiefer herabgesunken und hielt See und Ufer selig umfangen, daß Herz und Auge die Lust kaum ertragen konnten. Der da stand und es sah, wußte, daß es nicht »Verboten« war, und war doch tränenbeschwert und schuldig ... Ein langgezogener heller Ton erklang anschwellend immer näher ... »Schöne Welt!« flüsterte Zenobi aufschluchzend, wiederholte noch einmal: »Schöne Welt!« und fuhr heftig aus dem Schlafe auf. War es nicht Annie, die er gesehen hatte? ... Er fühlte sein Gesicht naß werden und war sehr verstört.

Der Zug, der kurz auf einer Station gehalten hatte, setzte sich eben wieder in Bewegung. Der zurückweichende, weinübersponnene Bahnsteig, eine Frau mit einem Kind neben dem Zug hergehend und mit Taschentüchern winkend, der gebückte Postbote, der träge seinen gelben Karren schob, verscheuchten im Nu das Traumbild, und Zenobi war verwundert über eine tiefe Ergriffenheit, die in ihm nachzitterte. Was war es doch mit Annie? Man hörte nichts von ihr. Er dachte plötzlich an Regine, an ihre traurig lächelnden Augen beim Abschied. Es war von einer gemeinsamen Reise die Rede gewesen, und diese Sommerwochen waren dafür ausersehen. Nun hatten die Umstände es anders gefügt, und er fuhr allein. Ob er wohl Mariannen noch einmal begegnen würde oder Helenen? ... Doch wenn er die Augen schloß, war es Annies heller Kopf, der emportauchte. Wie würde es nun werden? Um seine Sicherheit sorgte er sich nicht viel. Er war für einige Zeit mit Mitteln gut versehen, und später ... Wie ihn der Zug immer weiter der Stadt und seinem Leben bisher entführte, war Rückkehr und Später in eine Ferne gerückt, die bei der Unsicherheit der Zeit noch jede Überraschung in sich bergen konnte. Wie groß war die Welt und wie undurchdringlich! Und er schwamm recht wie ein Korken obendrauf. Was lebte in diesen dichten Wäldern, hinter jenen grünen Kuppen? Wie leer war es, wenn man sich von den Städten entfernte, wie gestorben die Siedlungen in der fahlen Dämmerung ... Er wickelte sich fester in seine weiche Decke. Es mußte auch für ihn ein Irgendwo geben ...

Als die Lampen angezündet wurden, wich die Trübe von ihm. Man näherte sich der Station, von der die Zweigbahn ihn an sein Ziel, einen tiefer in den Bergen gelegenen hübschen Kurort bringen sollte. Er ordnete seine Sachen, machte sich zum Aussteigen fertig und wurde darüber wieder heiter. Es gab hier längeren Aufenthalt. Wie er nun unter dem hellen Abendhimmel, an dem vereinzelt Sterne auftauchten, draußen stand, den frischen, nach Holzrauch riechenden Wind atmete, und die ansteigende Lichterkette der fremden kleinen Stadt über dem Fluß still zu ihm herüberblinkte, beschloß er plötzlich, die Fahrt heute nicht mehr fortzusetzen und in dem Ort zu übernachten.

Er beschritt eine von den Bahnlichtern schwach erhellte Allee kugeliger Bäume, die in scharfer Biegung an offenem Wiesenland vorbei zum Fluß führte, und blickte, tief Atem holend, in das weite, dunstige Tal zwischen den mächtigen schwarzen Bergrücken. Stille und Abendduft umfingen ihn. Er blieb gemächlich am Geländer der hallenden Holzbrücke stehen und sah die Lichter tanzen über dem breiten, schnell fließenden Wasser.

Durch eine steil ansteigende, gewundene und hochgieblige Gasse erreichte er bald einen unregelmäßigen, hell beleuchteten Platz mit einem alten gotischen Brunnen, an dem auch der Gasthof lag, der ihm an der Bahn genannt worden war. Ein freundlicher Wirt führte ihn in ein holzgetäfeltes Zimmer mit altmodischen Möbeln, öffnete eine hohe Balkontür und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Es gefiel ihm hier. Von dem abendlichen Gang im Freien erfrischt, hielt er sich nicht lange im Zimmer auf und begab sich nach unten. Den Meldezettel, der ihm zum Ausfüllen hingelegt worden war, ließ er achtlos liegen. Einige Tische waren in dem niedrigen, langen Saal noch von Gästen besetzt, auf der efeuumsponnenen, einige Stufen über dem Marktplatz erhöhten Veranda tranken junge Jägeroffiziere der nahen Garnison auf Krieg und Sieg.

Während Zenobi noch drinnen beim Abendessen saß, drangen durch die offene Tür gellende Schreie, von Schreckensrufen gefolgt, vom Platz herein. Alles stürzte hinaus, Zenobi unter den ersten. Menschen liefen auch aus den umliegenden Häusern zusammen und drängten zum Brunnen. An seiner untersten Stufe lag, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, am Boden eine Frau, ein Mädchen. Das aufgelöste Haar war ihr vornübergefallen, das querverzogene Tuch von der bloßen Schulter unter den nackten Arm gerutscht. Ihr ganzer Körper wurde von wildem Schluchzen erschüttert. Man versuchte, sie aufzurichten, doch die Hände an das Gesicht gepreßt, wehrte sie sich verzweifelt und schrie. Sie war halbnackt, in einem kurzen zerrissenen Rock und feinen, verstaubten Schuhen. Der eine Unterarm war verletzt und blutete. Jemand brachte einen Mantel, in den sie eingehüllt und auf die Stufen gesetzt wurde.

Zenobi drängte ungestüm hinzu. Er war ganz aufgewühlt. Warum mußte er jetzt wieder an Annie denken ... Er fragte hastig, was ihr zugestoßen sei, woher sie käme. Doch sie hielt den eingezogenen Kopf vom Licht weggewendet und zitterte nur. Sie trank das ihr dargereichte Wasser, hüllte sich fester ein und brach wieder in Weinen aus. Das braune, magere Gesicht kindlich tränenüberströmt, die Augen wie in Scham geschlossen, wiegte sie unter leisen Klagelauten den Oberkörper hin und her. Zenobi, der sich um sie bemühte, sah mit Erstaunen, wie der Menschenknäuel, kaum daß die erste Neugierde befriedigt schien, sich rasch lockerte, wie die meisten, ohne eine Aufklärung abzuwarten, achselzuckend sich entfernten. Und einzelne Zurufe und Redewendungen, die er hörte, ließen erkennen, daß die Ortsansässigen den Vorfall offenbar zu deuten wußten und sich darauf beschränkten, ein Wort des Bedauerns oder ein finsteres Brummen von sich zu geben, wie es Menschen tun, die einem Übel, das sie kennen, nicht abzuhelfen wissen. Eine herbeigeeilte Klosterschwester und einige Frauen hoben die Zusammengesunkene auf und führten sie fort.

Zenobi kehrte mit den anderen in die Gaststube zurück. Jetzt wurde es am Tisch lebhaft. »Es ist eine vom Schlößl droben«, sagte ein junger Bursche, der seine Pfeife rauchend in der Nähe saß. »Der mit seiner Weiberwirtschaft dort ... Einmal fährt er sie vierspännig spazieren, und ein andermal jagt er sie mit der Hundepeitsche bei Nacht aus dem Haus! Wie es ihm gerade paßt, dem schwarzen Teufel!«

Zenobi erfuhr mehr. Er sei ein Herr ungarischer oder kroatischer Abstammung, – Nadar heiße er – der das Schlößl, eine ansehnliche Besitzung, und eine Jagd in der Nähe habe. Er hause dort wie ein Wilder und sei von allen gemieden. Er bleibe nur einige Monate im Jahr da, und stets gebe es Skandal. Er treibe es zu arg mit den Weibern ...

Doch seitdem die junge Person, eben die, die er in diesem Zustand gesehen habe, bei ihm war, sei es eine Zeitlang ruhig gewesen. Es hieß, sie sei eine entfernte Verwandte und er wolle sie heiraten. Vor einigen Tagen aber sei eine andere angekommen, die man im Ort nicht kannte, und nun habe er die Arme da so zugerichtet. So sei er eben, der Mann!

Zenobi hörte mit steigender Erregung zu. Er schlug plötzlich auf den Tisch. Ja, sei denn niemand hier, der dem Burschen das Handwerk legt? – Erstaunte Blicke, spöttische Zurufe ... Man sehe, er sei ein Fremder! Er kenne den Mann nicht. Es mag niemand seine Haut zu Markte tragen.

Zenobi sprang auf, nahm Hut und Stock und fragte, ob ihm nicht einer jetzt gleich einen Wagen verschaffen könne, der ihn nach dem Schlößl brächte. Ein Wagen, wurde ihm erwidert, sei gar nicht nötig. Es schien nicht fünfhundert Schritte den Berg hinan. Zenobi knöpfte seine Handschuhe zu, sah herausfordernd um sich:

»Dann ist einer von Ihnen vielleicht so freundlich, mir den Weg zu zeigen?« fragte er. Ein verlegenes Schweigen entstand. Einige lachten.

»Ich kann den Herrn schon hinführen«, sagte der Bursche. Auch der Wirt war dazugetreten.

»Ich möchte Sie warnen«, sagte er höflich, »keine Unbesonnenheit zu begehen. Der Mensch ist gewalttätig, und jetzt in der Nacht ...« Auch andere rieten beflissen ab. Er könne schlimme Dinge gewärtigen.

»Gehen wir«, rief Zenobi ungeduldig.

Erregtes Geflüster erhob sich. Auch Bravorufe wurden laut. Viele standen auf, gingen zögernd mit hinaus. Der Bursche langsam voran, begannen sie eine enge Gasse seitlich vom Gasthof hinaufzusteigen. Auf dem Platze regte es sich. Man rief sich die Neuigkeit zu ... Immer mehr Neugierige schlossen sich an, so daß, als man die hochgelegene freie Straße erreichte, an die zwanzig Personen sich angesammelt hatten, die in einiger Entfernung von den Vorangehenden sich hielten und laut ihre Vermutungen austauschten. Zenobi schritt hochaufgerichtet und schweigend neben seinem Führer. Der Mond war aus einem Sattel der gegenüberliegenden Bergwand emporgestiegen, und in seinem von Dunst und flockigen Wolkenbänken gedämpften Licht erreichten sie einen breiten Weg, der am Rande des Hochwaldes ansteigend die Berglehne umzog. Sie waren nicht mehr weit. Kurz bevor der Weg in den Wald hineinbog, warf das Schlößl seinen Schatten über ihn. Mit seinem hohen Dach, über dem ein zwiebelartiger Turm ragte, stand es in einem jähen Winkel wie eine Sperre zum Weg, von dem einige Stufen zur Gitterpforte hinaufführten. Zenobi sprang mit einem Satz hinauf. Die Pforte war offen. Er durchschritt einen verwachsenen Pfad zu der breiten Tür, fand einen eisernen Glockenzug, an dem er riß, hörte aber keine Glocke. Er wartete. Er trat zurück und sah zum Haus hinauf, von dem ein Teil im Mondlicht war. Mit seiner ganzen hohen Front, die Fensterläden geschlossen, stand es dunkel da, kein Laut ließ sich vernehmen.

Zenobi war wie im Fieber. Er riß wieder am Glockenzug, wartete aber nicht länger, sondern trommelte mit heftigen Schlägen seines Stockes unausgesetzt an die geschlossene Tür. Er sprang zurück und begann wieder. Er ließ nicht nach, und sein langer Schatten tanzte gespenstisch über den Kies. Einige Minuten vergingen, da schlug mit heftigem Prall ein Laden an die Mauer, ein Kopf beugte sich aus dem Fenster des ersten Stockwerkes über ihm, schrie: »Achtung da!« Und unmittelbar darauf krachten zwei Gewehrschüsse hintereinander über seinen Kopf hinweg. Die Neugierigen, die am Waldrand sich zusammengedrängt hatten, stoben fluchend auseinander.

»Kusch dort, Gesindel!« brüllte es aus dem Fenster. »Und Sie ...« – Zenobi war zurückgetreten und sah hinauf –

»Wer sind Sie, was wollen Sie?«

»Schießen Sie nur weiter aus dem Dunkel«, rief Zenobi mit erhobener Stimme, »wenn Sie den Mut nicht haben, sich einem ehrenhaften Mann zu stellen.«

»Oho!« klang es höhnisch zurück. Das Fenster klirrte, schneller als Zenobi denken konnte, erdröhnte schon der Gang drinnen, wurde die Tür aufgerissen, und in dem Licht, das plötzlich über ihr aufflammte, trat ungestüm ein untersetzter, schwarzbärtiger Mann in einer Jägerjoppe heraus.

»Hier bin ich, mein ehrenwerter Herr! Was wünschen Sie von mir?« Er stand breitbeinig, mit gesenktem Kopf da, wie ein Stier, bereit zuzustoßen und sah lauernd zu Zenobi auf.

»Nicht hier draußen«, begann Zenobi und machte einen Schritt auf die Tür zu. »Bitte ...«

Der Schwarze vertrat ihm den Weg.

»In mein Haus kommt, wen ich dazu einlade«, knurrte er verbissen. »Ich habe niemand gebeten! Nochmals, was wollen Sie?«

Die Leute hatten sich wieder genähert und umdrängten das Gitter.

»Hier, diese Männer«, rief Zenobi, »sind Zeugen Ihrer letzten Gemeinheit ... Rechtfertigen sollen Sie sich!« rief er in ausbrechendem Zorn. »Das ist, was ich wünsche!«

Drohende Zurufe wurden laut.

»Ein Ritter, wahrhaftig ein Ritter«, höhnte der Schwarzbärtige, »und wie vom Himmel gefallen ... Was hindert mich, Sie von meinen Knechten durchprügeln zu lassen? ... Dachten Sie ein Gottesgericht hier aufzuführen, Sie Narr?«

»Genug«, schrie Zenobi. »Ihre Schandtat sollen Sie büßen. Sie werden morgen von mir hören!«

»Mit Vergnügen«, gab der andere mit einer zynischen Gebärde zurück. Einen Augenblick sah er dem hastig sich Entfernenden nach, ballte die Faust, zischte: »Marsch fort, Pack!« und ging ins Haus.

Das Licht über der Tür erlosch.


 << zurück weiter >>