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XI

Man hätte nicht sagen können, daß sich seit Annies Fortgang im Hause etwas geändert habe, und doch war es, als sei man darin weniger sorglos, weniger unbekümmert geworden. Ging auch alles seinen alten Gang, so war doch allmählich im Tun und Gehaben der Mädchen ein stiller Eifer, ein gewecktes Zielbewußtsein gewachsen. Ohne daß darüber gesprochen wurde, versagte man sich häufiger ein Vergnügen, verzichtete auf einen Ausflug, auf einen zerstreuenden Besuch. Fanny arbeitete für ihr Schlußexamen und bewarb sich um eine Stelle in einer kleinen Landstadt, für die ihr Aussichten eröffnet worden waren. Zwischen Rosa und einem älteren Bankangestellten, der im Hause wohnte, schien sich eine Verbindung anzubahnen, und Regine, königlich und bequem wie immer, saß an den Abenden länger zwischen ihren Blumen, Bändern und Hüten und war auf die Ausdehnung ihrer Kundschaft bedacht. Ihr schönes weißes Gesicht, in dem nur der Mund noch frisch und rot war, nahm im Verblühen zarte Teerosentöne an, und ihre Stattlichkeit, wenn sie so gebeugt unter der Lampe saß, war schon nahe der Fülle. Ihre Gesundheit war dabei nicht die beste. Sie saß viel, weil Bewegung sie rasch ermüdete. Wenn Zenobi zuweilen einen wehmütigen Blick der Mutter auffing, der verstohlen und liebkosend ihre Gestalt streifte, empfand er es wie einen stummen Vorwurf gegen sich ... Die Zeiten waren auch schwieriger geworden. Öfter stand nun ein Zimmer leer, wechselten die Bewohner, über deren Unzuverlässigkeit Rosa sich zu beklagen Anlaß hatte. Auch in der Öffentlichkeit war auf einmal viel Unruhe. Man hörte von aufrührerischen Bewegungen in den entfernten Provinzen, die Zeitungen erörterten die Möglichkeiten eines Krieges. Das Für und Wider erregte leidenschaftliche Ausbrüche. Dann verstummten die Gerüchte ebenso plötzlich, um nach einiger Zeit begründeter und mit mehr Glaubwürdigkeit aufzutauchen, wie ein unterdrücktes Feuer Ausdehnung und Macht gewinnt. Indessen die Menschen, die sich an alles gewöhnen, in diesem schwankenden und gefährlichen Zustand ihre Lebensgier nur noch gesteigert fühlten. Zenobi, wenngleich von alledem auf seine Weise ergriffen und in diesen wiederkehrenden Wellen des Gerüchts als in einem abenteuerlichen, ihm gemäßen Element herumschwimmend, war doch durch die Geborgenheit im Hause und von der sanften Hand der Frauen unmerklich geführt, im Begriffe, in ein fast gesichertes Dasein einzulenken. Da die Gelegenheitsarbeiten immer unergiebiger geworden waren, verschaffte ihm Regine durch ihre Verbindungen den Eingang zu den großen Mode- und Bekleidungsgeschäften, und nach einer kurzen und erfolgreichen Versuchszeit hatte er da einen neuen Beruf gefunden. Er verstand es, mit Phantasie und Geschmack sehr wirkungsvolle Zusammenstellungen feiner modischer Erzeugnisse in den großen Schaufenstern und auf Podien im Innern zu komponieren und erfand dabei so effektvolle und neue Nuancen, daß er bald eine gesuchte Spezialität war. Das eine Fenster, zum Beispiel, trug eine Tafel mit der Aufschrift »Der feine ältere Herr« und gruppierte in geschmackvoller Unordnung und in harmonischen Farben Anzüge, Paletots, Schals, Hüte, weiße und farbige Wäsche, Strümpfe, Krawatten, Stiefel, Schuhe; selbst die Saffian-Reisepantoffeln, Plaids und Handschuhe zu verschiedenen Gelegenheiten waren nicht vergessen. Eine Zusammenstellung hieß »Die Teestunde«, eine andere »Die elegante Frau auf dem Lande«. Den Geschäftsleuten, die seine Dienste in Anspruch nahmen, trat Zenobi als Amateur mit den Allüren des Künstlers entgegen und ließ Andeutungen fallen, daß nur seine Vergangenheit und der Gebrauch ihm die unfehlbare Sicherheit gäben, zu entscheiden, was wirklich fein und vornehm sei. Auch ihnen galt er als der Herr Baron, ob sie es glaubten oder nicht, und manche fanden sogar ihren Vorteil dabei, denn dafür durfte man bei der Honorierung etwas lässiger verfahren. Die Arbeit war einträglich, an keine feste Zeit gebunden und machte ihm zudem Vergnügen. Hier war das Spiel der Verkleidungen zwar nach außen verlegt, aber er blieb so in seinem Element ... Daneben hatte er noch seine Vorstadtsklientel als Berater in Rechtssachen, als welcher er immer mehr Vertrauen fand.

Man erzählte sich in der Straße mit Wohlgefallen von dem Erfolg seines Auftretens in dem Mordprozeß einer jungen Arbeiterin, welcher viel Aufsehen gemacht hatte. Sie war mit einem jungen Manne verlobt und hatte ein Kind von ihm bekommen. Kaum aus dem Wochenbett, erfuhr sie, daß er eine andere zu heiraten beabsichtigte. Er kam sie besuchen, und als er auf ihre dringlichen Fragen, wie es sich damit verhielte, ausweichende Antworten gab und ihren verzweifelten Bitten, sein Eheversprechen einzulösen, kühle Bedenken, verdächtige Ausreden und schließlich brutale Antworten entgegenhielt, schoß sie auf ihn in der Verzweiflung aus einem Revolver und verwundete ihn. Er genas nach kurzer Zeit, das Mädchen aber stand vor den Geschworenen, wegen Mordversuches angeklagt. Zenobi, der das Kind nach der Verhaftung der Mutter untergebracht und seine Vormundschaft zu übernehmen sich bereit erklärte, war vorgeladen, um sich über die materielle Lage der Angeklagten, die er kannte, zu äußern. Er schilderte die Verhältnisse und den bedauernswerten Zustand des Mädchens nach der Entbindung und schloß mit den Worten:

»Es ist hier gesagt worden, der Mann sei wie ein Marder in das Leben des Mädchens eingebrochen, und ich möchte, um bei diesem Bilde zu bleiben, mit Ihrer Erlaubnis hinzufügen: Wenn die Hühner in ihrer Todesangst auf den Marder schießen würden, so würde niemand etwas daran zu tadeln finden. Dabei würde es immer noch für den Marder sprechen, daß er den Hühnern keine Kinder macht ...«

Die Zuhörer, die Geschworenen lachten, auch der Gerichtshof konnte kaum seine Haltung bewahren. Der Vorsitzende hatte Mühe, seine Würde aufrechtzuerhalten, um dem Zeugen eine solche Ausdrucksweise zu verweisen. Und obgleich der Ankläger scharfen Einspruch dagegen erhob, daß der Zeuge hier plädierte, und die Würde wiederherstellte, war das ganze hochnotpeinliche Zeremoniell mit seinem mörderischen Ernst einen Augenblick wie weggewischt, und alle hatten die Empfindung, daß eine harte Verurteilung unmöglich wäre. Was der Ausgang auch bestätigte.

Im Hause wurde Zenobi längst als ein Glied der Familie betrachtet und mit jener Auszeichnung behandelt, welche die stille Erwartung ausdrückt, daß ein anerkannter Zustand sich bald in einem sichtbaren Akt manifestiere. Doch in Reginens sanftem, arglos hingebendem Wesen war eine Schwere, die sie so schön in sich selbst ruhen ließ und von beunruhigenden Gedanken nicht leicht in Bewegung zu setzen war. Fordern hieße Spannungen erzeugen; das war anstrengend und unbequem. Auch Frau Magers in dieser Zeit oft sorgenvolle Erwägungen veranlaßten sie nicht zu einem geflissentlichen Vortreiben. Sie haßte Aussprachen und hatte den frauenhaften Glauben, daß das Leben sich selber helfe. Wohl wußte man nicht, was in diesem seltsamen Mann vorging, wußte kaum, was ihn umtrieb, aber er war gut, und er war nobel. Wenn nur Regines Gesundheit besser gewesen wäre ... Im übrigen mochten die Leute denken und reden, was sie wollten.

So ging die Zeit hin. Zenobi aber, dem es nicht gegeben war, über seine inneren Zustände sich Rechenschaft zu geben – denn sie deckten sich entweder gar nicht oder vollkommen mit seinen äußeren, und das Hinüberwechseln von einem in den anderen hatte ihn nie beschwert –, wußte von sich selbst nur gleichsam auf Anruf.

Es war nach einem jener jetzt seltener gewordenen, von Meerengel selbst bereiteten Soupers auf seinem Zimmer. Zenobi und Meerengel saßen an einem niedrigen, runden Tisch einander gegenüber, auf den ein zweiarmiger, silberner Leuchter zarte Reflexe der Mokkatassen, Flaschen und Likörgläser aufblitzen ließ. Sie waren beide im Abendanzug, und wer sie in diesem Augenblick gesehen hätte, hätte glauben können, sie seien übereingekommen, ohne Zuschauer ein fein ausgedachtes Spiel zu spielen, oder im Begriffe, bei wer weiß welchem feierlichen und festlichen Akt zugegen zu sein. Aber es war nur ein verehrender, liebenswürdiger Wirt und ein vornehmer Gast nach einem Essen zu zweit, die sich hier, zwanglos zwar, doch in gewissen Formen, die nur ihnen geläufig waren, unterhielten.

»Unsere gute Frau Mager«, sagte Meerengel, »ließ es sich nicht anmerken, wie sehr Fannys Abreise sie bewegt hat.«

»Ich fürchte«, meinte Zenobi, »daß sie sich im stillen noch mehr um Annie sorgt ...«

Meerengel nickte nachdenklich.

»Darf ich übrigens fragen, Baron, was man von diesem Herrn von Berner weiß? ... Kurios, daß er Ihren höflichen Brief unbeantwortet ließ.«

»Er hat nicht den besten Ruf, lieber Herr Doktor, leider ... Und sein Benehmen ist danach. Ein Edelmann müßte wissen, was er der Mutter schuldig ist ... Ich würde ihn einmal stellen, aber das könnte mißdeutet werden ... Wie verzwickt ist doch alles in der Welt! Sich für jemand einsetzen darf man nur, wenn man auf den Menschen Anspruch macht. Sonst heißt es gleich: was kümmert sich der drum, da steckt etwas dahinter ...«

»Man kann es nicht besser ausdrücken, was einen Mann wie Sie von anderen unterscheidet«, sagte Meerengel mit einer Verbeugung. »Nur ... Ihre Gefahr ist, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben wollen, daß man Sie Ihrer universalen Verpflichtung entzieht, wenn man Ihnen persönliche Pflichten aufzuerlegen sucht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, zum Beispiel: Wer ein junges Mädchen und ein Kind, eine mütterliche Frau und eine würdige alte Frau, und eine schöne Frau von dreißig, einen alten Mann und einen Knaben, einen Unglücklichen und einen Helden, ich meine, wenn einer jeden dieser Menschen auf die ihm gemäße, ihm zukommende Art liebt – liebt ist vielleicht gar nicht das Wort, aber wir haben für so vielerlei Arten der Anziehung nur das eine Wort –, was meinen Sie wohl, Baron, wird ein solcher Frau und Kind haben und für sie allein sorgen?«

»Gewiß nicht«, rief Zenobi lebhaft. »Das kann ich verstehen ...«

Meerengel trank einen Schluck aus seinem Glas, legte ein Bein über das andere.

»Und wird ein solcherart Beschaffener«, fuhr er fort, als repetiere er einen platonischen Dialog, »nicht die mannigfaltigen Erscheinungen dieser Welt, ihre Vielheit so in sich aufnehmen, daß es ihn treibt, sie immer wieder zu suchen und sich ihrer zu bedienen, sei es als ein so Seiender oder ein an ihnen Teilhabender ... oder wird er an einem stillen Ort sich niederlassen und sich ihnen entziehen?« Er lachte plötzlich glucksend, bat um Entschuldigung und sagte: »Ich rede wohl etwas konfus und bin abgekommen von dem, was ich fragen wollte, Baron ... Geht es Fräulein Regine besser?«

»Danke. Sie klagt nicht mehr über Schmerzen, aber sie bleibt noch liegen.«

Es entstand eine Pause. Da sagte Zenobi:

»Das ist nun einmal so. In meinen Angelegenheiten, da kenne ich mich nicht aus. Alle, scheint es, wissen, wie es sein soll, nur ich weiß das nicht ...«

Meerengel sah aus seiner Zerstreutheit, in die er nach seiner Gewohnheit verfallen war, wie geweckt auf:

»Sie wissen es schon auf Ihre Weise ... Es gibt eben Menschen, die mehr haben, als sie für sich ausgeben können. Die Welt braucht sie! ... Sehen Sie doch, was Sie gestern in der Wahlversammlung sprachen, hat allen eingeleuchtet. Der Beifall war groß ...«

»Aber dann stimmten sie für den anderen Kandidaten!«

»Ihre Rede war die eines Staatsmannes, und die wollen doch nur einen Abgeordneten ... Sie haben ja auch gar nicht für Ihren Kandidaten gesprochen, sondern so, als wären Sie selbst der Minister ...«

Zenobi lachte:

»Ja, so geht es mir immer. Man denkt sich da hinein ... Aber wenn sie dann kommen und fragen, wieso und warum, dann kann ich es nicht sagen!«

»Sie können sich eben bei diesen Leuten nicht legitimieren«, nickte bestätigend Meerengel.

»Legitimieren«, wiederholte achselzuckend, mit einem Anflug von Bitterkeit, Zenobi: »Ja, das ist es! Als wenn man etwas dafür könnte, daß man leider nun einmal als der und der geboren wurde und es schon hundertmal vergessen hat ...« Er zündete sich eine Zigarette an und sagte mit einem liebenswürdigen Lächeln:

»Ihnen, lieber Herr Doktor, danke ich es am meisten, daß es aufgehört hat, mich zu beschweren. Sie brauchten keine Aufklärungen. Ich hätte sie auch nicht geben können. Aber früher, da war es mir manchmal, als wollte man mich mit Gewalt in eine alte Haut hineinzwängen, die ich einmal getragen. Das war fast schmerzlich!« Er rauchte behaglich und fuhr fort: »Hier im Bezirk übrigens haben sie sich schon dran gewöhnt, auch bei den Behörden. Wenn ich bei einer amtlichen Gelegenheit sage: ›Erlauben Sie, daß ich meinen bürgerlichen Namen angebe, den ich jetzt führe‹, so nehmen sie es als bekannt hin. Aber neulich war da einer, der von mir nichts wußte, der war neugierig: ›Und was waren Sie denn früher?‹ fragte er verwundert. ›Ein Tiger!‹ sagte ich. Und wir lachten beide. Dann meinte er: ›Franz Xaver Zenobi ist doch auch ganz schön! Klingt nach einem ordentlichen Christenmenschen, was wollen Sie denn?‹ ...«

Meerengel hatte einen seiner spasmischen Lachanfälle, nach welchen sein Gesicht sich zu unheimlichem Ernst versteinerte.

»Nein«, sagte er düster, »es ist ein unwahrscheinlicher Name für uns heute. So kann man nur heißen, wenn man sich über sich selbst lustig machen will. Die beiden Vornamen machen es nicht besser ... Für mich sind und bleiben Sie der Herr Baron ... Und was Sie sonst noch diesem Prädikat beifügen mögen ... Sie müssen selbst kandidieren«, beschloß er plötzlich. »Wir wollen Seiner Eminenz nächstens einen Besuch machen.«

»Wenn ungewöhnliche Dinge in der Welt passieren«, sagte Zenobi und gab offenbar einem Gedanken Ausdruck, der ihn viel beschäftigte, »dann hört man immer einen neuen Namen und selten einen von den vielen, die man kennt.«

»Ja«, sagte Meerengel, »das ist merkwürdig, und eigentlich doch nicht ... Meist sind es Menschen, die schon vielerlei waren und schon vielerlei hießen. Früher übrigens kümmerte sich niemand um Kirchenbücher und Standesregister. Man suchte sich seinen Namen je nach den Umständen. Ein richtiger Mann erhielt seinen Namen von seiner Tat. Die Gelehrten können meist gar nicht feststellen, wie einer ursprünglich geheißen hat ...«

Und Meerengel begann, nachdem er eine große Zigarre angesteckt hatte, mit der ihm eigenen Umständlichkeit von dem Fall des falschen Demetrius zu erzählen ... Er war der Meinung, daß Demetrius so falsch gar nicht gewesen sei, als Zeit und Umstände um ihn es waren.

Sie saßen noch spät in der Nacht in ihre seltsame und etwas feierliche Unterhaltung vertieft.


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