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II

Die denkwürdigen und so ungewöhnlichen Ereignisse jenes Abends bewirkten kaum eine Veränderung im äußeren Lebensgange Zenobis, doch in ihm selbst begann eine Wandlung, welche ihn lehrte, seine Fähigkeiten, die ihm bisher nur die dunkle Quelle verworrener und beglückender Erregungen waren, als solche zu erkennen und weiter zu entwickeln. Ältere Schriftsteller würden gesagt haben, es sei in ihm der seltsame Drang gewesen, öffentliche Tugenden zu personifizieren, d. h. solche an Personen, die in der Öffentlichkeit, sei es durch einen ausgezeichneten Beruf wirken oder durch die Vorzüge ihrer Person selbst. Wir aber, welche zwischen Tugend und Laster, in ihrer Folge wenigstens, nicht mehr unterscheiden können, mögen uns begnügen, zu sagen, daß Zenobis Empfindlichkeit von jeder Darstellung in der Öffentlichkeit gereizt wurde, ihren Träger in sich nachzubilden und die beglückende Wirkung in seiner Vertretung zu wiederholen. Oder, wo dies nicht tunlich war, genügte es ihm, an der Zelebrierung wenigstens teilzunehmen. Es wuchs in ihm eine immer lebhaftere Anteilnahme an Menschen der Öffentlichkeit jeder Art, vielleicht weil das in ihm rumorende Leben nur so einen Ausweg fand. Wie ein Magnet nur Eisen und Eisenartiges an sich zieht, so zog sein Wesen aus den mannigfachen Inhalten menschlichen Lebens und Tuns, das sich ihm darbot, nur das an sich, was sich unmittelbar als Geste und Ausdruck ihm mitteilte und einprägte. Er brauchte kaum zu beobachten, und was ihm aus Zeitungen und Büchern, guten und schlechten, zugänglich war, lieferte ihm eine wachsende Bereicherung seiner Kenntnisse. Jede Art öffentlicher Schaustellung fand ihn allmählich nicht nur als Zuschauer, er begnügte sich nicht mehr damit, nur Zaungast zu sein. So erschien er einmal beim Empfang eines hohen Würdenträgers im schwarzen Kleid und hohen Hut, eine bescheidene Rosette im Knopfloch, fand durch die Unbefangenheit seines Auftretens ohne weiteres Zutritt zu dem reservierten Raum der Eingeladenen und wurde sogar mit einem Händedruck des Erwarteten beehrt.

Bei einem großen Kirchenfest unter Assistenz von Militär und Musikkapellen auf dem weiten Platz vor der Kathedrale wäre es ihm einmal fast schlimm ergangen, als er mit der Sicherheit des Zugehörigen durch das Spalier schreiten wollte und ihm ein Soldat mit vorgehaltenem Gewehr den Weg versperrte. Zenobis Haltung war ganz Würde und Mißbilligung. Mit einer Handbewegung, die den lästigen Störer gleichsam unkörperlich beseitigte, versuchte er vorzudringen. Der Soldat wurde grob, packte ihn an der Schulter und drohte mit Arretierung. In diesem kritischen Moment ging ein Offizier in Paradeuniform, Eichenlaub auf dem Tschako, in der Nähe vorüber. Zenobi schüttelte die Hand des Soldaten ab, winkte jenem verbindlich und sagte lächelnd, mit leisem Ärger in der Stimme:

»Ich habe wirklich nicht daran gedacht, mich von meinem Onkel mit irgendeinem Zettel versehen zu lassen ...«

Und mit einer ausdrucksvollen Verbeugung, welche den Anspruch, der in den folgenden Worten lag, höflich mildern sollte, schloß er:

»Ich bin der Neffe des Herrn Erzbischofs.«

Der Offizier errötete vor Vergnügen, grüßte militärisch und geleitete Zenobi fast bis vor das Kirchenportal.

Ein anderer Vorfall hätte ihm fast eine Art Berühmtheit eingetragen, wenn er mit Rücksicht auf seine besonderen Umstände es nicht vorgezogen hätte, seine Anonymität zu wahren. In der Stadt war ein alter Dichter gestorben, dessen Name zehn Jahre vorher noch auf den Lippen aller war, die den Anspruch machten, von der Poesie bewegt zu sein. Einige seiner Dichtungen waren bereits in die neuen Schulbücher aufgenommen; junge Leute, die auf sich hielten, wußten berühmte Verse auswendig. Es war auch seinerzeit unter den Menschen viel die Rede von seinem bewegten Leben gewesen, von der Leidenschaftlichkeit seiner Natur, die ihn umtrieb, und von den Konflikten, die sie in seiner Familie verursachte. Aber auch die in bürgerlicher Sitte Gebannten waren geneigt, über solche Extravaganzen verzeihend hinwegzusehen bei einem Manne von so außerordentlichen Gaben des Geistes. Um so erstaunter war Zenobi, als er in Erwartung eines großen Andranges von Teilnehmenden, von Abordnungen, Kranz- und Würdenträgern sich im Trauerhause einfand und durch niedrige drei kleine Stuben, deren Türen ineinander geöffnet waren, zwei schwarz verschleierte Frauen an dem einfachen Sarge stehen sah, einen aufgeschossenen Knaben mit zu kurzen Beinkleidern am Fenster und noch vier oder fünf Menschen, die verlegen an den Wänden klebten. Unterwegs schloß sich noch eine geringe Anzahl Leute dem kleinen Zuge an. Als am Grabe die Reihe auch an Zenobi kam, die Schaufel zu ergreifen, um dem Abgeschiedenen die drei Schollen Erde auf den Sarg zu werfen, und der Geistliche umherblickend seine Kopfbedeckung aufzusetzen im Begriffe stand, um die Zeremonie zu beschließen, hörte er neben sich eine der verschleierten Frauen in fast flehendem Ton leise sagen:

»Bitte, bitte, sprechen Sie doch einige Worte.«

Zenobi war tief bewegt. Und als stünde er hier für die ganze abwesende Welt, die den Dichter vergessen hatte, begann er:

»Du großer Mensch, großes Herz der Menschen, nun gehst du so still zur Ruhe ein ...«

Dann sagte er, daß die Menschen mit Recht vielleicht durch äußeren Pomp jene ehren, deren Abschied von der Welt sie auch der Vergessenheit überliefere; wer aber die Unsterblichkeit im Herzen der Menschen sich gesichert, der bedürfe solcher Ehrung nicht. So wüßten die Menschen auch nichts vom Tode ihrer großen Männer, denn diese leben nicht nur in ihrem Gedächtnis, sondern wirklich mit ihnen weiter. Denn ihre Wirklichkeit sei doch nichts anderes als ihr Werk ... Das alles sprach Zenobi, als lese er es aus einem Buch, oder es flüstere ihm jemand unsichtbar zu, während neben ihm die Frauen laut schluchzten und vorwurfsvoll fast, wie es Zenobi schien, als wenn ihnen durch seine Worte Abbruch geschähe ...

Da wurde er unsicher in sich selbst, suchte nach Worten und fand zum Abschluß solche, die bei Trauerfeiern üblich sind und wie er sie oft gehört oder gelesen hatte. Darauf nahm er würdig und bescheiden den Dank der Trauernden entgegen.

Tags darauf war in einer der hauptstädtischen Zeitungen zu lesen, welch einen würdigen Verlauf die Bestattungsfeier des Dichters genommen, besonders durch die bewegende Rede, die ein naher Freund des Verschiedenen am Grabe gesprochen habe. Die Wiedergabe war zwar ungenau und sinnwidrig, doch bewirkte sie immerhin, daß einige repräsentative Personen sich getroffen fühlten und im stillen bedauerten, diese Gelegenheit, sich darzustellen, versäumt zu haben. Wobei es nicht zu vermeiden war, daß sie einen Augenblick auch an den toten Dichter dachten und sich wunderten, wie er unter ihnen gelebt hatte und gestorben war, ohne daß sie es recht wahrgenommen haben. Doch für die Dauer begann der Schauplatz für sein ausgreifendes Leben in dieser Stadt Zenobi zu eng zu werden, besonders da auch die Gefahr wuchs, daß die gesteigerten Ansprüche an seine Zeit auf Kosten seiner bürgerlichen Tätigkeit ihn immer mehr in Verlegenheit bringen mußten. Denn ohnehin konnte er nur noch mit Hilfe von Ausflüchten und unter Vorwänden die häufige Vernachlässigung seiner Pflichten rechtfertigen, auf welche der Prinzipal immer aufmerksamer wurde. Zenobi hatte indessen schon die zweite Stellung gewechselt, und sein neuer Herr fand sich kaum mit ihm zurecht. Zenobi fühlte oft jenen mißtrauischen und forschenden Blick auf sich ruhen, und hätte nicht Not und Erfahrung seiner dürftigen Jugend ihn gewarnt, so wäre er wohl eines Tages mit einer verblüffenden Rede vor den Mann hingetreten, die diesem bewiesen hätte, in welchem Irrtum er sich befand, wenn er meinte, einen Gehilfen namens Zenobi in seiner Handlung zu beschäftigen. Es kam auch vor, daß Besucher und Kunden nachdenklich und plötzlich stumm auf Zenobi blickten, als suchten sie in ihrer Erinnerung einen Zusammenhang zwischen einem Vorgang, der ihnen bekannt war, und seiner Erscheinung. Einmal fragte sogar eine Dame Zenobi geradezu, ob sie ihn nicht bei einer Gerichtsverhandlung gesehen, – sei er Jurist? – oder ob er einen Bruder oder Verwandten habe, der ihm so auffallend gliche. Ihm selbst wurde die große Stadt schon zu klein. Er träumte von größeren Dingen. Er schien den Umkreis des hier Möglichen bereits durchlaufen zu haben. Er las die großen Zeitungen der Residenz mit wachsender Sachkenntnis und erwog eine Veränderung, die ihm einen höheren Einsatz im Spiele des Lebens gewähren sollte. Doch da sich ihm, je älter er wurde und in das Doppelspiel hineinwuchs, die Wirklichkeit seiner Notdurft fast zum Schein verflüchtigte, während die wechselnden Gestalten, die er annahm, den wahren Inhalt seines Daseins bildeten, geriet er bei allen solchen Erwägungen in einen Zustand, der einem fortwährenden Schweben und Fallen glich. Er kam dabei auf keinen Grund. Schien es ihm etwa, er müßte, um nach der Residenz zu kommen, sich um diese oder jene ausgeschriebene Stellung bewerben, so begann er das Bewerbungsschreiben mit der Anrede: Ew. Exzellenz, hochmögender Herr Minister ... Dann folgte eine wohlgesetzte Ansprache eines Bürgermeisters der Stadt, die im übrigen ganz vernünftige Vorschläge zur Einführung notwendiger Verkehrsverbesserungen enthielt. Oder er hatte plötzlich den Einfall, sich dem Kaiser als geheimen Gehilfen anzubieten, der ihn über alles, was ihm wissenswert wäre, über die Zustände der Länder und der Menschen unterrichten würde. Dann sah er sich in geheimen Missionen, mit besonderen Vollmachten ausgestattet, in den Expreßzügen durch die Welt reisen. Er ersann hundert Dinge von größter Wichtigkeit, die er zur Kenntnis des Herrschers brächte – wußte aber dabei zugleich, daß er es auf eine sehr kleine und einfache Weise anstellen müsse, wenn er nach der Residenz gelangen wollte. Es fehlte ihm auch nicht an einem gewissen Humor für seine Lage, und keinesfalls hätte er sich, während er jene phantastischen Schriftstücke verfaßte, beim Wort nehmen lassen, als glaubte er damit einen wirklichen Schritt in der Richtung seiner Absichten zu tun. Es war schön und erregend, so im Dunkeln zu spazieren und die Zukunft wie einen fernen hellen Schein am nächtlichen Himmel zu sehen ... Während er nun bald lässig auf einen Ausweg sann und bald wieder seiner Einbildung die Zügel schießen ließ, trug eine Woge den sorglosen Schwimmer, der sich dem Element überließ, wie von selbst an das Ziel seiner Wünsche.


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