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VI

Wenn Zenobi Helene nicht zu Hause fand, blieb er gern auch eine Stunde bei Frau Edith Bessener sitzen, die ihn stets mit gleichmäßiger Freundlichkeit empfing. Mit ihr konnte er von Helene sprechen. Und wenn sie auch seinen Überschwang dämpfte, so war sie doch für ihn der Mensch, der in der gleichen Atmosphäre mit Helene lebend, des Wunders teilhaftig war und seinen Glanz widerstrahlte. Sie wieder hatte ihre Freude an dem heiteren redegewandten jungen Mann, der, mit allen Dingen der großen Stadt vertraut, über Personen und Ereignisse stets auf dem laufenden, eine lebendige und unterhaltsame Zeitung war. Zudem war er so offen, anständig, man faßte Vertrauen zu ihm. Es lag nicht in ihrer Art, viele Gedanken daran zu verlieren, ob Zenobi sich Hoffnungen auf Helene machte und wie weit er damit kommen mochte. Da er stets ungetrübt und glücklich erschien, so mußte er wohl seine Gründe dafür haben, und sie hätte es ihm auch gegönnt, daß es so bliebe. Kam sie aber mit Helene gelegentlich auf ihn zu sprechen, so begegnete sie abwechselnd einer Verlegenheit, einem Achselzucken oder auch der Versicherung, er sei ein zuverlässiger Freund und man könne ihm vertrauen. Das gleiche meinte übrigens auch Edith.

Zenobi hatte in der letzten Zeit Helene wenig gesehen, sehnte sich sehr und kam eines Abends sie aus einer Vorlesung abholen, von der er wußte, daß sie sie regelmäßig besuchte. Ungewiß, wie sie es aufnehmen werde – sie liebte solche Überraschungen nicht –, war er glücklich, als sie ihn herzlich begrüßte, seinen Arm nahm und nach einigen Schritten auf der Straße ihn in eine Konditorei hineinzog.

»Ich bin froh, daß Sie – daß du gekommen bist.«

Dieses Schwanken zwischen ›Du‹ und ›Sie‹ war ihr schon zur Gewohnheit geworden.

»Hier ist es so angenehm warm, und ich habe solchen Hunger!«

Sie strahlte vor Freude, war schöner als je in ihrem taubengrauen Cape mit der gleichfarbenen Toque tief in der Stirn, und drückte ihm die Hand unter dem Tisch. Sie trank vergnügt ihren Kaffee, scherzte, ihre Wangen röteten sich, und plötzlich fing sie an:

»Höre. Es ist jetzt so trübe in der Stadt, und draußen ist es gewiß noch schön. Nächste Woche haben wir zwei Feiertage, Sonntag und Montag. Wie wäre es, wenn wir nach Gröbendorf hinaufgingen? ... Es ist da das nette kleine Hotel, du erinnerst dich, das wir gesehen haben, als wir im Sommer einmal vorbeikamen. Ich hätte solche Lust, einmal wieder im Freien zu sein. Willst du?«

Ob er wollte!

»Wir können schon am Samstag fahren«, meinte sie. Er ließ sich den Fahrplan bringen, und sie sahen, eifrig die Köpfe zusammensteckend, die Züge nach.

»Freust du dich? ... Ich auch.«

Sie sah ihn zärtlich an, senkte die Stimme.

»Ja! ... Nun habe ich aber noch eine Bitte an dich ... Es kommt in den nächsten Tagen ein Jugendfreund von mir hierher. Er ist Techniker oder Ingenieur, ich weiß das nicht genau. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Wir kennen uns schon seit – wie wir noch so klein waren ... Ein netter Junge, ein bißchen kränklich. Er ist wieder krank gewesen, schreibt er. Ich möchte, daß er die Tage, die er frei hat, nicht in der Stadt versitzt. Ich dachte nun ... Hast du etwas dagegen, daß er mitkommt?«

Zenobi, statt zu antworten, fragte:

»Ihr seid sehr befreundet?«

Helene hatte ihr kurzes Achselzucken.

»Ich sagte schon, ich habe ihn lange nicht gesehen! Er war mit meinem Bruder befreundet, weißt du ... Und hat sehr an ihm gehangen. Er ist ein nicht sehr glücklicher Mensch. Immer in irgendwelchen Schwierigkeiten und sehr anlehnungsbedürftig. Sicher hat er jetzt wieder etwas mit sich auszumachen. Er war immer schon so ... Er kam viel zu uns, er glaubte, ich könne ihm helfen! Und ich möchte es ja auch gern. Er ist nicht sehr glücklich ...«

»Ja«, sagte Zenobi, »es gibt solche Menschen ...« Und dann gerührt: »Wie gut bist du, Helene! Nun, ich freue mich, ihn kennenzulernen. Schon weil es jemand ist, der viel mit dir zusammen war ...« Er tupfte leicht mit dem Finger auf ihre Hand, die auf dem Tische lag. Sie ließ es lächelnd geschehen, sah ihn mit einem verdunkelten Blick lange an. »Und dann möchte ich dich noch um etwas bitten ... Du wirst es verstehen. Ich möchte nicht, daß du – daß wir uns in seiner Gegenwart du sagen, ja?«

Zenobi seufzte, nickte.

»Fällt es dir so schwer?«

Er antwortete nicht, sah sie lange an.

»Dafür werden wir zwei Tage beisammen sein.« Sie sagte es leise, ganz nahe an seinem Gesicht. Zenobi rührte sich nicht, atmete nicht. Als sie sich zurücklehnte, zitterte er. Er fuhr folgenden Samstag schon am Nachmittag hinaus. Helene und ihr Gast sollten abends folgen. Es war später Oktober. In der Stadt hingen die feuchten Nebel tief herab, draußen, je weiter er kam, drang immer mehr die Sonne durch. Er nahm es als Zeichen, als Vorbedeutung, sah in die goldene Luft zweier unendlicher, glückhafter Tage, die noch nicht begonnen hatten. Er suchte Zimmer aus in dem fast leeren, winddurchwehten Hotel auf der Höhe, ließ sie heizen, stellte fahlrote und violette Dahlien auf Helenes Tisch, besprach mit der Wirtin das Abendessen. Dann war er draußen. Die Waldhügel standen dunkel mit einem rötlichen Schimmer, die welligen Wiesen waren tiefgrün. Er hatte noch Stunden vor sich, wollte einen weiten Spaziergang machen und auf Umwegen dann den Bahnhof erreichen. Aber er durchstürmte nur die blätterraschelnden Waldwege kreuz und quer in steigender Ungeduld. Das Rauschen in der großen Stille machte ihn bange, die langsame Dämmerung traurig. Er lief ins Hotel zurück, setzte sich in das für Helene bestimmte Zimmer an den Tisch und schrieb:

»Helene, sei gegrüßt und willkommen! Ich habe mich in dein Zimmer gesetzt, in dem Du noch nie warst und doch schon gegenwärtig bist, weil ich drin bin. Denn wo immer ich bin, da bist Du ... Schon stocke ich und halte die Feder an und war doch, als ich hinauflief, voll von tausend Dingen, die ich Dir zu sagen hatte. Warum verwirrt mich nur die Vorstellung Deiner Gegenwart so sehr? Oh, fände ich doch Worte, die Dir sagen könnten, was Du bist, was Du mir bist ... Warum sage ich: mir? Wer bin ich denn und was liegt an mir? Du allein, sonst nichts ... Ich sehe mich um und staune. Hier in diesem kleinen Raum wirst Du bald sein. Deine Füße werden ihn durchschreiten. An diesem Tisch wirst Du sitzen. Du wirst ans Fenster gehen und mit Deiner Hand den Vorhang heben, und Deine Augen werden auf dem stillen Garten ruhn, den ich jetzt vor mir sehe.«

Er schaltete Licht ein und schrieb weiter:

»Und auch ich werde da sein. Ich, jetzt noch nichts als ein ohnmächtiger Ruf, ein fernes Echo von Dir, werde unter Deinen Augen sein. Doch, ich will nichts voraus denken. Ich will warten auf Dein Licht ...«

Er schrieb noch lange.

Als der Zug nach kurzem Halten mit einem Pfiff die kleine Station verließ, lief Zenobi aufgeregt den zwei Gestalten entgegen, die im spärlichen Licht einer Laterne den knirschenden Kiesweg herabkamen. Er begrüßte Helene, die ohne Eile sich näherte, und wandte sich ihrem Begleiter zu. Der blasse junge Mann, in einem vertragenen Touristen-Anzug, ließ seinen Rucksack in der Hand herabhängen und musterte Zenobi mit einem ruhigen, nackten Blick von Kopf bis zu den Füßen. Auf Zenobis ihn herzlich willkommen heißende Begrüßung, die etwas feierlich klang, nickte er unzeremoniell mit einem leisen »Danke«, indessen Helene, die dicht an seiner Seite blieb, sich besorgt erkundigte, ob er nicht friere. Er nahm wortlos die ihm dargebotene Decke, hing sie nachlässig um, wie jemand, der eine übertriebene Sorgfalt sich gleichmütig gefallen läßt. Da der Abendwind sich verstärkt hatte, suchten sie eilig das Hotel zu erreichen und gingen auf ihre Zimmer.

Zenobi wartete nicht lange an dem bereits gedeckten Tisch, auf dem in einem blauen Topf Herbstblumen standen. Er hatte sich frisch rasiert, in seinen besten dunklen Anzug umgekleidet und hatte feiertägliche Gefühle. Die anderen kamen bald in ihren Reisekleidern herunter, waren hungrig und besprachen einen Ausflug für den nächsten Tag, zu dem man früh aufbrechen wollte. Zenobi wurde gebeten, mitzukommen. Helene in ihrem erdfarbenen Kostüm schien sich Mühe zu geben, ihrem Gaste sich anzugleichen. Sie war fast unwillig, als Zenobi sie bat, das Barett wenigstens abzunehmen, errötete plötzlich und dankte ihm für die Blumen. Der Ingenieur widmete sich mit einiger Hast dem Essen. Kurze Fragen und Antworten gingen zwischen ihm und Helene hin und her und wurden wie im Fluge aufgefangen. Zenobi blieb fast ausgeschaltet. Von einer »Bewegung« war die Rede, Namen wurden genannt, die ihm fremd waren, und Worte fielen wie Verschwörerzeichen. Die Unterhaltung wurde immer einsilbiger. Helene war ganz in Anspruch genommen. Sie schien nur für ihren Gast da zu sein.

Zenobi hatte sich den Abend anders vorgestellt. Helene glücklich an seiner Seite, ihr Jugendfreund verehrungsvoll zu ihr aufschauend, wie er selbst, doch im gehörigen Abstand von zwei Liebenden, deren Einverständnis er fühlen mußte. Gewiß, er wollte es an Diskretion nicht fehlen lassen und auch nicht an Freundlichkeit für Helenens Gast, der dadurch eine Art sympathischer Verwandter wurde. Und nun, was war geschehen? Eigentlich nichts! Helene saß ja an seiner Seite, und an dem Gast war auch nichts auszusetzen. Vielleicht lag es an ihm selbst? Er mußte nur seine Stellung wieder einnehmen, die Unterhaltung beleben. Allmählich kam er in Schwung, machte Andeutungen, daß er bald aus seinem Amt in ein anderes übergehen werde, da er für eine wichtige diplomatische Mission ausersehen sei. Er habe allerdings Beweise solcher Fähigkeiten geliefert, welche – in aller Bescheidenheit sei es gesagt – die Aufmerksamkeit des Ministeriums auf ihn gelenkt haben. Der Hofrat Klein habe ihn einmal die tête forte der Statthalterei genannt – und das wolle etwas sagen. Und die Geschichte mit dem Prinzen ... Er lächelte geheimnisvoll.

»Sie haben sicherlich auch davon gehört ... Ja, wenn ich reden dürfte ...«

Er füllte die Gläser, sah mit einem großen Blick Helene an und bat, auf ihr Wohl anstoßen zu dürfen. Sie tat ihm etwas verlegen Bescheid, der junge Mann lehnte höflich ab. Er trinke nicht. Er schob sein Glas beiseite, sagte:

»Wohl bekomm's, Lene!« Es klang fast ironisch. Zenobi fühlte, daß seine Rede wie in der Luft hängen geblieben war. Das bald beendete Mahl wollte nicht recht heiter werden. Der junge Mann zupfte einsilbig an seinem Bärtchen auf der Oberlippe, unterdrückte ein Gähnen. Auch Helene erklärte, sie sei müde. Man ging früh auseinander, um am Morgen rechtzeitig aufzubrechen. In seinem Zimmer hörte Zenobi noch ihre Stimmen auf dem Korridor, bald laut, bald leise; Türen gingen, klappten zu und wurden wieder geöffnet, dann war es still.

Der Morgen war trübe, als man früh aufbrach. Niedrig ziehende, schwere Wolken kündigten Regenwetter an. Doch Helene und ihr Gast waren aufgeräumt und wanderlustig gestimmt. Sie erzählte von gemeinsamen Partien, die sie früher zusammen im Gebirge gemacht hatten und bei denen sie »toll« eingeregnet waren, in Ausdrücken eines seltsamen Jargons, wie er unter vertrauten Kindern der gleichen Schule üblich ist. Sie stampften mit großen Wanderschritten im Gleichtakt voran, so daß Zenobi Mühe hatte, nachzukommen und an Helenes Seite zu bleiben. Sie schien das Bewußtsein ihrer hoheitsvollen Schönheit plötzlich eingebüßt zu haben. In ihrem kurzen Rock, der sie kleiner machte, und mit der keck aufs Ohr geschobenen Mütze hüpfte sie wie ein Schulmädchen in den Ferien über Steine und Wasserrinnen eine steile Halde am Wege hinauf, schrie nach Richard, daß er nachfolge, und kam dann Hand in Hand mit ihm in atemlosem Galopp zurückgesprungen.

Zuweilen verloren sie sich, hintereinander herjagend, hinter Bäumen, in Büschen, an einem vorbeifließenden Bach, aus dem es sie plötzlich anwandelte, Wasser zu trinken. Zenobi hörte ihre Stimmen sich entfernen, wartete oft lange und ängstlich, bis sie an einer anderen Stelle des Weges wieder auftauchten und durch Zurufe sich bemerkbar machten. Helene erkundigte sich stets mit gleicher Freundlichkeit, ob es Zenobi nicht ermüde, ihr täte es gut, sich zu trainieren, und Richard, wenn er auch noch angegriffen ist, schade es nichts, er sei ein alter Tourist und Fußgänger und habe noch andere Partien gemacht. Richard aber war schweigsam und nahm von Zenobis Anwesenheit nur Kenntnis, wenn er von ihm angesprochen wurde.

Als dann der Regen zäh und Dauer versprechend einsetzte, ließen sich die beiden unter einer Tanne nieder, breiteten einen Lodenmantel über ihre Schultern und begannen mit sachlichem Ernst Päckchen auszuwickeln, die der junge Mann in seinem Rucksack mithatte. Sie aßen mit kleinen Bissen Biskuits, Schokoladebohnen und winzige, getrocknete Früchte, lachten und taten unbekümmert um den Regen. Auch Zenobi erhielt eine Handvoll zugeteilt. Und Helene, die mit andächtiger Miene einen Ritus zu vollziehen schien, bemerkte in einem Ton, der fast wie ein Vorwurf klang, er werde es wohl nicht zu würdigen wissen, es sei Touristenproviant. Zenobi stand in seinem Stadtpaletot, den Kragen hochgeschlagen, unter der triefenden Tanne und fröstelte, mit einem Gesicht, das sauer wurde vor krampfigem Lächeln.

Er kehrte im strömenden Regen, nachdem er die beiden, die vorauseilten, aus den Augen verloren und auf aufgeweichten Feldpfaden die Richtung verfehlt hatte, spät ins Hotel zurück. Die anderen waren schon vor ihm angekommen. Als er an Helenens Tür klopfte, scheuchte ihn ihr erschreckter Zuruf: »Um Gotteswillen, nein, ich bin im Bett!« davon.

Auch der Ingenieur ließ sich nicht blicken. Erst am Abend fand man sich wieder bei Tisch zusammen. Helene ausgeschlafen, frisch und strahlend, in einem schwarzen Kleide mit Spitzen. Der junge Mann schien ebenfalls aufgemuntert, erzählte, wie er vor dem Feuer in der Küche seine Sachen getrocknet und in einem geliehenen Kutschermantel auf einem Schemel der Wirtin die Kaffeemühle gedreht habe. Er sei sich wie in einer Alphütte vorgekommen. Zenobi, der einen trüben Nachmittag voll quälender Unruhe verbracht hatte, fand in Helenes Anblick seine gute Laune wieder. Er fühlte sich wieder in Form. Die anderen ließen ihn gewähren.

Doch er schlief schlecht in dieser Nacht. Die Nähe Helenes machte ihn fiebern. Verwirrende Bilder bestürmten ihn. Es fiel ihm plötzlich schwer aufs Herz, daß ein Tag von den zwei glücklichen dahin war, und nun sah er Helene, wie unter einem Glassturz, elfenbeinern und kostbar ... Mit dem Rücken zu ihr stand Richard, gleichgültig, kühl und blickte ihn mit einem unverschämten Lächeln an. Das war lästig und quälte ihn, wie das nicht aufhören wollende Summen einer Fliege über seinem Kopf. Oder war es wirklich nur die Fliege? ... Er stand auf und trank Wasser. Ein heftiger Wind warf heulende Regentropfen gegen die Fensterscheiben, die leise klirrten. Ob Helene wohl schlief? – Was war das für ein seltsamer Mensch, dieser unbewegte Richard, daß er mit Helene umging wie mit einem beliebigen Mädchen, einer Nachbarin, die man kennt und von der man alles weiß; mit der man redet oder schweigt, als wäre es nicht das größte Wunder, daß sie da ist. Oder war es möglich, daß jemand in Helene nichts als ein schönes Mädchen sah? ... Eine Frau – begehrenswert? ... Er stöhnte. Ein quälender und tieferregender Gedanke, der ihn zu vernichten drohte. Faßte ihn jetzt ein Zweifel über sein Dasein und drohte ihn schwindlig ins Bodenlose hinabzustürzen? Nein, nein! Im Sturze sah er ihre Augen. Sie hielten ihn. Da war eine Hoheit und ein Strahlen über jeden Wunsch und Zweifel. Andere waren Frauen, sie aber war Schönheit, vollkommen, unnahbar ... Und in der unruhevollen Halbwachheit von Bildern bedrängt, sah er sie in allen Verwandlungen, die sein Phantasiespiel ihm nur bieten mochte, und immer stand er am Ende vor der gleichen beglückenden Grenze, ob er der Niedersten einer oder der Mächtigste war. Und wäre er der kaiserliche Prinz selbst, so war und blieb sie Helene. Und doch, einmal, und war der Tag noch so fern, daß man seinen Schein noch nicht ahnen konnte, da wird er vor sie treten ... Das war sein Geheimnis für ihn allein.

Als der Morgen bereits heraufdämmerte, lag er mit geschlossenen Augen, lächelnd, und führte ein halbgeträumtes, halbgedachtes Gespräch mit Richard. Der stand in kurzen Hosen, mit der Miene eines unverschämten Schülers, der sich herausreden will, vor ihm. Zenobi aber, sehr überlegen, ganz Nachsicht, gab sich den Anschein, als wüßte er von nichts und sagte:

»Behalten Sie Ihre Erklärungen für sich ... Ich bin gar nicht neugierig.«

»Erlauben Sie! Wir sind es von früher so gewöhnt, da ist nichts dabei.«

»Brav, brav!« nickte Zenobi. »Sie sind sehr bescheiden, mit ihr gewöhnt zu sein. Aber trauen Sie sich nicht zuviel zu. Vielleicht verstellt sie sich nur? ... Und wenn Sie auch ein großer Bergsteiger sind, so hoch können Sie gar nicht steigen, daß Sie sie erreichen. Merken Sie denn nicht, daß Sie nicht durch die Wand können, wenn sie auch von Glas ist?« Richard aber machte ein scheinheiliges Gesicht und sagte: »Ich darf mich nicht mit Ihnen messen. Sie sind wohl ein großer Herr ... Darf ich Ihren Namen wissen?«

Zenobi schien es, daß er dabei leise kicherte. Eine Weile fühlte er sich wie unter einem Alpdruck ... Stand er nicht vor aller Augen da, nackt und bloß, wie am Pranger und konnte sich nicht rühren? ... Er holte tief Atem. Die Lider lagen ihm bleiern auf den Augen. Aber er lächelte wieder ...

»Ja, Sie heißen Richard und sind ein Ingenieur. So viel Ihnen das scheint, ist es auf dieser Waage weniger als nichts.«

Und er hatte die Genugtuung, daß nach diesen Worten Richard lautlos in einem langen, dunklen Gang verschwand.

Er erwachte gestärkt, mit dem Vorsatz, an einem gemeinsamen Ausflug nicht teilzunehmen, Klarheit zu schaffen, Helene zu bitten, ihrem Freunde die Lage zu erklären. An diesem Tage wollte er ihr endlich alles sagen. Doch als er hinunterkam und im Gastzimmer am Tisch Helene allein fand, schlug ihm das Herz. Sie war sehr blaß und antwortete nur leise auf seine Begrüßung, ohne ihm die Hand zu geben. Bei seiner Frage, wie sie geschlafen habe, flog eine leichte Röte über ihr Gesicht, dann sagte sie: »Richard war in der Nacht nicht wohl ...«

Er fragte besorgt: »Etwas Ernstes?«

Sie überhörte die Frage.

»Er brauchte meinen Beistand«, fuhr sie fort. »Ich bin bei ihm geblieben.«

Er sah betroffen an ihr vorbei und fragte mit Anstrengung:

»Wie, ist er krank?«

Sie hatte ihr ungeduldiges Achselzucken.

»Er will heute schon zurückreisen, und ich werde ihn begleiten.« Es klang scharf und entschieden.

Einen Augenblick lang glaubte er, noch in Traum und Alpdruck der Nacht verstrickt zu sein, suchte einen Halt.

»Und ich, Helene?«

»Nicht, nicht«, rief sie abwehrend und stand auf.

Jetzt erst sah er, daß sie im Reisekleid war, indessen sich die Tür öffnete, und Richard seinen Rucksack in der Hand, wie er ihn an der Bahn sah, ruhig eintrat.

»Bist du fertig, Lene?«

»Ja, im Augenblick!« Sie ging rasch an Zenobi vorbei zur Tür hinaus.

Zenobi stand erstarrt mitten im Durchgang zwischen den Tischen. –


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