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V

In einem der alten, schönen Gasthausgärten, welche die Rebenhügel der südlichen Vorstädte der Residenz sanft hinansteigen, saßen in einer Laube einige Herren beim neuen Wein. Rings um sie lärmte unter der Begleitung schmelzender Schrammelmusik bereits jene rasch zunehmende Weinseligkeit, mit welcher unter dem Vorwand eines heiteren Winzerfestes das Großstadtvolk sein Bedürfnis nach Trubel befriedigt. Ein Prinz des kaiserlichen Hauses, sein militärischer Begleiter, einige Eingeladene vom Hochadel und ein preisgekrönter Heimatdichter saßen hier, wenngleich im Gewand des Bürgers und mit geflissentlicher Ungezwungenheit an dem volkstümlichen Vergnügen teilnehmend, etwas abgesondert und benommen, zumal der Wirt, von der ihm widerfahrenen Huld zerschmelzend, trotz wiederholtem Abwinken seine Devotion zu bekunden nicht aufhörte und der Stehgeiger mit patriotischen Weisen sich bemerkbar machte. Der Prinz, der am Vormittag eine unerfreuliche Stunde mit dem Herrscher, der ihn nicht liebte, und dann ein langweiliges Repräsentieren bei einer militärischen Feier hinter sich hatte, war verdrossen. Der Preisgekrönte, mit dessen Einladung der prinzliche Hofmarschall eine besondere Feinheit beabsichtigt hatte, nämlich: dem Prinzen einen sachkundigen Führer und Gesellschafter für diese Gelegenheit zu geben und damit zugleich eine gebotene Einladung des Dichters zu einem Abendempfang, wo er störte, zu sparen, versagte völlig. Er, der durch seine Trinkfestigkeit berühmt war und dessen bodenständiger Humor die Hofräte entzückte, war hier im Freien, im Angesicht des Volkes, befangen, fast linkisch. Bei jeder Ansprache des Prinzen strammte sich seine untersetzte Gestalt und hob sich unwillkürlich vom Stuhl. Er verstand schlecht, gab stotternde Antworten, wagte sein Glas nicht auszutrinken, und seine beweglichen Augen irrten hinter der dicken Brille aufgeregt von einem zum andern. Der Prinz zuckte leicht die Achsel, lächelte höflich. Er dachte an Aufbruch, überlegte, daß die für den Abend angesagte Beratung ihm eine Stunde noch ließ, mit der nichts anzufangen war, fragte zerstreut einen der Herren nach dem Befinden seines Vater, fand, immer mißmutiger, daß seine ihm oft geneidete Popularität ihn dem recht zweifelhaften Vergnügen aussetzte, sich vor versammeltem Volk mit seinem viel photographierten Lächeln stundenlang zu langweilen, nur damit die Zeitungen wieder einmal melden konnten, wie sehr er der Bevölkerung ans Herz gewachsen sei und wofür er, der bewährte Mehrer der Volkstümlichkeit der Dynastie, vom Kaiser irgendeine neue raffinierte Bosheit zu gewärtigen hatte.

Er sah wieder zufällig auf das gerötete Gesicht des Dichters. ›Was für eine Idiot‹, dachte er, ›nicht einmal unterhalten kann er einen – und es ist doch eigentlich sein Beruf.‹ Und er hob lächelnd das Glas gegen ihn. Der Dichter gab sich einen Ruck und begann umständlich von den alten Bräuchen der Weinlese in dieser Gegend zu sprechen und was davon sich noch erhalten, rühmte die Trinkfreudigkeit des gemeinen Mannes, der, dank der Gottesgabe der heimatlichen Rebe, seine sprichwörtliche goldene Heiterkeit sich bewahrt habe ...

Der Prinz, der eine Weile zu der Nachbarlaube hinübergesehen hatte, wo es sehr heiter zuging, sagte mit einem Anflug von Dialekt, der den Ernst seiner Worte mildern sollte:

»Arg strapaziert, die goldene Heiterkeit, lieber Doktor! Nix wie Radau! In den Trams, die abends zur Stadt fahren, werden Frauen insultiert, Scheiben zerschlagen, Wachmänner angerempelt ... Lesen Sie den Polizeibericht morgen.« Dabei ärgerte er sich, daß er seiner schlechten Laune so deutlich Ausdruck gegeben, und fuhr, wie ablenkend, fort: »Die dort scheinen sich übrigens wirklich zu amüsieren«, er zeigte nach der Laube, »scheint spaßig der Mann da ...« Dort stand Zenobi mit einem gefüllten Glas in der erhobenen Hand und hielt eine Art Rede oder Ansprache, die von Lachen und Beifall häufig unterbrochen wurde. Als er im Kreise sich bewegend sah, daß man nebenan auf ihn aufmerksam wurde, improvisierte er in bester Laune hinüber:

»Und Sie, meine gefrorenen Herren, tauen Sie etwas auf. Es ist Feuer genug da für alle ... Was sitzen's denn dort, wie im Herrenhaus, wenn die Erbschaftssteuer beraten wird? ... Hohes Haus, allerhöchstes Haus, gestatten Sie einem armen Weinschlucker folgende Resolution zur Annahme zu empfehlen: Wer allein trinkt oder beim Weine schweigt, wird von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, dahingegen wird die Staatsanwaltschaft beauftragt, ein Sittlichkeitsdelikt an sich selbst zu begehen in Anwesenheit der gesamten Presse und aller benachbarten Länder ... Widrigenfalls wird der Malefikant rückwärts auf ein Pferd gesetzt und, den tarpejischen Felsen um den Hals, zum Tantalus hinabgestürzt. Wer aber ist Tantalus, meine Herren? ... Tantalus ist der Mann, der an allem schuld hat, der alles möchte und der nichts kann ... Will er, daß ihm die gebratenen Hühner in den Mund fliegen? ... He, Kellner, ein Brathuhn! – Ich sage, nieder mit Tantalus ... Vivat Bacchus, Bacchus lebe! Bacchus ist ein braver Mann ... Indessen, prost, meine Herren! –«

Der Prinz lachte, daß ihm die Tränen herunterliefen, und tat ihm Bescheid. Die Herren folgten.

»Ein prachtvoller Narr!« rief er. »Tolle Rede! – Bringen Sie ihn doch her, Schönburg.«

Der Dichter machte eine Bemerkung über die auffallenden Assoziationen in der Trunkenheit und daß Vivat Bacchus tatsächlich von Mozart sei.

»Der ist nicht betrunken«, sagte der Prinz.

Die Herren stimmten ihm zu. Einer meinte, er sähe so bekannt ans und würde sich gewiß als jemand entpuppen, den alle kennen, vom Theater oder sonstwo her.

Nein, Zenobi war nicht trunken vom Wein. Das erwies sich bald, als er unbefangen am Tisch Platz nahm, sein Monokel ins Auge klemmte und, aus Anlaß einer diskreten Anspielung auf die Folgen der Weinseligkeit, heiter, mit graziöser Pointierung eine Geschichte anfing von einem angetrunkenen Engländer, der im Omnibus einer einsteigenden Dame mit Gewalt seinen Platz aufzwingen will und nicht begreift, warum sie so verlegen und beharrlich ablehnt, bis er vom Schaffner, den er fragt, aufgeklärt wird, daß die ganze Bank, auf der er sitzt, leer ist ... Den Dichter aber, der meinte, nun habe er ein Objekt gefunden, auf dessen Kosten man sich erheitern könne, und mit anzüglichen Redensarten ihn herausforderte, setzte er zur Genugtuung des Prinzen so flink und schlagfertig auf den Sand, daß der sich innerlich grollend zu einem anderen Ton bequemen mußte.

»Sie sind wohl Künstler?« hatte der Dichter gefragt.

»Jawohl«, antwortete Zenobi mit einer Grimasse, »ich kann Gedrucktes lesen und dabei einen Teller Suppe löffeln.«

»Das soll eine Kunst sein? Das kann ich auch.«

»Ich wette, daß Sie es nicht treffen.«

Das knallte wie ein Schuß und machte den Dichter stutzig. Er fand, daß er sich auch dann lächerlich machen würde, wenn es ihm gelang. Man konnte aber auch nicht wissen, ob nicht irgendein verruchter Schabernack dahintersteckte. Er hielt es für ratsamer, abzulenken, und da er sich ärgerte, wurde er ausfällig:

»Kennen Sie die Fabel von dem Bär und dem Fuchs? – Eine lehrreiche Fabel. Der Bär läßt sich nicht spotten und schlägt zu ...«

»Mir sind alle Tiere recht, wenn sie reden können und sich zu benehmen wissen.«

Die Herren lachten.

»Sie sind wohl Stimmungsmacher von Beruf?«

»Nein, wahrhaftig«, versicherte Zenobi treuherzig. »Doch was immer Ihr Beruf sein mag, sind Sie nicht berufen, mir meine Stimmung zu verderben. Lassen Sie mich lieber Ihnen eine Geschichte erzählen.«

Und er erzählte:

»Der brave Haushund ärgerte sich über das stolze Getue des Hahns und daß der nach Belieben krähen durfte, während ihm das Bellen nur ausnahmsweise gestattet war. Meist aber wurde er dafür verwiesen. Da er niemand anderen fragen mochte – wer hätte es auch gewußt –, begab er sich also zum Hahn selbst und erkundigte sich nach dem Grund seiner Sonderstellung. Der Hahn hob einen Fuß und zeigte seinen Sporn. ›Wenn du das hast‹, sagte er stolz, ›dann bist du wer und brauchst dich um niemand weiter zu kümmern.‹ Das merkte sich der kluge Hund, ging darauf stracks in die Kleiderkammer seines Herrn, nahm dessen Reitsporen vom Kasten und band sie sich geschickt um die Hinterpfoten. Dann erschien er bei seinem Herrn, stellte sich aufrecht und bellte stolz und nach Herzenslust. Der Herr, als er solche Künste seines Hundes sah, war sehr erfreut und verkaufte ihn an einen Zirkus, wo der Hund jeden Abend ängstlich und schwindlig ein kleines wildes Pferd reiten muß. Und wenn er dabei einen Gedanken noch fassen kann, so wundert er sich, warum es der Hahn, dem es mit seinen zwei Beinen leichterfallen würde, nicht tun muß. Bellen aber darf er auch jetzt nicht, wo und wann es ihm gefällt ...«

Der Dichter, der mißtrauisch eine Anspielung hinter der Geschichte vermutete und sie doch nicht gleich fand, da Zenobi seine Einfälle von sich gab, wie sie ihm kamen, sagte, schon übelgelaunt:

»Das soll wohl eine Fabel sein, aber man versteht ihren Sinn nicht.«

»Dafür ist sie wahr«, erwiderte Zenobi, »ich habe den Hund persönlich gekannt.«

Der Prinz amüsierte sich. Er fühlte sich von Zenobis Laune, die sein Inkognito respektierte, menschlich angerührt und ließ sich in seinem wachsenden Behagen von der Neugier seiner Begleitung, die ihre Annahme gern bestätigt gesehen hätte, nicht weiter stören. Die späte und klare Dämmerung, die in der letzten Sonne verglühenden Hügel, die banalen Walzerklänge, ja selbst der trunkene Lärm, der in der zunehmenden Dunkelheit immer mehr anwuchs, fügten sich mit dem Aroma des prickelnden Weins zu einer angenehmen Einheit und erhielten ihren Sinn in einem harmonisch sorglosen, selbstvergessenen Gewährenlassen. Auf eine wohlgesetzte Rede des Dichters, die dem Lob des Weines galt, erhob Zenobi sein Glas und rief:

»Es lebe die Freude! ... Auf vieles kann der Mensch verzichten, vieles entbehren, aber wenn er keine Freude mehr kennt, da ist es aus mit ihm ... Das Kind freut sich, das Tier freut sich, und wir lieben das Kind und das Tier um der Freude willen. Bedauernswert die Armen, die im Glase Vergessen suchen und Betäubung. Bedauernswerte Pedanten, die bedächtigen Weinkenner ... Ich, ich könnte brüllen vor Vergnügen darüber, daß ich mich so freuen kann ... Entschuldigen Sie, meine Herren, aber ich freue mich. Freuen Sie sich mit mir ... Hoch die Freude!«

Er war vollkommen glücklich, und das Glück, das sein Wesen ausstrahlte, steckte die Vornehmen und Zurückhaltenden an, so, daß in der Laube die ungezwungene Heiterkeit sich ausbreitete.

Beim Aufbruch bot ihm der Prinz einen Platz in seinem Wagen an, der sie zur Stadt brachte. Dem Begleiter des Prinzen, der ihn beim Abschied um seinen Namen bat, antwortete Zenobi lachend: »Er steht nicht im Gotha ... und ein anderer, nicht wahr, ist Schall und Rauch!« – Der junge Offizier glaubte darauf nicht weiter insistieren zu sollen.

*

Einige Tage darauf bat ein älterer, dem Aussehen nach zur guten Gesellschaft gehörender Mann Zenobi, der in einem eleganten Café in einer Nische Zeitungen las, um die Erlaubnis, sich an seinen Tisch zu setzen. Auf die höflich einladende Bewegung Zenobis nahm er dankend Platz und begann in allgemeinen Wendungen, die aber den Kenner verrieten, eine Unterhaltung über politische Dinge. Während er bestimmte Äußerungen oder Urteile vermied, wollte er offenbar seinem Partner Stichworte hinwerfen, welche diesen veranlassen sollten, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten. Zenobi hatte sich aber bereits bei aller Verbindlichkeit seiner Haltung jene undurchdringliche Miene angeeignet, welche Personen von Bedeutung geziemt, wenn sie sich vor den Zudringlichkeiten aller Welt wahren wollen. Und es gelang ihm so vollkommen, daß der kluge, in seinem Beruf erfahrene und geschickte Mann sich gezwungen sah, die Methode zu wechseln. Er rückte näher heran, wurde vertraulich und bedeutsam, versicherte, daß die für die Politik maßgebenden Teile der Gesellschaft, die bei aller humanitären und freiheitlichen Gesinnung dem Prinzip einer gesunden Autorität huldigen, in loyalster Ergebenheit nach wie vor ihr Vertrauen in die Dynastie setzen, so wie er selbst, der nicht geringen Einfluß auf jene Kreise besitze, überzeugt sei, daß sie allein die Mittel kenne und zur Anwendung bringen würde, welche die Schwierigkeiten der innerpolitischen Lage beseitigen und das Land zu Ruhe und Wohlfahrt führen werde. Aber – hier wurde sein Ton leiser und dringender – gerade in letzter Zeit sei man über die bei Hof herrschenden Absichten völlig im dunkeln, besonders seit der Ernennung des neuen Ministerpräsidenten, was die Entstehung und Verbreitung von allerhand beunruhigenden Gerüchten zur Folge habe. Man vermisse – leider – irgendeinen Wink, einen Hinweis, der die anhängliche Bevölkerung über den Kurs, den man jetzt einschlagen will, aufklären könnte. Zumal selbst der wegen seiner Ritterlichkeit und Leutseligkeit von allen bewunderte Prinz Albrecht und sein Anhang sich seitdem völlig in Schweigen zu hüllen beliebe ...

Hier wurde Zenobi aufmerksam, zog die Brauen hoch und neigte, wie um besser zu hören, den Kopf nach der Seite des Sprechers. Dieser nickte dreimal bedeutungsvoll, hob schweigend den Finger, als wollte er sagen: Achtung, da wären wir also! – und fuhr dann etwas rascher fort:

»Ich will ohne Umstände sprechen. Sie sind im Vertrauen Seiner Hoheit. Man weiß das. Ich selbst hatte ja die Ehre, Sie mit ihm zu sehen. Was denkt der Prinz, was meint er?«

»Der Prinz will das Beste«, sagte Zenobi.

»Daran zweifelt niemand, der ihn und sein Herz kennt, das für alles Hohe und Erhabene schlägt. Die Wahl seiner Umgebung schon zeugt von staatsmännischer Klugheit und Umsicht« – er verbeugte sich gegen Zenobi –, »doch seine Zurückhaltung muß jetzt auffallen ...«

»Es ist nicht im Interesse Seiner Hoheit, gerade jetzt hervorzutreten«, meinte Zenobi obenhin.

Der andere horchte auf.

»Ah«, sagte er wie bedauernd, »offenbar weil er diesem Schritt des Hofes fernsteht. Oder – ihn nicht billigt? Andererseits ...«

»Andererseits«, nahm Zenobi rasch auf, »muß natürlich auch nur der Anschein einer frondierenden Haltung vermieden werden.«

»Man kann diese Vorsicht nur bewundern«, bemerkte der andere. »Seine Hoheit hat freilich einer Situation Rechnung zu tragen, die nicht leicht delikater sein kann. Ohne die Würden und Lasten eines Thronfolgers ist er nach menschlichem Ermessen doch der, auf den man in nicht zu ferner Zukunft als Lenker des Staates rechnet, ja, ich darf sagen, hofft ...«

Nun war Zenobi nicht mehr zu halten.

»Und er hat die kaiserliche Gesinnung dazu«, begann er. »Man wird sich wundern!«

Der andere hielt den Atem an, um nicht durch die leiseste Bewegung die endlich entsiegelte Quelle in ihrem Ausbruch zu stören.

»Vor allem«, fuhr Zenobi fort, »wird endlich dies Feilschen und Paktieren mit den Parteien und Politikastern aufhören. Entweder – oder ... Es stehen die neuen Männer schon bereit, welche die großen Aufgaben zu lösen haben werden, die seit einem halben Jahrhundert nicht vom Fleck kommen. Ein Staat, der blühen könnte wie keiner, wird seit Jahrzehnten nur durch kleinliche Eifersucht Ehrgeiziger gehemmt, die nach dem Grundsatz ›Teile und herrsche‹ sich notdürftig an der Macht halten ... Der Prinz denkt an eine andere Macht ...«

»Die Autonomien«, warf der andere begierig ein.

»Ja natürlich, die Autonomien«, griff Zenobi auf, der ganz entrückt schien, »warum nicht? ... Warum einander das Leben nicht gönnen? Warum dieser ewige Hader um einen Gerichtssprengel, eine Schule? Für alle ist Platz, wenn einer will.«

»Gewiß ... des Herrschers Wille ...«

»Der Prinz ist kein Tyrann. Man darf ihn nicht verkennen. Sein Gedanke ist groß ... Die Völker des Reiches können und sollen in Frieden miteinander leben, wenn gerechte Ansprüche befriedigt werden.«

»Und die nationalen Minderheiten?«

»Es gibt keine Minderheiten, wenn die Verfassung ihre Rechte garantiert.«

»Also Verfassungsreform?« Der Mann traute seinen Ohren nicht.

Doch Zenobi war nun einmal im Zuge und ließ sich nicht stören.

»Ein Herrscher darf nicht ängstlich vor Worten sein«, sagte er stolz. »Es soll eben eine neue Epoche beginnen, und da muß manches Alte und Gewohnte fallen. Der Prinz ist der Mann dazu, sich an die Spitze eines neuen Zeitalters zu setzen, und die befreiten Völker werden ihm willig und mit Jubel folgen!«

Er sah begeistert auf sein Gegenüber.

Der Mann schwieg, indessen entging es Zenobi nicht, welchen Eindruck seine Worte hervorriefen und den der andere kaum verbergen konnte. Und er fügte hinzu:

»Natürlich bilde ich mir nicht ein, alle Intentionen Seiner Hoheit zu kennen. Ich bitte Sie, das als meine private Äußerung aufzufassen.«

Der Mann dankte und verbeugte sich höflich.

Bevor er ging, nahm er den Kellner beiseite und fragte:

»Kommt der Herr oft hierher?«

»Manchmal.«

»In Gesellschaft?«

»Nein.«

»Passen Sie auf ... Es würde mich interessieren, mit wem er verkehrt.«

Dann sagte er mit geheimnisvoller Miene und leise:

»Es ist eine sehr wichtige Persönlichkeit bei Hofe ...«

Als Zenobi zahlte und zum Gehen sich anschickte, lief ihm der Kellner mit dem Stock nach, den jener auf der Bank hatte liegen lassen, und in dem Bestreben, seiner tiefsten Ehrerbietung vor einem solchen Mann, der dazu noch so tat, als wäre er es gar nicht, besonderen Ausdruck zu verleihen, stotterte er:

»Ihr ... Herr Stock, gnädiger Herr!«

Kurze Zeit darauf konnte Zenobi in den Zeitungen einen Artikel lesen, der aus einer auswärtigen Zeitung übernommen war und in der politischen Welt großes Aufsehen erregte. Alle sprachen davon. Der Artikel ging von den innerpolitischen Schwierigkeiten des Landes aus und von ihren möglichen Auswirkungen auf die europäische Lage und faßte die Besorgnisse ins Auge, die die Ereignisse einer nahen Zukunft bringen könnten. Ziemlich unzweideutig wurde auf einen bekannten Prinzen des kaiserlichen Hauses angespielt, dessen politische Tendenzen erörtert und warnend darauf hingewiesen, von welcher Tragweite sie seien, ja geradezu geeignet, das europäische Gleichgewicht zu gefährden. Auch die offizielle Welt geriet in große Erregung. Die Hofkreise waren alarmiert. Im Parlament gab es eine Interpellation. Zenobi war nicht erstaunt, in dem viel zitierten Artikel Wendungen und Ausdrücke wiederzufinden, die in jenem Gespräch, das er mit dem Mann im Kaffeehaus hatte, gefallen waren. Er war stolz darauf. Der Prinz, dem es nahelag, an eine Intrige gewisser Personen aus der nächsten Umgebung des Herrschers zu denken, beschwerte sich beim Kaiser. Dieser begegnete ihm mit dem Vorwurf, daß er die Politik seiner Regierung in undurchsichtigen Machenschaften zu durchkreuzen versuche. Schließlich beruhigte sich die öffentliche Meinung, und man erfuhr, daß der Prinz für einige Zeit die Residenz verlasse, um auf seinen im Norden gelegenen Gütern umfassende forst- und landwirtschaftliche Anlagen persönlich zu leiten und zu fördern.

Eine vielberedete Anekdote, die sich die Reporter erzählten, lief unter den Eingeweihten um. Auch Zenobi hörte davon. Es hieß: ›Beim letzten Empfangsabend im Palais des Prinzen im engsten Kreise habe der Prinz die Bemerkung gemacht, er hätte nie geglaubt, daß nüchterne und erfahrene Politiker auf solche faustdicken Phantasien hereinfielen, wie sie jener Artikel in bezug auf ihn enthielt.‹ Darauf meinte sein alter Erzieher, ein berühmter Völkerrechtslehrer an der Hochschule, der auch wegen seiner Offenheit und Integrität Weltruf hatte: »Nein, Hoheit, sie glauben nicht daran, aber sie fürchten sich vor jedem großen Gedanken.«

»Aber es ist doch eine bare politische Unmöglichkeit«, warf jemand ein.

»Leider«, sagte der alte Herr und blickte still vor sich hin. Zenobi hörte das und schmunzelte.


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