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Durchs auswärtige Amt

»Rien ne va plus – die Kugel rollt!«

Die Stille wurde nur durch das Gerassel und Geklapper der Elfenbeinkugel unterbrochen, die aus der sich schnell drehenden Scheibe der Roulette rastlos weiterrollte und -hüpfte. Das währte noch keine Minute, aber den Männern, die das Spiel gefesselt hielt, schien es ein Jahrhundert. Plötzlich erstarb das Geräusch, die Scheibe fuhr zwar noch fort sich zu drehen, aber die Kugel war nunmehr in einem der Fächer liegen geblieben.

Der Bankhalter hielt die Welle an und die Scheibe kam zum Stillstand. »Zwölf – rouge – manque – pair« rief er mit gefühlloser Stimme und schob mit seinem Rechen die Einsätze zusammen und zu sich hin. Die Bank hatte jetzt achtmal hintereinander gewonnen, ohne daß auch nur einem einzigen Spieler eine nennenswerte Summe ausgezahlt worden war. Ein unterdrücktes Murren des Unwillens lief um den Tisch und eine ganze Anzahl von Gerupften verließ den Spieltisch, um an die Bar zu gehen und ihren Groll hinunter zu spülen.

Das Leben in diesen von Marmor und Gold glänzenden Spielhöllen, zu denen so manche englischen Klubs herabgesunken sind, war Pringle im Grunde ein Greuel, aber dennoch hatte der »Chrysanthemum-Klub« für ihn eine gewisse Anziehungskraft, denn nirgends vermochte er so gut wie hier die Menschen zu beobachten, Menschen, deren Leidenschaften durch Verlust und Gewinn beim Spiel aufgestachelt waren. Es war leicht, zum »Chrysanthemum-Klub« Zutritt zu erlangen, und obgleich er in einer der feinsten Straßen von Piccadilly gelegen war, so war man doch recht nachsichtig mit den Aufnahme-Formalitäten, und der Portier ließ eigentlich jeden gut gekleideten Herrn ohne viele Nachfrage eintreten.

Während Pringle den Rauch seiner Zigarette einzog und sich über das unheimliche Glück, das die Bank schon wieder gehabt hatte, wunderte, stand ein junger Mann von dem Spieltisch auf und warf sich in einen der in der Nähe stehenden großen Ledersessel. Gleich darauf brachte ihm ein Diener eine Flasche Pommery, sie auf das danebenstehende Marmortischchen setzend, der der junge Mann eifrig zusprach. Er hatte in seinem Äußeren nichts, was ihn von den tausenden von jungen wohlerzogenen und gutgekleideten Männern unterschieden hätte, die ihr Leben in den Klubs zubringen, aber da er zufällig gerade Pringle gegenübersaß und ihn infolgedessen fortgesetzt ansehen mußte, so stand dieser schließlich auf und trat an den Tisch des jungen Mannes heran. Der Klub war nicht gerade besonders groß, und so konnte ein Fremder, ohne die Formen zu verletzen, schließlich auch ohne vorhergehende Vorstellung mit einem Mitgliede sprechen; deshalb schien der andere auch nicht besonders verwundert zu sein, als Pringle neben ihm Platz nahm und ein Gespräch begann.

»Die Bank scheint heute Nacht das Glück ganz allein gepachtet zu haben,« bemerkte Pringle.

»Das stimmt,« gab der junge Mann offen zu. »Ich habe derartiges Glück bisher noch nicht gesehen.«

»Haben Sie lange gespielt?« fragte Pringle scheinbar mit Mitgefühl.

»Ich bin kein Klubmitglied, wissen Sie, und ich wurde heute Abend hier als Gast zum ersten Male eingeführt.« Die Geister des Weines schienen auf ihn zu wirken und hatten ihn redselig gemacht, deshalb fuhr er vertraulich fort: »Ich habe heute, bevor ich zu spielen begann, dem Klubvorstand einen Check über achtzig Pfund ausgestellt und ich setzte jedesmal zehn Pfund.«

»So haben Sie alles verloren?«

»Stimmt, alles zum Teufel!« brummte der junge Mann mißmutig.

»Aber weshalb fahren Sie denn nicht zu spielen fort? Professor Bond hat ausgerechnet, daß die Bank nur 37 Gewinnmöglichkeiten gegenüber 35 Gewinnmöglichkeiten der Spieler hat.«

»Ich wechselte mein letztes Goldstück,« erwiderte der junge Mann, indem er an die Flasche klopfte, »als ich diese da bezahlte. Es ist das Beste, ich gehe jetzt.« Und er stand etwas unsicher auf; er schien bereits recht früh am Abend mit Trinken angefangen zu haben.

»Versuchen Sie Ihr Glück noch einmal,« überredete ihn Pringle. »Gestatten Sie mir, Ihnen meine Hilfe anzubieten. Sie müssen doch erst noch Revanche nehmen,« und dabei holte er eine Handvoll Goldstücke aus der Tasche.

»Sie sind wirklich recht liebenswürdig, aber –«

»Durchaus nicht! Ich bin ganz sicher, dieses Mal werden Sie Glück haben,« drängte ihn der Versucher. Pringle hatte manchmal großmütige Züge in seinem Wesen und der Jüngling dauerte ihn in gewisser Weise.

»Gut, ich will acht Pfund annehmen und Ihnen besten Dank sagen, Herr – wahrhaftig, ich weiß nicht einmal Ihren Namen; ich heiße Redmile.«

»Und der meinige ist James,« erwiderte Pringle. »Hier nehmen Sie und gewinnen Sie!«

Redmile nahm nun abermals an dem Spieltische Platz und beobachtete aufmerksam das Spiel. Die Bank war nicht länger im Gewinnst und das Interesse der Spieler war infolgedessen lebhafter geworden. Nach einigen Runden setzte er wagemutig ein Pfund auf die geraden Nummern – Pair – und als »26« ausgerufen wurde, hatte er ebensoviel gewonnen. Vorsichtig setzte er nun drei Goldstücke auf die erste Zahlenreihe und da neunzehn die Gewinnnummer war, so hatte er seinen drei Goldstücken alsbald sechs neue hinzugefügt.

»Ich beglückwünsche Sie,« flüsterte hinter ihm Pringle, »sagte ich nicht, das Glück würde sich wenden?«

»Sie sind ein vorzüglicher Ratgeber,« lachte Redmile, »lassen Sie mich nur genug gewinnen, um meinen Check einzulösen, und ich will zufrieden sein.«

»Versuchen Sie, auf die ersten zwölf Zahlen zu setzen,« schlug Pringle vor.

Redmile befolgte diesen Rat und setzte fünf Goldstücke auf den dafür bestimmten Platz.

»Einunddreißig,« rief der Bankhalter und zog mit seinem Rechen das Geld ein. Pringle zuckte die Schultern, doch Redmile drehte sich nicht um, sondern atmete nur schwer. Dann setzte er ein Pfund auf » rouge«, ein anderes auf » impair« und nach sekundenlangem Zaudern warf er noch zwei weitere Goldstücke auf die Zahl einundzwanzig. Gerade als er die Hand fortzog, ertönte die monotone Stimme des Bankhalters: » Rien ne va plus«, die Scheibe drehte sich und die Kugel begann ihren taumelnden Kreislauf. »Einundzwanzig – rouge – passe – impair« verkündete er, als die Kugel zum Stillstand gekommen war.

Redmile hatte durch dieses eine Mal zweiundsiebzig Pfund gewonnen! Er stand vom Spieltische auf und drückte Pringle warm die Hand.

»Ich habe im ganzen nur zweiundachtzig Pfund gewonnen,« sagte er, »und ich muß meinen Check beim Klubvorstand einlösen. Würden Sie so freundlich sein, mich nach Hause zu begleiten, es ist nicht weit, ich wohne in Dover Street, und ich kann Ihnen dort einen Check ausstellen über die Summe, die Sie mir so bereitwillig geliehen haben.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte Pringle und Redmile, hochrot von dem genossenen Wein und der Aufregung des Spieles, entfernte sich, um seinen Check einzulösen.

»Ich habe heute Abend bereits reichlich getrunken,« bemerkte Redmile, als sie zusammen Piccadilly herunterbummelten, »sonst würde ich den Vorschlag machen, noch einer Flasche den Hals zu brechen, um unsere Bekanntschaft zu begießen.«

»Du hast schon mehr wie zuviel getrunken,« dachte Pringle, aber laut sagte er höflich: »Das ist mir bisher allerdings nicht aufgefallen.«

»Schon möglich, aber ich muß morgen früh einen klaren Kopf haben. Ich bin im Auswärtigen Amt beschäftigt und, wissen Sie, augenblicklich geht's da heiß her.«

»Das kann ich mir denken,« meinte Pringle, den diese Mitteilung sehr interessierte. »Sie müssen sich in der letzten Zeit recht abgeplagt haben, zum Beispiel bei dem Konflikt mit dem Kongostaat.«

»Ja, richtig abgeschunden! Aber wollen Sie nicht eintreten?«

Er holte seinen Hausschlüssel hervor und es gelang ihm schließlich nach längeren fruchtlosen Bemühungen die Türe zu öffnen. In seiner Wohnung angelangt, bestand er trotz des Einspruchs Pringles darauf, diesem sofort einen Check über 8 Pfund auszuschreiben, bot ihm eine Zigarre an und setzte Whisky und Selterswasser auf den Tisch. Die frische Luft hatte ihm augenscheinlich den Rest gegeben und man merkte ordentlich, wie er jeden Augenblick betrunkener wurde. Als er das Selterswasser eingießen wollte, spritzte dieses in weitem Bogen aufs Tischtuch statt ins Glas und er lachte nur albern dazu.

»Wir wollen noch einen kleinen Schlaftrunk zu uns nehmen, ehe Sie nach Hause gehen,« bemerkte er unter Schlucken. »Was sagten Sie vorhin? Ach so! Wir hatten eine verfluchte Schinderei in den letzten Wochen. Ich bin einer der Sekretäre von Lord Tranmere und das ist nicht immer ein Zuckerlecken! Wahrhaftig, Sie werden's kaum glauben, ich habe jede einzige Depesche und jedes Schriftstück, das täglich zwischen Paris und London gewechselt wird, durchzulesen und die Antwort aufzusetzen, und nicht einmal am Sonntag habe ich Ruhe. Was das jetzt heißt, können Sie sich denken. Gestern war die Schinderei geradezu gräßlich!«

Er schloß eine Aktentasche auf und zog einen amtlichen Briefumschlag hervor, den er Pringle hinhielt. Die Adresse war auf diesem in großen Buchstaben aufgedruckt:

 

Staatsangelegenheit Sr. Majestät des Königs.


An Seine Exzellenz
den Hochgeborenen
Herrn Grafen Strathclyde

Botschafter und Außerordentlichen Bevollmächtigten
Seiner Britischen Majestät,
Ritter hoher Orden
etc. etc.

       Paris.

Ο
Auswärtiges Amt.

 

»Hier, dieser Brief birgt das Ende der ganzen Geschichte,« sagte Redmile, »sein Inhalt ist ebenso kurz wie erfreulich. Ich bin erst heute Abend damit fertig geworden, ihn aufzusetzen. Es fehlt nur noch das Signum des Staatssekretärs und ich denke, morgen Abend um diese Zeit werden die Beamten des Auswärtigen Amtes in Paris und London ruhiger schlafen als seit langer Zeit.«

»So?« rief Pringle aus, »das freut mich. Ich höre mit Genugtuung, daß die Diplomatie in England so ausgezeichnete Vertreter hat. Aber da wir gerade von Diplomaten sprechen, ich vermute, Sie kennen bereits die Geschichte von dem Kurier des Königs und den Rasiermessern des Kaisers von Österreich?«

Redmile kannte die Geschichte noch nicht, und machte es sich in einem Sessel bequem, um der Erzählung zuzuhören. Aber es dauerte nicht lange, da begann unter dem Einflusse der starken Getränke und der späten Nachtstunde sein Kopf allmählich herabzusinken und lange bevor Pringle auf dem Höhepunkte seiner Erzählung angelangt war, verkündete lautes Schnarchen, daß sein Zuhörer sanft eingeschlafen war.

Pringle wartete noch eine Weile, um sicher zu sein, daß sein Wirt auch wirklich fest schliefe, dann griff er vorsichtig nach der Aktenmappe, die noch geöffnet auf dem Tische lag, und entnahm derselben einen der amtlichen bereits adressierten Briefumschläge, sowie mehrere Briefbogen, die ebenfalls mit dem Vordrucke des Auswärtigen Amtes versehen waren. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem großen Papierkorbe in dem Zimmer zu und durchstöberte denselben, indem er sich bemühte, mit dessen raschelndem Inhalt so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Endlich fand er, was er suchte: einen zerrissenen Briefumschlag, der ein noch fast völlig unversehrtes Wachssiegel des Auswärtigen Amtes trug. Nachdem er alles dieses sorgfältig in seinen Taschen untergebracht hatte, nieste er laut und Redmile fuhr aus seinem Schlafe auf.

»Und in dieser Weise endete die Geschichte,« bemerkte ruhig Pringle, der so tat, als wäre er gerade mit seiner Erzählung fertig geworden.

»Herr Gott noch 'mal!« entschuldigte sich Redmile mit schwerer Zunge, »das tut mir leid, ich glaube wahrhaftig, ich war eingeschlafen. Da ist der verdammte Whisky dran schuld!«

»Vermutlich noch mehr meine langweilige Erzählung,« warf Pringle lächelnd ein, »aber es ist auf jeden Fall die höchste Zeit, daß ich mich auf den Heimweg mache.«

»Bitte, besuchen Sie mich einmal, wenn Sie Ihr Weg in meine Nähe führt,« meinte der andere verschlafen.

*

Als Pringle seine Wohnung in Furnivals-Inn erreichte, dachte er noch nicht daran, zu Bett zu gehen. Er hatte noch eine tüchtige Arbeit vor sich, und der grauende Morgen fand ihn immer noch in vollster Tätigkeit.

Er zog nun die Vorhänge auf, um das Tageslicht hereinzulassen. Der venetianische Spiegel, der über dem Kamin hing, hatte wohl selten eine derartige Unordnung, wie sie sonst dem tadellos sauberen und ordentlichen Zimmer fremd war, wiedergespiegelt. Pringles Hut hing auf einer Delfter Vase, sein Überzieher war unordentlich auf ein Sofa geworfen, und in einer Ecke stand ein Glasgefäß, in dem sich eine klare blaue Flüssigkeit befand. In diese hatte er das aus dem Papierkorbe hervorgeholte und mitgenommene Siegel – mit Graphit tüchtig eingerieben – gehängt und mit einer gleichfalls eingetauchten Kupferplatte und den Drähten einer abgenommenen elektrischen Lampe verbunden. Im Laufe der Nacht hatte der elektrische Strom das Wachs mit einer Kupferschicht überzogen, die dick genug war, um bei Anfertigung eines neuen Siegels als Petschaft dienen zu können. Auf einem Tische in der Mitte des Zimmers lagen wild durcheinandergeworfen eine Menge Papierblätter, die mit Krähenfüßen bedeckt waren, als hätte ein Kind die ersten Schreibversuche gemacht. Bei näherer Betrachtung konnte man aber wohl unterscheiden, daß es sich um unzählige, mehr oder weniger gelungene Versuche handelte, die Handschrift Redmiles nachzumachen. Auf einem Reißbrett hatte Pringle Redmiles Check über acht Pfund festgesteckt und benutzte diesen als Vorlage für seine Schreibversuche. Nun begann er eine Unterweisung zu schreiben, wobei er sich des öfteren in einem vor ihm aufgeschlagenen amtlichen »Blaubuch« Rat holte, brachte diese in Form mehrerer Paragraphen und schrieb sie dann auf einem amtlichen Briefbogen in Redmiles Handschrift ab. Dann steckte er den Bogen in den Briefumschlag und siegelte den Brief mit dem neu hergestellten Petschaft.

Jetzt fehlte nur noch eins, um das äußere Aussehen des Briefes zu einem amtlichen zu gestalten, das war das Signum des Staatssekretärs. Pringle ging an eines seiner Bücherregale und holte ein Album hervor, das die Bildnisse der Tagesberühmtheiten mit deren Unterschriften enthielt. Bald hatte er auch Bild und Unterschrift des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes gefunden. Lord Tranmeres Unterschrift war groß und deutlich, und nach wenigen Versuchen vermochte er dieselbe nachzuahmen und setzte sie mit geschickter Hand in die linke untere Ecke des Umschlages.

Es schlug gerade acht Uhr, als er mit allem fertig war. Er stand auf und reckte die steifen Glieder, als sein Blick auf den Check fiel. Er löste ihn von dem Reißbrett ab und fügte dem Wort » eight« acht, eighty = achtzig. ein » y« und der Zahl »8« eine Null hinzu, wodurch der Check nunmehr über achtzig Pfund lautete!

Jetzt war alle Arbeit getan, er braute sich über einer Spirituslampe eine Tasse Schokolade, die er mit großem Genusse trank, und kleidete sich rasch, aber äußerst sorgfältig um. Er hatte von Natur frische Farben, und etwas kaltes Wasser ließ auf seinem Gesichte keine Spuren einer schlaflosen Nacht mehr zurück. Als er sein Haus verließ, hatte er sein gewöhnliches jugendfrisches Aussehen, er winkte einer vorüberfahrenden Droschke und befand sich bald in dem regen Wagenverkehr der City.

In gewöhnlichen Zeiten beginnen die Bureaustunden im Auswärtigen Amt später als in den anderen Verwaltungen, aber, obgleich es erst kurz nach neun Uhr war, als Pringle in Downing Street vor dem Auswärtigen Amt seinen Wagen verließ, standen schon mehrere Droschken und ein kleiner Privatwagen wartend vor der Türe. Er fragte nach Redmile und wurde in ein Wartezimmer des ersten Stockes gewiesen.

»Ich werde Herrn Redmile nicht lange aufhalten, wenn er überhaupt schon beschäftigt ist,« bemerkte er dem Diener, der seine Karte in Empfang nahm.

»Herr Redmile ist stets außerordentlich beschäftigt,« antwortete der Mann mit Würde. Als Diener des Auswärtigen Amtes war er begreiflicherweise auch Diplomat in seinen Antworten.

Pringle nahm inzwischen Platz und las seine Morgenzeitung, doch es dauerte reichlich eine Viertelstunde, bis der Diener zurückkehrte und ihn einen langen, schmalen, gewundenen Korridor zu einem Zimmer entlang führte, dessen Fenster nach St. James' Park und dem Paradeplatz der Horse Guards hinausführten. Das Zimmer war leer, aber Pringle hatte knapp Zeit gehabt sich zu setzen, als sich eine Seitentüre öffnete, durch die er einen Blick in ein großes, geräumiges Zimmer werfen konnte, und Redmile mit einem Brief in der Hand eintrat.

»Guten Morgen, hm – Herr – James!« sagte er ziemlich kühl und von oben herab, indem er stehen blieb.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie in Ihrer Arbeit gestört habe,« begann Pringle.

Redmile erwiderte nichts, sondern blickte auf den Brief, den er in der Hand hielt und den Pringle sofort als die wichtige Depesche wiedererkannte, die ihm der andere in der vorigen Nacht in seiner Weinlaune törichterweise gezeigt hatte.

»Ich würde Sie nicht so früh gestört haben,« fuhr Pringle fort, »aber als ich nach Hause kam und Ihren Check nochmals ansah, fand ich, daß Sie ihn statt auf die Höhe meines kleinen Darlehns weit höher ausgestellt hatten.« Und er reichte Redmile den geänderten Check, der zusammenfuhr, als er die ausgestellte Summe betrachtete. Es währte geraume Zeit, bevor er das Wort ergriff, und dieses Mal sprach er in weit wärmerem Tone.

»Bitte setzen Sie sich, Herr James, und entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht bereits vorher einen Stuhl angeboten habe. Ich bin Ihnen in Wahrheit außerordentlich zu Danke verpflichtet. Wie ich sehe, habe ich es mit einem Ehrenmanne zu tun – darf ich Sie nun um einen noch größeren Dienst bitten? Ich bitte Sie nämlich, zu vergessen, daß Sie mich jemals in diesem verfluchten Spielklub gesehen haben. Ich bin einmal vorher dort mit Lord – (er nannte einen weltbekannten Namen) gewesen und ich würde auch ein zweites Mal dorthin nicht gegangen sein, hätte ich nicht mit einem alten Freunde etwas zu reichlich diniert. Ich kann mich in der Tat nur ganz schwach darauf besinnen, was eigentlich alles vorgefallen ist, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu erzählen, wie unangenehm es mir wäre, wenn bei meiner amtlichen Stellung die ganzen Ereignisse der letzten Nacht an die große Glocke kämen.«

»Auf meine unbedingte Diskretion können Sie zählen, Herr Redmile. Ich bin selber kein Spieler und betrachte den »Chrysanthemum-Klub« nur als einen interessanten Ort, um dort eine müßige Stunde zu verbringen. Man kann dort tiefere Einblicke in die menschliche Natur erlangen als selbst im Theater auf den Brettern, die die Welt bedeuten.«

Während der ganzen Zeit hatte Pringle unausgesetzt den Brief betrachtet, den Redmile auf einen Tisch gelegt hatte. Er war sorgfältig von dem Staatssekretär gesiegelt und signiert und scheinbar war das gerade geschehen, als Pringle seinen Besuch angekündigt hatte. Pringle verglich den Brief im Geiste mit dem in seiner Tasche und kam zu der Überzeugung, daß sich die zwei Briefe wie ein Ei dem andern glichen – wenigstens äußerlich – so daß sie in Wirklichkeit nicht zu unterscheiden sein würden. Deshalb sprang er plötzlich auf, eilte zum Fenster, wies auf jemand, der gerade vorüberging, und rief aus: »Seltsam!«

»Was gibt es?« fragte Redmile, der gleichfalls ans Fenster trat und seine Blicke über den Park schweifen ließ.

»Entschuldigen Sie mich, aber der Herr, der dort entlang schreitet, sieht ganz genau so aus wie Karazoff, der Mitschuldige von Grenewitsky, der Kaiser Alexander II. von Rußland 1881 ermordete.«

»Ach! Wahrhaftig?« meinte Redmile, der mit großem Interesse einen recht harmlos aussehenden Fußgänger betrachtete, der vom St. James' Park auf das Auswärtige Amt zugeschritten kam.

»Ich sah niemals eine derartige Ähnlichkeit. Sie werden sich jedenfalls erinnern, daß Grenewitsky bei der Explosion getötet wurde, aber Karazoff, der etwas weiter entfernt stand, wurde nicht verletzt und sofort verhaftet.«

»Waren Sie Augenzeuge des Attentates?«

»Nein, aber ich war kurze Zeit nachher in St. Petersburg und sah, wie Karazoff und seine Mitschuldigen gehängt wurden. Ich werde, so lange ich lebe, sein Gesicht nie vergessen – er sah wie ein Märtyrer aus, als er zum Richtplatz schritt! O, wie es an jenem Tage schneite!«

»Ja, ja, es ist etwas Wunderbares um den Fanatismus,« murmelte Redmile, während der Doppelgänger des Anarchisten, der in Wirklichkeit ein Geistlicher zu sein schien, die Stufen, die zu Downing Street führten, hinaufstieg. Redmile fuhr fort, aus dem Fenster zu starren, bis der scharfe Klang einer elektrischen Glocke ihn in die Wirklichkeit zurückrief.

»Ich muß Sie wirklich bitten, mich zu entschuldigen,« sagte er, »ich habe eine außerordentlich wichtige Depesche nach Paris abzusenden und deshalb keinen Augenblick zu verlieren. Ich werde Ihnen einen anderen Check senden, sobald ich nur irgend dazu komme. Wollen Sie mir, bitte, Ihre Adresse geben?«

»Bitte, beunruhigen Sie sich doch nicht über eine derartige Kleinigkeit. Ich werde, wenn Sie gestatten, in den nächsten Tagen einmal abends in Ihrer Privatwohnung vorsprechen.«

»Seien Sie so liebenswürdig! Entschuldigen Sie mich, aber der Kurier wartet auf mich. Ich habe keinen Augenblick – guten Morgen – guten Morgen!«

Pringle stieg die große Freitreppe herab, trat auf die Parlaments-Straße heraus, nahm ein Stück weiter eine Droschke und ließ sich in seine Privatwohnung zurückfahren. Das künstliche Muttermal wieder anzumalen, war nur das Werk eines Augenblicks, dann schleuderte er langsam der City zu. Er schritt um die Bank von England herum und betrat in der Throgmorton-Straße einen großen Torweg, dessen Seitenpfeiler von oben bis unten mit Firmenschildern bedeckt waren.

Hier öffnete er eine Türe im Erdgeschoß und fragte, indem er eintrat, ob Herr Hedsor anwesend sei.

»Er ist gerade auf die Börse gegangen,« antwortete ein Angestellter.

»Wollen Sie ihn dann gefälligst wissen lassen, daß ihn Herr Pringle zu sprechen wünscht.«

Es dauerte auch nicht lange, da kehrte der Chef der Firma zurück. »Wie geht es Ihnen, Herr Pringle? Was macht das literarische Bureau?« begrüßte er denselben.

»Die Geschäfte gehen augenblicklich recht faul.«

»Ganz wie bei uns.«

»Sie haben also nichts zu tun?«

»Na, so lala – es könnte besser sein.«

»Wirklich?« meinte Pringle lächelnd, indem er sich in dem Bureau umsah. Ein Angestellter saß zwischen Bergen von Zirkularen und Briefumschlägen, die er postfertig machte; ein anderer klapperte ununterbrochen auf der Schreibmaschine und ein dritter bediente das Telephon und den Telegraphenapparat, an dem auf endlosem Papierstreifen die neuesten Kurse erschienen.

»Tatsache,« bestätigte der Börsenmakler, während er seinen Kunden in ein kleines Privatzimmer führte, das durch eine Glastüre von dem Hauptbureau geschieden war. »Und das kommt daher, daß die Pariser Börse völlig flau ist, und daß Tinte klar wie Wasser ist im Vergleich mit der augenblicklichen politischen Lage.«

»Wie stehen heute die Konsols?«

»Konsols?«

»Ich setze voraus, daß Sie ein Geschäft machen wollen?«

»Selbstverständlich, wenn sich's machen läßt. Das hängt natürlich davon ab, was Sie beabsichtigen.«

»Wollen Sie Konsols für mich fixen?« Papiere verkaufen, die man nicht besitzt.

»Wieviel?« fragte der Makler, indem er ein kleines Taschenbuch hervorzog.

»Was würden Sie zu 50 000 Pfund sagen?«

Der andere sah ihn verwundert an, während er an seinem Bleistifte sog. »Für Baissiers ist eigentlich immer noch ein Geschäft zu machen – aber ich müßte um einige Deckung bitten,« bemerkte er nach einer Pause.

»Genügt Ihnen ein Prozent?«

»Hm – schön – ich will damit zufrieden sein. Von jedem anderen würde ich zwei Prozent verlangen – um Ihnen die Wahrheit zu sagen, mir gefällt das Geschäft nicht besonders. Die Konsols stehen zwar, weiß Gott, hoch genug, aber wer kann sagen, ob sie nicht noch mehr in die Höhe gehen werden.«

»Wie stehen sie denn jetzt?«

Hedsor ging in das vordere Bureau und las an dem Telegraphenapparat den neuesten Kurs ab. »Hundertzehn ein achtel,« sagte er zurückkehrend. »Wahrhaftig, unverschämt hoch!«

»Gut, ich will diesmal nach reiflicher Überlegung meinem Glück vertrauen,« bemerkte Pringle ruhig.

»Wenn Sie in diesen faulen Zeiten nichts bessers tun können, als auf Ihr Glück zu bauen –«

»Haben Sie jemals von einer Gesellschaft gehört, die sich die Vereinigte Lobatsi-Aktiengesellschaft nannte?«

»Ja, mit der haben Sie Glück gehabt, das gebe ich zu, Sie haben die geringsten Schwankungen der Kurse ausgenutzt.«

»Und erinnern Sie sich an die Ausschließung der »Bokfontein-Minen?«

»Wahrhaftig, ich hätte niemals geglaubt, daß Sie bei dem Geschäft gut abschneiden würden!«

»Und die »Topsipitsi-Minen«?«

»Zum Henker noch 'mal! Die hatte ich ganz vergessen. Herr Pringle, Sie hätten zur Börse gehen sollen! Also gut, das Geschäft ist abgemacht; kommen Sie, wir wollen einen Schoppen trinken.«

*

Die Welt war bei weitem weniger ruhig, als Herr Hedsor am nächsten Morgen erwachte. Es hatten in der Tat seit Jahren die Zeitungen keine derartige Sensationsnachricht gebracht, und in den fettesten Buchstaben war von allen Blättern die große Neuigkeit bald über ganz London verbreitet. In der verflossenen Nacht war von dem Reuterschen Telegraphenbureau gegen ein Uhr früh eine Depesche aus Paris eingelaufen, die die nachfolgende Mitteilung brachte und sämtliche Zeitungsredaktionen dadurch zu fieberhafter Tätigkeit anspornte:

 

»Paris. Wie uns berichtet wird, verläßt Lord Strathclyde auf Anordnung von London morgen früh Paris und kehrt nach England zurück. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und England sind abgebrochen worden.«

 

Weitere Mitteilungen der »Spezialkorrespondenten« bestätigten dieses Telegramm und fügten hinzu, daß Menschenmassen die Straßen von Paris unter Absingung patriotischer Lieder durchzögen; daß sämtliche Schaufenster englischer Firmen in Paris eingeschlagen worden wären, und daß die Regierung Truppen bereit hielte für den Fall, daß die Polizei machtlos wäre, die Wut des Pöbels zu zügeln. Es wäre zu befürchten, daß die Anarchisten diesen Augenblick benutzten, um ernstliche Unruhen anzustiften, und bei der Siedehitze der öffentlichen Aufregung könne jeden Augenblick das Schlimmste eintreten.

Diese Nachrichten wirkten zwar verblüffend, waren aber schließlich doch nicht so völlig unerwartet. In der letzten Zeit waren die Beziehungen zwischen Frankreich und England, wie sich die Diplomaten ausdrücken, äußerst »gespannte« gewesen und die Vorgänge in Afrika hatten unaufhörlich zu Reibungen Veranlassung gegeben. Schließlich hatte die Rivalität im Kongostaat die Sache zum Klappen gebracht. Bisher jedoch hatte es immer noch so ausgesehen, als würden die Diplomaten den Riß kitten können, und das Publikum, das sich in Sicherheit gewiegt hatte, war nun durch die Mitteilungen der Morgenblätter einfach wie betäubt; es war, als wäre ein Donnerschlag auf die ganze Nation herabgefallen!

Einige Blätter klagten die Regierung der Überstürzung an, indem sie darauf hinwiesen, daß England für einen Krieg mit einer solchen Macht wie Frankreich völlig ungenügend gerüstet sei; andere wieder wollten wissen, daß ein Krieg zwar unvermeidlich gewesen wäre, meinten aber, wie bedauerlich es sei, daß England nicht einen günstigeren Augenblick abgewartet habe, um die Feindseligkeiten zu beginnen. Nur darin waren alle Stimmen einig, daß es einen Kampf auf Leben und Tod, um Sein und Nichtsein geben würde, und daß es unmöglich abzusehen wäre, wohin ein Krieg zwischen zwei so starken Mächten führen könnte!

Überall, wo Menschen zusammenkamen, platzten die Meinungen aufeinander. Auf den Londoner Bahnhöfen, in den Zügen und Omnibussen, die täglich die Geschäftsleute nach der City schaffen, herrschte wildeste Aufregung und wurde über nichts anderes gesprochen. Natürlich war aber die Börse der Ort, wo die allgemeine Nervosität ihren Gipfelpunkt erreichte, und in den Sälen der Effektenbörse ging es wie in einem Tollhause zu. Schon in den letzten Tagen war die Stimmung an der Börse recht unbehaglich gewesen und selbst goldsichere Papiere waren ohne äußere Veranlassung sprungweise gestiegen oder gefallen. Aber an diesem bedeutungsvollen Morgen beherrschten die Baissiers völlig den Markt und schon eine Stunde vor dem offiziellen Beginn der Börsenstunden purzelten die Kurse und schmolzen dahin wie Schnee in der Sonne.

Je später es wurde und je mehr sich die Neuigkeit verbreitete, umsomehr schwoll die tobende Menge vor der Börse an und wurde jeden Augenblick vermehrt durch angstschwitzende Spekulanten, die in Droschken angesaust kamen und sich nun vergeblich nach ihren unsichtbaren Maklern umsahen. Diejenigen, die das Vorrecht hatten, das Innere der Börse zu betreten, mußten sich buchstäblich ihren Weg ins Innere erkämpfen. Eine der Glasscheiben der Eingangstür war schon in der Frühe eingedrückt worden und die andere hatte man mit Brettern vernagelt, um sie vor demselben Schicksal zu bewahren. Ein halbes Dutzend Polizisten war auf Posten, das nur damit zu tun hatte, die Unbeteiligten zurückzudrängen, und jedesmal, wenn die Türen auf- und zuflogen, hörte man aus dem Innern einen ohrenbetäubenden Lärm und ein Stimmengeschwirr wie von Dutzenden von Webmaschinen, das sich mit dem Lärm der draußen tobenden Menge und dem Rollen der Wagen auf dem Asphalt vermengte.

Ungefähr um 12 Uhr tauchte die kräftige, geschmeidige Gestalt Pringles in der Menge auf und nach heißem Kampf gelang es ihm endlich in Hörweite des Türhüters zu kommen. An gewöhnlichen Tagen sitzt dieser in seiner blauen Livree majestätisch in einem Ledersessel an der Türe, aber heute hatten Ruhe und Gemütlichkeit aufgehört und es gelang Pringle nur mit äußerster Anstrengung, ihn zu veranlassen, daß er seinem Ansuchen, Herrn Hedsor sofort herbeizurufen, entsprach und diesen Wunsch durch ein Sprachrohr nach dem Innern des Hauses übermittelte. Pringle mußte eine qualvolle halbe Stunde und noch mehr warten, bevor der Makler erschien, und selbst dann noch war es bei dem Gedränge der Massen nicht möglich, bis zu ihm zu gelangen. Jedesmal, wenn Hedsor einen Schritt vorwärts machte, wurde er zurückgeschoben und wer weiß, ob er jemals mit Pringle hätte sprechen können, wenn nicht der Pförtner ihn schließlich erblickt und Pringle mit Gewalt einen Weg durch die Menge gebahnt hätte.

»Was zum Himmel wollen Sie denn?« keuchte atemlos der Makler. »Ich bin fürchterlich beschäftigt.«

»Tut mir leid, Sie zu stören, aber ich wollte Ihren Rat hören, was ich jetzt am besten tun könnte,« meinte Pringle, während er ihm den staubbedeckten Rock abklopfte.

»Meinen Rat!« rief der Makler aus. »Ich sagte Ihnen schon, an Ihnen ist ein Börsenmann verloren gegangen! Der Teufel selbst könnte kein größeres Glück haben! Wer, zum Himmel, hätte sich so etwas träumen lassen? Und ich glaube wahrhaftig, das alles hätte sich nicht ereignet, wenn Sie nicht auf den Gedanken gekommen wären, á la baisse zu spekulieren!«

»Wie ich Ihnen gestern schon sagte, habe ich zu meinem Glücke Vertrauen. Aber wie stehen die Konsols jetzt?«

»Stehen nennen Sie das? Sie fallen – stürzen – unaufhörlich, Mensch!« Der Makler vermochte nur krampfhaft zu grinsen, denn er war zu sehr außer Atem, um lachen zu können.

»Schön; also wie weit sind sie gefallen?«

»Vor zehn Minuten wurden sie siebenundneunzig notiert und Gott allein weiß, wie tief sie noch sinken werden! Im Krimkrieg waren sie fünfundachtzig und dieser kleine Scherz wird schlimmer als ein halbes Dutzend Krimkriege werden, bevor er beendigt ist.«

»Dann wäre es also vielleicht das Beste, jetzt die gefixten Stücke einzudecken?«

»Ach, die kleine Unschuld vom Lande! Als ob Sie nicht genau wüßten, was Sie zu tun hätten, Sie Glückspilz, Sie!« Herr Hedsor seufzte neidisch und begann in seinem Taschenbuch nach der betreffenden Eintragung zu suchen. »Sehen Sie her, ich verkaufte für Sie 50 000 Pfund zu hundertneunsieben achtel. Wenn Sie sie jetzt zu siebenundneunzig kaufen – oder sagen wir sechsundneunzig oder so etwas Ähnliches – so werden Sie ungefähr dreizehn Prozent verdient haben und eher noch mehr als weniger! So; ich kann aber nicht nochmals herauskommen. Gehen Sie sogleich nach meinem Bureau und warten Sie dort. Ich werde Ihnen sofort telephonisch Mitteilung machen, wenn das Geschäft abgeschlossen ist. Sie können sich inzwischen die Zeit damit vertreiben, auszurechnen, wieviel Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden verdient haben. Sie Glückspilz, Sie!«

»Schön! Wird gemacht!« schmunzelte Pringle, »und in diesem Falle brauchen Sie mir den Verdienst erst am Abrechnungstage per Check zuzuschicken. Und – wissen Sie – ich glaube, der Kurssturz ist übertrieben, und wenn Sie die Stücke eingedeckt haben, dann kaufen Sie mir noch 50 000 Pfund; wir wollen damit auf steigende Kurse spekulieren und ich würde mich nicht wundern, wenn zum Schluß des Geschäfts statt dreizehn Prozent annähernd sechsundzwanzig herausspringen.«

»Sie haben Recht, mein Lieber! Und, wissen Sie, wenn Sie das nächste Mal wieder einen so guten Riecher haben, so geben Sie mir einen Wink; andere Leute verdienen auch gern etwas.«

Pringle wollte noch etwas sagen, aber schon war der Makler in der Menge verschwunden und wieder in die Börse gestürzt. Es kostete noch einen harten Kampf, bis Pringle sich aus der Menge freigemacht hatte, und in dem Gedränge auf den Straßen brauchte er zehn Minuten, bis er vor Hedsors Bureau in der Throgmorton-Straße angelangt war, während er zu anderen Zeiten den Weg in zehn Sekunden hätte zurücklegen können. Als er gerade das Bureau betreten wollte, erklang ein fürchterliches Gebrüll, das sich aus dem anderen Lärm deutlich abhob. Von seinem Standplatz, einige Stufen über dem Straßenpflaster, konnte er deutlich die Vorgänge überblicken. Er sah einen Zeitungsjungen, der die erste Abendzeitung ausrief und von einer schreienden Menge umtobt wurde, die um den Besitz eines neuen Blattes kämpfte und sich balgte. Jetzt löste sich eine kleine Anzahl von der übrigen Menge ab und raste wahnsinnig nach dem Eingange der Börse, allen voran ein Mann ohne Hut, der ein Blatt erwischt hatte, das er triumphierend über seinem Kopfe schwang. Während es wie eine Fahne in der Luft flatterte, konnte Pringle mit einiger Schwierigkeit diese Worte entziffern, die mit riesigen Lettern am Kopfe des Blattes standen:

Der englische Botschafter angeführt!!
Die gefälschte Pariser Depesche!!
Die Sitzung im Unterhause!

Er wandte sich plötzlich um und betrat das Bureau. Während er noch die Türe schloß, klingelte es am Telephon. Er sprang an den Apparat und bevor ihm noch der Angestellte zuvorkommen konnte, hatte er bereits den Hörer am Ohre.

»Sind Sie dort?«

»Ja.«

»Sind Sie es, Herr Barker?«

»Nein, Pringle.«

»Ah! Famos geglückt! 50 000 Pfund zu sechsundneunzig einhalb.«

»Danke vielmals. Wie hoch dürfte der Verdienst sein?«

»Ich sagte ungefähr dreizehn Prozent, nicht wahr? Roh berechnet würden Sie ungefähr 6500 Pfund verdient haben. Sie haben eben ein Schweineglück. Nächste Woche ist Zahltag und ich schicke Ihnen dann genaue Abrechnung. Adieu.«

Wieder auf der Straße, gelang es Pringle, sich eine Zeitung zu sichern, und er las nun das Folgende:

Der drohende Krieg vermieden.
Bericht des Unterstaatssekretärs des Auswärtige Amtes.
Rätselhafte Geschichte.
Betrug oder schlechter Scherz?

Als sich das Unterhaus heute um 12 Uhr mittags versammelte, war eine ganz ungewöhnlich große Anzahl von Mitgliedern erschienen und im ganzen Saale jeder Sitz besetzt, nur auf der Bank der Regierungsvertreter herrschte öde Leere, und als einziger Vertreter der Regierung war Herr Grammaty, der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes erschienen. Sofort nach Eröffnung der Sitzung erhob sich dieser, erbat von dem Präsidenten das Wort und hielt die nachfolgende Rede:

»Ich habe von der Regierung den Auftrag erhalten, dem Hohen Hause Bericht über die näheren Ursachen zu erstatten, die Grund zu den in den heutigen Morgenblättern veröffentlichten Neuigkeiten gegeben haben. Die Regierung Sr. Majestät hat niemals irgendwelche Absicht gehabt, die diplomatischen Beziehungen mit Frankreich abzubrechen, und als unser Botschafter, Lord Strathclyde, dennoch seine Abberufung mitteilte, so hat er zwar im guten Glauben, aber trotzdem auf Grund irrtümlicher und von uns nicht erteilter Instruktionen gehandelt. Ich kann dem Hohen Hause die Versicherung geben, daß die allerschärfste und gründlichste Untersuchung der Angelegenheit stattfinden wird, und inzwischen hat bereits Lord Strathclyde Auftrag erhalten, der französischen Regierung unser tiefstes Bedauern über den Vorfall auszusprechen. Es gereicht mir zur besonderen Genugtuung, dem Hause mitteilen zu können, daß die Beziehungen zwischen Frankreich und uns niemals herzlichere waren als gerade im jetzigen Augenblick.«

Diesen Bericht hörte das Parlament in lautloser Stille an und erst zum Schlusse der Rede erhob sich ein wahrer Beifallssturm auf allen Bänken des Hauses. Nachdem Herr Grammaty seinen Sitz wieder eingenommen hatte, leerte sich der Saal sofort fast völlig und nur im Vorraum und in der Wandelhalle standen dichtgedrängte Gruppen von Parlamentariern, die eifrig und erregt die Sachlage besprachen.

Wir erfahren, daß Lord Tranmere bereits seit frühester Morgenstunde im Auswärtigen Amt anwesend ist, und daß den ganzen Vormittag über ein reger Depeschenwechsel zwischen Paris und London stattgefunden hat. Es wird uns auch noch von anderer Seite bestätigt, daß gerade in den letzten Tagen die Beziehungen zu Frankreich eine viel herzlichere Form angenommen hatten als früher, und niemand war mehr erstaunt als die Beamten des Auswärtigen Amtes selber, als sie die Neuigkeiten der Morgenblätter lasen. Obgleich das Amt mit seinen Mitteilungen die äußerste Zurückhaltung beobachtet, so sind wir doch in der Lage festzustellen, daß die Depesche, der zufolge Lord Strathclyde gehandelt hat, nichts weiter als eine geschickte Fälschung war, die auf rätselhafte Weise an Stelle der richtigen Depesche untergeschoben wurde, die natürlich eine ganz andere Fassung hatte. Wie und durch welche Mittel dieser Tausch bewerkstelligt wurde und wie es möglich war, daß das falsche Dokument unentdeckt in die Pariser Botschaft gelangte, scheint vorläufig noch ein völlig ungelöstes Rätsel zu sein, und wir müssen zunächst das Ergebnis der Untersuchung abwarten, die uns die Regierung ja bereits zugesichert hat.

 

Pringle faltete das Blatt zusammen und betrachtete das hastende Treiben um ihn herum. Sie mochten nur suchen und untersuchen, so viel sie wollten, ihn würden sie sicher nicht in Verdacht haben und auch nicht finden! Er ging nochmals am Eingänge der Börse vorbei. Das dumpfe Murmeln der Menge, die noch immer jede Annäherung unmöglich machte und den Eingang verkeilte, wurde übertönt durch ein Gebrüll aus dem Innern des Mammonstempels, das noch unheimlicher und donnernder klang als je vorher an diesem ereignisreichen Tage.

Die Börse war wie ausgewechselt und die Kurse stiegen jede Minute, bis sie eine schwindelhafte Höhe erlangt hatten.

*


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