Ilse Frapan-Akunian
Schreie
Ilse Frapan-Akunian

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In Sehnsucht leb' ich.

Es war Maitag, der erste Mai. Durch die lange heiße Badener Straße in Zürich schwebte noch die Staubwolke, welche der nach Tausenden zählende Festzug auf dem trockenen Pflaster aufgewirbelt hatte. Die Wirthschaften hatten bunte Flaggen hinausgehängt, auch auf einigen Privathäusern wehten schweizerische, italienische, deutsche Fahnen. Die Läden waren meistens geschlossen. An den offenen Verkaufsständen auf der Straße bewegten sich geputzte Frauen mit belebten, heiteren Gesichtern und verkauften Orangen, die in der Sonne zu glühen schienen, Cigaretten und Kuchen.

Die Tramwagen waren überfüllt und folgten einander rascher als sonst; aus der Ferne klang Musik und das Geräusch vieler verhallender Tritte.

Favorita ging in ihrem gewohnten, ein wenig lässigen, wiegenden Schritt dem Zuge nach.

Die Sonne that ihr wohl; die fröhliche Belebtheit des Straßenbildes, all das Farbige und Helle, das besonders die italienischen Arbeiter mit ihren sonntäglich gekleideten Frauen und Kindern in die Scene brachten, erfreute ihre Augen.

Sie lüftete ihren weißen Schleier mit den schwarzen Chenillepunkten, daß die Wärme über ihre runden, blassen Wangen streifte. Dann bedachte sie sich anders und ließ 186 den Schleier wieder herunter, zog ihn sorglich noch um den weißblonden, tiefen Knoten am Hinterkopfe und spannte den schwarzen, weißgefütterten Sonnenschirm auf, den sie bis dahin nutzlos in der Hand gehalten. Einen Augenblick, als eine graue Staubwolke über sie hinfuhr, sodaß sie den Sand zwischen ihren Zähnen knirschen fühlte, beschloß sie, an der Haltestelle den Tram zu erwarten, aber als sie die rothe Tafel erreichte, hatte sie ihr Vorhaben vergessen und ging zu Fuß weiter, bis sie die hellgrünen Wipfel des weiten Festplatzes auf der Hardau auftauchen sah.

Im vor ihr liegenden Garten, der den Eingang bildete, blühten noch Spätbirnbäume in lichtem Grauweiß, und die kleinen hellen Blüthen der Spiersträucher waren über das junge Grün verstreut. In diesem Garten drängte sich Kopf an Kopf die Menge: man kaufte hier rothe Schleifchen zum Anstecken auf der Festwiese.

Favorita blieb unschlüssig zurück, als sie sah, was dort am Eingange vor sich ging: sie überlegte, ob sie ein Schleifchen kaufen sollte. Als sie sah, daß der Eintritt ohne Schleifchen untersagt war, schwenkte sie nach rechts ab und begann am Holzzaun der Festwiese entlang zu gehen. Sie hoffte, einen Bekannten zu finden, der sie der eigenen Wahl enthob. Die Festwiese war ganz überbraust von Musik und fröhlichen Stimmen.

In der Nähe des Festzuges, der sich aufgelöst hatte und den größten Theil des Platzes erfüllte, drängten sich Männer und Frauen; – weiterhin hatten sich kleine Gruppen im üppig grünen Grase niedergelassen, und die Kinder liefen schon spielend und ganz wie zu Hause hintereinander her.

Kein bekanntes Gesicht wollte Favorita erscheinen. 187

Sie bemerkte, daß auf dem Festplatze alles nach einer Seite zu drängen begann. Ein Wagen bildete den Anziehungspunkt. Sie hatte gehört, daß die Redner vom Wagen aus sprechen würden. Seufzend kehrte sie am Gitter um: sie fand den Muth nicht, ein rothes Schleifchen zu tragen. Ich gehöre ja nicht dazu, dachte sie, es wäre albern.

Die Musik verstummte nach einem rauschenden Tusch; auch das Gesurre der Menschenstimmen legte sich. Dann plötzlich erscholl Händeklatschen, man rief »Bravo«, und wieder ward es still.

Favorita sah sich ganz allein.

Ihr Gesicht wurde trübe.

Ich bin doch dazu hergekommen, ihn zu hören, dachte sie, wozu bin ich den ganzen langen Weg gegangen?

Sie ging in den Garten, wo der Tisch mit den Schleifchen stand. Aber die Komiteemitglieder, die davor gesessen, waren nicht mehr da. Der Tisch stand mit seiner zerknüllten Serviette ganz verlassen. Der Weg zur Festwiese war frei.

Wieder hörte Favorita dröhnendes Händeklatschen und Bravorufen. Sie erblickte den Redner auf dem Wagen. Er bewegte heftig die Arme. Seine Worte verschlang die Entfernung.

Er ist es nicht! Ein anderer! dachte Favorita enttäuscht und dennoch fast zufrieden. Wenn ich nur wüßte – wenn ich nur Jemand fragen könnte –

Unwillkürlich ging sie weiter, in der einen Hand den Sonnenschirm, mit der anderen ihr etwas langes schwarzes Kleid emporhebend. Sie durchschritt den leeren Garten und den staubigen Durchgang vor dem Festplatz. 188 Dort stieß sie mit einer Kellnerin zusammen, die zwei Hände voll leerer Biergläser trug. Ein Brunnen plätscherte und glänzte in der Sonne mit seinem vollen geraden Strahl. Die Kellnerin hielt sich nicht auf, sie lief geschäftig zum Brunnen, aber dann kam ihr ein Mann mit einem rothen Schleifchen und einer rothen Armbinde entgegen und sah sie fragend an, wie es ihr schien.

»Sie haben kein Abzeichen?« sagte er kurz.

»Was kostet es?« fragte Favorita, »muß man das anstecken?«

Sie betonte das Muß und sprach etwas von oben herab zu dem kleinen schwitzenden Manne, der sich den Rock auszog und über den Arm hängte.

»Ausverkauft. Keins mehr da,« brachte der Mann achselzuckend hervor.

»Ich möchte aber da hinein,« sagte Favorita ruhig mit ihrer leisen Stimme.

»Bitte. Spazieren Sie nur.« Er machte eine Handbewegung und lief der Kellnerin nach: »Lina, 's Schöppli!«

Mit einem ironischen Lächeln, das halb dem umgangenen Schleifchen, halb ihr selber galt, betrat sie den Festplatz.

Ein Frösteln überlief sie trotz der hellen Sonne. Im Schatten wehte der Biswind und machte die jungen Blätter zittern. Sie fühlte sich unsäglich allein in dem Menschengewühl, an dem sie hinsah, als wäre es nur eine lebendige Wand. Sie standen wieder alle still, wieder ward gesprochen, der Redner hatte zappelige Bewegungen. Wieder verschlang die Entfernung die Rede. 189

Er ist wohl gar nicht hier, dachte Favorita, und die Einsamkeit wurde so quälend für sie, daß sie die Augen schloß, um nicht mehr all diese fremden, in der abendlichen Sonne roth schimmernden Köpfe zu sehen. Ihr müdes Gesicht senkte sich, sie hatte den Schirm geschlossen und stützte sich darauf, immer mit der anderen Hand ihr etwas zu langes schwarzes Kleid aufraffend. Was wollte sie hier? Was für eine Thorheit war es gewesen, hierher zu kommen! Ganz matt fühlte sie sich.

In diesem Augenblick intonirte die Musik von neuem. Man lief zu den Bänken, die, amphitheatralisch geordnet, einen Theil des Platzes bedeckten. Es roch nach Cigaretten, Wein und zerstampftem Gras. Jemand stieß Favorita an, murmelte »Sküsi« und blickte dann auf.

»Fräulein Binder, Fräulein Rita, sind Sie hier?«

»Guten Abend, Landis! Ich bin froh, Sie zu finden! Wundern Sie sich nachher! Kommen Sie!« drängte Favorita.

Sie hatten sich kurz die Hände geschüttelt und gingen nebeneinander.

»Was thun Sie hier? Was für ein Zufall!« sagte Landis.

Er war älter und größer als Favorita, aber er hatte etwas Unscheinbares, Unfertiges mit seinem schwachen, schwarzen Bärtchen und seinem dünnen Hals. Rita streifte mit einem Blick seine schmal aufgeschossene langbeinige Gestalt, die in der staubigen Kleidung, den wurstartigen Hosen, dem kragenlosen Hemd und den faltigen Stiefeln einen fast dürftigen Eindruck machte.

Sie gingen auf die Bänke zu und fanden Platz genug. Die Kinder turnten über die Bänke in ihren 190 hellen, bunten Kleidchen, mit erhitzten Gesichtern und fliegendem Haar, die Erwachsenen gingen ab und zu.

»Also Sie sind hier,« wiederholte Landis, »das hätte ich nie für möglich gehalten. Wollen Sie den Italiener hören? Er spricht jetzt.«

Wieder schwenkte dort hinten ein Redner die Arme, wie wenn diese Bewegung etwas Unerläßliches sei. Sonnenstaub, ganz goldig anzusehen, wirbelte über der Menge.

»Ich möchte nicht. Sagen Sie mir, bitte« – sie zögerte – »ich dachte – man sagte mir – Leonz würde sprechen, hieß es.« Favorita sagte es ruhig, ohne Landis anzusehen, aber sie fühlte sich dabei blaß werden und empfand eine eigenthümliche Kälte im Gesicht, so als ob sie eben einen großen Entschluß ausgeführt hätte.

»Leonz hat heute morgen gesprochen, im Fachverein. Er ist dann nach Basel, ich habe ihn noch auf den Bahnhof begleitet,« sagte Doktor Landis mit seiner dumpfen, aber angenehmen Stimme.

»Ach so.« Rita zog ihr kurzes, schwarzes Cape am Halse hinauf. Sie hätte sich ganz einhüllen mögen, bis über den Kopf. Eine müde Traurigkeit, etwas bitter Hoffnungsloses bemächtigte sich ihrer. Sie dachte an Leonz, dachte daran, wie sie einmal all seine Wege gewußt, seine Pläne und Handlungen gekannt, und wie sie nun umsonst hierher gekommen war. Eine Wolke von Einsamkeit senkte sich auf sie herab, um sie herum und schied sie von allen anderen Menschen, auch von dem Freunde, der so still neben ihr saß.

Als sie nach einer langen Weile aufblickte, sah sie seine schönen Augen mit den breiten schweren Lidern auf sich ruhen. Es war ein räthselhafter Blick 191 – verstehend und fragend, theilnehmend und widerwillig.

Sie erröthete flüchtig und stand auf. »Ich fühle mich als Eindringling hier.«

Er zuckte mit den Nasenflügeln, dann lächelte er nervös: »Wie ich. Ich fühle mich überall so! Eindringling. Jawohl.«

»Sie sind ja unter Genossen, Landis.«

»Nein, ich bin ihnen fremd.«

»Haben Sie nicht sogar gesprochen heute? Einer sagte doch –«

»Im Fachverein, jawohl, heute Morgen.«

»Dort wo Leonz geredet hat?«

»Anderswo. Man muß sich in die Arbeit theilen. Ich sprach bei den Malern. Wesentlich als Mediziner. Lauter unausführbares dummes Zeug. Aber das interessirt Sie schwerlich, Fräulein Rita.«

»Ich verstehe zu wenig davon, Landis, Sie wissen –«

»Aber Sie wollten doch Leonz hören,« sagte er ganz leise.

»Ja, Leonz. Man hat unsinnige Einfälle manchmal.«

»Warum entschuldigen Sie sich,« murmelte Landis.

Sie waren dem Ausgange nahe.

Landis blickte noch einmal zurück auf das strahlend freundliche Bild. Im Abendschein wehten die Fahnen, und die Banner glühten über den lebensvollen Gesichtern.

Die Italiener mit den rothen Schärpen und den braunen Manchesterjoppen fesselten auch Favoritas Augen. Kein greller Lärm störte.

»Wie hübsch,« sagte Rita lächelnd; »zum ersten Mal hab ich das gesehen. Man glaubt, wenn man dies 192 sieht. Aber nun habe ich genug davon und möchte nach Hause und mich waschen. Der Staub war schauderhaft.«

»Haben Sie auch die Spitzel gesehen unter der Musiktribüne? Die Italiener hatten mehrere Redner aufgestellt, es hat aber nur einer gesprochen. Leonz konnte sie noch warnen. Ein gewisser Andreotti hat sich übrigens erschossen. Beruf: italienischer Polizeiagent. Selbstmordmotiv: Stellenverlust und mithin Brotlosigkeit. Nett, wie?«

»Sehr gut! Und wie geht es ihrer Freundin Agathe?«

Landis blinzelte zu der Fragerin hinüber; dann zog er eine Ansichtskarte hervor. »O danke! Vorzüglich, denke ich. Sie sind auf der Hochzeitsreise. Das bekam ich gestern.« Er zeigte: »Hier Marseille, der Blick auf den Hafen. Sie schreiben mir von jeder größeren Stadt aus.«

»So fleißig? Was schreiben sie denn?«

»O, sie sagen, ich sollte mit da sein, mitgenießen. Na, sie würden sich wohl besinnen . . .« Er lächelte ironisch. »Die brauchen doch mich nicht.«

»Wirklich?« sagte Favorita zweifelnd. »Wissen Sie, daß es mir einfach nicht in den Kopf wollte, als ich hörte, Agathe Sprung sei mit Eberlein verlobt? Immer hatte ich Sie beide zusammengethan, immer, immer. Wenn Sie von ihr sprachen, diese Begeisterung –«

»Sie verdient sie, Rita; Agathe ist mir unendlich viel gewesen,« seine Stimme wurde fast unhörbar, sein Gang ward schwerfällig.

»Eben das meine ich. Sie haben sich ganz an diese Freundin verloren. Und dann geht sie hin und heirathet einen Eberlein.« 193

»Er ist ein prächtiger Mensch, Rita.«

»Geschmacksache! Aber wollen wir nicht den Tram nehmen? Der Staub ist abscheulich.«

Zwei Wagen fuhren an ihnen vorüber, ohne sich um ihr Anrufen und Schirmschwenken zu kümmern. Im dritten dichtbesetzten kehrten sie in die stille und festtäglich saubere Stadt zurück.

Doktor Landis begleitete Fräulein Binder bis zu ihrer Wohnung am Zürichberg. Dann, im Gespräch, ging er noch mit die Treppen hinauf bis vor die Etage, wo sie zwei möblirte Zimmer bewohnte.

»Ach,« sagte Rita erschrocken, »was mach ich nun! Frau Rehbein hat den Schlüssel mitgenommen! Und ich bin so müde, so müde! Ich setz mich grad da auf die Treppe.«

Landis blieb, ans Geländer gelehnt, neben ihr stehen. Sie sprachen noch, Favorita mit gesenktem Kopf, ganz erschöpft von Staub und Hitze.

»Was macht Leonz in Basel?« fragte sie plötzlich.

Landis gab lange keine Antwort. »Er hat Jemand begleitet,« sagte er zuletzt.

Rita wendete den Kopf empor. »Es ist ja Unsinn von mir. Sie können mir ruhig alles sagen, Landis – Sie wissen wohl, daß Leonz und ich einander sehr fremd geworden sind. Ich wollte heute auf dem Festplatz gewissermaßen Abschied von ihm nehmen – von fern. Von ihm, von dem Stück Leben, das er mir darstellt. Er lebt nur für die Partei, ich weiß.« Sie sprach überstürzt.

»Er hat seine Braut begleitet.« Landis' Stimme war wieder fast unhörbar, wie stets, wenn er bewegt war.

Rita aber blieb sitzen, als ob sie einen schweren 194 Schlag empfangen hätte. Ein eisiger Schmerz durchzuckte sie. Sie biß die Zähne zusammen und that keinen Laut.

»Wußten Sie nicht, Rita? O, wußten Sie nicht? Ich dachte –«

Sie machte eine kleine Handbewegung, und plötzlich brach sie in ein unwiderstehliches krampfhaftes Lachen aus. Es schüttelte ihren ganzen Körper, es klang hohl durch das leere geräumige Treppenhaus. Es hörte gar nicht auf.

Verzeihen Sie mir! Verzeihen Sie! wollte Landis sagen; er kam nicht dazu, er fürchtete, Rita durch jede Kundgebung seiner Anwesenheit zu verletzen.

Sie war ganz versunken, seit das Lachen verstummt war. Leise schlich Landis die Treppe hinunter und wie im Traum die Straße hinab.

Abends saß er und schrieb lange. Um Mitternacht ging er an Ritas Wohnung vorbei, ihre Fenster waren dunkel. Sie schlief wohl.

* * *

Favorita Binder suchte sich durch verdoppelte Arbeit über ihren Schmerz hinwegzuhelfen, aber die Arbeit gab ihr wenig. Rita war Romanistin, im Winter wollte sie promoviren. Ihre Doktorarbeit über einige Dialekte des Romanischen war fast vollendet. Als geborene Schweizerin aus wohlhabender Familie war ihr die Möglichkeit, zu studiren, ohne Mühe geworden. Favorita war frei und unabhängig. Ihr Vater war längst verstorben, die Mutter lebte in ihrer Heimathstadt Lugano bei einer verheiratheten Tochter. Die ganze Familie besaß künstlerische, ästhetische Neigungen, auch der Schwager Favoritas, dessen Haus 195 einem Kunstkabinet glich. Favoritas beiden Eltern war diese Richtung gemeinsam; der Vater, Däne von Geburt, hatte sich nach seiner Heirath mit der Tessinerin in der Schweiz naturalisiren lassen. Sein Stolz war eine der schönsten Privatsammlungen griechischer Vasen und tanagräischer Figürchen gewesen. Rita glich mit ihrem blassen Blondhaar, ihrem milchzarten Teint dem Vater. Auch die Gefühlsweichheit, die schnellen Stimmungswechsel verdankte sie ihm, nicht ohne unter diesem väterlichen Erbtheil zu leiden. Zum Studium hatte sie sich erst spät entschlossen, erst als die Bälle sie langweilten.

Drei Jahre lang war sie mit Leonz innig befreundet gewesen, alle drei Jahre ihres Züricher Aufenthaltes. Dann hatte er ziemlich plötzlich alles Interesse für sie verloren und sich ganz der Partei zugewandt, in der er jetzt eine hervorragende Agitatorenrolle spielte. Er reiste viel und war ein feuriger und überzeugter Redner. Er konnte seine Hörer in deutscher, italienischer oder französischer Sprache begeistern, als Tessiner beherrschte er alle drei gut. Aber dem Blute nach war er durchaus Romane, ein kaum mittelgroßer, sehniger Mann mit einem starken, grotesk häßlichen Schädel, großen Zügen, lebhafter Mimik und einem seltsam rollenden Organ. Aus den aufstrebenden Spitzen seiner blauschwarzen Haare schienen Flammen zu zucken, wenn er sprach.

Favorita hatte diesen Mann drei Jahre lang bewundernd und hingerissen geliebt, während er als Freund bei ihr aus und ein ging und ihr zutraulich bald von dieser, bald von jener Neigung erzählte, die ihn fesselte. Seine Unbeständigkeit schien ihr eine Gewähr dafür, daß er im Grunde unverwundbar, einer eigentlichen, tiefen Liebe zu einer einzelnen gar nicht fähig sei, und 196 das tröstete sie darüber, daß er in ihr stets nur die Schwester gesehen hatte. Er nannte sie »Sorellina« und wandte ihr alle Weichheit seiner übrigens widerspruchsvollen, heftigen Natur zu. Dann, zuerst langsam, unmerklich hatte Leonz sich von ihr zurückgezogen. Die Partei absorbirte ihn ganz. Favorita litt und verschloß sich. Eine abgeblühte Blume, dachte sie, und eine matte welke Stimmung kam mit diesem Gedanken in ihr Empfindungsleben. Sie fühlte sich oft selbst wie eine abgeblühte Blume. Daß es aber keine sterbliche Nebenbuhlerin war, die ihr Leonz entrissen, blieb ein kleiner Trost.

Und nun? Nun war dieser unglückliche Landis gekommen und hatte ihr gesagt, daß Leonz eine Braut habe, eine regelrechte Braut. Es war ihr, als habe ihre Existenz nun jeden Zweck verloren. Augenblicke kamen, wo sie an Morphium, Cyankali, Revolver dachte, aber ihre bittere, selbstverachtende Stimmung ließ es zu keinem Entschluß kommen. Sie fand wohl auch, sie sei es den Frauen schuldig, den studirten Frauen, keinen solch theatralischen Abgang zu nehmen. Tödtet sich eine der unserigen, so geht ein Frohlocken durch alle spießbürgerlichen Blätter, dann heißt es: das sind die Folgen der Frauenaufklärung, sagte sich Favorita. Aber seit jenem Maitag hing ihr das Leben wie eine Bürde um den Nacken. Und eine ungerechte, von ihr selbst als ungerecht empfundene Abneigung gegen Doktor Landis, den Ueberbringer der schlimmen Nachricht, quälte obenein ihre zarte Gewissenhaftigkeit. Wenn sie ihn auf der Straße erblickte, was oft geschah, so erschrak sie jedesmal, trat, instinktiv Schutz suchend, in einen Hausflur oder bog in eine Seitenstraße und kam dann doch wieder 197 hervor, um ihn zu begrüßen, weil sie sich ihrer eigenen Unlogik schämte.

In der That, Landis hatte ihr wissentlich nie Böses zugefügt, er war ein selten edler, feinfühliger Mensch, und oft kam es ihr vor, als bestehe ein geheimnißvolles Band zwischen ihm und ihr, gewoben aus einem seltsamen Parallelismus ihrer Schicksale.

Was für Favorita Leonz, das war für Doktor Landis Agathe gewesen, Agathe Sprung, die Landis selbst als Brautführer ihrem Gatten zugeführt hatte. Landis hatte Agathe kennen gelernt, als sie bereits verlobt war, er hatte sich als Werther gefühlt, dieser Lotte gegenüber, die ihn sogar die Briefe ihres Bräutigams lesen ließ, und er hatte in dieser über zwei Jahre hin dauernden wunderlichen Position fast einen dumpfschmerzlichen Genuß, aber jedenfalls einen Genuß gefunden. Das kluge, heitere, kokette Mädchen Agathe, das über dem winkenden Zukunftsglück mit Eberlein die fröhliche Gegenwart nicht hatte verlieren wollen, war von Landis zu einem Ideal weiblicher Süßigkeit und Treue hinaufphantasirt worden, und nur seine frühe Resignation, die fast gleichzeitig mit seiner Liebe für Agathe entstanden, machte es ihm möglich, das Leben weiter zu ertragen, das er der ganzen Menschheit zu weihen schon in früher, schwärmerischer Jugend beschlossen. Von Geburt Deutscher, war er in Finnland aufgewachsen, wo sein Vater einen großen Holzhandel besaß. Er hatte Medizin studirt, aber kein Staatsexamen gemacht, weil er immer jemand Armes fand, der das Geld nothwendig brauchte, um Brot zu kaufen. An der Medizin verzweifelte er, weil er die Hauptkrankheit, die Armuth, nicht heilen konnte. So war er zu der Maxime gekommen, daß der Mensch 198 seine Bedürfnisse so tief wie möglich herabschrauben müsse, um nicht vor den vielen Beraubten und Elenden jeden Augenblick erröthen zu müssen, und er lebte demgemäß. Das Wenige, das er für seinen täglichen Haferbrei, seine Milch und seinen Thee gebrauchte, erwarb er durch populärwissenschaftliche Artikel in Zeitungen. Er hauste in einem kalten Dachzimmer, schrieb, wenn ihm die Finger steif wurden, in den öffentlichen Lesesälen oder bei Freunden, die eine bequeme Wohnung besaßen, und nahm nur im äußersten Nothfall, eigentlich nur, wenn es galt, jemand anderem zu helfen, eine Geldsumme von den begüterten Geschwistern in Finnland an, die er den inzwischen in den Ruhestand getretenen Papa allein hatte beerben lassen.

Wie Favorita Binder lebte auch Ludwig Landis ein in sich gekehrtes stilles Leben, aber während ihr Standpunkt wesentlich der ästhetische war, hielt sich Landis selbst für einen Barbaren, der Kunst gegenüber, und verachtete sogar die Kunst als eine gefällige Täuscherin, die den Menschen an sich zog und ihn hinderte, seine Kräfte wichtigeren Zielen zu weihen. »Wir haben dazu noch keine Zeit,« pflegte er zu sagen, »wir wollen erst Brot für Jedermann. Entschuldigen Sie, aber dies ist meine Meinung,« setzte er in seiner liebenswürdigen, schüchternen Weise hinzu, »ich will durchaus Niemand bekehren, Proselytenmachen ist mir widerlich.«

* * *

Landis war nach jenem Maitag in einer eigenthümlichen Verfassung. Er hatte Favorita Binders Schmerz, unausgesprochen, wie er geblieben, außer in jenem selbstverspottenden Lachen, plötzlich verstanden und 199 dann mitgefühlt. Er war der Mensch des allgemeinen Mitleids, und hier konnte er so gut die wehen Zuckungen einer kranken Sehnsucht an seiner eigenen messen. Daß obenein er es gewesen, den das Schicksal mit dieser Mission, Schmerz zu bereiten, betraut hatte, verschärfte sein Nachempfinden. Es kam ihm bald vor, als habe er an Favorita etwas gut zu machen, als sei er ihr etwas schuldig für die qualvollen Minuten, wo sie wie vernichtet auf der Treppe gesessen und das hallende Treppenhaus mit ihrem herzbrechenden Gelächter erfüllt hatte.

Und nun machte Landis an sich eine ihn selbst überraschende Entdeckung. Während ihn sonst ein etwa empfundenes Schuldgefühl ängstlich vor dem fliehen ließ, den er verletzt zu haben glaubte, trat diesmal das Entgegengesetzte ein: Favorita erhielt für ihn plötzlich eine Anziehungskraft, die sie nie vorher besessen. Er suchte ihr zu begegnen, er sandte ihr Bücher, Zeitungsausschnitte, und wenn sie sich am dritten Orte trafen, so war es ihm, als gehe geradezu ein magnetischer Strom von ihr aus, der ihn an ihrer Seite festhielt und ihn mit einer neuen Lebenskraft erfüllte. Freilich, sobald er dann wieder allein war, kehrten seine Gedanken zu Agathe zurück, die ihm immer noch mit ihrer kapriciösen Anmuth in den Augen festsaß und deren unbefangene Rücksichtslosigkeit so ziemlich den stärksten Gegensatz in Favoritas sanftem Zartsinn fand. Doch gab es auch Augenblicke, wo er die – übrigens sehr verschiedenen – Stimmen der beiden Freundinnen nicht mehr unterschied, und wo ihm ein Wort aus Ritas Munde stunden-, ja tagelang nachging.

Das Zusammenklingen ward häufiger, und es konnte geschehen, daß Landis Favorita plötzlich an Dinge und 200 Situationen erinnerte, die nur Agathe wissen konnte, und daß er dann, wie ein erschreckter Schlafwandler auffahrend und Rita vor sich sehend, in der Verlegenheit und dem erwärmten Gefühl Favoritas Hand ergriff und drückte, ohne recht klar zu wissen, ob es Agathes oder Ritas Hand sei, die er halte, obgleich Agathes Hand klein und starr, Ritas aber eine schmale, langfingerige, sehr nervöse Hand war.

* * *

Favorita hatte Landis eingeladen, und er wagte sich nach langem Kampf mit seiner Schüchternheit eines Sonntags zu ihr. Ein Juligewitter tobte durch die Straßen, und gelbe Bäche rannen die steilen Wege hinab, während er ging. Rita saß in ihrem gewohnten eleganten Schwarz auf der Couchette, die ein dunkelblauer Teppich bedeckte. Wie eine weiße Blüthe ruhte die linke Hand auf der Rücklehne. Ihr helles Gesicht, das lichte Haar leuchtete auf dem dunklen Grunde, an den sie sich lehnte. Ludwig Landis bemerkte das nicht, er hörte nur, daß ihre Stimme einen wankenden, verschleierten Klang hatte, und daß ihre Augenlider geröthet waren.

Was ist geschehen? wollte er sagen, aber der Gedanke, daß seine Frage ihr lästig fallen könne, hielt die Worte auf seinen Lippen zurück. »Soll ich wieder fortgehen?« fragte er statt dessen, von der Thür aus.

Favorita ermannte sich. »Warum? Ich bin ja froh, Sie zu sehen. Wir können Thee zusammen trinken.«

»Gut, den mache ich. Bleiben Sie ganz ruhig,« sagte Landis, hereinkommend. »Sofort bringe ich Wasser.«

Dann setzte er sich auf einen Stuhl, Rita gegenüber, sah zu Boden und vergaß alles, auch das Sprechen. 201

Das war seine Art so, zu Besuch zu kommen.

»Sie sind sehr naß geworden,« begann Favorita, »wollen Sie nicht Ihre Galoschen ausziehen?«

»Ja, ich glaube, es regnet,« sagte Landis zerstreut.

Ein Hagelschauer prasselte an die Scheiben. Rita lachte auf: »Ich glaube auch!« Dann trat sie ans Fenster. »Wenn nur nichts ›verhei't‹ wird! Sehen Sie, wie die Magnolienbäumchen herumgeschleudert werden. Ich habe schon eine Stunde lang zugesehen, wie die Gärtner die Treibkasten zudecken – Glasfenster, Zweige, Strohdecken – aber die Rosen, die im Freien stehen, ach, schade!«

»Ist es Ihr Garten?« fragte Landis theilnehmend.

»Nein, ich wohne doch hier beim Gärtner zur Miethe. Wissen Sie das nicht?«

»Jawohl. Es ist ja auch vollständig gleich, wessen Rosen verhageln, meine ich.«

»Ja gewiß! immer schade, wenn Rosen verhageln müssen.«

Sie seufzten beide, aber leise, unterdrückt und setzten sich wieder an den Tisch.

»Was haben Sie denn gelesen, Rita?« Er nahm das Buch, las, senkte das langsam erröthende Gesicht über die Seite und las noch einmal. Dann legte er den Band still hin und schien über die Worte zu träumen.

Ein Bleistiftkreuzchen bezeichnete die Verse mit der Ueberschrift: »Umsonst«.

An dich verschwendet hat mein Herz
Sein bestes Gut und Blut,
Sein Beten, Lachen und Weinen,
Sein Zagen und seinen Muth. 202

Eine gedankenschwere Stille hing über dem kleinen heißen Raum, dessen Fenster die schweren Gewitterwolken verdüsterten. Landis griff wieder nach dem Buche, besah das Titelblatt und sagte erstaunt: »Paul Heyse? Weiß der auch so etwas? Von dem hatt' ich eine ganz andere Vorstellung.«

Favorita erhob sich mit einem gewissen Ungestüm. Landis erschrak und sprang auf die Füße.

»Wünschen Sie auszugehen? Wollen Sie mich vielleicht los sein?« murmelte er.

»Sie haben ja den Thee vergessen!« rief Favorita mit gezwungenem Lachen. »Können Sie Wasser holen?«

»Sie haben recht, der Thee! Ich verstehe das ausgezeichnet, Rita, wirklich, eines der wenigen Dinge, die ich ausgezeichnet verstehe. Kochen Sie ihn hierin?«

Er hatte ein Blechpfännchen ergriffen und wollte damit zur Thür. Rita lachte wieder und drängte ihm statt des Pfännchens eine Karaffe auf. Er blieb stehen und sah sie freudig an: »Ach, wie gern ich Sie lachen höre! Lachen Sie noch einmal, Rita!«

»Sie sind ein guter Mensch,« sagte Favorita gerührt, »aber nun holen Sie endlich Wasser. Der Spiritus brennt ja aus.«

Er wendete sich lebhaft um. »Erlauben Sie, Fräulein, wie können Sie denn den Spiritus im voraus anzünden? Das ist unpraktisch. Den muß man wieder auslöschen. Wo brennt er denn?« Er sah sich um.

»Er brennt noch gar nicht. Das Streichholz hat versagt. Also –«

Nach ein paar Minuten erst kam Doktor Landis mit der leeren Flasche zurück. Er lächelte verlegen: »In der Küche scheinen Leute zu sein, es wird dort 203 gesprochen – ich mochte nicht – – Und, übrigens, lassen wir doch den Thee, Fräulein. Das heißt, wenn Sie Durst haben?«

Rita hatte auch keinen Durst, und so setzten sie sich wieder.

»Nicht darum handelt es sich,« begann Landis gedankenvoll, wie in sich hineinredend, »es handelt sich vielmehr um etwas ganz anderes.« Er verstummte.

»Woran denken Sie?« sagte Rita, »Ihre Gedanken sind wohl nicht hier?«

Einen Augenblick sah Landis sie voll an. Seine schönen Augen redeten eine warme Sprache. »O, doch,« sagte er dann, »ich dachte sehr viel an Sie, fortwährend, glaube ich. Das heißt, ich dachte an folgendes Problem: sind unsere affectiven Bewegungen von Anfang an differenzirt oder sind sie ursprünglich amorph? Wäre das letztere der Fall, so wie es mir zu sein scheint, dann –«

»Ich verstehe nicht recht,« sagte Rita, die Brauen zusammenziehend.

Er sprach in sich hinein, mehr als zu ihr . . .Wenn das Gefühl der Anziehung ursprünglich einartig ist, dann wäre am Ende diese ganze spätere Differenzirung in – sagen wir – ja nun sagen wir – Liebe, Freundschaft, Theilnahme, Wohlgefallen nur etwas Künstliches, und nichts hinderte, daß diese Empfindungen jeden Augenblick ineinander übergehen könnten – das heißt, es bedurfte nur eines Willensaktes.« Seine Augen wurden immer klarer, größer, glänzender. Er bekam den »wissenschaftlichen Blick«, den Agathe an ihm gekannt und verabscheut hatte. Sie pflegte ihn dann an der Nase zu ziehen, um ihn zu verwirren. Aber Favorita hörte ruhig zu; ihre etwas matten hellgrauen Augen allein 204 brachten ihn aus der Fassung. Vor ihrem trüben Ausdruck trübte sich auch sein Blick, und ihm selber höchst unerwartet sprang aus seinem rechten Auge eine Thräne hervor.

»Entschuldigen Sie,« sagte er völlig verwirrt, »dies ist Unsinn.«

Er langte, Hülfe suchend, wieder nach dem Gedichtband und las, ohne zu wissen, was er that, halblaut mit traurigem Ton:

An dich verschwendet hat mein Herz
Sein bestes Gut und Blut –

Dies ist schrecklich qualvoll! Nur jetzt nicht weinen, dachte Favorita, und sie biß die Zähne zusammen, bis die Schwäche vorüber war. Wenn doch der wunderliche Mensch fortginge! Dann erschrak sie heftig.

»Ja,« sagte Landis, »ich gehe schon! Ich habe eine Verabredung. Etwas Peinliches. Heute Nacht mußte ich nämlich eine Dame begleiten, eine Französin. Sie kam von einer Reise zurück. Er ist ein Student, ihm fiel plötzlich ein, sie nicht ins Zimmer zu lassen. Er sprang in einen Wandkasten, und sie stand draußen und weinte. Er ist mein Zimmernachbar. Er liebt sie furchtbar, aber natürlich – auf seine Art. Sie ihn auch. Zuletzt klopfte sie an meine Thür. Ich gehe mit ihr zu dem Studenten hinein. Es waren noch sechs andere Studenten in seinem Zimmer. Sie lachten und verleugneten ihn. Ein Pole sagte, er habe eine Tante hier, dort solle sie schlafen. Sie ging mit ihm, und ich ging auch mit, denn dieser Pole ist ein gewöhnlicher Mensch. Sie wußte das auch. Wir spazierten vier Stunden durch die Stadt. Es gab gar keine Tante. Sie wurde so müde, die arme Frau, sie ist eine Modistin. Ich 205 trug das kleine Kind. Wir hatten kein Geld zufällig, die Französin nicht, ich nicht; der Pole bot ihr sein Zimmer an . . .«

»Ach, was für Geschichten!« sagte Favorita verlegen, »was erzählen Sie mir da!«

»Ja,« fuhr Landis ruhig fort, »der Pole war jedenfalls ein ganz gewöhnlicher Mensch. Man konnte ihm diese arme Frau nicht anvertrauen. Glücklicherweise wurde es schon hell. Um vier Uhr ging der Pole endlich nach Hause. Ich habe auf dem Zürichberg geschlafen –«

»Und haben der Frau Ihr Zimmer abgetreten,« sagte Rita.

»Ja. Jetzt wird sie wohl aufgewacht sein. Ich habe gedacht, wenn Sie sich ihrer annehmen wollten, bis ich mit Anescou gesprochen habe. Sie ist ganz ohne Mittel natürlich und hat das Kind.«

»Sie meinen doch nicht, daß sie zu dem Menschen zurückkehren soll, der sich so benommen hat?« rief Favorita.

Landis nickte. »O doch. Sie lieben sich schrecklich, alle beide. Auf ihre Art. Es ist etwas, das wir nicht verstehen – das heißt, ich verstehe es nicht! Wenn er sie liebt, wie kann er sie so bestrafen, nicht wahr? Er wollte sie nämlich für irgend etwas bestrafen, sagte er. Und sie auch. Sie wollte mit diesem Polen gehen, diesem ganz gewöhnlichen Menschen, denken Sie, um ihrerseits Anescou zu bestrafen. Sie war rasend. Sie weinte, und dann fluchte sie wieder. Sie sagte: ›Der Schuft!‹ Und dann gleich wieder: ›Ich sterbe, ich sterbe, Anescou liebt mich nicht mehr!‹ Wir verstehen das nicht, Rita.« 206

»Nein, ich verstehe das nicht. Wie häßlich ist die Geschichte.«

»Ja. Im Leben ist viel Häßliches. Alles, was wir nicht verstehen, scheint uns häßlich. Sie wird jetzt wohl aufgewacht sein. Meine Wirthin sollte ihr Milch bringen für das Kind.«

»Wie alt ist es?«

»Ganz klein, ein Jahr, glaube ich. Nein, Sie gehen nicht mit mir zu der armen Frau . . . Es ist für Sie zu fremdartig, nicht wahr?«

»Wenn ich nützlich sein kann,« sagte Rita seufzend, »so komme ich mit Ihnen.«

Sie nahmen die Hüte und gingen.

An den Citronenbäumchen, die zu beiden Seiten der Gartenthür auf Beeten standen, waren Zweige geknickt, Blätter und hellgelbe, halbreife Früchte lagen auf dem nassen Boden. Es grollte noch, der Himmel war schwarz und die Luft schwül wie in einem Dampfbad.

»Gut, daß der Blascht nicht heute Nacht kam,« lächelte Favorita, »wo haben Sie denn geschlafen?«

»Auf dem Russenbänkli, dort oben, wissen Sie. Nachher hab ich mich daneben ins Gras gelegt. Ich liebe diese Stelle.«

»Ich auch,« sagte Rita, »ich möchte das auch einmal machen. Aber als Frauenzimmer ist man so gebunden.«

»Soll ich Sie gelegentlich abholen? Zu einem Nachtspaziergang, Fräulein? Sagen Sie nur wann,« begann Landis eifrig.

Favorita erröthete, und dann ärgerte sie sich selbst, 207 daß sie weniger unbefangen war als er. »Am ersten schönen Abend; Ende August sind die hellen Nächte fertig. Aber ist es denn sicher dort oben?« fragte sie, hastig auf die trockenen Stellen tretend.

* * *

»So, jetzt wollen wir sehen.« Sie standen vor Landis' Dachzimmer und klopften.

Eine Frauenstimme rief: »Herein!«

»Bitte, Sie zuerst, Rita.« Landis schien sich zu geniren.

»Herein!« wiederholte dieselbe Stimme.

Auf einem Stuhl am Fenster saß die Wirthin und fütterte einen kleinen Buben, den sie im Arm hielt, aus einem Becken mit Milch.

Das Kind hatte das zahnlose Mäulchen aufgesperrt und machte mit seinem kurzen, schwarzen Haar und den großen, runden, dunklen Augen den Eindruck eines Vogels im Nest. Er war im Hemdchen, das ihn kaum bedeckte, und seine braunen Glieder zappelten munter.

Die Frau blickte lachend, mit einem gutmüthigen Großmuttergesicht, den Doktor an.

»I bin noch emal jung worde, gelte Sie?« Dann wies sie mit dem krummen Zeigefinger nach der Wand. »Sie ischt do. Er hat's g'holt. Bereits e halbe Schtund ischt er vor der Thür auf d' Knie g'lege. Descht e Furie! Loset Sie!«

In Anescous Zimmer ward geweint, dann laut gezankt und wieder geweint.

»Das ist Anescou,« sagte Landis lächelnd, »sie sind ausgesöhnt, hören Sie?« 208

Durch die dünne Wand erklangen allerlei Töne.

»Sie küssen sich – nun ja,« machte der Doktor, »das ist ausgezeichnet.«

Plötzlich wurde die Thür aufgerissen, und eine junge Frau, hochgewachsen, graziös, mit offenem Haar und bloßen Schultern, stürmte herein. Ihre Augen strahlten, und lachend vor Uebermuth drehte sie den Schlüssel im Schloß um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür, an die von draußen alsbald heftig gepocht ward.

Sie hatte sich die Hand auf den Mund gepreßt und erstickte fast vor Lachen.

Die Anwesenheit der beiden Fremden beachtete sie gar nicht. Sie schien ganz in ihr leidenschaftliches Spiel vertieft.

Favorita glaubte zu träumen. Sie kam aus ihrer vornehmen Stille und hier – in äußerster Verlegenheit kehrte sie sich ab und beschäftigte sich mit dem Kinde.

Landis war dunkelroth. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und ein Buch genommen, aber seine Augen gingen hülflos von dem schmutzigen Fußboden zu der spinnwebenüberzogenen Decke. Jedesmal, wenn ein neuer Stoß die Thür erschütterte, fuhr Landis zusammen, als sei er getroffen.

»Ma mie! mignonne! ouvre donc! au nom de Dieu! au nom du diable! Zaza! Zaza!« Anescou bearbeitete die Thür mit den Absätzen.

Zaza krümmte sich vor Lachen.

»Aber nein! Aber –« Favorita sprang in die Höhe – »Landis!« Sie war zornig.

Landis wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Eine nette Einquartirung, was? Der Kerl ist ganz von Sinnen.« Er erhob die Stimme: »Anescou! 209 Schlagen Sie gefälligst nicht die Thür ein! Hier sind vier Menschen! Nehmen Sie etwas Rücksicht!«

Mit einem letzten Knall endigte der Lärm draußen. Anescou war in sein Zimmer zurückgekehrt und stampfte dort fluchend umher.

Der Belagerten aber war auf einmal der tolle Uebermuth vergangen. Sie ließ sich auf Landis' Bett niederfallen, schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte: »Ah, quelle vie! quelle vie!«

Endlich brach sie in lautes Schluchzen aus, dem alsbald der Kleine sekundirte, während er mit den braunen Händchen zornig nach dem vollen dargereichten Löffel schlug.

Favorita überwand ihr Mißbehagen und trat zu der Fremden. Sie setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl und begann in französischer Sprache tröstend und zugleich aufreizend auf sie einzureden.

Landis hörte fortwährend das Wort »indigne«; er begriff Ritas Empörung über die herabgewürdigte Schwester, und sein Herz schlug heftig.

Die junge Frau hatte anfangs nicht acht auf die Sprecherin gegeben, jetzt hingen ihre nassen Augen, die durch die Thränen verführerisch leuchteten, an Ritas sanftem Gesicht. »Oui, madame,« flüsterte sie seufzend, und wieder und wieder »oui, madame!

Und als ob mit der Besinnung auch jedes andere Gefühl zurückkehre, griff sie nach ihrer seidenen Blouse, die auf dem Kopfkissen lag und zog sie langsam über die schlanken, gelblichen Arme, während sie kein Auge von Rita verwandte.

Der Kleine hatte zu weinen aufgehört und legte sich zum Schlafen zurecht auf dem Schoße der Wirthin. 210 Etwas wie Frieden wehte über das kleine, eben noch so geräuschvolle Zimmer. Eintönig klopfte der Regen auf das Zinkdach.

Plötzlich sprangen alle aus ihrer Ruhe auf: im Nebenzimmer war ein Schuß gefallen.

Die Wirthin warf das Kind auf das Bett, Zaza nachstürzend, die mit einem entsetzten Schrei aufgefahren und aus der Thür geflohen war. Draußen aber blieb sie stehen, hielt sich die Hände vor die Ohren und jammerte Landis und der Wirthin entgegen: »O monsieur! oh madame! il s'est tué!«

Landis rüttelte an Anescous Thür, sie war verschlossen; er probirte seinen eigenen Schlüssel, alles vergebens. Zaza gebärdete sich wie eine Sterbende in Favoritas Armen. Das Bübchen schrie, weil man es allein gelassen, und nur die Wirthin behielt ruhiges Blut. Mit einem krummen Nagel, den sie eiligst herbeigeholt, öffnete sie das Schloß und drang in das Zimmer.

Anescou lag halb ausgekleidet auf dem Teppich vor seinem Bett, neben ihm ein Flobert, der noch rauchte.

Zaza warf sich über den regungslos Daliegenden, hob seinen rechten Arm, der schlaff wieder herabfiel, und küßte seine Brust, auf der sie das Hemd auseinanderschob. Sie schrie laut.

Favorita und Landis wagten kaum zu athmen. Rita streichelte mit selbstvergessener Angst die Hand der Wirthin und bat sie, sich zu beruhigen.

»Ach so, ich bin Arzt,« brummelte Landis, »erlauben Sie, ich will –« Er kniete neben dem Erschossenen, als dieser plötzlich die Finger der rechten Hand bewegte.

Zaza murmelte.

Landis horchte auf. 211

»C'est moi, Zaza! c'est ici!« weinte die junge Frau, und ihre Lippen hefteten sich auf Anescous blondes Bärtchen.

Er schlug die Augen auf, und dann preßte er Zaza heftig mit beiden Armen an sich. »Tu m'aimes donc? dis! dis vite! m'aimes-tu?« stöhnte er.

Und dann sprang der Todte mit einem halb verschämten, halb pfiffigen Lächeln auf die Füße: »A la guerre comme à la guerre!« Bin ich ganz gesund.«

Die Wirthin gab ihm einen derben Schlag auf die Schulter und schimpfte.

Landis wollte böse werden, aber er fand es sehr schwer, böse zu sein, daß ein Mensch lebendig statt todt war.

Favorita hatte sich schnell zurückgezogen und erwartete Landis auf der Treppe. Ihre verächtliche Miene hielt auch nicht stand. »Nichtsnutziger Komödiant,« sagte sie und war doch froh.

Anescou und Zaza standen am Fenster und bewunderten das nette, kleine, runde Loch, das der Flobert in die Scheibe geschossen hatte.

* * *

Ein schöner Sonnenuntergang beendete den gewitterreichen Tag. Landis und Favorita waren zum Russenbänkli hinaufgegangen. Sie konnten sich nach dem seltsamen Ereigniß, das sie beide noch durchzitterte, nicht so bald trennen.

»Da hab' ich heut Nacht geschlafen,« sagte Landis, auf das kurze, sonnverbrannte Gras neben der Bank zeigend, aus dem jetzt nach dem Regen ein kräftiger Duft aufstieg. Der Himmel mit den vom Winde 212 zerpflückten kleinen Wolken, die wie helle Rosen auf einem lichten grünen Grunde schwammen, darunter die Stadt mit ihren im violetten Dunst schimmernden Häusern und Thürmen, der rothe See zwischen den schwarzen Ufern – es war seltsam bunt und fremdartig, ganz unwahrscheinlich.

»Nicht um das handelt es sich,« sagte Landis, als Rita ihn auf diese Farbenstimmung aufmerksam machte. »Ich möchte vielmehr wissen: ist das nun Liebe? Was denken Sie, Rita?«

»Die Komödianten da?« sagte Rita wegwerfend.

»Ja, Komödianten – aber doch nicht nur Komödianten. Denken Sie sich, dieselbe Gluth, dieselbe Absorbirtheit, dieselbe Verzweiflung, aber all das im Ernst! Das wäre dann schön, nicht wahr?« Er versuchte, sie anzusehen.

Favorita flammte auf: »Ja, schön! Einzig schön! So zu lieben, daß man stürbe, wenn es aus wäre. Das hieße Leben.«

Er athmete tief und schlürfend, als ob er ihre Worte tränke. Dann erblaßte er, er fühlte ein Zittern in den Händen und rückte ängstlich ein wenig weiter von Favorita weg. »So möchte ich lieben,« flüsterte er und seufzte.

Ein leichter Schauder überflog Favoritas Rücken. Sie zwang sich zu lachen. Vor ihrer Seele stand Leonz. »Kinderträume! Es ist ja bald Herbst, das heißt für mich –« Sie wollte aufstehen.

Landis berührte leicht ihren Arm: »Bitte, gehen Sie noch nicht. Ich möchte Ihnen so vieles sagen. Es läßt sich nur so schwer in Worte fassen. Können Sie sich denken, Rita – verachten Sie mich nicht –, 213 daß ich heute diesen Anescou, diesen, diesen – Anescou beneidet habe?«

»Hat die Französin es auch Ihnen angethan mit ihrer Schönheit?« spottete Rita.

»Zaza? O nein! Finden Sie Zaza schön? wieso? Nein,« sagte er und verschwand ganz unter seinem Hut, »ich sehne mich – ich weiß nicht, was es ist. Sie wissen, Agathe ist mit Eberlein – übrigens, glauben Sie nicht, daß dort etwas war, nicht eine Sekunde ihrerseits! Mir war sie viel, aber – ich wußte ja, sie ist Braut. Ich ging immer nur nebenher. Manchmal war es, als ginge ich an Krücken, nicht auf eigenen Beinen. Werde ich wohl niemals auf eigenen Beinen gehen? Ist da etwas Verkrüppeltes in mir? Was meinen Sie? Und was ich sagen wollte: kann nicht aus Freundschaft Liebe, das heißt aus einer soliden Zuneigung niemals eine andere Art der Zuneigung hervorgehen? Was denken Sie?«

Vor Ritas Seele erhob sich wieder das große, flammenhaarige Haupt, die sprühenden Augen des Leonz. Eine qualvolle Sehnsucht überfiel sie nach dem Fernen, Verlorenen. Sie vermochte nicht zu reden. »Ja,« hauchte sie endlich.

Dies »Ja« brachte Landis um alle Fassung. Er sagte ihr hastig Lebewohl und eilte in den dunklen Wald hinein, der jenseits der Wiese in langer welliger Linie sich hinzieht. Er schwankte beim Gehen wie berauscht. Und wie berauscht blieb Favorita auf der Bank sitzen und starrte in den Abendhimmel, der schnell verblaßte. Als alles grau geworden, ging sie langsam allein zurück. Bekannten, die ihr begegneten und sie anreden wollten, war sie mit einem scheuen, abweisenden Gruß ausgewichen. 214 Sie hatte etwas Fremdes, Vornehmes, das die Menschen eher entfernte als anzog.

* * *

Favorita träumte, Landis träumte, und inzwischen ging das Leben seinen harten Tritt.

Monsieur Anescou war eines Tages sehr eilig, und ohne seiner Wirthin für das letzte Semester zu bezahlen, nach Paris gereist und hatte Madame Zaza mitgenommen. Das Bübchen hatten sie nebst einigen leeren Hutschachteln und durchlöcherten Schuhen zurückgelassen. Nachher kam ein Brief an die Wirthin mit der Bitte, umgehend fünfundzwanzig Franken zu schicken, – da man augenblicklich etwas in Verlegenheit sei, – und das Kleine gut zu pflegen, bis man wiederkomme und alles in Richtigkeit bringe.

Die Wirthin lieh sich das verlangte Geld von den Pensionären und behielt das Bübchen. Landis und Favorita aber übernahmen es, für das Kostgeld zu sorgen, das die arme Wirthin, die kaum Kaffee und Brot für sich hatte, unmöglich tragen konnte.

Als Landis nach der Unterredung über diese Sache von Rita gegangen, war er fast mit sich im reinen. Sie ist die beste Seele, der ich je begegnet bin, dachte er, was könnte mich abhalten, sie zu lieben? Vielleicht ist sie zu schön für mich, ja, jedenfalls ist sie zu schön, aber eigentlich haben alle Frauen so viel Schönes, daß etwas mehr oder weniger nicht viel ausmacht. Wenn sie mich liebte, so könnte das Leben sehr schön werden, aber wie soll man so etwas erfahren, ohne sie irgendwie zu beleidigen?

Und vor seinen sehnsuchtsvollen Blicken stiegen 215 Bilder auf, verschwommen, aber süß, von einer heißeren Sonne beleuchtet, von fremdartig duftenden Blumen bekränzt, Bilder und Scenen, in denen er ein ganz anderer war als der bedeutungslose Doktor Landis mit den zu kurzen Hosen und dem zerdrückten Hut. Dort war er stark, kühn, ein Weltbezwinger, ein Feuerredner, ein selig Liebender, ein Halbgott. All das steckte ja ursprünglich in ihm, das fühlte er tief, aber es lag hinter siebenfachen Eisenringen verrammelt, die seine Brust umgaben. Ein Wort mußte gesprochen werden, ein Ton mußte klingen, der die Eisenringe zersprengte, der die Flügel seiner Seele entfesselte und ihn sich selber finden ließ, und dieser Ton müßte kommen von den Lippen, aus dem Herzen einer geliebten liebenden Frau. Seine Zukunft, sein Glück, seine Größe würde durch sie erfüllt werden, die trübe alte Welt, in der er nun schon sechsunddreißig Jahre gewandelt, würde ein Frühlingswald werden, und er selber würde wie die Sonne aufgehen über dem sprießenden Wald!

Und er murmelte freudig: »Favorita! Rita! Favorita!« und ihr Name schien ihm eine Verheißung. Er berauschte sein Ohr an dem Klang der Vokale, neben dem die Musik des Namens Agathe mehr und mehr wirkungslos verhallte.

* * *

Anders und dennoch ähnlich war Favoritas Empfinden. Auch sie sagte sich: Er ist tausendmal besser als die meisten Menschen! Er ist viel besser als Leonz! Den sollte man lieben! den! der verdiente es wirklich. Könnte es nicht sein? ach, könnte es nicht? – Und sie träumt, sie ist jemand nöthig! Ein Mensch ist da, der 216 nicht leben kann ohne sie. Zum Leben, zum Sprechen, zum Essen, zum Schlafen, zum Athmen – er bedarf ihrer. Sie braucht nicht mehr an sich zu denken, was – ach – so ermüdend, so aufreibend, so unfruchtbar ist.

Sie wird jede Sekunde an ihn denken. Sie wird sich selber etwas Kostbares, etwas Werthvolles werden, weil sie einem anderen so lieb, so nothwendig ist. Die ganze kleine Misere des Daseins, heute Kopfweh, morgen Müdigkeit, übermorgen Melancholie bis zur Todessehnsucht, all das wird sie nicht mehr fühlen. Wie ein junger Baum wird sie sein, der wieder rothe und weiße Blüthen trägt. Frisch wird sie sein, wie eine Lerche in den Wolken. Ganz plötzlich wird sie fliegen können. Nur einmal in ihrem Leben ist sie geflogen, und das war im Traum. Und auch damals flog sie allein, Leonz liebte sie nicht. Aber nun wird sie Hand in Hand fliegen. »Wehet, wehet, ihr Stürme der Liebe, und reißt mich mit euch!«

Favorita fuhr auf: Landis stand auf ihrer Zimmerschwelle. Es war elf Uhr Abends.

»Wie sind Sie hereingekommen?« fragte Rita überrascht und doch sicher, daß ihre Sehnsucht ihn herbeigerufen hatte.

»Das Mädchen putzte die Haustreppe, glaube ich, auf den nassen Fliesen stand ein Lämpchen. Ich bin etwas gefallen,« stammelte er, »ich möchte meine Hände waschen.«

Seine Hände waren verschrammt und schmutzig wie bei einem fünfjährigen Kinde. Rita lächelte still über sich selbst, während er sich wusch. War das derselbe Mensch, an den sie gedacht? Er kam ihr ganz alltäglich, 217 dabei vertraut und angenehm vor, aber der Mann, mit dem sie fliegen wollte – –

»Der Abend ist schön, vielleicht spazieren wir?« sagte Landis, indem er sich heftig die Finger einseifte. »Das heißt, wenn Sie keine Lust haben –«

Rita blickte hinaus. Ein sammetschwarzer, von keinem Stern erleuchteter Himmel stand wie eine Mauer hinter den Gartenbäumen.

»Es ist sehr dunkel, wir werden vielleicht alle beide fallen,« sagte sie lachend.

»Ja,« machte Landis, »außer, wenn Sie keine Lust haben, ist es sehr schön. Und draußen falle ich wirklich nicht, nur hier im Garten gab es solche Steine –«

»Was wollen wir denn draußen sehen, wenn es so schwarz ist?«

»O, die Stadt mit all dem elektrischen Licht ist sehr hübsch von oben – aber nur, wenn es Ihnen nicht lästig ist –«

Jedesmal, im Anfang jeder neuen Zusammenkunft, hatte er diese verlegene, unschlüssige Art, die Favorita langweilte. War dies der Mann –

»Also ich komme,« sagte sie, »aber Sie müssen mich gut behüten, Sie wissen, ich bin auch kurzsichtig.«

Sie gingen über den nassen Flur, das Mädchen blickte ihnen nach.

»Ach so, jetzt begreife ich Ihr Stolpern, diese alten Grabsteine sind erst seit gestern hier. Der Gärtner hat einen Friedhof ausgeräumt, Schilder und verrostete Kreuzchen liegen hier herum; aus den alten Grabsteinen baut er eine neue Grotte dort unten.«

Ein grünliches Lichtchen brannte wie ein Todtenkerzchen vor einem schwarzen, am Zaun lehnenden Kreuz, 218 das in der zitternden Beleuchtung einzig erkennbar aus dem Dunkel hervorstach. Favorita fuhr zurück.

»Was ist das?«

»Ich weiß nicht. Ich denke ein Johanniswürmchen. Vielleicht stammt sein phosphoreszirender Schein aus dem Phosphor des Hirns, das unter diesem Kreuz vermoderte. Die Natur ist so voll geheimnißvoller Zusammenhänge,« sagte Landis.

Sie stiegen über die aufgebauten Steine, hinter Favorita raschelte es sonderbar bei jedem Schritt.

»Was ist nun das wieder? Die Nacht ist heute voll von seltsamen Dingen,« sagte sie zusammenschaudernd.

Landis bückte sich, aber die Dunkelheit schien auf dem Boden wie ein schwarzer Teppich zu lagern. Endlich berührte sein Fuß etwas Bewegliches – es ging wie ein elektrisches Zucken durch seinen Körper, als er darauf trat und ein trockenes Krachen hörte, während sich gleichzeitig etwas unter seiner Sohle zu winden schien.

Favorita griff nach ihrem Kleidersaum, an dem sich etwas festhielt. Es war ein dürrer Palmwedel; der starke Draht, der ihn an einem Grabstein befestigt haben mochte, war um Landis' Stiefel gewickelt, mit Mühe machten sie sich von der raschelnden Umklammerung los. Favorita lachte nervös.

Beide waren in der Stimmung, überall Vorzeichen und Symbole zu sehen. »Als ob der Tod hinter uns her wäre,« sagte Landis gezwungen lächelnd. »Man sollte doch erst leben. Ich habe noch nicht gelebt.«

Favorita schwieg. Auch sie überströmte der heiße Lebensdurst. Die weiche, dunkle, düftereiche Nacht sprach zu allen Sinnen und lullte sie doch wieder ein, sie fühlte sich umworben, umschmeichelt von dieser lauen Finsterniß, 219 diesen Resedawolken, diesem Duft der sonnenverbrannten Wiesen; die Luft war voll Versuchung, voll Mahnungen, voller Liebe, voller Küsse.

Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie stiegen ohne Fährniß zum Walde hinauf. Am Büchnerstein, auf einer der Bänke unter den jungen Linden, setzten sie sich nieder. Das schwarze Thal war wie von leuchtenden Schlangenlinien durchzogen, die bläulichen Lichter flossen über dem See zu einem matten Glanznebel zusammen. Nichts war deutlich erkennbar, als diese fernen Ausstrahlungen menschlicher Arbeit; die Linie des Uetliberges hob sich unmerklich heller vom dunklen Himmel ab.

»Eine Nacht zum Träumen,« sagte Favorita nach langer Stille.

»Träumen Sie laut,« bat Landis mit seiner wie von Thränen gebrochenen Stimme.

Favorita sprach: »Ich hatte einen merkwürdigen Traum vorhin. Plötzlich sah ich alles so deutlich. Ein hohes Schloß mit großen Fenstern. Um die Mauern weint das Meer. Oben am Himmel schluchzen die Winde. Aber unter den schwarzen Cypressen, die wie Säulen stehen, blühen die bunten süßen Blumen, spielen die sorglosen Kinder. Ich blicke durch das Fenster. Da sitzen die Gäste. Traurige Gäste. Sie haben so bleiche lange Gesichter. Ihre Augen sind verweint und blicken in die Ferne. An meinem Ohr spricht eine Stimme: ›Das ist das Gastmahl des Lebens!‹ Und ich weiß, ich sehe vor mir das Gastmahl des Lebens.

»Und ich bin nicht mehr draußen vor dem Fenster, ich sitze mit an der Tafel, drinnen zwischen den Gästen. Und mein Gesicht ist kalt, und mit verweinten Augen 220 blicke auch ich in die Ferne. Meine Hand umschließt einen Becher mit einem dunklen Trank. Mich dürstet, aber der Trank widert mir.

»Und plötzlich seh' ich jemand mir gegenüber. Er ist auch ein Gast. Er hat auch einen Becher. Erst diesen Augenblick sehe ich, daß einer mir gegenüber sitzt. Auch er ergreift dürstend den Becher und setzt ihn seufzend wieder hin, ohne zu trinken. Da plötzlich begegnen sich vier Augen. Sie begegnen sich so sonderbar. Und in dem Augenblicke beginnt der schale Trank zu schäumen und zu brausen, und eine spitzige blaue Flamme sprüht heraus, aus jenem Becher und dem meinen, und die Flammen schlagen ineinander und –«

»Und? Favorita, und?« stammelte Landis.

»Da wacht' ich auf,« sagte Rita schläfrig nach einer Pause.

»Und jener andere, jener gegenüber, aus dessen Becher – – erkannten Sie ihn?« flüsterte Landis kaum hörbar.

»Mir schien, als ob ich ihn erkennte.« Favoritas Stimme erstarb. Sie konnte nicht mehr reden. Sie horchte auf Landis, sie wartete auf etwas nie Gehörtes, nie Erlebtes, auf eine Offenbarung. Sie wartete, ob die blaue Flamme, die aus ihrem Becher emporzuzucken schien, wirklich welterhellendes Licht oder nur ein Gaukelspiel der Sehnsucht sei.

Wird auch aus seinem Becher die Flamme aufsprühen? werden die zwei Flammen ineinanderschlagen?

Ueber Landis aber war die Empfindung mit solcher Stärke Herr geworden, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Eine Art Lähmung mit Visionen von tanzenden Sternen hielt ihn umstrickt. Er hatte Thränen in 221 den Augen und wußte selber nicht, ob es Thränen der Freude oder des Schmerzes seien.

Erfüllung! brauste es ihm um die Ohren. Strecke die Hand aus, und alles ist dein.

Und er konnte nicht einmal seufzen.

Plötzlich aber hörte er jemand mit einer dünnen, blechernen, schnarrenden Stimme sagen: »Ihr Traum, oder besser gesagt, Ihr Gleichniß löst also das von mir vielfach durchdachte Problem durchaus auch in meinem Sinne. Die Gefühle der Attraktion wären danach beim Menschen ebenso einartig wie zum Beispiel bei der Amöbe, die ihren formlosen Plasmaleib einfach nach der Richtung hin ausdehnt, von woher –«

Mit einem hüstelnden Lachen brach der Satz ab. Uebermannt von dem Bewußtsein, diesen entsetzlichen Satz in diesem Augenblick, in diesem wunderbaren, nie wiederkehrenden Augenblick von sich gegeben zu haben, hatte er nur noch den einzigen Wunsch, den wahnwitzigen Drang, sich irgendwo in die Erde zu verkriechen, um nie wieder herauszukommen.

Während Rita ihren Traum erzählt, hatte sein ganzes Wesen geschrien: Erlöse mich, Favorita! sei barmherzig, siehst du's denn nicht, daß ich mit sieben Eisenringen gebunden bin? ich werde sterben, und du wirst's nicht wissen, was ich um dich gelitten habe! Oder war es Agathe, um die ich so viel litt? Ach, komm zu mir! du fühlst ja, mußt ja fühlen, daß ich zu dir nicht kommen kann! – Und statt dessen hatte er von der Amöbe und ihrem Plasmaleib gesprochen!

Ueber Favorita aber war schon Kleinmuth und Bereuen gekommen. Was hatte sie gesagt? Was gethan? Hatte sie sich nicht dem Manne angetragen, der dort so 222 stumm und zusammengekrümmt horchte und dann plötzlich, wie ein Automat, lederne, eingelernte Worte absang? Ihre Wangen brannten vor Scham, ihre Hände waren eiskalt.

Jetzt gab es nur einen Ausweg: ihm so antworten, wie er selbst gesprochen, dann würde er wenigstens nichts merken von der Welle, die sie fast ihm in die Arme geworfen hätte.

Und alle Kraft zusammennehmend, sagte sie tiefaufathmend: »Das ist wohl jedenfalls wie in der Musik. Der Unterschied im Tempo macht alles.«

»Und die Tonstärke – vergessen Sie das nicht,« machte aus Landis' Munde der andere mit der vorigen schnarrenden Stimme. Landis hörte es mit Verzweiflung. Wie er diesen anderen haßte!

»C'est le ton qui fait la musique« versetzte nun auch Rita in oberflächlich leichter Art, fast im Spott.

Die Verzauberung war zu Ende.

* * *

Es waren grauenhafte Stunden für beide, die dieser Nacht folgten.

Aus Landis' Seele war Agathe wie ausgelöscht, und er begann sich nach Favorita zu sehnen mit einer qualvollen, leidenschaftlichen, ihn selbst erschreckenden Gluth. Er preßte in Gedanken ihre weißen, kühlen Hände auf sein heißes Herz, er fühlte sie in seinen Armen, die ganze, weiche, hingegebene Gestalt. Er hatte kein Bild von ihr, er wußte nicht einmal deutlich, was für Augen, welche Haarfarbe sie besaß, aber sie verfolgte ihn in Gestalt einer weißen, weichen Wolke, 223 die ihn oft ganz einhüllte, wenn er unter den herbstlichen Bäumen oder in der Nacht, in seinem dunklen Zimmer erwachend, ihren Namen flüsterte. Meist war er muthlos, trauerte um sie wie um etwas ewig Verlorenes. Dann wieder kamen Stunden, wo seine Lebenskraft aufsprang und er sich tröstete: Es ist noch nichts verloren! Ich werde ihrer würdig werden, und dann –

* * *

Favorita indessen begann ein großes Mitleiden mit der ganzen Welt zu empfinden. Solch ein allgemeines Bedauern, in das auch sie selbst und Landis eingeschlossen war. Alle schienen ihr so unbeschreiblich benachtheiligt und unglücklich. Es kam ihr vor, als sähe sie nur trübe Gesichter. Ihre Becher standen alle schal, kein Brausen und kein Schäumen, kein Auflodern und kein Zusammenbrennen.

* * *

Eines Tages sah sie Leonz wieder. An seinem Arm ging eine großgewachsene Frau in steifer Haltung und mit dem Gesicht einer schönen Statue, leblos und kalt. Er war gealtert und hatte einen Zug von Müdigkeit bekommen, den sie nie an ihm bemerkt hatte. Sein Anblick weckte alle Erinnerungen in Favorita auf, und doch schienen ihr in dem gleichen Augenblick jene Jahre ihrer innigen Freundschaft weit zurückzuweichen, und Leonz selber war ihr sehr fremd geworden.

Sie sprachen wenige Worte zusammen. Am Tage nach dem Wiedersehen erhielt Favorita einen Brief in der wohlbekannten, energischen Handschrift. Leonz schrieb: 224

Sorellina Favorita!

Der arme Landis ist wohl in Ungnade gefallen bei Hochderselben? Wenn Du mir noch ein wenig vertrauest, so laß Dir sagen, daß Landis Dich liebt, anbetet, was weiß ich, und daß sein Schicksal in Deiner Hand liegt. Ihr seid beide vom gleichen, ernsthaften Schlag, also, um Gottes willen, laß ihn nicht umkommen! Er ist Deiner werth, Schwesterchen, ebenso würdig wie stets Deiner unwürdig war

Dein alter Leonz.

Ueber diesen Brief weinte Rita zwei Stunden lang. Sie fühlte sich wie zerrissen. Und der so kühl und gleichgültig über sie verfügte war derselbe Mann, an den sie wirklich, wie es im Liede hieß, ihr bestes Gut und Blut verschwendet hatte. Aber Leonz – in einem hatte er recht gesagt: Landis war der beste Mensch, der ihr je begegnet. Und er liebte sie. Sie hatte es längst gefühlt, nun las sie es in unzweideutigen Worten. Lange hatte sie ihn nicht gesehen, es war schon Winter geworden, einsamer Winter.

Da kam, eine Woche nach seinem Briefe, Leonz mit seiner statuenhaften Frau zu Favorita.

»Es steht noch einer draußen,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »darf er hereinkommen?«

Dann öffnete er in seiner alten, ungestümen Art die Hausthür weit und rief mit seiner rollenden Stimme: »Landis!«

»Seit wann sind Sie denn ceremoniell geworden?« sagte Rita und reichte Landis die Hand, die dieser kaum mit seinen bebenden Fingern berührte. Er war blaß und sprach nichts. 225

Leonz und die Statue verabschiedeten sich bald. Beim Abschied blickte Leonz die ehemalige Freundin bedeutungsvoll an und zog die Brauen zusammen. »Heirathe ihn,« flüsterte er, aber sein Flüstern war durch die ganze Stube hörbar.

Unwillig erröthend wendete Rita ihm den Rücken. Er war ihr sehr fremd geworden, er kam ihr fast roh vor.

Landis blätterte in einer Nummer des Studio, die auf dem Tischchen zwischen ihnen lag.

Favorita fühlte Erbarmen mit seinen hülflosen, schönen Augen. Oder erbarmte sie sich ihrer selbst, als sie in sanftem Tone sagte: »Ludwig«?

Es klang, wie die Mutter zum Kinde spricht.

Mit einer Spur von Befremdung im Blick lauschte er diesem Ton. Es sträubte sich etwas in ihm gegen diesen Ton. In seinen Träumen sprach sie nicht so zu ihm, da sprach sie zitternd, leidenschaftlich, scheu.

»Ich bin Ihnen nichts, Sie irren sich,« sagte er plötzlich, in kalten Schweiß gebadet. »Ich quäle Sie nur.«

»Nein,« sagte sie liebevoll, »ich bin Ihnen gut.«

Er streckte seine Hand aus wie nach einem Halt, und seine Hand ward erfaßt und festgehalten. Ehe sie selber wußten, was geschehen, befanden sie sich in leichter Umschlingung. Mit einer unwillkürlichen, widerstrebenden Bewegung zog Favorita ihr Gesicht zurück vor seinen suchenden Lippen. Ein Frösteln überlief sie.

Sie setzte sich auf einen Stuhl, Landis stand irgendwo in einer Ecke. So verharrten sie ziemlich lange. Das Zimmer versank in Dunkelheit.

Dann klingelte es draußen drei-, viermal. Die Wirthin schien ausgegangen zu sein. 226

»Soll ich nachsehen?« sagte Landis, wie erwachend, ohne alle Freudigkeit.

Zwei Damen, Studentinnen, und ein Herr, alles gute Bekannte Ritas, waren gekommen. Sie musterten Landis, der ganz wie zu Hause, ohne Hut, ihnen die Thür aufgeschlossen hatte, und dann Favorita, die sich vergebens bemühte, die Lampe in Gang zu bringen. Es fand sich, daß kein Petroleum nachgegossen, und daß die Küche verschlossen war.

Man saß bei einer Kerze, alle erwartungsvoll und befangen. Als die Besucher gingen, sagte Rita plötzlich entschlossen: »Ich möchte Ihnen meinen Bräutigam vorstellen, Herr Doktor Landis.«

Sie war nun sicher und natürlich, während Landis, blaß wie ein Kranker, gequält umhersah und endlich eine Reihe von Anekdoten erzählte. Sie waren aber alle ohne Pointe. Dann nahm er seinen Hut und ging auch. Vor der Thür stob er mit langen Schritten in die Finsterniß hinaus, allein natürlich.

* * *

Favorita kam sich vor, als sei sie von übermächtiger Hand ins Wasser geworfen worden: »Schwimme!«

Und unwillkürlich, automatisch machte sie Schwimmbewegungen. Mit derselben Sicherheit, von der doch ihr Herz nichts wußte, theilte sie nahen und fernen Verwandten und Freunden mit, daß sie sich mit Landis verlobt habe. Sie sehnte sich sogar nach ihm, wenn er nicht da war, sie ging ihm freundlich entgegen, wenn er kam, sie begann ihn zu hätscheln, in allerlei Kleinigkeiten nach seinem Geschmack zu fragen, sie versuchte, sich ihm anzupassen. Solange er nicht da war, ging 227 das ziemlich gut, aber nur so lange. Wenn er bei ihr war, allein mit ihr war, besonders wenn er sich ihr näherte, kam immer wieder die instinktive Lust, zu fliehen.

Seine Atmosphäre wurde ihr abstoßend. Seine Hand war so weich, so feucht! Wenn sie seinen Arm berührte, so kam es ihr vor, als sei der Aermel leer. Es war ihr eine Ueberwindung, sich von ihm küssen zu lassen, was er freilich auch nur selten versuchte. Und doch sehnte sie sich nach Küssen, wenn er fort war. Was war denn das für eine Sache? Er war so gut, so gescheit, so tief! Aber auf einmal fiel ihr ein, daß Leonz vor Jahren gesagt hatte: »Landis riecht wie ein Säugling.«

Ein roher Mensch, der Leonz! Wenn er nur nicht recht gehabt hätte! So etwas Widriges zu sagen. Und das hinter dem Rücken des Freundes, der ihm blind vertraute. Wie war es nur möglich gewesen, diesen rohen Leonz zu lieben? Und wieder sehnte Favorita sich nach Landis, nach dem sanften Blick seiner schönen Augen, und sie nahm sich vor, jenen abstoßenden Vergleich zu vergessen, ganz und für immer! Woran stoße ich mich? fragte sie, vor sich selbst erschreckend, bin ich nicht ein geistiger Mensch wie Ludwig auch? Ist meine Natur so viel kleiner, als ich selber gewußt? Ich muß mich schämen!

Und sie schämte sich und gelobte sich alles mögliche. Und wenn er kam, dann wich sie abermals zurück in rein körperlichem Unbehagen. Sie wurden scheu gegen einander.

Sogar die alte Freundschaft schien bedroht. Favorita rang oft, wenn er gegangen, die Hände in peinigender Rathlosigkeit. 228

* * *

Eberleins hatten sich dauernd in München niedergelassen. Vorläufig war Franz noch »Außerordentlicher«, wie Agathe dem Freund Ludwig in einem schelmischen Gratulationsbriefchen meldete. Sie schalt Landis, daß sie die wichtige Neuigkeit durch Fremde habe erfahren müssen. »Und eigentlich bin ich Dir überhaupt böse,« schrieb sie. »Du warst immer bis jetzt meine Zuflucht und mein Hinterhalt, wenn Franz mich nach seiner Manier mißhandelte. Ich brauche so etwas bei all den Untugenden, die er hat! Seit kurzem legt er sich sogar ein Bäuchlein zu. ›Das würde Ludwig Landis niemals thun‹, rief ich empört, als ich es neulich bemerkte. Da sagte er – aber nein, es war zu abscheulich, um es wieder zu erzählen! Uebrigens hat meine Bemerkung Franzel so geärgert, daß er jetzt das Bier aufgeben will. Du bist überhaupt sein Schreckgespenst, mein guter Junge. Sowie Franz nicht thut, was ich will, sage ich: ›Gut, so laß ich mich scheiden und gehe zu Ludwig Landis, der heirathet mich noch alle Tage!‹ Jetzt aber ist auch dieser schöne Traum dahin! Franz triumphirt, und ich bin rettungslos seinen Krallen (Du, Ludwig, er guckt mir beim Schreiben über die Schulter!) ausgeliefert! Au! Er hat mich gebissen! Es blutet beinah! Ach Ludwig, werde glücklicher als ich.«

Ueber diesen Brief, den Landis ganz harmlos zu Favorita mitbrachte, entspann sich das verhängnißvolle, längst drohende Gespräch.

Rita wurde sehr zornig, auch Eifersucht regte sich. »Zur Vogelscheuche braucht Dich Deine gute Freundin,« sagte sie erröthend, »dies kleine Mädchen hat ein Spielzeug aus Dir gemacht. Und Du ließest es Dir gefallen.« 229

Die jähe Herausforderung überraschte Landis, doch sagte er milde: »Mit glücklichen Menschen läßt sich nicht rechten. Du kennst ja Agathe nicht. So fröhlich, so lebensfrisch, so –«

»Du hättest sie für Dich gewinnen sollen, die Fröhliche, Lebensfrische,« sagte Rita scharf.

»Die Braut meines Freundes? Das sagt mir Favorita?« staunte er verletzt.

Rita zuckte die Achseln. »Sie sagt ja selbst, sie hätte auch Dich genommen.« Es klang wegwerfend.

»Von ihr ist nicht die Rede, Favorita; erlaube, daß ich von mir selber spreche.« Landis wurde blaß, vor seinen Ohren sauste es. »Ich bin kein Leonz.«

Favorita fuhr zusammen. »Nein! schade!« rief sie rachsüchtig.

Landis hatte das Gefühl, als sei er ins Gesicht geschlagen worden. Er empfand seine kalte Blässe wie eine lästige Maske, seine Augen verdunkelten sich. Und mitten in seinem Schmerz erkannte er plötzlich die Wahrheit: Rita verlangte von ihm, daß er wie Leonz sein solle, von ihm, dessen einziger, nie sich selber eingestandener Stolz es war, er selbst, Ludwig Landis zu sein!

Wozu bin ich hier? Warum geh ich nicht fort? dachte er betäubt, in meinem Zimmer oder im Walde wäre es gut, während hier –

Ein Besuch, der sich draußen meldete, schreckte ihn endlich auf. Er schlüpfte an dem Besucher, der Rita sehen wollte, vorüber und in die Küche, die gerade offen stand.

Dort trank er Wasser und schickte sich eben an, vor Erschöpfung auf einen Stuhl in der Ecke zu fallen, als 230 sich die Wirthin draußen hören ließ. Angstvoll sprang er wieder auf und erreichte endlich die Hausthür.

* * *

Nein, nein, nein, Favorita hatte ihn nicht erlöst! Sie konnte ihn nicht erlösen, denn sie liebte ihn nicht, hatte immer nur Leonz geliebt. Statt sich zu finden in ihrer Liebe, hatte sie ihn nur immer weiter aus sich selber hinausgescheucht. Nie hatte er seine Unzulänglichkeit, seine Schwäche, seine sieben Eisenringe so quälend gefühlt wie gerade jetzt.

Er war unsäglich elend.

Ich werde verrückt, dachte er; wenn es nur wenigstens nicht so langsam damit geht! Und wenn ich dann nur recht ordentlich toll werde, nur keine Erinnerungen behalte!

Aber seine Denkthätigkeit war hell und klar wie nie, und wenn er sich als Psychiater selbst beobachtete, mußte er sich eingestehen, daß keine besonderen Symptome sich zeigten. Und doch wiederholte er sich den ganzen Tag: ich werde verrückt! verrückt!

* * *

Acht Tage lang war er nicht zu Favorita gegangen, hatte nur Abend für Abend ihr Haus umstrichen und sich an ihrem Lampenschein gesonnt.

Sie gab kein Lebenszeichen, schickte ihm keine Zeile, er begegnete ihr nie auf der Straße. Offenbar kämpfte auch Rita mit sich selber einen schweren Kampf. Und er achtete ihre Kämpfe, ihre Leiden, er wollte sie nicht stören. 231

Wer wird dem anderen den Abschied geben? Sie mir? Oder ich ihr? fragte er sich. Sie kann es leicht thun, sie verliert nicht viel. Ich müßte es thun, denn ich bin der Verschmähte, aber ich kann nicht. Ich liebe sie. Mein Leben ist ganz verarmt. Wenigstens aus der Ferne ist sie noch mein. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Als er spät Abends nach Hause kam, saß eine Frau in seinem Zimmer. Er wich zurück wie vor einem Gespenst, seine kurzsichtigen Augen täuschten ihm Ritas Erscheinung vor.

»Ah monsieur! monsieur!« stöhnte es ihm entgegen.

Da erkannte er Zaza.

Sie war zurückgekommen, Anescou hatte sie verlassen, er war schon lange schlecht gegen sie gewesen.

»Behandelt mir wie eine Hund! wie eine Hund! Er sagt, daß ich bin schlecht, er ist noch schlechter! Alle schlecht, alle schlecht! Behandeln mir alle wie Hund, monsieur! Oh monsieur gutte, viel gutte, monsieur einzigen Mensch, was behandeln mir wie eine Mensch!«

Sie weinte auf seine Hand aus ihren schwarzen Augen, das Gesicht sah verwüstet aus, die Jugend war daraus geschwunden.

Landis fühlte sich sehr beklemmt. Das Blut stieg ihm zu Kopf bei diesen weichen Berührungen, bei diesen vertrauensvollen, hingebenden Bewegungen.

Hier muß Favorita helfen, dachte er, dies ist eine besondere Sache. Und er machte sich auf den Weg zu ihr. 232

* * *

In dem Gärtnerhause war alles dunkel; oben, wo Rita wohnte, glaubte Landis noch Licht zu sehen. Er läutete heftig.

Das Licht verschwand.

Dann kam es die Treppe heruntergepoltert, und langsam drehte sich der Schlüssel im Schloß. Ein verschlafenes Mädchen mit geschwollener Backe blinzelte ihn erschrocken an: »Zu wem wellet Se? Zum Fräulein Binder? 's ischt verreift. Hüt Obend, vor e halbe Schtund,« sagte das Mädchen.

Landis erstaunte nicht. Er nickte mit dem Kopf. Jawohl! Die ganze Nacht streifte er ziellos umher.

Sie hat sich also entschieden! Es ist also fertig. Die Komödie hat ein Ende . . .

Aber das Leben, das Leben ist immer noch nicht aus!

* * *

Landis schrieb jeden Tag einen Abschiedsbrief an Favorita. Er legte sie zu einem ganzen Häufchen zusammen, denn abgeschickt ward keiner. Er sagte ihr darin alles, was sein Mund ihr nie gesagt.

Zuweilen machte er ihr Vorwürfe in diesen Briefen, die mehr Dialoge oder Monologe als Briefe waren, denn er schrieb sie nicht, damit Rita sie lese.

»Eine Art Schematismus beherrschte Dich in den letzten Wochen,« schrieb er, »und das war vielleicht das schlimmste von allem. Du nahmst die äußeren Gebärden einer Braut an! Arme Rita! Wir sind die Narren unserer Sehnsucht, weiter nichts. Aber ich glaube trotzdem, daß ich Dich liebe, Rita, obwohl ich zugeben muß, daß Deine persönliche Anwesenheit mich zuweilen in meinen Träumen von Dir gestört hat.« 233

In dieser Zeit war es ihm unmöglich, an Favoritas Wohnung vorüber zu gehen. Er machte lieber den weitesten Umweg.

In der Angelegenheit mit Zaza hatte die Wirthin ihm beigestanden. Zaza hatte eine Stelle als Verkäuferin in Davos gefunden durch ihre Vermittelung. Für das Bübchen wollte Zaza jetzt selber aufkommen. Wenn nicht wieder irgend ein Anescou kam, der sich ihre Skrupellosigkeit und Leidenschaft zu nutze machte, so war Zaza auf gutem Wege.

* * *

Landis' Schmerz ebbte langsam ab. Nur eine tiefe Lebensunlust beherrschte ihn, aus der nichts ihn zu reißen vermochte.

Da erhielt er, vier Wochen nach ihrer Abreise, ein Briefchen von Favorita, bei dessen Lesung sich noch einmal alle Wunden öffneten. Sie war wieder in Zürich und schrieb:

Lieber Freund.

Verzeihen Sie mir meine Flucht. Ich wollte mit mir ins reine kommen. Nun bin ich klar. Sie aber sind sich's, wie ich glaube, schon längst, und so hindert nichts, daß wir uns wieder begegnen. Ich erwarte Sie morgen Nachmittag.

Ihre Freundin.

Landis schüttelte den Kopf und legte das Briefchen still weg. »Ich gehe nicht,« wiederholte er sich, »ich kann nicht gehen. Wenn ich gehe, bin ich ein Lappen.« 234

Er hielt sich Wort. Er ging nur bis in die Straße, wo sie wohnte, blickte traurig den weißen, gewundenen Weg hinab und kehrte dann hastig um, da er sich selbst nicht traute. In Schweiß gebadet rannte er seine fünf Treppen hinauf, verschloß seine Thür und weinte qualvolle Thränen.

Nach drei Tagen kam wieder ein Billet.

»So böse sind Sie mir, lieber Freund? Warten lassen Sie mich, die alte Freundin? Ich dachte immer, Sie könnten überhaupt nicht böse sein. Man kann sich doch auf gar niemand verlassen! Ich möchte Sie sehen. Bitte, kommen Sie.«

Landis drückte die Fäuste zusammen und schlug damit auf die Fensterbank, bis sie bluteten.

Ich gehe nicht! Ich kann nicht gehen! Es ist unedel von ihr. Was will sie? Und doch! Und doch! Wenn ich mich selbst zur Hälfte rasire oder zur Hälfte meinen Kopf kahl schere, damit ich diesen Zuckungen nicht erliege? dachte er. Er fühlte sich schwach werden.

Sie hat mir nichts zu sagen! quälte er sich dann selbst, es ist ja deutlich. Einen Brocken will sie mir zuwerfen. Pfui, Almosen, ich gehe nicht! ich gehe nicht!

Er nahm eine Dosis Sulfonal und schlief den ganzen Tag wie ein Todter. Die Nacht durch irrte er umher. So trieb er es tagelang.

Daneben erwartete er mit brennender Seele eine neue, dringendere Botschaft.

Sie blieb aus.

»Wogegen wehre ich mich,« stöhnte jetzt der Unglückliche, »warum bin ich nicht zu ihr gegangen? Ist es 235 nicht besser, sie flüchtig und fremd zu sehen als gar nicht? Haben wir nichts Allgemeines zu besprechen? Ich will hingehen!«

Aber er ging nicht. –

Da, eines Abends, als er auf seinem harten, zerrissenen Sopha lag und stumpf vor sich hinstarrte, klopfte es an seine Thür.

»Herein,« murmelte er gleichgültig. Er mußte das Herein wiederholen, denn das Klopfen kam noch einmal. Der Drücker ward bewegt, die Thür öffnete sich nicht. Ach so, er hatte sich eingeschlossen. Er ging barfüßig, wie er war, an die Thür und drehte den Schlüssel. Zugleich öffnete er eine Spalte breit.

Draußen stand Favorita.

Er sprang zurück.

»Einen Augenblick, ich habe keinen Rock an!« Sein Herz schlug, als klopfte da in der Westentasche seine Großvateruhr. Wenn ich doch aus dem Fenster hinaus könnte, dachte er.

»Störe ich Sie? Haben Sie nicht einen Augenblick Zeit?« hörte er Favoritas Stimme. Sie klang befangen, doch sprach sie viel rascher als sonst.

»Ist etwas passirt?« fragte er mechanisch, indem er die Thür aufriß.

»Ja,« sagte Favorita eintretend und den dürftigen, traurigen Raum mit den Augen überfliegend, aber ohne Landis anzusehen, »ich habe Sie nöthig!«

»Mich? Sie irren sich, Sie hatten mich niemals nöthig!« Seine Stimme erschreckte ihn selbst, so heiser war sie, so bitter der Ton.

Favorita zauderte. Sie sah traurig vor sich nieder. »Sie laden mich nicht zum Sitzen ein?« sagte sie leise. 236 »Ich habe Sie also ganz verloren? Ich dachte immer, einen Freund hast Du gewiß, und nun –«

»Bitte nehmen Sie Platz! Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, ich bin ein wenig verwirrt. Ich kann Ihnen auch Thee machen, wenn Sie wünschen,« sagte er mit abgewandtem Gesicht.

Favorita setzte sich. »Vielleicht ist es noch zu früh dafür, aber ich – ich wollte so gern mit Ihnen darüber sprechen. Es ist nämlich so: ich habe ein Vermögen geerbt, so etwas wie eine halbe Million. Unsere Familie ist wohlhabend – die Brüder, die Schwestern – ich selbst – kurz – ich wollte Sie bitten,« Rita blickte flüchtig auf, »nehmen Sie das Geld, machen Sie etwas Schönes daraus, etwas in Ihrem Sinne Gutes – etwas –«

Landis hatte ihr erregt zugehört, seine Farbe war bald tiefblaß, bald roth. Er war so weit zurückgewichen, wie das Stübchen es gestattete, und stand am Fensterkreuz.

»So reich sind Sie? Eine halbe Million!« staunte er mit kindlichem Lächeln, »aber,« er ermannte sich, und sein Gesicht zuckte: »was geht Ihr Geld mich an?« Es war so viel kalte Abwehr in seiner Frage, daß Favorita alle Sicherheit verlor.

»Ich wollte – ich will das Geld in die reinsten Hände legen, und da – an wen konnte ich denken, als an Sie!«

»Nein, da haben Sie sich allerdings den Tauglichsten ausgesucht!« schrie er plötzlich lachend, »einen schönen Geschäftsmenschen, einen raren Socialökonomen! Hahaha! huhuhu! hihihi! hehehe! hohoho!« Er lachte auf alle Vokale, ein ausgelassenes, tolles, schallendes Lachen. 237

Ganz ermattet von dem Lachmonolog hockte er sich dann auf die Fensterbank, indem er seine Brust klopfte.

»Nun, wollen Sie nicht?« sagte Favorita endlich.

Da ging das Gelächter von neuem an. »Ich! ich!« schrie er, sich vor die Stirn schlagend. »So etwas Dummes konnten auch nur Sie ausdenken, entschuldigen Sie!«

»Nun sprechen Sie doch wieder wie ein Freund!« rief Favorita aufathmend. »Sehen Sie, es wäre nicht die Gemeinsamkeit, von der wir geträumt, aber doch immerhin etwas Gemeinsames – – Kommen Sie bald zu mir? Recht bald, bitte!«

Damit ging sie. Landis begleitete sie die Treppe hinunter und blickte ihr so lange nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte.

* * *

In wunderlicher Gemüthsverfassung, zwischen Leid und Freude ging er dann noch ins Freie.

Es war wieder der erste Mai, ein Jahr seit jener Begegnung mit Favorita. Er dachte flüchtig daran, alles war so traumhaft, so unwirklich in seinem Leben. Lauter fließende Grenzen, kein Boden, auf den er treten, nicht die kleinste Jagdbeute, die er heimbringen konnte.

Er ging durch den Waldweg, zwischen Millionen weißer Sternchen von Anemonen und den blassen Glöckchen vom Sauerklee. Dann trat er auf eine rings von Bäumen umschlossene einsame Wiese. Der Tag war hell und schön gewesen, der Himmel tiefblau. Nun schickte die Sonne ihre Strahlen schon schräg auf die Erde, sie waren schon ein wenig röthlich an den 238 Kiefernstämmen hinab und auf den Grasspitzen. In der Luft war das Regen der tausend Kräfte fühlbarer als sonst, als gelte es noch viel zu schaffen, bevor das Dunkel kam. Die jungen Blätter, die Blumen, das Gras, alles drängte, emporzuwachsen, zu leben von der Quelle des Lebens, und eine Lerche schwebte unsichtbar in der Höhe und sang. Sie sang so innig, so süß, so jubelnd. Die reinen, der zarten Kehle entstammenden Töne erfüllten die ganze Luft bis zu den Wolken, bis zur Sonne. Aber nicht für den blauen Himmel, nicht für die goldenen Abendwolken, nicht für die rothe Sonne sang sie: nein, sie hatte dort unten ihren Himmel, ihre Sonne, ihre ganze Welt – die andere Lerche, ihre Lerche hörte ihren Gesang. Die Töne kamen bald näher, bald entfernten sie sich. Die singende Lerche wollte zu der anderen herunterkommen und stieg doch wie an ihrem eigenen Liede immer wieder empor. Sie sang wohl eine Viertelstunde lang, ohne sich zu unterbrechen. Sie wußte, daß die Sonne bald untergeht, und sie sang noch einmal ihr ganzes Herz hinaus. Sie sang, daß ihre schönste Lerche, ihre zarte Geliebte in der Welt ist und dort unten im Grase beim Nestchen sitzt. Wenn die Sonne hinuntergeht, sang die Lerche, dann werde auch ich hinunterfliegen, leise werden wir mit einander flüstern, bis die Sterne am Himmel erscheinen. Sie wird ihren Kopf auf meine Brust legen, und ich werde mit meinen Flügeln ihr Körperchen umarmen, denn sie ist so klein – ich werde sie warm und fest halten – ich bin stark, wenn es sich darum handelt, meine Lerche zu umarmen. Wenn die ersten Strahlen des Tages meine Augen öffnen, dann erst werde ich ihr Schnäbelchen aus meinem Schnabel lassen und 239 wieder in die Höhe fliegen und wieder singen, singen, wie schön die Liebe meiner Lerche ist, wie schön die Blumen sind, die um sie wachsen, wie schön der warme Wind ist, der sie schmeichelt, wie schön die Thautropfen sind, die sie von den frischen Blättern austrinkt. Die Welt dreht sich um ihre Achse, und die Achse dreht sich um meine Lerche, singt die Lerche . . .

So träumte Landis mit glanzgeblendeten, zitternden Augen in das Lied der Sehnsucht hinein.

Und fern, auf der anderen Seite der Bergwiese, ungesehen von ihm und ihn nicht sehend, ging in ihrem langen schwarzen Kleide Favorita vorüber und horchte wie er mit feuchten Lidern und pochender Brust dem süßen, nie verklingenden Lockgesang.

 


 


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