Ilse Frapan-Akunian
Schreie
Ilse Frapan-Akunian

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Warum?

Das Schloß stand leer, vollständig leer. Ein Riesenbau mit zweihundert Zimmern, weiß und prachtvoll, mit Prunksälen für tausend Menschen, alles leer, leer, wie ein ausgeblasenes Ei. Wer wohnte jetzt dort? »Der Geist der Geschichte,« sagten die Byzantiner und lächelten gläubig. Aber wie andere Geister war auch der Geist der Geschichte unsichtbar und körperlos, und das Schloß war leer, leer, vollständig leer.

Einmal war es ein Residenzschloß gewesen, doch der König, der es damals bewohnt, war gestorben und vermodert, trotz der Einbalsamirung – so ein morscher, alter König. Und lange, eh' er gestorben und einbalsamirt war, hatte ihm sein Vetternachbar sein Reich und dieses Schloß weggenommen, um seinen eigenen Besitz »abzurunden«.

So stand das Schloß denn leer. Es tröstete sich aber damit, auch jetzt königliches Besitzthum zu sein. Eins von vielen königlichen Besitzthümern war es freilich. Der Vetternachbar, der es dem alten, morschen König weggenommen, kam fast nie hierher. Er hatte andere Unterkünfte. Er konnte jeden Tag in einem andern Saal tafeln und jede Nacht in einem andern Gemach schlafen, das ganze runde Jahr. Dafür war er ein König. Es war Gottes Gnade, die ihm alles das verliehen, sagte er, auch die Kanonen, mit denen er den 80 morschen, alten König aus seinem Reich verjagt hatte. Gern faltete er die Hände zum Dank für Gottes Gnade.

Seit vielen Jahren schon stand das Schloß leer. In seinen zweihundert Zimmern erscholl kein Laut, als das Springen der Mäuse auf dem Parkett, als das Rattengeraschel hinter den vergoldeten Täfelungen. Hie und da nur ertönte auch der ehrfurchtsvolle Schritt des Kastellans.

Und zweimal im Jahre, im Frühling und im Herbst, belebten sich die öden ausgestorbenen Gänge und Räume mit Scharen von Dienern und Mädchen. Dann klopfte man den Staub aus den Teppichen, die nie ein Fuß betrat, aus den Polstern, auf denen Niemand ruhte, aus den Betten, in denen Niemand schlief; dann wichste man, auf den Knieen liegend, wochenlang das Parkett, über das die Mäuse und Ratten gesprungen waren, rieb die Fenster blank, durch die kein Auge sah, putzte die Spiegel, in denen sich Niemand bespiegelte, säuberte die Kronleuchter, in denen nie ein Licht brannte, kratzte den Rost von den alten Harnischen, die leer waren wie die Prunksäle, leer wie das ganze leere Schloß, das Niemandem diente, Niemandem nöthig war, aber doch erhalten werden mußte.

Und dann kam wieder die Stille, die Todtenstille in den zweihundert Zimmern, mit dem lautlosen Sonnenschein auf den verblichenen Gobelins, mit dem gleitenden Mondlicht auf den leeren seidenen Divans mit den verblaßten Blumen. Und in den üppigen reichgepolsterten Plauderecken, die soviel verstelltes girrendes Lachen, soviel Galanterie und Koketterie gehört und gesehen, daß sie noch heut davon träumten, piepten die Mäuse, und in den Kaminen dröhnte die Stimme des Sturmes, die 81 mächtige, ernsthafte, grollende Stimme, die mit dem leeren Schlosse drohende, derb-respektlose Worte sprach in schaurigen Winternächten.

Heut war ein Frühsommerabend. Diese Abende waren es, in denen das Schloß seine ganze hochmüthige Fassung wiederfand. Dann sah es aus, als träume es von einem neuen glanzvollen Erwachen, dann war es wie ein Märchenschloß, wie ein Dornröschenschloß.

Lauschend stand es hinter den hellgrünen Buchen und den bräunlichen Ahornwipfeln auf einem dunkelgrauen Gewitterhimmel. Das Buchenlaub hatte noch den Atlasglanz und die blonde Kinderwimper des Frühlings. In den Ahornblättern schwoll der Saft wie röthlicher Wein. Und um das stumme leere Schloß jauchzte die liebe-beredte Nachtigall und weckte kein Echo. Stumm prangte das feierliche großmächtige Halbrund mit seiner breiten säulenumfaßten Rampe. Nur ein Sperling hüpfte auf der weißen Paradetreppe.

Blutigrothe Rhododendren, dicht aneinandergereiht, umgaben den weißen Unterbau des leeren Schlosses, eine still und ungesehen für sich verblühende Pracht. Wie aus einer Woge von Blut stieg das Schloß auf. Zur linken Seite dehnten sich prächtige halboffene Arkaden, leer auch sie, schimmernd auch sie mit dem pompejanischen Roth ihrer Wände, wie eingetrocknete Blutflecke auf dem sanften lebendigen Grün des Hintergrundes. Unbeweglich, mit ewigem, erfrorenem Lächeln, schwebte die zierliche Tänzerin auf der rothen Wand, in der hoch erhobenen Hand die durchscheinende Bernsteinkugel. Auf den köstlichen Mosaiken des Bodens kein Fußtritt, in den Arkaden kein Laut, – keine Bewegung hier als das Spiel des Windes mit einer losen Ranke wilden Weins. 82

Zur rechten Seite gab es keine Arkaden, keine pompejanischen Tänzerinnen; nichts als ein – in den Schloßgarten keck vorspringendes, in den neuen Landesfarben bemaltes Schilderhaus. Davor marschirte, – auf – ab, hin – her, wie ein aufgezogenes Uhrwerk, – eine buntröckige Figur – der Wachtposten. Die Leere des Schlosses, die Verödung der Arkaden – sie mußte doch bewacht werden.

Die Sonne war seit Tagen schon hinter den Wolken gewesen, seit Tagen schon hatte es bald im Osten, bald im Süden gegrollt. Von Zeit zu Zeit waren schwere Regengüsse gefallen, jähe Hagelschauer heruntergesaust. Die Nachtigall hatte dazu gejauchzt, und die Frösche hatten keinen Augenblick geschwiegen. Feucht und schwer war die Luft; voll vom Dufte der Traubenkirschen und des jungen Grases und dazu von einem süß-fauligen Geruch, den der vom Regen aufgewühlte breite, stille Schloßgraben aushauchte. Hinter dem öden Schloßgarten mit den verblühenden Tulpenbäumen, hinter der mannshohen Sandsteinmauer, die das frühere Eisengitter umschloß, das dem neuen Besitzer nicht mehr genügt hatte, trotz seiner starrenden, pikenähnlichen, vergoldeten Stachelspitzen, zog sich dieser breite stumme Graben hin, geschwellt wie ein Fluß, zum Ueberfließen voll, mit einzelnen Weidenbäumen am Rand, die hineinhängen, die Zweigenden gelblich und aufgekrümmt von der üppigen Nässe. Ganz still lag das gährende braune Wasser, unter fettgrünen Schlauchalgen und Wasserlinsen.

Eben blitzte aus schwarzen Wolkenlidern ein scharfer scheeler Sonnenblick gegen die obere Fensterreihe des Schlosses. Gemalte Fenster waren es, das Gemach war der Rittersaal. Ritter und Roßpanzer standen an den 83 Wänden. Vom plumpen alten grotesk-abschreckenden deutschen Stechhelm bis zu den geschmeidigen Ring- und Schuppenpanzern florentinischer Arbeit war die Sammlung vollständig. Der neue König hatte sie dem alten weggenommen, und seine Freude daran war die echteste und aufrichtigste Freude seines Lebens. Die Ueberzeugung von der über ihn ergossenen Gnade Gottes vermischte sich hier mit einem Gefühl wehmüthiger Dankbarkeit und Pietät. Wieviel verdankten er und seine Vettern auf den Thronen Europas diesen theueren Reliquien! Von selbst falteten sich seine Hände vor diesen so fertig, so thatbereit dastehenden Gehäusen. Wie wenig schien zu fehlen, damit sich diese Arm- und Beinschienen höben, diese Schilde sich richteten, diese Speere geschleudert, diese eisenvermummten Rosse in Galopp gesetzt würden! In solchem Aufzuge mußte selbst ein Strohmann wie ein Held aussehen. O glanzvolle Zeiten!

»Hurrah!« rief der König, wenn er durch den Waffensaal ging. Er rief es unwillkürlich und wirbelte den Schnurrbart empor. Dann sah er sich schnell um, ob es Jemand gehört hatte. Er wurde roth, sein Kopf duckte sich, er lächelte scheu und versöhnlich und murmelte: »nein! nein! mein Reich ist der Frieden«.

Und säbelrasselnd, sporenklirrend schritt er weiter bis zur Korridorthür. Dort aber kehrte er scharf um. Denn dort, in einem Glaskasten, stand eine ethnographische archäologische Merkwürdigkeit, die ihm unangenehm war. Eine ägyptische Königsmumie war es, mit weiß grinsenden Zähnen in dem schwarzvertrockneten Gesicht, mit leeren Augen und beinerner Nase. Der säbelrasselnde Friedenskönig warf einen widerwilligen Blick auf den fleischlosen Brustkorb, dessen Rippen 84 deutlich von einander getrennt waren durch leere Räume, auf das Bündel weißblauer Mumienleinwand, das alles übrige verhüllte. Ein trauriger König! Das sollte ein König sein? Unglaublich! Jeder Zoll ein Mensch!

Und der König kehrte zurück von der leeren Königsmumie, die ihm gar nichts sagte, zu den prächtigen Streitkolben, den scharfen Morgensternen, und sein Geist hielt Zwiesprach mit dem Geiste jener erhebenden alten Zeiten. Rührende früheste Steinschloßflinten, so rührend in ihrer Unbeholfenheit! Begeisternde erste Kanonen! Der König zog eigenhändig sein Taschentuch und wischte sich erst die feuchtgewordenen Augen und dann eins der lieben alten plumpen Rohre, auf dem ein Staubhauch lag. Es that ihm wohl, etwas für die zu thun, die stets die treuesten Diener der Könige gewesen.

Und keinen Blick weiter nach der unangenehmen archäologischen Merkwürdigkeit. Sie war einst von dem grillenhaften Vorgänger des morschen alten Königs für schweres Geld erworben worden. Sie war zu kostbar, um weggeworfen zu werden. Vielleicht bot sich einmal eine Gelegenheit, sie gut zu verkaufen. Unter der Hand, ohne Aufsehen! Sie grinste zu abschreckend.

Seit den letzten Jahren waren die seltenen Königsbesuche in dem leeren Schlosse noch seltener geworden. Nur der Kastellan war da und der Gärtner, und die Todtenstille und der langsame Verfall trotz der jährlichen Säuberung, und der leise Schimmelgeruch der unbewohnten Räume, und der Mäusetanz auf dem Parkett, und der zürnende Sturm in den kalten Kaminen. Und der Wächter der Oede und Leere, die Schildwache, marschirte 85 wie ein Spielzeug auf und ab, hin und her, im schweren Regen. Große Tropfen begannen prasselnd auf die jungen Ahornblätter zu fallen. –

Da kamen auf der Landstraße am Schloßgraben langsam zwei Menschen daher. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, ganz arme Leute.

Er voran, hinkend, mühsam, auf einen großen, derben, knotigen Stock gestützt, ohne Rock; das graugestreifte Hemd klebte an dem hageren Körper, an den Armen, an denen die Muskeln wie Stricke hervorstanden. Der Koth der Landstraße hatte aus seinen Stiefeln unförmige Klumpen gemacht. Von dem löchrigen Strohhut floß der Regen über sein breites Gesicht mit dem kleinen, spärlichen Stoppelbart und den gutmüthigen, kummervollen, blauen Augen.

Hinterdrein schleppte sich die weit jüngere, blasse und verweinte Frau. Aus ihren schlaffen Gliedern schien alle Kraft gewichen. Das dünne, blonde Haar hing in nassen Strähnen um die eingesunkenen Schläfen, die entzündeten Augen waren roth, die Haut der Wangen blank vor Nässe. Sie trug in der Hand ein Paar Holzpantoffeln; barfuß ging sie durch den Schmutz, den Kopf tief am Boden; mit der Rechten schleifte sie ein kleines Bündel in Wachstuch hinter sich her. Es schlurrte ihr nach durch die wassergefüllten Geleise, ruckte über Steine, sie sah sich nicht danach um.

Sie stöhnte leise vor sich hin, während sie wie blind dem Manne folgte.

In beiden Gesichtern lag der blöde, stumpfe Ausdruck völliger Erschöpfung.

Verzerrt von Hunger und Kummer, die schwieligen Arbeitshände machtlos, mit hageren Armen, gebeugtem 86 Rücken, krummen Beinen, schmutzig, zerlumpt, elend, ausgestoßen, krochen die zwei Gestalten über die einsame Straße an dem breiten, stummen, überfließenden Schloßgraben hin, hinter dem die üppigen Wipfel sich bogen und das weiße, prächtige, leere Schloß lauschte.

Die Frau seufzte laut auf; die Schnur entglitt ihrer Hand, sie sank am Grabenbord zusammen.

Der Mann sah sich um und starrte sie hoffnungslos an.

»Marieken?«

Da sie keinen Laut von sich gab, kam er heran: »Magst woll nich mehr?« sagte er langsam.

Sie hob ein wenig die rothen Augen, aus denen die Thränen liefen.

»Nee«, seufzte sie, »'s all!«

Er streckte die Hand aus, um sie in die Höhe zu ziehen.

»Lat mi liggen,« sagte sie.

Er nickte und ließ sich schwer zu Boden fallen, nicht weit von ihr.

»Ick bün ook – sowiet –« sagte er, seinen Kopf mit der Hand schützend: »Nu hagelt't ook noch.«

»Lat hageln.«

»Ward ook all Nacht.«

»Lat Nacht warn.«

Sie saßen und neigten die Köpfe, auf die der Hagel schlug.

»Gottlow un Dank,« sagte die Frau, plötzlich stärker aufweinend.

Sein Gesicht furchte sich.

»Wat seggst Du?«

Sie legte die Hände zusammen. 87

»De Lütten sünd ünner Dack.«

»Een Glück, dat wi ehr nich mit hebbt,« sagte er.

»Se ward ehr woll 'n beeten Melk un Brot geben, nich?«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Ja, Marieken, ick glöw dat ook!«

Der Hagelschauer war vorüber, weiß lag es in den Rissen und Furchen des Bodens. Schaudernd in den nassen Lumpen hockten sie am Grabenrand, zu erschöpft, um aufzustehen.

Seit drei Tagen waren sie unterwegs, um Arbeit zu suchen. Arme, arbeitslose Arbeiter, was gibt es Aermeres auf der Welt? Ehrliche Leute, die von ihrer Hände Arbeit gelebt haben bis jetzt, und die die Arbeitshand nicht zum Betteln ausstrecken können, was gibt es Hülfloseres?

Wer waren sie? Zwei Namenlose, zwei mit Hirn und Blut begabte Maschinen, die bei dem letzten Streik brotlos geworden. Er war nicht unmittelbar betheiligt gewesen, er gehörte nicht mit zur Organisation, er war nur ein ganz bedeutungsloser Gelegenheitsarbeiter. Aber er hatte Partei ergriffen für seine Freunde und Lebensgenossen, er hatte – so lautete die Anklage – Arbeitswillige mit Gewalt von der Arbeitsstätte fern zu halten gesucht. Die Anklage war unwahr. Es hatte keiner Gewalt bedurft, um die neu Zugezogenen zurückzuhalten. Einfache Worte, eine Darlegung ihrer Lage hatte genügt. Aber er hatte trotzdem eine monatliche Gefängnißhaft zu verbüßen, und als er herauskam, gab es keine Arbeit wieder.

Der Hauswirth, den er nicht bezahlen konnte, nahm ihm die wenigen Sachen, die letzten Kleider, und setzte 88 ihn mit Frau und Kindern vor die Thür. Den Arbeitslosen, Brotlosen nahm Niemand auf, sie blieben ohne Obdach.

Sein Leben lang hatte er gedarbt, ihr Leben lang hatte die Frau gedarbt – der Lohn reichte gerade hin, um das arme Leben zu fristen. Aber sie waren doch eine ordentliche Arbeiterfamilie gewesen, so gut und so schlimm daran wie Millionen Anderer. Heute waren sie obdachlose Landstreicher, nutzlose, ausgestoßene Menschen, mit Hunger im Magen, mit Angst im Herzen, und mit der ungeheuren, fassungslosen Verwunderung darüber, daß man sie nirgends mehr haben wollte.

Vor drei Wochen hatte die Frau geboren. Das Kind lebte so gut wie seine zwei älteren Geschwister, aber die Mutter konnte nicht bei ihnen bleiben, sie mußte ihnen erst durch ihre Arbeit ein Obdach und Nahrung schaffen. Mit dem Manne war sie jetzt weggegangen, Arbeit zu suchen. Eine gutwillige Nachbarin hatte die drei Kleinen einstweilen behalten. Sie hatte ihr dafür ihren Hut und ihre Schuhe gegeben. Nackt und bloß hatten sie sich auf den Weg gemacht. Die Frau zerfloß fast in Thränen über die Trennung von ihren Kindern; der Mann war wie versteinert von dem Unglück, das sie betroffen.

Arbeit und Obdach! Arbeit und Obdach! Seit drei Tagen wanderten sie, vom Gewitterregen verfolgt, auf unbekannten Wegen.

Sie waren aus der Großstadt, keine Fußwanderer. Ihre Füße schwollen und wurden wund, der Hunger quälte. Man wies sie überall ab, denn für Arbeiter sahen sie zu heruntergekommen aus, und für Landstreicher waren sie zu ungewandt. Scham und Erschöpfung ließ 89 sie fast nichts sagen. Dazu die Furcht vor den Gendarmen.

Der Mann grübelte fort und fort. Die Erde hatte keinen Platz für sie. Für sie brannte kein Herdfeuer, kochte kein Suppentopf, stand kein Bett bereit, nicht einmal ein Strohlager. Dieser furchtbare Gedanke, dieser tödtende Gedanke setzte sich in des Mannes Kopf fest, bis er jede Spur von Lebenskraft und Lebenswillen erschlagen hatte.

Die Frau litt körperlich schwer und weinte um ihre Kinder.

Und nun lagen sie hier am Grabenbord im Schmutz, und hinter den Wipfeln, die ein kühler Wind bewegte, schimmerte das weiße Schloß, das leere Schloß, mit seinen zweihundert Zimmern voll weicher Polster und schwellender Divans, voll von weichen, sauberen, duftenden Betten, Betten, so groß wie eines armen Mannes Tanzsaal, Betten, die Niemand besteigt, seidene Armstühle, die Keinen erquicken.

Die Frau zeigte mit der matten Hand; ihre geschwollenen Augen sahen nicht deutlich mehr.

»Is dor 'n Hus?«

»En Hus? Nee, wonehm denn, Marieken?«

»Dor, dücht mi, achter de Böhm.«

Der Mann blickte gleichgültig nach dem Schloßgarten.

Ein neu heranziehender Wettersturm rüttelte die Bäume, riß die Kronen von einander, und auf einen Augenblick enthüllte sich das weiße, seelenlose Geheimniß der Mauern und Fenster und Thürme.

Und auch die Schildwache war zu sehen.

Der Mann spie seitwärts auf den Boden.

»Nee, Marieken, dat is keen Hus.«

»Mi dücht doch, dat ick Finster seh –«. 90

»Ach, dat is ja bloß de oll Palast, weest Du woll, Marieken?«

»Ach de! Wo kamt wi denn ook dorhen!« seufzte die Frau und warf sich lang auf den Boden.

Der Mann blickte zu der Schildwache hinüber.

»Kumm, Marieken, wieder gahn.«

Sie rührte sich nicht.

»De Posten dor – he kiekt all röber, – kumm, stah op.«

Sie öffnete die Augen, ängstlich, erschrocken. Wankend stand sie auf.

»Wonehm is de Posten?«

»Dor – he kiekt all her! He hett' Gewehr in 'n Arm. Kumm, kumm, gau!«

Sie machten ein paar eilige Schritte. Die Frau keuchte.

»Wokeen wahnt denn dor in' n Palast?«

»Wokeen? Keen Een. Wat geiht mi dat Dings an? Nee, hür' to, Marieken, – ick denk – wi wöllt dat nu dohn, – hier is dat still – keen Minsch so wiet – hier gliek op de Stell.«

Er nahm den Stock und stieß ihn in den Graben zwischen die fetten, grünen Algenknäuel. Er fand keinen Grund.

»Hier geiht't ganz good. Wist Du, Marieken? Du seggst je ook, Du magst nich mehr.«

Ihre Augen wurden plötzlich weit und angstvoll. Sie klammerte sich an seinen Arm.

»Wat beberst Du so, Marieken? Büst Du bang? Is ja man 'n Ogenblick. Gliek sünd wi weg.«

»De Küll'! bloß de Küll'!« flüsterte sie mit blauen Lippen, »und denn – min Kinner.« 91

Er nahm die Schnur mit dem Pack und band sich eng mit der Frau zusammen. Er war ganz ruhig.

»En Steen deiht woll nicht nödig. De Packen is nog.«

Mit der letzten Kraft ihrer sinkenden Arme umschlang die Frau ihres Mannes Hals.

Er ballte die Faust.

»Verflucht! Verflucht! – Slap woll, Marieken.«

Sie küßten sich und sagten sich noch einmal gute Nacht, und unter dem Kusse zog er die Frau von dem weichen Grabenrand hinab in das braune aufspritzende Wasser. Kein Schrei, kein Zurückbäumen, kein Bereuen. – –

Sie sanken gleich. – –

Aber dann – nach einer Weile – erhob sich ein Kopf über Wasser, des Mannes Kopf mit wild aufgerissenen Augen. Er wollte herauf, zurück, aber wie Blei hing die Frau an seinem Halse. Er schüttelte sie, sie regte sich nicht, er sah ihren offenen bleichen Mund, die todten, verglasten Augen.

Da schrie er auf, grell, fürchterlich, heulend wie ein Thier. Die Vögel flogen davon, die Blätter erbebten. Er sah das leere Schloß hinter den Bäumen, er verstand Alles, er begriff Alles, er fand eine neue Sprache auf seinen armen blöden Lippen, einen hellen fliegenden Schein in seinem dumpfen, dunkeln Hirn.

»Warum? Warum? Da wär' ja Platz! Da wär' ja ein Dach! Da wär' ein Lager! Da wär' ja Obdach für Tausend für uns! Stuben und Betten und Tische und Teller. Alles da, was man braucht! Viel mehr als man braucht! Und wir? Und wir? Wir ersaufen im faulen Graben? Wir verfaulen hinter der Hecke? Wir verhungern im Brennnesselkraut! Warum thun wir das! Warum sind wir so feig? Warum sind wir so toll? Warum? Warum? 92

Und das neue Licht wirbelte um ihn, er fühlte schon sich sinken, athemlos keuchend versuchte er, den Kopf seiner Frau emporzuheben:

»Marieken«, schrie er gurgelnd, »waak wedder op; waak gau op! Da is ja Platz op de Eer! Platz vor All' un Jedwerein! Wi wölt rin gahn! Wer hett seggt, dat ick bang bün? Ick bün nich mehr bang! Nich mehr – nich mer bang – – –«

Das schmutzige Wasser drang ihm unaufhaltsam in den Mund, erstickte ihn; er sank zurück; einmal noch schlug die anklagende Hand in die Höhe, dann verschwand Alles unter der Algendecke.

* * *

Weiß und prächtig stand das leere Schloß, aber es war nicht mehr, was es gewesen; es knisterte und krachte in den Mauern; was unversehrt schien, war getroffen; kein Blitz von oben – der Schrei aus der Tiefe hatte das Fundament gespalten.



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