Ilse Frapan-Akunian
Schreie
Ilse Frapan-Akunian

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Die verfluchte Stelle.

In einem Lande, wo die hundertblättrige Rose ihre Heimath hat, wo in üppigen Wäldern der Edelfasan lockt, wo edle Menschenbilder seit uralter Zeit auf gesegnetem Boden schreiten, liegt eine nackte, gelbe, sonnendurchglühte, winddurchrauschte Wüste.

An drei Seiten um die Wüste zieht sich das Land der Granaten und der Feigen, der Maulbeerbäume und der Palmen, an der vierten Seite stürmt ein ungastliches Meer gegen den öden Strand.

Und mitten in dieser Wüste, die kein Wesen ernähren kann, weder Pflanze noch Thier, noch Mensch – denn ihr Boden ist vergiftet, ihre Luft ist verpestet, ihr Wasser ist tödtlich – mitten in dieser menschenfeindlichen Einöde liegt eine verfluchte Stelle, und auf dieser Stelle steht eine Stadt.

Ist sie wirklich verflucht, die Stelle, wo die Stadt steht?

Viele von denen, die dort wohnen und herrschen, meinen, es sei eine bevorzugte Stelle, denn ihre Augen sind blind geworden vom endlosen Ziffernlesen. Sie sehen nicht mehr, daß diese Stelle verflucht ist.

Dieselbe Sonne, die in dem umgebenden Fruchtlande die Keime so voll und strotzend aus der Furche treibt, all ihre wohlthätige Kraft über das Fruchtland 2 ausgießt – auf diese Stelle hat sie seit Jahrmillionen mit tödtender Energie heruntergebrannt, und in flüchtigen Schöpfungen, die sie eben so schnell vernichtete, sich der Erde gegeben, damit sie die zeugende und vernichtende Kraft der Sonne festhalte.

Es wollte die gewaltige Spenderin des Lebens ihrem Schützling, der Erde, ein Gut vererben für seine alten Tage, einen Schatz für die armen Zeiten, die kommen müssen, eine Wärme für den Winter, auf den kein Frühling mehr folgt.

Und die Sonne zeugte und versengte, zeugte und verbrannte, zeugte und verkohlte, zeugte und destillirte hier an dieser Stelle und schuf so den unterirdischen Schatz für die künftigen Zeiten, und unter ihrer rastlos wirkenden Kraft verschwand die Blüthe, die den Augenblick schmückt, die vergängliche süße Frucht, der flatternde Vogel. Um die Zukunft zu sichern, mußte die Gegenwart an dieser Stätte dürr, reizlos, trostlos sein.

Sind die armen Zeiten schon erschienen? Sind die alten Tage der Erde schon gekommen?

Die hier angehäufte Energie der Sonne begann durch alle Dürre, durch alle Reizlosigkeit, durch alle Trostlosigkeit des Augenblicksbildes hindurch plötzlich auszustrahlen. Der Schatz in der Tiefe erhob sich und fing an zu glühen. Und geheimnißvoll und unheimlich begann er auf andere Energien zu wirken und sie unwiderstehlich auf diese dürre, reizlose, trostlose Stelle hinzuziehen.

Einem Drachen im Märchen, einem fürchterlichen Fabelwesen gleich, das mit tausend Schlangenarmen um sich greift, griff die hier begrabene Kraft, als sei sie der Einsargung müde, über in die Leben und Schicksale der winzigen Zwergenergien, der menschlichen Energien, riß 3 sie an sich, versammelte sie hier, fesselte sie hier, sog sie aus, machte sie zu Knechten und ließ die Knechte neue Knechte werben und wieder neue und wieder neue, indem sie die aufgespeicherte Energie der Sonne umsetzte in eine andere Energie – in die Energie des Geldes.

So kam der Fluch.

Die wimmelnden Zwergenergien, die sich hier versammelt hatten, wie die Ephemeren sich um die Straßenlaterne sammeln, taumelten wild durcheinander; eine erstickte, erdrückte hundert andere. Einige waren zuletzt obenauf. Sie bauten die Stadt in ihrem hitzigen, aufs Höchste gesteigerten Lebensfieber, die Stadt, über der der Fluch des Geldes liegt.

Wie ein gefräßiger Rachen ist die Stadt und die Vorstadt. Er klafft ewig offen, ewig dürstend. Und nur junges Blut kann ihm den Durst kühlen. Was zaudert ihr, junge Opfer?

* * *

Frühling ist's, bald werden die Rosen blühen, schon blühen auf den Felsen die Nelken.

Aber Tigran geht fort.

Die duftende Krone des Nußbaums ist voll und lockig; an seinem Stamm die starke Rebe steht in üppigen, jungen Blättern.

Aber Tigran geht fort.

Die Winterhürden sind schon fast verlassen; von jungen Lämmern wimmelt es im Dorf und von meckernden Kitzlein.

Aber Tigran geht fort.

Unter dem Schatten der Maulbeerbäume tönt die Hirtenflöte, es ertönt das Lachen der erdbeersuchenden 4 Mädchen; das lange Gras an der Quelle ist zerknickt vom Fuße der Tanzenden.

Aber Tigran geht fort.

Seine Mutter Ankin weint, es weint Nargiß, seine Geliebte, auch Tigran weint.

Aber Tigran geht fort.

Ankin hat Wolle gesponnen und hat sie gefärbt mit dem Safte der Kräuter in weichen und glänzenden, unvergänglichen Farben und hat den Reisesack gewoben, den Doppelsack, den Tigran auf der Schulter tragen wird. Mit Thränen hat sie die Fäden in den Rahmen gespannt. Gewoben hat sie und dabei geweint.

Denn Tigran ist ihr jüngster und liebster Sohn.

Nargiß hat heimlich der Mutter feine Wolle abgeschmeichelt; die Mutter hat das schönste Muster abgesehen, das es im Dorfe gibt – ein persisches Palmblattmuster, bunt auf rothem Grunde. Strümpfe hat Nargiß gewoben und dabei geweint.

Denn Tigran ist ihr Geliebter.

Wer hat sanftere Augen als Tigran?

Wer hat schwärzere Locken als Tigran?

Wer hat schlankere Glieder als Tigran?

Wer trägt den Nacken stolzer als Tigran?

Wer bläst so schön die lange Hirtenflöte, Abends, wenn nach heißem Sommertage ein kühles Windchen weht auf dem Chalabshügel? Tigran! Tigran! Wie kann man Augen haben für einen Andern als Tigran?

Aber Tigran geht fort, und Nargiß weint.

Wohin denn geht Tigran?

Ist nicht ringsum Fülle der Blüthen und süßes Wasser und süße Früchte, und im Joch gehen mächtige Büffel, und im Walde lockt der Truthahn? 5

Wohin denn geht Tigran?

Will er ein Land finden, das schöner ist als dieses überschwenglich gesegnete fruchtreiche Land am Abhang der Berge?

Ach nein, nichts Schöneres geht er zu suchen.

Will er liebere Freunde, theuerere Menschen, treuere Seelen finden?

Ach nein, nichts Lieberes, Theuereres, Treueres gibt es für Tigran als seine Mutter und seine Geliebte.

Will er auf kühne Jagd, auf kecke Abenteuer ausziehen?

Ach nein, die Feuersteinflinte läßt er zurück, nimmt nur den Wanderknittel mit der Keulenkrücke, den Schultersack mit Wäsche und Kleid, süße Kuchen von der Mutter als Wanderzehrung, saure Milch als kühles Wanderlabsal, das ihm die Mutter bereitet.

Wohin geht er?

Er geht an einen Ort, wo kein Baum grünt, wo kein Grashalm sprießt, wo kein Hase über die Ebene springt, wo keine klare, süße Quelle sprudelt, wo kein Vogel pfeift, – wo nur der Meerwind heult, wo aus der Erde unheimlich loderndes Feuer bricht, wo augenblendender, kehleausdörrender Staub fliegt, wo die Erde aus eisernen Mäulern erstickende Dämpfe haucht, wo die Erde schwarzes, übelriechendes Fett in ihren Adern birgt, aus gurgelnden Brunnen hervorspeit, in haushohen Strahlen emporspritzt.

Wo der heiße Sand leblos, lebenertödtend, – wo die heiße Luft schlecht zu athmen, wo das trübe Wasser bitter zu trinken ist, – dahin geht Tigran.

Wo der Tag keine Freudigkeit und die Nacht keine Ruhe kennt, wo es vom Morgen bis zum Abend und 6 vom Abend bis zum Morgen rasselt, zischt, hämmert, dröhnt, klirrt, schnauft, brüllt – dahin geht Tigran.

Wo die Erde nicht die sichere sanfte Mutter, sondern ein trügerisches, rastloses, unheimliches Etwas ist, in dem der unachtsame Fuß versinkt ohne Rückkehr und Rettung, – dahin geht Tigran.

Wo die Sonne, durch keinen Schatten gemildert, auf durchfetteten Flugsand herniederbrennt, wo Sonne und Mond vom fliegenden Sandstaub verfinstert sind, – dahin geht Tigran.

Warum denn geht er?

Sehnt er sich aus dem Paradies in die Hölle?

Seine Mutter Ankin weint, es weint Nargiß, seine Geliebte, es weinen die Freunde und Gespielen.

Warum denn geht er?

Nein, er sehnt sich nicht nach dem Unbekannten. Nein, er malt es sich nicht schön, das Land, wo der schwarze Riese herrscht, obwohl er seine Schrecknisse nicht kennt. Nein, er möchte hier bleiben in seinem Heimathdorf am Berge, wo bald die Maulbeeren reifen, und wo er frei ist, zu gehen, wohin er mag.

Aber – –

Es ist Kunde gekommen, eine seltsame Kunde.

Der Simon, Tigran's Kamerad, hat seiner Mutter zwanzig Rubel heimgeschickt; der Simon ist vor zwei Monaten fortgegangen.

Aber die erste Kunde kam nicht von Simon, Simon hatte sie vom Ambarzum aus dem Nachbardorf. Ambarzum war der Erste aus dieser Gegend, der fortging aus seinen Bergen nach dem Ort, wo das übelriechende Gold aus der Erde spritzt.

Vor dreiviertel Jahren ist Ambarzum fortgegangen, 7 und viermal schon hat er zwanzig Rubel heimgeschickt.

Und nun ist er zurückgekehrt, um Tigran mit fortzunehmen.

Warum nicht gehen, Tigran?

Geld! Geld! zwanzig Rubel! Ein Vermögen in Asaij. Wenn Einer das ganze Jahr als Knecht bei einem Bauern dient, gibt man ihm fünfzig, sechzig Rubel, Tigran aber wird nach zwei Monaten zwanzig Rubel an die Mutter schicken.

Simon's Mutter kauft Schafe, Schweine kauft sie; eh' das Jahr um ist – plötzlich wird Simon's Mutter eine reiche Frau sein.

Warum nur Simon's Mutter? Warum nicht auch die Mutter des Tigran, die fünf Söhne hat? fünf schlanke, bärtige, starke junge Bursche, gewandt zu jeder Arbeit? Geh, Tigran!

Ankin weinte, aber sie rüstete den Sohn aus für die Reise.

Tigran weinte, aber er rüstete seine Gedanken für den Abschied. Er wird Geld verdienen und heimschicken, und es wird sich ansammeln, und dann wird er zurückkehren und Verlobung feiern mit Nargiß.

Nargiß weinte, aber wer fragte nach Nargiß' Meinung! Und vielleicht, – ist er nicht schön, der silberne Gürtel, den man für Geld kaufen kann? Vielleicht wird Tigran ihr zur Verlobung einen solchen Gürtel bringen . . .

Auf den Felsen blühen die Nelken, die Rosen knospen im Thal, – lebe wohl, Asaij, mein Heimathdorf, lebe wohl Mutter, meine Vertraute, lebe wohl, Nargiß, heimlich Geliebte, lebt wohl, meine Gespielen!

Früh, früh, eh' die Sonne kommt, die feurige, junge 8 Frühlingssonne, hat Tigran Abschied genommen. Einen Tag muß er wandern, bergab, bergauf und wieder bergab und weit durch die Steppe, einen ganzen Tag, bis er den schwarzen Riesen erreicht, der feuerauswerfend, mit lauten Schritten seiner ehernen Füße durch die Länder rennt. Nur von weiter Ferne hat er ihn gesehen, aber da war er zusammengeschrumpft wie eine graue ungefährliche Schlange.

Noch dämmert der Morgen kaum. Es ist kühl und thauig. Sie wandern hinaus, Tigran mit Ambarzum, aber nicht allein, noch sind die Brüder, die Gespielen mit ihnen.

Schwer sind Tigran's Augen von Thränen, die er schamvoll verbirgt. Die Dunkelheit ist ihm willkommen. Nichts sprechen kann er. Alles ist schon gesprochen. Vor seinen Blicken sind immer die Augen seiner Mutter, die voller Thränen stehen.

Aber lebhaft plaudern die beiden Blinden, seine Onkel, die ihm auch das Geleit geben. Für sie ist's gleich, ob Tag oder Nacht ist, immer gleich dunkel. Aber ihr Sinn ist fröhlich. Und ihr Herz schwillt vor Stolz über den Neffen, der nun in die Stadt gehen und Geld verdienen wird. Sie gingen auch, sagen sie, wenn sie nur könnten. Aber sie müssen hier bleiben, wo sie jeden Fels kennen, wo sie aus der ganzen Herde, die am Brunnen trinkt, ihren Büffel heraus kennen und am Horn wegziehen, wo sie pflügen und im Walde Holz aufladen wie die Sehenden.

Tigran hört sie plaudern. Sein Herz zittert vor dem Unbekannten, und leise regt die Neugier sich. Viel wird er sehen, was die anderen nicht sehen; die Wunder der Stadt wird er sehen. Und Geld wird er verdienen. 9

Die neue schwarze Lammfellmütze engt ihm die Stirn. Wacker hat ihn die Mutter ausgerüstet; der schwarze Faltenrock hat eine neue silberumflochtene Schnur, die um den Hals und am Vorstoß hinläuft. Grün, roth und blau sind die neuen, um die schwarzen Hosen geschnürten Gamaschen. Er blickt auf seine Füße und lächelt freudig. Gestern in der Abenddämmerung brachte Nargiß' Mutter diese neuen Sandalen mit den zierlich aufgekrümmten Spitzen, diese bunten Socken, in denen seine Zehen stecken. Die Geliebte hat ihm Glück auf den Weg wünschen wollen, er fühlt es.

Ohne Pfad, steil hinab zwischen Felszacken und Dickicht. Die Nacht kommt ihnen aus dem Thal entgegen, wo die Winterhürden stehen.

Bis dorthin begleiteten sie die Freunde. Sie trugen ihnen ihr Gepäck, sie wollten ihnen noch etwas Liebes thun, dem Ambarzum und vor Allem dem jungen Tigran. Aber Tigran fühlte die Liebe nicht mehr, er fühlte nur den Abschied. Mechanisch that er Schritt um Schritt, Sprung um Sprung. Ihm war wie einem Verurtheilten. Der helle, langgestreckte Stall hob sich dämmrig aus den Bäumen, und da war die Stimme der versteckten Quelle, wo er Nargiß zum letzten Mal gesehen. Eine volle schwarze Traube hielt sie in der Hand, und ihre Augen waren schwärzer als die Beeren der Traube. Und den ganzen Tag hatte Tigran vor sich hin gesummt:

Die weiße Taube pickt die süße Traube,
Wer Trauben kennt, verschmäht die schwarzen nicht.
Es fürchtet sich der Jäger vor der Taube,
Weiß ist die Taube, schwarz ist mein Gesicht.

Tigran erwacht aus seinem Traum, der letzte Abschied ist da. 10

Vorwärts nun, allein mit Ambarzum. Tigran rückte sich den Sack, den ihm sein Freund getragen, selber auf Brust und Schulter zurecht, faßte den Stab fester und eilte Ambarzum voraus mit starken Schritten. Einem mächtigen Büffel mit ungewöhnlich weit geschwungenen Hörnern, der an einer Eiche angebunden war, strich er verloren über den Nacken, er kannte ihn, er hatte ihn aufgezogen und Schmerzen um ihn gelitten, als ihn die Mutter verkaufte. Auch das Thier schien ihn noch zu kennen. Es murrte gedämpft unter seiner Hand.

Da übermannte ihn der Kummer. Hinter den Eichen warf sich Tigran auf den Boden und weinte. In seinem neunzehnjährigen Herzen war eine unbeschreibliche Verwunderung, eine dumpfe Verzweiflung darüber, daß er ging. Sie kehrten zurück, sie alle nach Asaij, aber er, – ach wie viele Tage und Nächte sollten vergehen, bis er zurückkehren durfte! Verwirrt sah er sich um. Noch immer hing hier, im Thal, die Nacht in den Zweigen und blickte ihn feindselig an. Ein Schakal winselte. Von den Ställen her antwortete ein Hund.

Als Tigran seinen Gefährten rufen hörte, sprang er auf die Füße, und wortlos wanderten sie über die Thalsohle auf die Kette der Vorhügel zu, die sie überschreiten mußten. Eilig, zugleich mit der auftauchenden Röthe des Morgens, erklommen sie dann den Hügel. Dort sollten sie zum letzten Mal Asaij sehen.

Die Luft war erfüllt vom Gesang unzähliger Vögel, als sie droben waren. Wie selige Geister standen im zarten Frühroth die fernen Berge auf dem lichtgrünen Himmel. Aber Tigran's Blick sog sich fest an der Berghalde gegenüber, wo die Dornenzäune von Asaij schon ununterscheidbar mit dem Dickicht verschwammen. So 11 klein und fern war schon alles geworden! Nur die fast geleerten hohen Heustöcke ragten überall und bezeichneten genau die Stelle, wo Asaij lag. Welches war der Heustock neben Nargiß' Elternhaus? Tigran strengte seine Augen an. In das Flechtwerk, das die vier Pfosten verband, hatte Tigran manchmal einen besonders schönen Granatapfel, ein Häufchen süßester Pflaumen für Nargiß versteckt, und immer hatte die richtige Hand die Gabe gefunden. Nur die kleine duftende Melone, die er vergangenen Herbst dort für die Geliebte verborgen, war von Nargiß' Großmutter hervorgezogen worden und hatte Nargiß viel Neckereien von den Brüdern eingetragen. Sie schmollte damals eine ganze Woche mit ihm, die schelmische Nargiß.

Ein wenig Rauch stieg auf. Ob er aus der Mutter Hause kam? Kein Haus war zu erkennen; die höhlenartig in den Berg gebauten Häuser mit den flachen, erdbeschütteten Dächern lagen ganz im Grün. Vielleicht war der Rauch aus der Mutter Hause. Sie selber freilich würde heute nichts genießen, heute nicht und morgen nicht und übermorgen nicht, das wußte Tigran. Mit dreitägigem Fasten hoffte die Mutter eine glückliche Reise für ihren Sohn zu erkaufen.

Bewegte sich nicht dort etwas? War es nicht die Mutter, die ihm noch winkte, noch Grüße und Segenswünsche nachschickte? Erkannte sie ihn hier? Tigran wollte die Hand zum Gegengruß erheben, aber sie sank schlaff herab. Endlich winkte er doch, und Ambarzum winkte, und kein Zweifel – die Grüße wurden da drüben erwidert.

Schwer riß Tigran sich los und wendete den Kopf, den Fuß nach der andern Seite. Hinter ihm bleibt das 12 Weizenfeld, wo er geackert, hinter ihm die lustige Tenne, wo er so oft mit den Gespielen auf der gleitenden Dreschplanke gesessen. Mit nickendem Kopfe geht der Ochs, der vorgespannte, im Kreise, und gemächlich, mit der eigenen Körperschwere, die das Brett auf das ausgebreitete Korn preßt, schlägt der Drescher, ohne selber die Arme zu rühren, die reifen Körner aus den vollen Aehren.

Hinter ihm bleibt die Halde, wo er den Fasan, den Truthahn geschossen, hinter ihm der dichte Wald, wo er den Wolf getödtet, den Luchs erlegt. Hinter ihm. Alles hinter ihm.

Und vor ihm Arbeit und Geld verdienen.

Was für Arbeit?

Was kann ein Mann arbeiten außer dem Pflügen und Mähen und Holzschlagen und Häuserbauen und das Vieh besorgen und Brunnen graben? Teppichweben und Früchte und Blumen ziehen, das ist ja für die Weiber.

Grübelnd wanderte Tigran vorwärts. Hinter ihm blieb, was er gekannt, was er verstand. Vor ihm lag, was er nicht kannte, nicht verstand. Brunnen grub man dort, wohin er ging, sagte Ambarzum. Solche Brunnen, wie der Dorfbrunnen? Zwei Menschenlängen tief?

Den ganzen Tag wanderten sie durch die Steppe. Ein schönes Wandern war es. Jetzt, im Frühling, lag die Mughansteppe da in unendlicher Blüthenpracht. Und sie sprachen davon, wie oft sie die Steppe vom Berge aus gesehen, wenn im Spätherbst das braune Röhricht brennt und weite Flächen eine feurige Lohe sind, und sie verfolgten, wie sie jetzt gingen, die sanften grünen Linien, die allerorts über das blühende Grasmeer liefen. 13 Diese Linien bezeichnen die zahllosen Kanäle, die Reste altkaukasischer Bodencultur; an ihren Rändern standen Gras und Blumen üppiger, und darüber flatterte das lichte Laub der Weidenbäume.

Und dunklere Oasen – die türkischen Dörfer mit ihren Zäunen aus gespitzten Holzpfählen und dazwischen geworfene Dornenzweige, ganz wie in den armenischen Dörfern am Berge. Aber hier auf der Ebene konnten sich die Häuschen nicht halb in die Erde verkriechen, frei ragten die flachen Dächer hervor, obwohl niedrig auf dem Boden. Ganz in Wein- und Maulbeergärten gebettet lagen die Häuschen, aber die Maulbeerbäume waren nicht schattige Riesen wie droben am Berge, sondern struppige, nur mannshohe Krüppelgeschöpfe, die ihre zarten Blätter trieben für die gefräßigen Raupen, die die Seide spinnen.

Unter dem Weidenschatten an den Kanälen rasteten die Wandernden ein paar Mal, aßen von dem süßen Brote, den Kuchen, die Tigran's und Ambarzum's Mutter ihnen mitgegeben. Auch weißen Käse und saure Milch hatten sie. Sehr mäßig aß Tigran; mitten im Kauen kam ihm der Gedanke, daß er das nächste Brot nicht aus der Hand der Mutter erhalten werde, daß er es erkaufen müsse durch seine Arbeit. Wenn er nur gewußt hätte, was für eine Arbeit! Die Furcht nahm ihm den Appetit.

Als der Tag sich zu neigen begann, mied Ambarzum, der Erfahrene, die weidenbestandenen Wasserläufe, aus denen Nebel aufstiegen. In der schönen fruchtbaren Ebene lauert ein tückischer Feind, den der armenische Bergbewohner nicht kennt, lauert das Fieber.

Durch das Abenddunkel blinkten Lichter, ein 14 sonderbares Rasseln, das anschwoll und verhallte und wieder anschwoll, ließ sich hören. Die Eisenbahnstation war erreicht.

Ein lustiges Bauwerk ragte thurmartig auf neben dem Stationsgebäude. Auf dem ganzen Wege waren sie an solchen Thürmchen vorübergekommen. Im Hochsommer, wenn die Steppe braun und sonnendürr ist, und aus dem Schlamm der Kanäle und der Sümpfe Wolken von Stechmücken aufsteigen, flüchtet sich, wer kann, zur Nachtruhe auf diese Thürme. All das wußte Ambarzum zu erzählen, und Tigran hörte es mit dumpfer Verwunderung.

Und mit Verwunderung und Mißtrauen sah er im schwankenden Laternenschein die langen, langen Reihen unförmlicher Kesselwagen und sah, wie die aneinander gekoppelten aus leichten Anstoß in jenes hallende Rasseln geriethen, das sie von weither gehört. Und dann kam ein pfeifendes Sausen, und Tigran fühlte sich plötzlich an der Schulter gepackt und zurückgerissen. Dicht an ihm vorüber schoß mit glühenden Augen etwas Drohend-Gewaltiges, Dunkles, Unheimlich-Lärmendes – schoß vorüber und ächzte, dröhnte, knarrte, und dann stand vor seinen erschrockenen Augen eine Mauer, da, wo eben noch freies Feld gewesen war. Das war der Riese mit dem Feuerathem. Schrecklicher konnte der im Märchen auch nicht sein. Tigran sprang zurück und bekreuzigte sich zitternd.

Aber Ambarzum stieß ihn lachend vor sich her und sprach mit plötzlich auftauchenden, sonderbar aussehenden Leuten in einer fremden, unverständlichen Sprache.

Er trieb ihn ein paar Stufen hinauf, hinein in einen Kasten, so eng, so heiß, so voller fremder Menschen. 15 Dort zog er sich scheu und ängstlich zusammen, und bald versetzte der schaukelnde Gang des Wagens ihn in Schlaf.

Sie fuhren die ganze Nacht.

Wenn der Zug hielt, laute befehlende Worte draußen erschallten, das rasselnde Zuschlagen der Thüren, der durchdringende Pfiff bei der Weiterfahrt ertönte, und schnelle Lichter an ihm vorübersausten, dann erwachte Tigran, zitterte und sah flehend und fragend nach Ambarzum hinüber. Aber Ambarzum hatte sich ganz zusammengerollt, sein Kopf mit dem kurzen dichten Bart war versteckt, wie das Huhn seinen Kopf unter dem Flügel versteckt; ihn weckte weder der Lärm draußen noch die Stöße des wieder in Gang gerathenden Wagens.

Heller Tag war es, als sie Baku erreichten.

Schon seit einer Stunde war Ambarzum erwacht, aber er war verdrießlich, gähnte und dehnte sich in dem überfüllten Wagen.

Tigran vermochte den Traum nicht von sich zu schütteln. Es war die erste Nacht, die er fern von dem elterlichen Dache zugebracht. Der Lärm, der auf ihn eindrang, als sie den Wagen verließen, das Menschengewühl, die graue Einförmigkeit, all diese fremden Laute – denn auch Ambarzum sprach russisch, um mit seiner Kunst zu prahlen – erschienen dem armen Knaben der freien Berge wie böse Vorspiegelungen feindseliger Geister. Er stand furchtsam, mit zusammengeschnürter Kehle, ließ sich stoßen und drängen und als platzbeengendes Hinderniß schimpfen. Als er aber eine Reihe Männer mit blanken Säbeln an der Seite erblickte, die auf die Leute einschrieen und wild das Gesicht verzerrten, da faßte er nach Ambarzum's Aermel und wollte zurück, er wollte 16 umkehren. Zurück, wenn auch in den schrecklichen Kasten, und fahren, fahren bis in die grüne Steppe, und eilig, mit großen weiten Schritten zurück über die Steppe, über die Vorhügel, vorbei an den Winterställen, vorbei an der Quelle und hinauf nach Asaij. Sein Bündel abwerfen, sich ins grüne Gras strecken, süßes Wasser trinken und der Mutter erzählen, wie schrecklich es gewesen dort unten in der großen Stadt.

Ambarzum hörte nicht auf ihn, er riß ihn kopfschüttelnd mit sich fort. Bei den Gastfreunden Ambarzum's, wo sie den Tag zubringen wollten, würde sich Tigran's Beängstigung schon legen. Es ging ja Allen so, die aus den freien Bergen nach Baku kamen.

Aber Tigran erholte sich den ganzen Tag nicht. Seine großen, sanften, schwarzen Augen starrten scheu auf Alles. Er konnte nicht schlucken vor Weh, er öffnete kaum die Lippen bei den fremden Leuten, zu denen Ambarzum ihn geführt. Sein Kamerad sprach für ihn, armenisch und russisch, meistens russisch, weil er sich zeigen wollte vor Tigran. Aber Tigran hörte nicht, er wollte nicht einmal hören. Heim wollte er, zurück nach Asaij. Traurig, finster kroch er in den dunkelsten Winkel, damit ihn Niemand beachte. Wider seinen Willen führten sie ihn dann mit hinaus auf die Straße: sie wollten ihm die Stadt zeigen, ihm und Ambarzum, der sich hier schon einmal umgesehen hatte.

Für Tigran war Alles wie ein Wirbel, die grauen Straßen, wo die Leute – und wieviel Leute! – liefen, als würden sie gejagt, der Lärm, der Wind, die Häuserberge zu beiden Seiten, das Wagengerassel, die hohen Kamine, aus denen es schwarz und athemerstickend wehte, der Staub, der in ewiger Bewegung in der Luft 17 herumfuhr und wie Schnee gehäuft an den Treppen und Ecken lag. Betäubung hatte sich auf ihn gelagert, die nur dann ein wenig nachließ, als sie an den Quai hinabkamen und vor sich eine weite, graue Ebene erblickten.

Da war das Meer.

Seine müden verweinten Augen hafteten erstaunt darauf. Freilich, als sie dann näher kamen, und er die zähen Wellen erkennen konnte, die sich schwer und schleppend, wie unter einem Druck bewegten, so ganz anders, als die lieblich plätschernde, kristallklare Quelle, die von Asaij hinab zu den Winterhürden ins Thal floß, da überfiel ihn ein noch stärkeres Gefühl des Grauens vor all diesem Häßlichen, Fremden als zuvor. Sogar das Wasser war kein Wasser hier! Unter seiner Oelschicht glitzerte es unheimlich in Regenbogenfarben und war doch grau und undurchsichtig wie etwas Festes. Der Anblick des schmutzigen Strandes, auf dem die ganze Welt ihren Kehricht ausgeschüttet zu haben schien, die schwankenden Schiffe, der Wassergeruch, der Geruch der Fische, des Theers, des Tauwerks, und ein Geruch vor Allem, der alle anderen Gerüche beherrschte – der Geruch des Naphthas, des Petroleums – erregten ihm Uebelkeit.

Er schloß die Augen, ihm war zu Muthe wie einem kleinen, verirrten Kinde. Aber sie deuteten nach dem Thurm, dem Leuchtthurm, der durch eine Straße vom Meere getrennt, roth und steil zum staubumwölkten Himmel emporsteigt. Sie wollten dort hinaus, Tigran mußte folgen. Froh seines Wissens, erzählte Ambarzum dem zerstreut Hörenden die Sage vom Mädchenthurm, der damals, als er gebaut ward, noch dicht am Meere lag, so daß die Wellen seinen Fuß bespülten. 18

»Ein Fürst von Baku, ein wilder, gewaltthätiger Chan, hatte hier vor Hunderten von Jahren regiert. Und er hatte eine böse Liebe gefaßt zu seiner eigenen Tochter Leïli. Denn die Tochter war schön. Und der Chan wollte sie zu seinem Weibe machen. Aber sie widerstand ihm. Und als er sie hart bedrängte, da sprach Leïli: ›Wenn Du mir einen hohen Thurm bauen kannst im Meere, daß Niemand als der Mond den schändlichen Frevel sieht und Niemand als Wind und Wellen den Vater zu der Tochter reden hören, wie er nicht reden darf, dann will ich Dir zu Willen sein, und ich will in den Thurm gehen und dort vor aller Menschen Augen verborgen wohnen als Dein Weib.‹

Da ließ der Chan die geschicktesten Baumeister rufen von weit und breit, und sie bauten den Thurm im Meere und bauten ihn, wie es Leïli gefordert, hoch und unzugänglich, rund nach dem Strande zu, aber scharfkantig hinausspringend in das Meer, als ein Wogenbrecher.

Und als der Thurm gebaut war, ging Leïli, die Tochter des Fürsten, dicht verschleiert, durch die einzige Thür in den Thurm, und diese enge Treppe hinauf, die jetzt wir gehen, und hinter ihr ging der Chan, ihr Vater. Und auf jedem der kleinen Balkone, wo wir jetzt rasten, rastete Leïli ein wenig und blickte traurig durch ihren Schleier hinaus, und neben ihr stand der Chan und versuchte sie zu erkennen hinter dem Schleier mit seinen heißen, gierigen Tigeraugen.

Und als die oberste Plattform erreicht war, dieselbe, die jetzt wir betreten und die damals weit ins Meer hinaus vorsprang, da riß Leïli ihren Schleier ab und ließ ihn hinausflattern mit dem Seewind, und dann, 19 mit einem kurzen Schrei, wie ein Seevogel, stürzte sie sich selber hinab in das hochaufspritzende Meer. So rettete sich Leïli vor ihrem Vater, der nach ihrer Schönheit trachtete. So that Leïli, die Tochter des Chans.«

Tigran erröthete tief. Die Geschichte hatte ihn belebt. Und er dachte an Nargiß, und er war sicher, ja – auch Nargiß würde thun wie die Chanstochter Leïli, und sein Herz faßte neuen Muth. Aber er fürchtete, daß man ihm seine Gedanken ansehen könne, darum war ihm die Röthe brennend ins Gesicht gestiegen, und er hatte sich weggekehrt.

Und dann kam der andere Morgen, und Tigran fuhr mit Ambarzum nach Balachani, der Vorstadt von Baku, nach Balachani, ihrer Arbeitsstätte.

* * *

Baku ist dem jungen Bergflüchtling als der schrecklichste Ort erschienen, den es auf Erden geben kann. Aber nun sieht er Balachani. Und Balachani ist hundertmal schlimmer.

In Baku ist er nur ein widerwilliger Gast gewesen, hier aber soll er bleiben, bleiben und arbeiten.

Aber ist es nicht ein böser Traum, all dies Fremde, Unheimliche, Unbegreifliche, das um ihn herum ist, und das ihm alle Sinne empört?

Warum sieht er keinen einzigen Baum? keinen Halm, keine Blume?

Warum ist die Erde durch eiserne Schienen zerschnitten, kreuz und quer? Warum klaffen überall im Boden die tiefen Wunden, in denen es wie stockendes Blut steht? Warum ist der Himmel so grau? so voll 20 von gelbem Dampf? Warum ist die Luft über ihm zerschnitten von Drähten und von Streifen Leders, die laufen und schnarren? Wo sind die Hände, die sie bewegen? Warum liegt es ihm so erstickend auf der Brust in dieser Fremde? Warum werden seine Ohren gequält von einem ewigen Zischen, Stampfen, Rasseln? Was ist es, das all diese fremden, ungeheuerlich aussehenden Dinge, gleich dickbäuchigen Kesseln und zackigen Rädern in schwindlig machender Bewegung erhält? Und wozu bewegen sie sich so unaufhörlich, steigen auf, steigen ab, rollen vorwärts, stehen plötzlich still, rollen rückwärts und stehen wieder?

Diese schmutziggrauen Vögel auf dem Kehrichthaufen – könnten das Hühner sein? Die Stimme des einen klang, wie wenn in Asaij ein Hahn kräht, aber dort glänzen die Hähne, in Gold und Purpurgefieder, hier sehen sie aus wie Alles ringsum, Boden, Häuser, Menschen.

Ach die Menschen! Dort kommt Einer auf sie zu gegangen, schwarz, fettglänzend das ganze Gesicht, die Arme, die Hände; schwarzgrau, fettglänzend das grobe, weite Hemd, die groben, weiten, in die Stiefel gesteckten Hosen, die ein Strick zusammenhält. Und noch so Einer und noch Einer und wieder Einer. Alle gleich, nur die Größe macht sie verschieden.

Ambarzum ruft Einen an: »Mkrditsch! Du!«

Einer kommt heran und ruft: »Ambarzum!«

Wie kann Ambarzum seinen Freund erkennen, da doch Alle gleich aussehen? Nur die Augen glänzen, und die weißen Zähne in den schwarzen Gesichtern.

Tigran erschrickt, Jemand hat seinen Namen gerufen. Er sucht und sucht unter den schwarzen Gesellen, die um sie herum stehen. Er unterscheidet keinen Bekannten. 21

Da, noch einmal: »Tigran!«

Einer ist heran getreten, hat Tigran mit den schwarzen Händen um den Hals gefaßt, hat ihm mit seinem schmutzigen Bart übers Gesicht gefegt, hat ihn mit heißen, starken Lippen geküßt.

Nun sind seine Augen Tigran ganz nah, – kann dies Simon sein? Der hübsche, eitle Simon, dem alle Mädchen nachsahen, wenn er in Asaij am Festtage erschien?

Tigran beginnt zu reden, eilig, fragend, überstürzt; zum ersten Male, seit er von daheim fort ist, thut er wirklich den Mund auf. Simon – denn es ist Simon – sieht ihm auf den Mund mit vorgestrecktem Kopf. Warum runzelt er die Brauen? Warum schüttelt er den Wollkopf? Warum antwortet er nicht, sondern zeigt auf seine Ohren mit beiden erhobenen Händen? Warum werden seine Augen trübe und fangen an zu fließen, daß weißliche Streifen seine schwarzen Backen überziehen? Tigran will sprechen, weiter erzählen, weiter fragen, aber die Worte kommen nicht bis auf die Lippen.

Sie sind auch schon Alle fort, eine schrille Pfeife hat getönt, da sind sie davon gelaufen. Als Letzter Simon, mit gesenktem Kopf.

Gleich darauf steht Tigran in einer Bude, Ambarzum kauft ein Hemd, ein Beinkleid, rohe Lederstiefel mit Schnürriemen. Die Arbeitskleider für Tigran. Hinter einer Schuppenthür wird er sie anlegen, und morgen wird er sein wie Einer von diesen, die ihn so erschreckt haben. Ebenso schwarz, ebenso beschmiert, ebenso starrend von Erdpech, wie die Anderen.

»Was wird die Mutter sagen, wenn ich so Einer werde! was wird Nargiß sagen! Wie wird sie über mich lachen.« 22

Tigran ist zur Arbeit gekleidet, seine Habseligkeiten stecken alle im bunten Sack; Sonntags wird er die Kleider von daheim anlegen, sagt Ambarzum. Und der Sack liegt auf einer hölzernen Pritsche in einem Loch ohne Licht, wo noch mehr solcher Pritschen stehen, dicht neben einander, eine lange Reihe. Dort wird er schlafen, unter dem dichten Fliegenschwarm.

Er möchte gleich jetzt schlafen. Todtmüde ist er von all dem Neuen, Schrecklichen, vor Allem von dem brüllenden Lärm, der die ganze Luft anfüllt, wie der Schmutz und der Gestank. Aber Ambarzum läßt ihn nicht, er zieht ihn hinaus durch die Küche.

Die Küche ist eben solch ein Holzschuppen wie die Schlafbaracke, nur enger. Ein Herd ist dort im dicken Petroleumdunst, schwarze Gestalten, die ab und zu laufen; er sieht, daß sie sprechen, aber er hört kein Wort: ist er auch schon taub geworden wie Simon? Oder ist's nur das Brüllen der Maschinen, der nahen und fernen, das die Worte übertäubt? Am Aermel führt ihn der eine der hier Beschäftigten zurück, bietet ihm ein Glas Thee an. Ist's wieder Simon? Vielleicht ist er's, sie sehen Alle so gleich aus in dem Dunstloch hier.

Tigran möchte trinken, der Schweiß steht ihm auf der Stirn, aber wie verbrannt fährt sein Mund zurück. Der Trank ist zu widrig, zu ähnlich der Luft, die hier rundum ist. Er verdürstet und kann doch nicht trinken. Ach, einen Trunk aus der Quelle von Asaij, in die hohle Hand geschöpft, aus der süßen, gräserumnickten Quelle von Asaij.

Ist das eine Küche, dieses schmutzige Loch mit der zischenden Herdplatte, unter der die rauchende, rußende Naphthaflamme brennt? Vor Tigran steht die trauliche, 23 kaminartige Feuerstätte aus seiner Mutter Haus mit den bunten selbstgewobenen Topfhebern, die auf der Bambusstange hängen, mit dem mannshohen thönernen Mehlfaß an der Seite, auf dem in der hölzernen Mulde, unerreichbar für die naschhaften Kinder, das duftende, frisch gebackene Brot liegt. An dem Kamin mit dem Dreifuß, um den die lustigen Flammen spielen, hängt die buntfarbige Hirtentasche mit Salz. In der Nische über dem Dreifuß steht das thönerne Naphthalämpchen und qualmt in den Herbstabend hinaus. Ach, aber die Naphtha von Asaij, die der Händler auf dem Kameel bringt, zusammen mit Salz und Petroleum – die hat ihm nie gewidert!

Lustig war's, wenn der Kameelführer kam mit dem bepackten Thier, und wenn durchs Dorf seine schreiende Stimme schallt: »Heh, ihr Salzkäufer! heh, ihr Naphthakäufer! heh, ihr Petroleumkäufer!«

Wie da Alles herbei gelaufen kommt mit Gefäßen und Geräthen, und unter Lachen und Scherzen und Geschrei und Verwünschungen der Handel anhebt.

Aber um das knieende Kameel sammeln sich die staunenden Kinder und freuen sich und zeigen einander, wie verständig es blinzelt mit seinen Menschenaugen.

Und der Lederschlauch wird geöffnet, und die Naphtha kommt zäh und dunkel herausgeflossen in den zweihenkligen Thonkrug, und der Händler nimmt dafür Korn und Hafer als Zahlung.

»Vorwärts! heh, Tigran!«

Tigran erwacht. Fort, ihr Heimathsbilder; er ist wieder in Balachani. Wieder ist er draußen unter dem verunstalteten, zerschnittenen Himmel, auf der wüsten, zerschnittenen Erde. 24

Ambarzum führt ihn auf die Arbeitsstätte. Wie ein Wald ohne Aeste steht sie vor ihnen, ein häßlicher Wald von gelben Bretterthürmen, hoch und luftig, mit schrägen Wänden, mit weiten dunklen Thürhöhlen, aus denen verstärktes Getöse, das Klirren von Eisen auf Eisen, kreischendes Wimmern und das Schnaufen von Riesen dringt. Auch zornige, taktmäßig rufende Menschenstimmen.

Unsäglich schmutzig ist's in der Umgebung der Bohrthürme; haushoch liegt die ausgeworfene Erde zwischen den glitzernden Lachen. Viele der schwarzen Gesellen blicken flüchtig auf, wenn Tigran sich an ihnen vorüberdrückt, seine Kleider sind noch nicht vom Naphtha durchdrungen, tragen noch die ursprüngliche gelbgraue Farbe des Hanfleinens, verrathen noch den Neuling. Vorwärts durch Schlamm und Koth.

In einen der Bohrthürme, aus dem besonders hitziger Lärm dringt, hat sich Ambarzum gedrängt und Tigran mitgezogen. Furchtsam bleibt er am Eingang stehen, bereit, zu fliehen, während sein Gefährte auf einen Mann zugegangen ist, der hohe Stiefel trägt; die Hosen sind hinein gesteckt und dazu hat er noch einen Rock über dem Hemde. Der Mann hat einen breiten Bart und kleine funkelnde Augen.

Nun schreit er etwas. Er schreit dem Tigran zu, daß er heran kommen solle, Tigran versteht es wohl, obgleich nur aus seinen Bewegungen, denn der Lärm ist zu groß, er verschlingt die Stimmen.

Tigran tritt näher, und der Mann in den Stiefeln wendet seine kleinen, funkelnden Augen auf ihn, und die kleinen, funkelnden Augen wandern an ihm auf und nieder, Ambarzum faßt sogar Tigran bei der Hand und dreht ihn um: »Heh, ein fester Bursch?« 25

Wie wenn ein Bauer ein Kalb kauft, so mustert der Bohrmeister den neuen Mann. Eine Handbewegung, eine herablassende, stolze. Angenommen!

Freue Dich Tigran!

Komm denn heran, Du geschickter junger Hirte, Pflüger, Jäger, hier gilt es eine andere Arbeit, in der Du ungeschickt, unzweckmäßig, mühselig Deine ersten Griffe thun sollst. Wenn Du nur fest zugreifst, nur zäh und ausdauernd Deine Eisengabel hältst, dann bist Du zu gebrauchen. Der Köpfe bedarf's hier nicht, nur Muskeln will diese Arbeit, kraftstrotzende junge Glieder.

Mit aufgerissenem Munde starrt Tigran. Mitten in dem Bohrthurm ist eine bretterne Plattform, ganz besetzt mit schwarzen Gestalten. Der schreiende Bohrmeister mit den stolz funkelnden Augen unter ihnen.

Die Plattform deckt einen Schacht; ihre Planken ächzen und knarren unter den vielen Tritten. Und über den schwarzen Leuten hängt, gerade über ihren Köpfen, eine schwarze, schwere, eiserne Keule, oder ist's eine riesige Axt mit scharfer, abwärts gekehrter Schneide?

An einer klirrenden Kette hängt das Ungeheuer, dessen eherner Stiel von den Männern, die oberhalb auf schmalen Leitern und Gerüsten hocken, mit eisernen Haken gehalten, mit wuchtigen Eisengabeln in gerader Richtung abwärts gelenkt wird.

Auch Tigran wird solch ein Werkzeug bekommen, und dann wird sein Tagewerk darin bestehen, mit diesem Geräth in den Händen auf das Eisengestänge zu stieren und es im richtigen Augenblick auch seinerseits anzupacken, zu schieben und gerade hinunter zu leiten, Alles, was in das Loch inmitten der Plattform hinab soll: 26 Schlageisen und Röhrenstücke, immer tiefer hinab in den Schacht, in die Naphthaquelle.

Geheimnißvoll gährt und kocht es in der Tiefe; oben klappert und kreischt die Kette, die bis in den Gipfel des Bohrthurmes reicht, denn das Rad, über das sie läuft, steckt dort oben, halb unsichtbar, zwischen den Deckbalken.

Welche Macht ist es, die das centnerschwere Schlageisen bewegt, auf und ab? Denn Ambarzum hat dem Tigran schon erzählt, daß es ein ewiges Auf- und Abwinden ist, hinab in das Loch, um die Stangen und Röhren tiefer zu stoßen, bis sie in die Naphtha tauchen, ungesehen. Nur der Spiegel des Bohrmeisters leuchtet in die Tiefe.

Unmerklich fast rückt das schwere Geräth empor, oft dauert es länger als einen Tag, bis es droben ist, um dann wieder herab zu fallen. Welche Macht kann solch ein Werkzeug heben? Was bedeutet das Schnaufen und Brüllen und Schüttern dort drüben im Anbau des Bohrthurmes?

Dort steht der Kessel, sagt Ambarzum. Tigran versteht ihn nicht. Ein Kessel? Wozu denn? Welche Speise kocht man dort? Es ist wohl nicht PlowReis mit Hammelfleisch oder Geflügel., was dort im Kessel gekocht wird!

Aber schon ist für Tigran die Zeit gekommen, eine Gabel in die Hände zu nehmen und seinen Platz auszufüllen.

Aufgepaßt, Tigran! Von jetzt an bist Du nur noch ein Theil des Maschinenwerks, von jetzt an bist Du nur noch eine Gabel, und was kümmert es die Gabel, was sie verrichtet! Nur festhalten soll sie.

Die Dampfmaschine im Anbau des Bohrthurmes 27 ächzt wie ein schwerathmender, lastenbeschwerter Mensch, pf – – – pf – – – pf – – – pf – – – in langen Zwischenräumen. Sie zieht wie ein Pferd, mit fünfzehnfacher Pferdekraft und pustet dazu pf – – – pf – – – pf – – – pf – – –

Und dann plötzlich, wenn die Stange, von der Kette abgelöst, in das Loch im Boden hinabgleitet, wird die Maschine lustig, übermüthig; leichtsinnig pafft sie in aller Eile: pf – pf – pf – pf – pf –!

Warte du, so leicht machst du dir das Leben? Komm, nimm dein Theil. Her mit dem Haken, leichtfertig pendelnde Kette du, daß wir aufs Neue dir das Schlageisen an die Glieder hängen. Jetzt probire, wie das thut.

Und Ring trifft in Haken, und das Schlageisen senkt sich, senkt sich, wühlt sich ein, um langsam wieder gehoben zu werden; langsam und mühsam geht es von Neuem: pf – – – pf – – – pf – – – pf – – –

In das Bohrloch dringt das Eisen, und Erde, Sand, ätzenden Schlamm, salziges Wasser mit Naphtha untermischt, speit das Loch aus. Und all das fließt über die Köpfe der Arbeiter, die sich nicht vom Platze rühren, nicht ausweichen dürfen, all das Fett, das Pech, das beizende Wasser. Ist die Tagschicht fertig, dann greift man wohl nach dem Haufen von Hanffasern im Eck, taucht einen Bausch in ein Naphthagefäß, reinigt damit oberflächlich die Hände und spült mit Petroleum nach.

Tigran sieht es mit Grauen. Bald schon zwingt ihn die Noth, nachzumachen, was er sieht. Eh' ein paar Tage vergehen, starrt sein breites Hemd, die unförmlichen Hosen starren ebenso von Fett und Schmiere, wie die der übrigen Arbeiter. Steif sind sie vom Harz und 28 Pech, überklebt mit Schichten von Sand und Staub, schwer und ungelenk, wasserdicht und luftdicht.

Und nun geht es Tag aus, Tag ein auf die gleiche einförmige, quälend schwere Weise. Früh an die Arbeit, die lebensgefährliche, bedrohte, aber die Bedrohung, die Lebensgefahr, von der plumpen Axt des Schlageisens zerschmettert zu werden, wenn sie herunterstürzen oder nur aus der Richtung kommen sollte, wird Gewohnheit und regt nicht mehr auf.

Kommt der Sonntag, dann zieht Tigran seine Dorfkleider an, sitzt mit den Gefährten zusammen und singt, die Backe in die Hand gestützt, klagend vor sich hin:

Süß ist die süße Quelle von Asaij,
Salzig das salzige Wasser von Balachani,
Süß sind die Gedanken an meine Heimath Asaij,
Aber bitter quält mich das Heimweh in Balachani!

Und die Anderen fallen ein; wie eine endlose Klage schallt es um die Baracken:

Aber bitter quält mich das Heimweh in Balachani.

Ein Trupp unkenntlich schmutziger Hühner trippelt gackernd um sie her, ein unkenntlich schmutziger Sperling bewegt sich auf dem Bretterdach. Tigran sieht die Vögel, er ändert die Weise; nun singt er in demselben sanften Klageton:

Weiß ist der Falke vom Berge geflogen,
Sein Gefieder ward schwarz, sein Auge ward trübe.
Kommt er zurück in sein Nest geflogen,
Niemand empfängt ihm mit Blicken der Liebe.

Aber Ambarzum schüttelt den Kopf zu Tigrans Liedern. Er ist auch betrübt, auch ihm ist es schwer und langweilig, aber er möchte lachen und die Anderen 29 lachen machen. Er schneidet eine Grimasse, deutet auf sein öldurchtränktes Haar, besieht seine fettigen Hände und singt:

Der TschischlikFleischstückchen, die, an Spießen aufgereiht, über Kohlen gebraten werden. schwimmt im Fett,
Und Ambarzum in Naphtha!
Bringt zu dem Fett Granaten,
Und fertig ist der Braten!

Aber Tigran lächelt kaum zum Gelächter der Uebrigen. Er verzieht den Mund und entgegnet schlagfertig:

Wie im Fette schwimmt der Tschischlik,
So schwimmt Ambarzum in Naphtha,
Aber lieblich duftet Tschischlik,
Aber widrig duftet Naphtha!

Und Alles lacht nun über Ambarzum, der betroffen verstummt ist. – –

Heiß und heißer werden die Tage. In der schattenlosen, schutzlosen Wüste glüht die Sonne auf den Sand, daß er die Füße der Arbeiter verbrennt, wenn sie sich je barfuß hinein wagen würden.

Und Tigran gedenkt des Waldes auf dem Berge, er gedenkt des fernen Chalabshügels, und seine Sehnsucht wird zum Liede:

Kühl schattet das Laub
Droben in Asaij –
Ich verschmachte im Staub,
Hier unten in Balachani; –
Rosen stehen voll Duft
Droben in Asaij –
Hier erstickt mich die Luft –
Hier unten in Balachani! – 30

Meine Blume blüht fern
Droben in Asaij –
Ach, mir leuchtet kein Stern
Hier unten in Balachani, –
Lieber gestorben sein
Droben in Asaij,
Als hier leben allein,
Hier unten in Balachani! –

            ———

Nicht immer kann man traurig sein. Die jungen Kräfte suchen nach Betäubung ihres Leides.

Man trinkt Branntwein, wie der Herr Verwalter mit den Clubherren Champagner trinkt. Dann schlägt das Heimweh um in blinde Wuth gegen die Arbeitsgefährten: jeden Tag gibt es Streit. Einer verschwindet dann, – wo ist er geblieben?

Auch Unfälle gibt es jeden Tag unter der ungeübten, zusammengelaufenen, einander kaum verstehenden Arbeiterschaft. Verstümmelt sind die Meisten, die Tigran sieht. An den Händen, denen Finger, an den Füßen, denen Zehen fehlen, an Einarmigen und Einäugigen bemerkt er schaudernd die Narben der quälend schweren Arbeit. Ueberall droht Gefahr für den Neuling.

Die versiegten alten Bohrlöcher, die verlassen werden, liegen offen da unter einer unscheinbaren weißlichen Decke. Aber wehe dem Fuß, der auf den hervorquellenden Schlamm geräth. Er versinkt darin, wie das Handwerkszeug versickert im losen, fettigen Sand. Reservoire mit tiefem Boden, Naphthaseen mit Wasser auf dem Grunde, das sich tief eingefressen hat, gähnen nach dem Unvorsichtigen zwischen den Arbeitsstätten, über die man zur 31 Tag- wie zur Nachtschicht in die Bohrthürme gehen muß. Das elektrische Licht kommt doch nicht überall hin. Und in der Müdigkeit – –

Wo ist Mkrditsch geblieben? Niemand weiß etwas von ihm. Er ist verschluckt, verschwunden. Seine Gefährten stehen zusammen und fragen einander. Sie schütteln die Köpfe und gehen dann wieder, wenn der Pfiff ertönt, an ihre saure Arbeit.

Auch Tigran hält die Gabel mit schwermüthig schläfrigen Augen. In seinem Kopfe summt es, und in seinem Ohr klingt es durch all das widerstreitende Getöse hindurch.

Daß ihn das Heimweh heut besonders gepackt hat, daran ist wohl der Lesghier Schuld, Hassan, dessen Gabel den Dienst für immer hat versagen wollen. Hassan hat eine Braut daheim Aber Chatun wird vielleicht einen Anderen nehmen, wenn er so lange mit der Rückkehr zaudert. Das ist dem Lesghier plötzlich eingefallen, und darum hat er seine Gabel hingelegt. Hassan hat von seinem letzten Monatslohn einen silbernen Gürtel für Chatun gekauft; die Frau des Bohrmeisters, eine der wenigen Frauen hier in Balachani, hat ihn in Verwahrung, bis Hassan ihn seiner Braut bringen kann. Aber warum nicht heute bringen oder morgen? Warum warten und immer warten? Und Hassan hat die Gabel hingelegt.

Aber da ist der Bohrmeister aufgefahren, hat völlig empört gerufen: »Was? heimgehen? Fort! Nichts! Ein Schlosser sollst Du werden! Ich mache einen Schlosser aus ihm, und er will weglaufen! Schämst Du Dich nicht? Dreißig Rubel im Monat wirst Du bekommen, Dreißig Rubel! Schäm' Dich!«

Und Hassan schlägt die Augen nieder, er schämt 32 sich wirklich. Dreißig Rubel im Monat! Der Meister sagt dreißig. Nun, er wird noch bleiben, wird dreißig Rubel verdienen, ein paar Monate lang, und dann heimgehen, ein Paar Ochsen kaufen, ein wohlhabender Bauer sein.

Er steht und grollt und will nicht, aber der Bohrmeister sieht schon, daß er doch will. »Weglaufen! Schäm' Dich! Fort an die Arbeit.« Und Hassan nimmt mit wildem, haßerfülltem Blick die Arbeit wieder auf. Wenn der Meister es befiehlt – was ist zu thun? – –

Und die Winden kreischen, die Transmissionen schnarren, die Zahnräder schreien, die Dampfmaschinen ächzen, und hinter all dem nahen Lärm immer das Brüllen der Tropffeuerung. Tigran hat jetzt gesehen, wie die ist. In den aufsteigenden Dampf fällt durch einen schmalen Schlitz im Rohr, das darüber hängt, ein Tropfen Naphtha, ein Tropfen und wieder einer, und fort und fort ungezählte Tropfen, Tag und Nacht, und der Dampf empfängt den Tropfen und löst jeden auf in unendlich fein zertheilten Staub, der sich dem Dampfe mittheilt und ihn heizt. Und von dem Schlitzzerstäuber treibt die Dampfmaschine, es zischt der Dampf in den Röhren, und die Dampfmaschine treibt die Kurbeln, und die Kurbeln treiben die Zugstange und die Zugstange den langen, schweren Bohrschwengel, und der Bohrschwengel treibt die Kette, und die Kette treibt das Rad oben im Dach des Bohrthurmes zwischen den Deckbalken, und das Rad treibt das andere Ende der Kette, und an dieser hängen abwechselnd das Schlageisen, oder die Stangen, oder die Stücke von neuen Röhren, die in das Loch eingelassen werden müssen. Ein paar Monate 33 dauert oft diese Vorarbeit, bis die Naphtha gefaßt werden kann, sagt Ambarzum.

Jedes neue Rohrstück wird mit dem vorhergehenden, halb aus dem Boden vorragenden vernietet, und die Hämmer der Schlosser sausen hell klirrend und dumpf dröhnend auf die von den Gabeln festgehaltenen Eisen.

Solch ein Schlosser wird also auch Hassan werden. Und dreißig Rubel im Monat verdienen, und als wohlhabender Mann wird er zurückkehren in den AulBergdorf der Tscherkessen und Lesghier. und Hochzeit halten. Glücklicher Hassan! denkt Tigran.

Aber wo ist denn Hassan? Warum ist er nicht unter den Männern der Nachtschicht, die dem Tigran und seinen Gefährten entgegenkommen? Sie sprechen laut durcheinander, trotz ihrer Müdigkeit – – –

Wo ist Hassan geblieben?

Mit gerunzelter Stirn deutet Einer über seine Schulter: »Dort«.

»Fortgelaufen?« Tigran's Herz thut einen wilden Freudensprung.

»In der Ambulanz«. Der Finstere schlägt mit der linken Hand wie mit einem Hammer auf sein rechtes Handgelenk. Mürrisch geht er weiter.

Tigran versteht . . . . Sein Herz wird schwach, seine Kniee zittern . . . .

Drinnen auf der Plattform zeigt Einer auf die Blutspur. Sie ist schon eingetrocknet, vermengt mit dem schwarzen Fett der Erde.

Abends geht Tigran mit Ambarzum in die Ambulanzbaracke, in die sie den Verunglückten auf der Bahre getragen. Aengstlich betrachtet er den schmalen, 34 fliegendurchsummten Raum mit den zwei Reihen Betten. In jedem Bette liegt ein Verwundeter. Schmutzig und dumpf ist die Krankenbaracke, und wie Gespenster liegen die bleichen, abgemagerten Gestalten in ihren Betten. Für Hassan war kein Raum, man hat ihn auf dem Boden gebettet. Er liegt in schwerem Schlaf, auf den Backen eingetrocknete Thränen; – man hat ihm die rechte Hand abgenommen, sagt die Krankenschwester mit der weißen Schürze. »Sie war nichts mehr nütz«.

Tigran besieht seine eigene Hand, öffnet und ballt sie. Nichts mehr nütz! Abgenommen! – –

Der Arzt kommt aus einer kleinen Thür. Er ist blutig und blickt sie strenge an.

»Was habt Ihr hier zu suchen? Fort! hinaus!«

Ambarzum gehorcht eilig, er versteht ja russisch. Aber draußen macht er wieder Halt und zieht den widerwillig folgenden Tigran an ein niederes Fenster. Darinnen steht noch ein Arzt, und auf dem Tische, unter tausend Fliegen, liegt ein nackter Todter. Der Arzt senkt das lange dünne Messer gegen die Brust des Leichnams – – –

Mit einem Schrei springt Tigran zurück. Schändet man sogar die Todten an diesem fürchterlichen Ort?

Die ganze Nacht ist ein böser, marternder Traum. Nie noch hat Tigran an den Tod gedacht. Einmal war er ihm nahe, dort oben in Asaij. Da hatte Tigran sich mitgeschlichen, als der Haufe Dorfleute den Bären verfolgte. Auf einmal dann war er ganz allein, und vor ihm stand das zottige Ungethüm. Er schoß. Und dann kam ein Schlag, und er fühlte nichts mehr. Erst nach Stunden erwachte er. Da jubelte Alles ihm zu. Er hatte den Bären ins Herz getroffen. Unter der Tatze 35 des todten Thieres hatten sie ihn hervorgezogen. Danach dachte Tigran, der Tod sei ein Bär und nichts gar zu Schlimmes. Er hatte keine unangenehme Erinnerung an damals, nur Stolz und Freude. Wenn Nargiß ihm schmeicheln wollte, dann nannte sie ihn den Bärentödter.

Und hier, an dem verfluchten Ort, lag der Bärentödter auf seiner Holzpritsche und zitterte vor dem Tod, die ganze lange Nacht und bangte nach seiner Mutter, nach seinem Dorfe. Und die Aengste verdichten sich zu Worten, und die Worte reihen sich an einander, und sein beklemmtes Herz klopft den Takt dazu. Und am anderen Tage hat Tigran wieder ein Lied gefunden voll von Leid. Eintönig klingt das Lied:

Bitter ist das Wasser in der Fremde,
Bitter in der Fremde ist das Brod.
Säh' mich meine Mutter in der Fremde,
Meine Mutter weinte sich zu Tod'.

Bitter ist die Arbeit in der Fremde,
Bitter ist der Schlaf in heißer Nacht;
Säh' mich meine Mutter in der Fremde –
Meine Mutter weinte Tag und Nacht.

Bitter ist das Leben in der Fremde,
Bitter in der Fremde ist das Grab, –
Fänd' ein Grab ich in der bittern Fremde –
Meine Mutter folgte mir ins Grab.

Bitter lebt der Jäger in der Fremde,
Weiße Taube flattert frei umher, –
Säh' sie ihren Jäger im der Fremde –
Ihre Augen kennten ihn nicht mehr. 36

Müßt' ich hier in fremde Erde sinken,
Müßt' ich sterben, unbeweint vergessen,
Meine Mutter würde Essig trinken,
Meine Mutter würde Steine essen.

* * *

Tigran sog ein wenig Trost aus seinen eigenen Worten, aber die Kameraden wurden alle traurig. Schnell kannten sie das Lied, und Abend für Abend tönte es schwermuthvoll und voller Zuversicht in lang gezogener Klage um die Baracken:

Meine Mutter würde Essig trinken,
Meine Mutter würde Steine essen.

Und die Winden kreischen, die Zahnräder schreien, die Transmissionen schnarren, die Commandorufe tönen: »Druck! – Los! – Druck! – Los! –«

»Druck!« und der Transmissionsriemen läßt das Arbeitsrad sausen, das den Bohrapparat aus dem Loche hebt. »Los!« und der Riemen wird auf das lose Rad geschoben, und das Schlageisen fällt. Tag für Tag und Nacht für Nacht. Statt Hassan's steht ein Anderer da, sonst ist alles dasselbe. Immer Getöse, Hast, Spannung und Langeweile zugleich. – Tigran steht, hält die Gabel und träumt mit offenen Augen. Nun sind im Dorf die Granatäpfel reif, nun pflücken die Kinder überall die sauren, die wilden, die lauter Saft und Erquickung sind. Und er sieht sie vor sich, die herrliche sonnengeröthete Frucht, am tiefherabhängenden zarten Zweig; aufgesprungen ist sie vor üppiger Reife, triefend aus dem tiefen Kreuzschnitt; an seinen Lippen fühlt Tigran ihren blutigrothen Lebenssaft.

Er wird unruhig. 37

»Wenn ich nur dorthin könnte! Einmal den verdorrten Mund pressen auf einen wilden Granatapfel! Einmal das Heimweh kühlen mit der labenden Frucht! Ambarzum muß helfen, ein wenig Geld für mich borgen, daß ich heim kann – dorthin –.«

Tigran steht und träumt von den blutenden Granaten.

Niemals geht der Betrieb glatt, jeden Tag geschieht etwas lästig Hemmendes, Verzögerndes, irgend ein unerwartetes Hinderniß stellt sich ein. Eine Stange bricht, und das ganze Gestänge versinkt in die Tiefe. Ein Sandpfropfen bildet sich, füllt das ganze Loch, hemmt die ganze Arbeit. Heut' ist wieder etwas Besonderes im Bohrthurm Nummer siebenundfünfzig, wo Tigran in Arbeit steht.

Die Röhre sitzt fest in der Tiefe des Loches im Schacht, läßt sich nicht tiefer bringen. Es ist, als ob der Dämon da unten, des ewigen Lärms, der ewigen Belästigungen müde, das ganze Röhrensystem nun einmal festhielte mit ehernen Fäusten und sich's nicht wollte weiter gefallen lassen, dies Wühlen in dem Bauch der Erde.

Ein neues Rohrstück ist aufgenietet worden, nachdem man den gelockerten Boden mit der Erdpumpe aufgeholt, ausgeschöpft; die MüffeRingförmige Handhaben, auch Röhrenbündel genannt., in denen das Rohr hängt, sind auseinander geschraubt, um die Röhren hinab lassen zu können. Aber nichts rührt sich, die Röhre sitzt fest. Kein Hebel vermag sie hinab zu senken, Hebel und Hebelwinde – Alles ist schon versucht worden. Unbeweglich straffen sich die Ketten aus dem Gipfel des Bohrthurmes bis in den Schacht, bis zu den Röhren. 38 Rathlos, unthätig, abwartend stehen die Arbeiter auf der Plattform, hocken auf den Gerüsten und Leitern mit ihren Gabeln.

Im Loche rollt und grollt es; der Riese in der Tiefe wettert im Zorn gegen die Zwerge, die auf neue Listen sinnen, damit das endlose Auf- und Niederspiel von Neuem beginne. Geht es nicht tiefer hinab, so muß eben das ganze Röhrensystem wieder aufgeholt werden. Die Ketten müssen an den Müffen befestigt und oben eingehängt werden, mit Gewalt muß man dem Dämon der Tiefe den Raub entreißen.

Aber der Kampf ist gefährlich. Der viele hundert Centner schwere Röhrenapparat, wenn er sich aus der Tiefe loswirkt in seiner ganzen ungefügen Masse – wer weiß, was er mitreißt, was er mit herunter fegt! Wer weiß, ob die Plattform, ob das Gebälk nicht zerbricht wie ein Schneckenhaus, wenn der Riese von unten gegen die Eindringlinge drückt? Wer weiß, ob die straff zum Zerreißen gespannte Kette die vielfache Last trägt, ob ihre Glieder nicht auseinander weichen und im jähen Herumschleudern Alles zerschmettern oder unheilvoll die halb gehobene Last vernichtend wieder hinab stürzen.

Einer ist zum Bohrmeister gelaufen; der Bohrmeister hat noch geschwind seine Pfeife ausgeraucht, – in der Nähe der Arbeitsstätten darf Niemand rauchen – und ist dann gleich gekommen.

Er ist im Maschinenanbau, steht neben dem Maschinisten, commandirt: »Dampf!«

Rührt sich etwas? Geht nicht ein Klirren durch die Glieder der Kette? Im Brettergebälk des Bohrthurmes stöhnt es, ein Unheil verkündendes Knistern und Krachen. Wird die gewaltige Hebekraft des Dampfes Sieger bleiben?

Alles flieht auf einmal. Alles stürzt hinaus aus 39 den weiten Thüren vor dem donnernden Krachen und Knarren, das aus der Tiefe und der Höhe zugleich kommt.

»Druck!«

»Los!«

Was wird nun kommen?

Der Bohrmeister im Maschinenschuppen schreit: »Mehr Dampf! Druck!«

Die Maschine seufzt tief, stöhnt um Erbarmen. Keine Bewegung.

Auch Tigran ist hinaus gelaufen, so gut wie die Uebrigen. Das unheimliche Getöse hat auch ihn erschreckt. Er weiß nicht recht, warum Alle so gespannt und athemlos starren. Aber er starrt auch, er ist neugierig, was denn so Furchtbares vor sich gehen kann da drinnen. Der Arbeiter an der Winde ist da wie immer, der Bohrmeister bei der Maschine spricht heftig – nein, so weit wie die Uebrigen wird Tigran nicht weglaufen. Der Thüröffnung nahe bleibt er stehen, die Plattform, die Kette will er im Auge behalten, will sehen, was geschieht, wenn der Riese da unten seinen Raub wieder hergeben muß.

Und mit angehaltenem Athem und vorgestrecktem Kopf, zwischen Grauen und Genuß der Erwartung, mit geöffneten Lippen, lächelt er.

»Volldampf!« schreit der Bohrmeister, und da ihm der Maschinist nicht schnell genug ist, springt er selbst an den Dampfregulator und gibt: »Volldampf! Druck!«

Die Maschine brüllt, die Transmissionen gleiten wirkungslos über das Rad, und – plötzlich ein ungeheurer Krach und Knall, ein Brechen und Stürzen und Splittern, ein Beben des Bodens, und in dem allen ein menschlicher, schneidender und doch so schwacher Todesschrei, den das Getöse erbarmungslos verschlingt, wie die schwarz 40 emporwirbelnde Staubwolke plötzlich das blendende Tageslicht verschlungen hat.

Ein vielstimmiges Geschrei gellt über den Platz, Keiner wagt den Fuß zu bewegen von der Stelle, auf der er steht, und die doch unter ihm zu wanken scheint, Keiner sieht, was geschehen, Keiner sieht den Anderen, bang in der plötzlichen Nacht stehen sie, wie leblos.

Und überschüttet mit Sand und Staub, mit fast erblindeten Augen, mit fast ertaubtem Gehör, finden sie sich allmählich wieder, finden allmählich, daß das Dunkel sich verzieht, daß die Erde noch steht, daß der Bohrthurm noch steht, daß sie selber noch leben.

Was ist denn geschehen?

Die Röhren sind gehoben, die Kette hat ausgehalten, das Dach nur ist in Trümmer gegangen; das über seine Kraft beschwerte Rad im Gipfel des Bohrthurmes hat die Balken zerschlagen und ist herunter gestürzt. Weiter nichts. Nur Verwüstung.

Oder noch etwas?

Noch etwas?

Dort unter dem einen mit Schleudergewalt aus der Thüröffnung hervor gestürzten Balken, im Staub und Erdpech, liegt eine zerquetschte, blutige Masse, und die Masse hat einen unverletzten menschlichen Kopf, vor dessen weißem, fürchterlichen Sterbeblick der Arbeiter, der ihn gefunden, entsetzt auf die Seite springt. Eben noch stand er ja – beugte sich vor, um zu sehen – lächelte gespannt sein kindlich schwermüthiges Lächeln, und nun – – –

Wo ist er nun?

Tigran? – –

War das einmal Tigran? – – 41

* * *

Stampfende Hufschläge, Rädergeroll, eine Staubwolke.

Der Wagen hält.

Ah, der Herr Verwalter!

Der Herr Verwalter ist selber ganz erregt. Solch eine Störung im Betrieb! Er hat sogar den einen rothen Glacéhandschuh ausgezogen und deutet mit der Hand, an der der große Brillantring blitzt, nach dem zertrümmerten Dache. »Alles zerschlagen! So, so. Telephoniren Sie sofort, Bohrmeister, die Reparatur soll augenblicklich beginnen. Was sagen Sie? Ein Unglücksfall? Ah – dort? So? Schon gestorben? Schade . . . Nun, besorgen Sie das Nöthige, und vor allen Dingen: telephoniren Sie sofort, sofort!«

Der Herr Verwalter grüßt verbindlich mit der Hand nach der verwüsteten, blutgetränkten Stätte. Er steigt ein. Dann stampfende Hufschläge, Rädergeroll, eine Staubwolke, der Herr Verwalter ist fortgefahren. Die Kartenpartie im Club braucht darum nicht auf lange unterbrochen zu werden.

* * *

Beim Bohrmeister in der Stube ist ein Gast, ein seltsamer Gast. Die Frau sitzt da, eingehüllt, vermummt, und noch unter dem Tuche ist ihr Kopf tief gesenkt. Die Hände liegen regungslos im Schoß. Man begrüßt sie, und sie erhebt die Augen nicht, man redet sie an, und sie antwortet nicht, man spricht ihr zu, und sie scheint nicht zu hören, man bietet ihr Speise, und sie ißt nicht.

Ankin ist gekommen, um ihren Sohn zu begraben, aber Tigran lag schon auf dem schmucklosen öden Sandfelde, auf dem die elenden Kreuze und Steine stehen. 42

Nun sitzt Ankin da wie der wortlose Gram, an dem die ganze bunte Welt vorüber saust, ohne ihn zu berühren. Die Menschen um sie reden – laß sie reden; ihr Sohn wird nimmer wieder sprechen; die Leute um sie essen und trinken – laß sie essen und trinken, ihr Sohn wird niemals wieder Speise und Trank genießen.

Die Nacht kommt, und alle legen sich schlafen auf den Bänken – laß sie schlafen – Tigran schläft auch und wird nie wieder erwachen. Sie sprechen auch davon, wie alles geschah, wie auf das letzte Commando »Volldampf« das Krachen erfolgte, das die ganze Arbeiterschaft hinaus trieb, wie Tigran der Thür zu nahe stand, als die Balken brachen, und wie der Balken ihn zu Tode schlug, wie die Axt einen jungen Baum fällt.

Vermummt und regungslos und tief gesenkt die Augen, sitzt die Mutter da. Hört sie? Hört sie nicht? Der Bohrmeister sagt: »Das war ein ehrlicher Bursche, der hätte seine zwanzig Rubel bald verdient. Und im nächsten Jahre dreißig.«

Ankin hört und hört nicht. Zwanzig Rubel, dreißig Rubel – – laß sie von Rubeln reden, ihr Sohn wird niemals mehr einen Kopeken brauchen. Seine Jugend ist dahin, sein Arm ist zerschmettert, sein Herz schlägt nicht mehr – was reden sie von zwanzig, dreißig Rubeln!

Sie reden allerlei! Auch von der Versicherung. Jeder Arbeiter des lebensgefährlichen Betriebes ist versichert. Verunglückt er, wird er getödtet, so zahlt man Geld. Der Unternehmer zahlt für das vergossene Blut. Das ist also Blutgeld. Das Blut war an ihn verkauft, als es lebendig noch durch das schnell schlagende Herz floß. Nun da es plötzlich nicht mehr fließt, zahlt der Blutkäufer eine Entschädigung dafür, daß es in seinem Betriebe aufgehört hat zu fließen. 43

Ankin hört und hört nicht. Geld für Blut – – was ist das? Was hilft das Geld dem Todten? Macht das Geld ihren Sohn lebendig? Die Leute in der Stadt schwatzen lauter Unsinn, scheint es ihr. Was für ein Zusammenhang ist zwischen einem getödteten Menschen und einer Summe Geldes?

Und Ankin hüllt sich tiefer in ihre Tücher, senkt ihr Haupt noch tiefer. Sie möchte aufstehen und heim gehen, aber ihre Glieder sind gramgebunden, schon drei Tage sitzt sie als stummer Gast im Hause des Bohrmeisters zu Balachani. Wer hilft ihr nach Haus?

Der Bohrmeister ist inzwischen für ihr Interesse besorgt, wie ein so würdiger Beamter es versteht und wie es ihm zukommt. Als der dritte Tag gekommen ist, am Nachmittage, redet er die stumme Trauernde geradezu an: sie soll mit ihm kommen; ins Contor werden sie gehen, dort wird ihr die Versicherung ausbezahlt werden. Und in ihrer feierlichen, strengen, verhüllten Trauer erhebt sich die Mutter, um dem Bohrmeister zu gehorchen, und ohne eine Ahnung von dem, was zu erleben ihr bevorstand.

* * *

Der Sohn des Bohrmeisters, der Moskauer Student, der einige Stunden vom Hause abwesend war, und dem der stumme Gast das Herz beklemmt hat, das junge Herz, das noch nicht im Naphtha ertränkt, unter einer Schicht schmutziger Goldstücke erdrückt ist – der Sohn des Bohrmeisters kommt in die elterliche Stube, aus der lautes Schwatzen erschallt. Da läuft ihm Jemand entgegen, packt ihn am Arm und ruft:

»Da, sieh! sieh, Iwan! die Schere.« Und eine 44 silberglänzende Schere blinkt vor den Augen des Studenten in brauner Frauenhand.

»Was ist das? Was soll das heißen?« sagt der junge Mann und sieht sich nach seiner Mutter um, »ich verstehe nicht – –«

»Die Schere? meine Schere! Und hier die Nadeln, sieh! zum Nähen! Die Fäden! meine Handtücher! komm, komm, sieh – ein ganzer Tisch voll! Alles habe ich gekauft! Alles! Gleich jetzt, auf dem Wege! auf der Straße! im Laden! Alles mein! Auch der Kattun – –«

Der Student starrt sie an, starrt die aufgeregt schwatzende alte Frau an, deren schwarze Augen in kindischer Freude, in greisenhafter Habsucht funkeln. Sie tanzt vor Vergnügen.

Ist es denn möglich? Ist dies Ankin? Dies Gesicht mit seiner strengen, herben Schönheit in seiner Trauer, und nun der Plunder? die Nadeln, die Schere – die Handtücher – –

»Mutter!« murmelt er und faßt sich an die Stirn, während er entsetzt zurückweicht, »was fehlt ihr?«

Die Mutter tritt zu ihm; auch sie ist entsetzt, empört. »Denke Dir, Iwan, sie soll sieben Rubel geben für ein Grabkreuz, und sie will nicht! Ganz plötzlich ward sie so.«

»Sie ist verrückt geworden, Mutter.«

»Verrückt? die? o nein, die ist nur zu klug! Sie hat fünfhundert Rubel bekommen und noch zwanzig dazu. So wie sie das Geld sah, war sie ein anderer Mensch. Nun will sie die ganze Welt zusammenkaufen. Kein Gedanke mehr an den todten Sohn! Du hörst es ja, nicht mal sieben Rubel für ein Grabkreuz! Die schlechte Frau!«

Der junge Mann seufzt auf. Und dann plötzlich mit flammender Stirn bricht er aus: »Schlecht? sie? O Mutter, nein! Nicht sie ist schlecht. Schlecht sind wir, 45 die wir sie vergiften! Dies haben wir sie gelehrt, dies haben wir ausgedacht! Dies ist unser System! Wir nehmen ihnen die Kräfte, ihre gesunden Glieder, ihr Leben, und wir stehlen ihnen noch das Herz aus der Brust mit unseren Rubeln! Alles vernichtet! zerdrückt! vergiftet durch Eure Rubel! Verfluchte, verfluchte Stelle!«

* * *

Ueber Tigran's Grabe weht der lose Flugsand. – Ambarzum hat zwei Granatäpfel gekauft; hat sie auf die zerquetschte Brust des Todten gelegt. Schöne große sonnengeröthete Granatäpfel, aufgesprungen vor üppiger Reife, rothtriefend aus tiefem Kreuzschnitt, blutende Granatäpfel. »Es war sein letzter Wunsch, sein letzter Traum. Schlaf wohl, Kamerad!«

Längst ist Ankin in ihr Dorf zurück gegangen, längst sind die fünfhundert Rubel ausgegeben. Ankin hat Ochsen gekauft, hat Schafe, hat Schweine gekauft, sie ist eine reiche Frau in Asaij. Und ihr Glück hat andere Mütter vergiftet! »Geh', Petros, mein Sohn, geh' nach Balachani, geh', Rafael ist auch gegangen und Stepan!«

Längst hält ein anderer Bursch aus den Bergen die Gabel an Tigran's Statt, ebenso stark wie er, ebenso schwarz und beschmiert wie er, ebenso unerfahren wie er, ebenso mit Heimweh im Herzen wie er.

Und Niemand redet mehr von Tigran. Aber wenn es Abend wird, dann ertönt um die Baracken in langgezogener, schwermüthiger Weise das Lied der unerschütterlichen Zuversicht, ohne die der Mensch nicht leben kann, das Lied von der Treue, Tigran's Lied:

Meine Mutter würde Essig trinken,
Meine Mutter würde Steine essen!



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