Ilse Frapan-Akunian
Schreie
Ilse Frapan-Akunian

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Mahlzeit.

Die Mutter kochte, die drei Töchter servirten. Es war eine sehr anständige, fleißige, kleine Familie, uns die Mittagsgäste waren auch lauter anständige fleißige Leute, meist kleine Beamte, junge Kommis und Lehrer.

Man abonnirte sich für eine Woche, für zwölf Mittagessen, für einen Monat, aber man konnte auch für Mittag- und Abendessen abonniren; es war alles gut, wenn man nur überhaupt abonnirte. Die Zeiten, wo wenig Abonnenten da waren, die heißen Sommermonate, besonders die Schulferien, waren böse Zeiten für die kleine anständige Familie.

Die Tischgäste hatten nur eine unbestimmte Vorstellung davon, was sie für die kleine anständige Familie bedeuteten. Es ging alles so geschäftsmäßig, so trocken und einfach zu, wenn man sich dort abonnirte.

Fräulein Bertha nahm die Anmeldung entgegen. Sie war die Buchhalterin und Kassirerin. In dem größten Eßzimmer stand ein kleines Stehpult, und hinter dem Stehpult stand Fräulein Bertha. Sie stand lieber, denn zuweilen waren die anderen Schwestern zu beschäftigt, um rasch ein Glas Bier zu bringen, das verlangt wurde. Dann half Fräulein Bertha aus. Mit demselben unbeweglichen Geschäftsgesicht brachte sie das Glas Bier oder stellte sie die Abonnementskarte aus. 50 Die Karten waren auch ganz einfach und anständig. »Bürgerlicher Mittagstisch« stand darauf und weiter:

Mittagessen von 12–4 Uhr,
Abendessen von 6–10 Uhr.

Warme Speisen zu jeder Tageszeit.

Höflich empfiehlt sich:

Margarethe Weber, Wittwe.

Auch von dem, was die Ziffern auf dieser Karte bedeuteten, hatten die Mittagsgäste nur eine unbestimmte Vorstellung.

»Sieh so!« sagten sie gewöhnlich, angenehm überrascht, wenn sie die Karte lasen, »bei Ihnen kann man immer etwas bekommen. Das ist praktisch.«

Und Fräulein Bertha schob sich den Zwicker auf der schmalen Nase zurecht und sagte: »Nicht wahr? Das ist praktisch, das sagen auch alle.«

Damit war die Sache erledigt.

Ein paar Worte indes gab Fräulein Bertha immer noch zu.

»Schönes Wetter heute, nicht? 'n bißchen nebelig, aber die Luft ist schön,« – oder –

»Richtiges Hamburger Wetter heute, nicht? Das regnet wohl immer noch? Na – aber die Luft ist schön.«

Fräulein Bertha war eine kleine magere Person mit dünnem, graublondem Knoten mitten auf dem Kopf. Die zweite Schwester, Fräulein Martha, war groß und stark, ihr hübsches Gesicht trug stets einen erschrockenen oder verstörten Ausdruck. Sie hatte einen schwachen Kopf und vergaß beständig etwas. Es war aber schlimm, etwas zu vergessen. Die Gäste waren 51 unzufrieden, wenn die Serviette oder das Salz fehlte, oder wenn der Senf so eingetrocknet war, daß der kleine Löffel darin festsaß. Sie klingelten erbost, sobald sie es merkten, und dann bekam Fräulein Martha manchmal Unangenehmes zu hören. Nicht nur von den Gästen, sondern auch von den Ihrigen. So wenig wie von ihr verlangt wurde, konnte sie doch wohl im Gedächtniß behalten, wennschon es etwas schwach war. Sie wußte doch, was auf dem Spiel stand! Oder wußte sie es nicht? Wenn dieser Abonnent wegblieb und dann die nächste Woche wieder einer – –

»Ach Gott ja,« seufzte Fräulein Martha, »es soll nicht wieder vorkommen, Mama. Ich sehe es wohl ein, ich muß ganz anders werden. Vielleicht kann ich mit der Zeit mehr Verstand kriegen. Ich weiß auch gar nicht, wie das so zugeht.«

»Woran denkst Du eigentlich, Martha?« fragte Bertha eindringlich und kopfschüttelnd.

Und Martha erwiderte schluchzend und ihren Ledergürtel festerziehend: »Ich denk an gar nichts. Wahrhaftig! Ich will ja gern alles thun –, seid nur nicht böse mit mir.«

Aber die dritte Schwester, Fräulein Klara, war sehr brauchbar, wie die Mutter sagte. Dieses Lob machte Klara sehr froh. Sie war überhaupt fröhlicher Natur und ganz unermüdlich. Sie putzte Morgens die drei Eßzimmer und lachte und sang dabei. Sie hatte bei allen Verkäufern einen Stein im Brett und bekam die Gemüse und das Fleisch besser und billiger als selbst Bertha. Klara neigte dazu, auch mit den Gästen zu plaudern und zu lachen, aber das erlaubte die Mutter nicht. Das war gegen den Anstand. Und der Anstand 52 mußte streng aufrecht gehalten werden; der war ebenso wichtig wie eine gute Kartoffelsorte oder eine ordentliche Sauce.

Noch ein Mitglied gab es in der Familie: einen scheuen, kränklichen Knaben mit einer Brille, die dem Zwölfjährigen etwas Altbärtiges gab. Er war ein nach dem Tode des Vaters geborenes Kind, von klein auf den andern im Wege, das heißt buchstäblich genommen, weil immer die Gäste in allen Zimmern waren. Er wuchs in der Küche neben dem Herde auf. Dort spielte er mit den Kartoffelschalen und Rübenschnitzeln, leise raschelnd, wie eine Maus, bis er endlich so weit war, daß er in die Schule konnte. Die Mutter vermißte sein leises Spiel um sie herum, er hatte ihr auch schon manche kleine Handreichung geleistet. Zum Glück war nur einige Stunden täglich Schule, dann kam Alex wieder und half in der Küche. Er hatte nie recht Hunger, wie ein gesunder Junge, die Mutter mußte ihm immer zureden. Schlimm wurde es nur, als er die vielen Schulaufgaben bekam und in der Küche kein Plätzchen für sein Schreibheft fand. Er versuchte es auf dem Haublock, aber der war zu hoch, und in den Eßzimmern mochte er nicht gern sitzen. Es war auch dort selten ein beleuchteter Platz, außer an Bertha's Stehpult, und dieser Platz war für Alex zu sehr vor aller Augen. Im Schlafzimmer aber konnte man doch um solche Kleinigkeit nicht Petroleum verbrennen. So schlich denn Alex stets mit seinen Heften und seinem Tintenfaß ängstlich von einem Zimmer zum andern, und sein altbärtiges blasses Gesicht trug einen kummervollen besorgten Ausdruck.

Den ganzen Tag, von Mittags bis zehn Uhr Abends, 53 kamen und gingen die Gäste. Ihnen gehörten die drei Hauptzimmer der Parterrewohnung, die Frau Margarethe Weber inne hatte. Die Frau »wohnte« nicht, die Kinder ebensowenig. Sie hatten Alex, seit er herangewachsen war, im Badezimmer einquartirt. Sein Bett war in der Badewanne. Es ging ganz gut, und Alex hatte viel Vergnügen an seinem Nachtquartier. Er sagte Abends stets: »Na, jetzt geh' ich in die Badewanne.« Es war sein einziger Witz, aber alle lachten immer von neuem darüber. Die Mutter mit ihren drei Töchtern schlief in einem langen, schmalen, fast dunkeln Zimmer, dessen einziges Fenster auf den Lichthof hinaus ging. Da sie auch Sonntags zu kochen und zu serviren hatten, so war für ein Wohnzimmer wirklich kein Bedarf.

»Hören Sie, Sie gehen wohl nie an die Luft,« sagte zuweilen der älteste Abonnent, Herr Ackermann, der eben, weil er der älteste Abonnent war, Frau Weber hie und da zu »besuchen« pflegte. Dieser Besuch bestand darin, daß Herr Ackermann seinen Kopf, der eine große rosenrothe Glatze hatte, in die Küchenthür steckte und von dieser Stelle aus mit der Frau, die am Herde rührte oder brätelte, ein paar Worte sprach.

»Immer so fleißig, schöne Frau?« pflegte Herr Ackermann galant zu sagen, indem er seinen röthlichen Kotelettbart lang auszog, »na, na, wenn das so fortgeht, werden Sie doch noch mal Millionärin, häh! häh!«

Frau Weber wandte ihm ihr glühendes, von dem Herdfeuer glänzendes Gesicht zu. Sie streifte ihre Aermel herunter. »Ach Gott ja! es sieht ganz danach aus! Das Kalbfleisch hat wieder aufgeschlagen,« lächelte sie säuerlich. 54

Herr Ackermann fuchtelte mit dem Zeigefinger wild durch die Luft. »Aus Kalbfleisch mach' ich mir nichts! Geben Sie mir 'n gutes Stück Rostbeaf, möglichst blutig, und ich bin zufrieden. Aber Sie keuchen ja schon beinah, Frau Weber. Müssen spazieren geh'n! Immer raus! Sonnenschein! Frische Luft! Luft schnappen! Na, – ich stör' Sie wohl? Addio so lange. Heute Abend stell' ich mich wieder ein. Seien Sie nicht zu fleißig, schöne Frau!«

Es war Herrn Ackermann's Spezialität, alle Wirthinnen »schöne Frau« zu nennen. Sie kochten dann besser, fand er. Es machte ihnen Muth, ihr Bestes zu thun. Aus ähnlichem Grunde nannte er jedes Mädchen »schönes Fräulein« –, sie flögen nur so nach dem bestellten Bier –, erzählte er vergnüglich seinen Bekannten –, wenn sie diese Anrede hörten. Aber schwungvoll mußte sie herauskommen, mit einem gewissen theilnehmend- zärtlichen Blick, dann war diese Anrede besser als ein Trinkgeld. »Und billiger!« fügte Herr Ackermann schlau und siegreich lächelnd hinzu.

Nun, seit er bei der Frau Weber speiste, fiel ja das lästige Trinkgeldgeben ohnehin weg. Hier gab es keine bezahlte Aufwärterin. Hier aß man »in Familie«. »Unmöglich in der Welt, den drei Haustöchtern ein Trinkgeld anzubieten!« sagte Herr Ackermann, »gebildete Mädchen, ganz nette Schule besucht und so weiter! Darf man ja nicht daran denken! Wär' ja 'ne Beleidigung!«

Seit zwölf Jahren etwa hatte die Wittwe Weber den bürgerlichen Mittagstisch bei sich eingerichtet, gerade so lange, wie ihr Mann todt war. Sein Bild hing in ihrem Schlafzimmer über dem Bett; jedes Jahr zu seinem Geburtstag bekam Papa noch einen kleinen 55 grünen Kranz. Der Geburtstag war glücklicherweise im Mai, wo die MöschenkränzeWaldmeisterkränze. billig sind. Und so ein Möschenkranz riecht immer angenehm in der Schlafstube.

Natürlich hatte die Wittwe den Mittagstisch eingerichtet, weil sie selber mit ihren Kindern nichts zu essen hatte. Als Lehrerswittwe bekam sie nur eine ganz kleine Pension, kaum genug, um die Miethe zu bezahlen. Aber dank ihrer Entschlossenheit hatte sie es wirklich erreicht, daß sie alle essen und sich kleiden konnten. Wovon sie satt wurden, wußte niemand, ihre »anständige« Kleidung aber interessirte die ganze Nachbarschaft.

»Herrjeh, Fräulein Weber!« hieß es, »haben Sie schon 'n Sommerjackett an? Neueste Mode immer! piekfein! All von vorig Jahr, sagen Sie? Is die Möglichkeit, sieht ja aus wie eben aus 'n Laden. Je je, mein Mann sagt das auch: Sie wissen darauf zu laufen! Sie können wohl lachen, wenn andere Leute weinen! Keinen Mann und keine Sorgen, und immer schön zu essen – so möcht ich das auch haben!«

Fräulein Bertha Weber schob sich den Kneifer hinauf, verzog aber keine Miene.

»Glauben Sie, daß es heut noch regnen wird, Frau Schüttkopp? Sie meinen, der Wind is konträr? Ja, aber wenn der Wind umschlägt, denn gibt das was! Aber die Luft is schön, finden Sie nich auch, Frau Schüttkopp? Na, nu muß ich man laufen!«

Und Bertha lief. Sie dachte an nichts, als daß ihre Mutter mit feuerrothem Gesicht am glühenden Herde steht und dabei Stiche hat, gestern schon hatte sie Stiche. 56

»In der Seite, im Rücken, in der Brust, es sticht überall.«

Bertha hatte zwei Senfpflaster in ihrer Handtasche, die wollte sie Mutter auflegen.

›Will's Gott, wird es nichts Schlimmes werden‹, dachte Fräulein Bertha. ›Unsere Mutter ist ja, unberufen, so gesund und kräftig. Gegen unsere Mutter können wir uns nur alle verstecken. Aber ängstlich ist es doch.‹ – Bertha seufzt und denkt: Mutter thut zu viel! Und sie will immer alles selber thun.

»Laß mich doch heute kochen«, hat Klara gesagt. »Mal probiren, Mama! Setz Du Dich hin und pfleg Dich mal. Warum soll es nicht gehen?«

Und die Mutter hat Klara groß angesehen.

»Du allein kochen? Kiekindewelt!«

Weiter gar nichts.

Und als Klara gequält hat, ist sie sogar verdrießlich geworden.

»Da is heut Rollfleisch zu machen und Sagopudding. Du weißt woll nich, mein' gute Deern, was das heißt, für so'n Regiment Rollfleisch machen! Es geht nicht, und es geht nicht! Helfen – ja! Aber nich allein.«

Die Mutter hatte schon bedauert, so viel geklagt und die Kinder unruhig gemacht zu haben.

»Das ist nichts als versetzte Luft«, erklärte sie energisch, »das sitzt zwischen Fell und Fleisch. Klara kann mich heut Abend mal ordentlich abstreichen. Plins' nich, Martha, ich bitt' Dich, nachher vergißt Du wieder die Hälfte, und wenn das denn 'n Halloh gibt – –«

Als Bertha die Etagenthür öffnete, die zur Bequemlichkeit für alle stets nur angelehnt war tagsüber, 57 sah sie mit einem Blick, daß Klara am Herde stand, nicht die Mutter.

Martha kam mit einem Stoß Teller aus der Küche. Es war dreiviertel Zwölf, bald würden sich die ersten Mittagsesser einstellen.

Bertha biß sich auf die Lippen vor Schreck. Martha war also mit dem Decken noch nicht fertig, und der Mutter ging es nicht gut.

Bertha konnte sich keines Tages entsinnen in diesen zwölf Jahren, wo zu dieser Stunde die Mutter vom Kochen fortgegangen wäre.

»Nun hab ich den ganzen Weg gedacht: wenn es nur nichts Schlimmes wird, und nun wird es doch was Schlimmes!« seufzte sie.

Sie riß sich den Hut ab und lief in die Küche. »Wo ist Mama? Du kochst? Wo ist Mama?« Klara drehte sich langsam um, ihr Gesicht war heiß und ganz ohne den gewohnten frischen Ausdruck.

»Mama ist im Bett. Und Du kommst so spät! Alex muß zum Doktor, sobald er da ist.«

»Zum Doktor? Ich mußte warten, weißt Du. Mein Gott, Martha, bist Du mit Decken noch nicht fertig?«

Martha kam herein und klapperte mit den Messern. Als sie Bertha erblickte, starrte sie sie vorwurfsvoll aus verweinten Augen an.

»Mama is so krank. Ich mag heute gar nichts anfassen. Mama is so – –« Sie fing an zu weinen, die Thränen tropften auf die blankgeputzten Messer. Bertha nahm sie ihr aus der Hand.

»Martha!« machte sie streng, »sei nicht so übertrieben. Nimm Dich 'n bißchen zusammen. Sie kommen ja gleich!« 58

Sie wischte eilig mit bebenden Händen die Thränenflecke von den Messern und trug sie an ihren Platz. Aus der Schlafzimmerthür glaubte sie einen Ton zu hören. Es war wie ein leises Stöhnen.

Bertha öffnete die Thür und flog hinein.

»Mutter, wie geht es Dir einmal?« Dasselbe Stöhnen antwortete ihr. Sie erkannte den Kopf der Mutter in der Dämmerung auf dem weißen Kissen und sah, daß sie sich eine Hand auf den Mund drückte, während sie die andere heftig abwehrend bewegte.

»Geh rein! – keine Zeit jetzt – zwölf!« ächzte die Mutter. Ihr dunkel geröthetes Gesicht mit dem Ausdruck heftigen Leidens wandte sich gegen die Mauer.

»Mutter! o Gott, willst Du nicht das Senfpflaster auflegen?« bat die Tochter fast weinend.

Der Kopf auf dem Kissen fuhr wieder herum: »Probir das Rollfleisch! den Pudding auch. Nachher! heut Abend! Sieh nach dem Rechten! Laß Klara nicht allein! Sie verzweifelt ja – sie – ah –«

Wieder ward die Hand auf den Mund gepreßt, um die Schreie zu ersticken. Bertha lief an das Bett. »Mutter, ängstige Dich um Gotteswillen nicht! is noch kein Mensch da! Schrei ruhig raus! Alex soll zum Doktor – –«

Eine heftige Handbewegung unterbrach sie: »Keinen Doktor! Lauter versetzte Luft – heut Abend! Probir, ob das Rollfleisch ordentlich weich is – laß Martha – –«

Mit entsetzten Augen kam Bertha in die Küche zurück.

»Mutter hat Schmerzen. 'n Doktor will sie ja nich –, mein Gott, wie is das auf einmal so gekommen!« Sie nahm aus dem Schmorkessel eine Fleischroulade und schnitt ein Stückchen davon ab, um es zu essen.

»Wie ist es?« sagte Klara, »Alex geht zum Doktor! 59 Dummer Unsinn! Wenn man doch krank is? Trocken, sagst Du? Ich hab es doch genau so gemacht wie Mama! Das liegt am Fleisch. Wenn sie nicht zufrieden sind, so können sie es nachlassen. Werden wohl essen, wenn sie nichts anderes kriegen!«

Sie lachte ingrimmig, um nicht zu weinen.

Bertha probirte den Sagopudding. Er war nicht ganz wie gewöhnlich. Und die Sauce dazu noch nicht fertig.

Klara gerieth außer Fassung.

»Nicht gut? Ach, mit Deiner Angst um die Kerls! Ich möchte bei Mama sitzen und muß hier stehen und – –«

»Wenn Du auch noch weinen willst«, schluckte Bertha, »denn is wirklich alles aus! Wir müssen uns zusammen nehmen! Klara, sei doch ruhig! Mutter hört es auch noch. Einen Tag geht es ja wohl. Aber weißt Du, damit sie nichts merken, halt die Küchenthür zu, so viel wie möglich! Ich will mal sehn, wo Alex – – O Gott, Mutter stöhnt so laut; sie hören es! Sie hören es ganz gewiß! Was sollen wir anfangen!«

Die Stiefel der Mittagesser erklangen auf dem Vorplatz. Man hörte ihr heftiges Scharren auf der Cocosmatte. Bertha stob wie ein Blatt Papier zur Thür hinaus. Immer mehr Schritte kamen. Es wurde heftig geklingelt. Martha und Bertha stürmten in die Küche.

»Hast Du angerichtet? Herr Blaske kann nicht eine Minute warten, sagt er, und Fräulein Grätzke ist auch schon da. Sie will aber nur Rührei und gebratene Kartoffeln. Hast Du das?« Klara fuhr in der Küche herum. »Die Grätzke muß einfach warten! Das heißt, laß sie ja nicht weg gehen, Martha! Sag in fünf Minuten! Oh Gott, immer hör ich Mama! Is denn die 60 Schlafstubenthür offen? Macht sie doch zu! Stellt Euch nicht so an, die Grätzke kann einfach warten! Hört mal, Mama klopft, Bertha laß mal, lauf rein, – sie will was, ich kann ja nich!«

Bertha eilte in das Schlafzimmer.

»Mutter, willst Du was?«

»Alex«, keuchte es zur Antwort, »mit serviren! Nicht zum Doktor! Untersteht Euch! mit serviren.«

»Mutter, wie geht es Dir?«

»Gut! weg! geh zu! nich aufhalten. 'n bißchen Wasser! Nein – nachher! nachher! wenn der Jung da is! Oh!! Bertha! Hast das Geld gekriegt? Bezahlt? Ja? Warum hast es nicht gesagt, das is doch so – so – wichtig. Ist der Pudding gut? Wirklich? Na Gott Lob! Gott Lob!«

Schritte, Scharren auf dem Fußkratzer, dann auf der Cocosmatte, Geklingel aus allen Zimmern.

Bertha lief in die Küche, riß das Servirbrett an sich, dann in die Stuben, wo die ungeduldigen Leute warteten.

Martha half sehr schlecht heute.

»Ich mag nich, ich kann nich, ich bin so bange um Mama«, murrte sie zu Klara, die sie antrieb.

Bertha stieß sie an.

»Martha, um Gotteswillen, sei nich so schlecht! Ich kann mich zerreißen, und es is doch zu wenig! Nimm! lauf! Buthmann will Bier haben. Mehr Kartoffeln, Klara! Sie kommen heute alle auf einmal. Wie unklug! Dreimal Nachtisch, Klara! Schnell!«

Klara stampfte mit dem Fuß. »Du machst mich ganz hiddelig! Ich hab doch man zwei Hände. Sie müssen warten! Is Alex noch nicht da?« 61

»Warten! Warten! Wie Du sprichst, Klara! Sie haben schon gefragt, was hier heute los is!«

»Was hast Du gesagt?«

»Ich hab gesagt: nichts. Was soll ich sagen? Da is keine Sauce mehr, Klara, was nu?«

Klara wurde kleinlaut.

»Hier, 'n bißchen kochend Wasser dazu, ich kann nicht so – is Alex noch nicht da?«

Unbemerkt war Alex gekommen und stand nun mit offenem Munde, seine Bücher unterm Arm, den Tornister noch auf dem Rücken, in der Küchenthür.

»Wo ist denn Mama?«

»Mama ist krank! Gott sei dank, daß Du da bist! Mußt heut mit serviren, Jung! Schmeiß den Ränzel ab! Gau!«

Alex verschwand, um zur Mutter zu gehen. Er war so verdutzt, daß er nichts sagen konnte als: »Mama!«

Da lag sie, stöhnend und sich den Mund zuhaltend, mit verbundener Stirn in dem dunkeln, dumpfen Zimmer und sah ihn gar nicht. Er schlich ängstlich an ihr Bett und nahm ihre heiße Hand: »Mama!«

Sie schlug groß die Augen auf.

»Bist Du da, mein Jung? Flink, geh rein! mußt heute helfen serviren! Hat Bertha Dir das nich gesagt?«

»Ich wollte sehen –, was fehlt Dir?« stotterte der Junge und sah in das entstellte gedunsene Gesicht unter dem gestreiften Handtuch.

»Ich komm zu Haus, und mit eins bist Du nich da!«

Es lag so viel Schmerz und Angst in den Worten, daß die Kranke zusammenzuckte. Plötzlich mußte sie heftig husten.

»Was fehlt Dir, Mama?« murmelte liebkosend der 62 Knabe und strich über das Kopfkissen. »Willst Du Wasser haben?«

»'n bißchen Wasser ja! Ich weiß nich, Alex, mir is nich gut! gar nich gut. Das is alles so groß und dick! Was für 'n Kopf Du kriegst, Jung!«

Sie trank hastig zwei Gläser voll Wasser, die der Kleine ihr reichte, und lächelte dann beruhigend.

»Sieh so! Das war 'n Erquickung! Bist Du noch hier, Jung? Geh doch rein! Is der Pudding gut? Is der – geh zu!«

»Herrgott, Alex, ich komm um, und Du bist da nich und kommst da nich!« rief Bertha, als er aus dem Schlafzimmer trat. »Alles voll Leuten, und – und –«

»Mama is schrecklich krank«, sagte Alex, »ich hab ihr Wasser gegeben, sie is ganz verdurstet.« Sein trauriges Gesicht erregte Bertha.

»Gott, Alex, wenn Du so rein kommst! Sie haben all gefragt, was los ist. Ich bitt Dich, Jung, das wird ja wieder besser – –«

Aber wenn sie mit den Speisen oder dem abgegessenen Geschirr an dem Schlafzimmer vorüber liefen, hörten sie immer Stöhnen, Husten und unterdrückte Schreie.

Es wurde nicht besser.

Und den ganzen Tag kamen und gingen die Mittagsgäste und nach ihnen die Abendesser.

Einen Augenblick entwischte Bertha zu der Kranken.

»Soll nich Alex zum Doktor, Mama? Jetzt kann er abkommen.«

»So? Wie geht es denn? Geht woll alles kuddelmuddel?«

»Ach nein, es geht ganz gut. Soll er hin? Bitte, Mutter!« 63

Die Mutter bedachte sich.

»Na ja, meinetwegen! Aber wenn der Doktor man nich so'n Aufsehen macht. So'n Doktors – das merken sie ja! Und denn –, wenn sie merken, daß ich krank bin – – ach nee, ach nee! Das wird ja woll so vorüber gehen!«

»Laß sie es doch merken!« sagte Klara trotzig, als Bertha ihr berichtete, »ist das denn 'ne Schande? 'n Mensch kann ja wohl mal krank sein! So dumm!«

Aber Bertha war vollkommen ihrer Mutter Ansicht, daß eine Kostgeberin, eine von Hunderten in der Nachbarschaft, nicht krank sein dürfe, ohne ihre Kundschaft zu verlieren.

»So krank, daß sie immerfort stöhnen muß! Und Fieber, glaub ich, Klara! Manchmal is sie gar nich ganz bei sich! O Gott! O Gott!«

Der schreckliche Tag geht ja wohl nie vorbei! dachten die armen Kinder, dachte die arme Mutter.

Aber endlich wurde es doch später Abend.

»Jetzt geh ich zum Doktor, Mutter,« sagte Bertha bestimmt.

Die Mutter antwortete nicht. Sie lag mit groß-offenen glänzenden Augen da und murmelte wirres Zeug. Alex saß neben ihr und streichelte ihr Kopfkissen. Manchmal mußte er sich die Brille abnehmen und sie putzen, dann war er ganz einem alten traurigen Männchen ähnlich.

Der Doktor kam sehr spät, sehr gereizt, daß er so spät gestört worden, und bereit, die Störung unnöthig zu finden. Aber nachdem er mit der Kranken alle jene Prozeduren vorgenommen, welche die Medizin vorschreibt, um die Krankheit zu ermitteln, winkte er Bertha mit 64 hinaus und sagte, es werde wohl Lungenentzündung sein, sie sollten für Eis sorgen und die Nacht wachen.

Die Kinder waren wie gelähmt vor Schreck.

»Siehst Du! siehst Du!« flüsterten sie sich zu, »ich habe es wohl gesagt. O Gott! O Gott!«

Und dann –, als ob sie sich's verabredet hätten, während doch kein Wort darüber gesprochen wurde –, begannen sie nach der Mühe und Unruhe des Tages in der nun stillen Wohnung alles für den künftigen Tag vorzubereiten, Eis zu besorgen, zu zerschlagen und in den Beutel zu füllen, Kohlen herauf zu schleppen, Geschirr zu waschen, Kartoffeln und Gemüse zu putzen. Lautlos, ohne Schuhe, liefen sie umher, dachten an keinen Schlaf, an kein Ausruhen, nur daß zuweilen eine oder die andere auf dem Stuhl einschlief, um bald mit Herzklopfen und Gewissensbissen wieder aufzuwachen.

Am Bett der Kranken saß Alex, erneuerte von Zeit zu Zeit die Eisumschläge und lernte dabei im schwachen Lichtschein der Nachtlampe seine Geschichtszahlen und Gesangbuchverse oder versuchte es wenigstens.

Es war ihnen, als sei dieses angestrengte Arbeiten das einzige, was sie für ihre liebe Mutter thun könnten, die auf einmal als Schwerkranke zwischen ihnen lag, im Fieber, im Irrereden, in zerreißenden Schmerzen. Jeden Augenblick guckte eine der Schwestern durch die offene Thür in die Krankenstube, aber es war immer gleich: Husten, Stöhnen, abgerissene Worte.

»Kartoffelsalat und gebratene Schollen hat Mama eben gesagt,« berichtete Klara mit ängstlichem Gesicht, »sie denkt gewiß an morgen. Und nu haben wir ja etwas anderes! Wenn Mama nu morgen aufsteht –«

Plötzlich begegneten ihre Augen denen Bertha's. 65

Sie hielt inne, Bertha schüttelte leise den Kopf, beide Schwestern brachen in Thränen aus.

Martha kam mit dem Messerkorb.

»Heute sind sie extra blank, daß Mama, wenn sie morgen aufsteht –«

Bertha und Klara sagten nichts, sie sahen sich wieder an und versuchten umsonst, ihre Thränen zurückzuhalten. Martha stellte den Korb hastig auf den Boden und fiel weinend Klara um den Hals.

»Gott kann helfen,« sagte Bertha feierlich.

»Der liebe Gott?« fragte Martha, »glaubst Du?«

»Ach, Martha, er is ja so gut!«

Klara schüttelte den Kopf.

»Warum hat er denn Mama krank werden lassen?« sagte sie erbittert.

»Der Doktor sagt: Lungenentzündung ist eine Ansteckungskrankheit,« fiel Bertha ein, ganz blaß über Klara's Bemerkung.

»Schrecklich,« weinte Martha. »Wenn Mama morgen nicht aufsteht –«

Ach nein, sie stand nicht auf.

Der Doktor kam um zehn Uhr Morgens, fand keine Besserung, sagte sogar, er wolle Abends noch mal wieder nachsehen. Ganz von selbst sagte er das, ohne Aufforderung.

»Ist es gefährlich?« fragte Bertha, die den Doktor vor die Etagenthür hinaus begleitete.

Der Arzt betrachtete das trockene kleine Geschäftsgesicht mit dem schmalen, gerötheten Näschen.

Sie ist eine vernünftige und kaltblütige Person, dachte er.

»Gefährlich?« wiederholte er, sich niederbeugend, 66 »nun, ich kann Ihnen nicht verhehlen – es ist eine gewisse Gefahr da! Die Entzündung ist fortgeschritten und –«

Bertha drückte ihre Hände zusammen.

»Aber Gott kann helfen?« murmelte sie, wie ein bittendes Kind zu dem Arzt aufsehend.

»Er kann! gewiß. Man darf nie verzweifeln,« erwiderte der Doktor, betroffen über die Veränderung im Ton und im Ausdruck ihres Gesichts; und hastig entfernte er sich.

Bertha ging nicht gleich in die Wohnung zurück. Frierend und sich kaum auf den Füßen haltend, lehnte sie an der Wand, die von dem beständigen Kochdunst wie ein Lastträger schwitzte.

»Unerforschliche Wege,« flüsterte sie fast besinnungslos, »der kleine Alex, o Gott!«

Auf den Hausthürstufen erklangen Schritte, ein Klappern von Blechgeräth, und plötzlich tönte ein durchdringender Pfiff.

»Petroleummann! und die Kannen sind nicht ausgeleert.« Bertha lief eilig hinein, sie hatte ein schweres Gewissen wegen der versäumten Minuten!

»Und zu morgen hab ich noch einzukaufen! Meine Güte, ich denk auch an gar nichts. Gebratene Schollen und Kartoffelsalat! Wenn es nur Schollen gibt.«

Sie stürzte in die Küche, wo Klara am Herd stand und die Suppe abschäumte, der ganze Vorplatz roch nach Sellerie und Porree.

»Hast Du daran gedacht, daß heute zwei Abonnenten schon um dreiviertel zwölf was haben müssen? Hab ich es Dir nich gesagt? Die Fischfrau is nich gekommen! Hat Mama etwas gesagt? Martha ist drinnen, nicht? Ich 67 hätte Alex man zu Haus behalten sollen, denk ich eben! Hätt' ihm 'ne Entschuldigung geschrieben.«

Klara wehrte ab, ganz verächtlich.

»Ach die! wird ja nich angenommen. Wo drei Schwestern im Hause sind! Was verstehen die davon! Solche Lehrer!«

Bertha kam mit Hut und Jackett wieder.

»Gedeckt is! ich lauf flink zu! bloß, weil Mutter doch morgen gewiß auch noch nicht – –«

Aus dem Schlafzimmer kam ein Schrei, so grell, daß beide Schwestern zu der Mutter liefen. Die Kranke saß im Bette aufrecht, deutete mit ausgestrecktem Finger auf Martha und schrie heiser:

»Jag sie weg! Jag sie weg!«

»Wen? Mama, es ist ja Martha! unsere Martha, Mama! Sieh!« sagte Klara, ihre Hand festhaltend, während sie selbst vor Schrecken bebte. Martha aber war zur Thür gelaufen, sie fürchtete sich, wieder hinein zu gehen.

Bertha nahm Hut und Mantel ab.

»Ja, denn will ich bei Mama bleiben! Martha, hör', Du mußt unsere Fischfrau suchen, und halt Dich nicht auf.«

Sie beschrieb ihr, was sie zu thun hätte.

Die Mutter hatte sich niedergelegt und murmelte unaufhörlich. Dann faßte sie Bertha ins Auge und begann von neuem zu rufen: »Raus! raus! gib ihr 'n Fußtritt! schmeiß sie aus der Thür! Hülfe!«

»Mama, Mutter, ich bin Bertha! bitte, kennst Du mich nicht? und hier ist Klara! sei doch ruhig! mußt ruhig liegen!« bat sie entsetzt.

»Bertha?« sagte die Fiebernde. »Is die 68 Schüttkopp noch immer da? Meine Kundschaft kriegt sie nicht! Ich muß auch leben! Vier Kinder! Gib ihr 'n Fußtritt! Da! Hülfe!«

»Besinn Dich doch, Mutter! Hier ist niemand als wir!« jammerten die Töchter.

Plötzlich wurde draußen dreimal schnell hintereinander geläutet.

»Die Eierfrau!« sagte die Kranke aufhorchend, in ruhigem, ganz verändertem Ton, »wo is der Korb – heut brauch ich viel! Und so theuer jetzt die alten Dinger! ach Gott, wo soll das alles herkommen!«

Sie begann zu wimmern und Thränen zu vergießen, bis sie ganz erschöpft war.

»Wie soll das werden?« flüsterten händeringend die Schwestern, »bald kommen die Leute und Mama so!«

»Gott ist so gut!« machte Bertha, sich selbst ermuthigend. »Gott wird geben, daß Mutter ruhig ist, wenn die Leute da sind.«

»Was sitz ich hier so lange?« rief Klara aufspringend, »kochen! kochen! kochen! Wir müssen die Thür zumachen, Bertha!«

»Natürlich! Aber man hört es durch die Thür. Unerforschliche Wege! Gottlob, Martha kommt wieder. Sie bringt die Schollen! Gottlob! Macht sich unsere Martha nicht mal nett? Mutter wird sich freuen, wenn wir es ihr nachher erzählen. Mutter, sag ich, denk Dir, was Martha gethan hat! Ist hingegangen und hat alles eingekauft, wie Du so krank warst! Sie wird sich freuen.«

Und die Mittagszeit kommt, und das Hin- und Hertragen der Speisen beginnt, und auf dem Vorplatz und in den Stuben scharren die Mittagesser.

Das Schlafzimmer ist geschlossen, Martha ist beim 69 Serviren durch Bertha ersetzt heute, damit sie bei Mama bleiben kann. Bis Alex nach Hause kommt, wenigstens.

Mama scheint zu schlafen; mit einem sonderbar lauten, rauhen Athem schläft sie. Aber es ist doch nicht so hörbar, wie die Schreie gestern, beruhigen sich die Schwestern.

Es geht gehetzt zu beim Mittagauftragen, aber es geht.

»Ist Fräulein Martha krank?« fragt einer der Gäste.

»Oh nein,« erwiderte Bertha ausweichend, »Martha hat was zu thun,« sie geht schnell von dem Frager fort; hat er nicht doch etwas gemerkt?

Die Angst, die Verlassenheit, die quälende Sorge?

Bertha weiß – sie wüßte nicht anzugeben, woher sie es weiß, aber sie weiß es ganz genau – daß der Mittagesser diese Tafelgäste, die sich Angst, quälende Sorge, Krankheit nennen, scheut, daß er vor ihnen erschrickt und zurück weicht, und daß sie ihm den Appetit verderben, und daß ihm sein Appetit theuer ist, und daß er sich den Appetit nicht verderben lassen will. Und daß es andere Kosthäuser gibt, wo man ebenso billig speist, und wo niemand krank oder traurig ist, und wo der Mittagesser jeder Zeit ankommen kann – all das weiß Bertha. Und die kranke Mutter wußte es gestern; was sie heute weiß, kann wohl niemand sagen, denn ihre Worte sind verwirrt. Aber gestern hat sie es gewußt und sich darum geängstigt und sich die Hand auf den Mund gedrückt. Und Martha weiß es, und Klara weiß es – aber Klara ist manchmal sonderbar und empört sich dagegen – und sogar Alex weiß es schon ganz genau. Sie brauchen gar nicht mit einander zu sprechen, sie 70 fühlen deutlich, daß außer der Krankheit noch eine andere Gefahr über ihnen hängt.

Wir müssen doch mal vor allem Mutter's Kundschaft warm halten, denkt Bertha.

Wenn es den Kerlen nicht schmeckt, laufen sie wo anders hin, denkt Klara, darum aufpassen!

Und sehr erschrocken ist sie, als gerade heute Herr Ackermann seinen Kopf mit der rosenrothen Glatze in die Küchenthür zwängt.

»Mahlzeit, schöne Frau – ach nee, Frau Weber ist ja nicht da! Na, wo ist denn die Frau Mutter? Das ist ja wohl noch nie vorgekommen, daß Ihre Frau Mutter nicht auf dem Posten ist!«

Klara rasselt mit den Pfannen.

Muß ich ihm antworten? Muß ich sagen, daß Mama –

Sie läßt einen Holzlöffel fallen und bückt sich.

»Na?« sagt neugierig Herr Ackermann, »na, mein schönes Fräulein, na?«

Er geht womöglich gleich hin und erzählt es allen, denkt Klara, er fragt womöglich noch, was fehlt Ihrer Mutter? Nein, Mama thäte es auch nicht!

»Ja, was is da denn?« fragt Herr Ackermann und dringt bis in die Mitte der Küche vor.

Er ist unser ältester Abonnent, denkt Klara, Mama spricht oft mit ihm. Vielleicht nimmt er es übel.

Sie wendet sich um, thut, als erkennte sie ihn erst jetzt.

»Tag, Herr Ackermann. Mama ist nicht ganz munter,« sagt sie trocken.

Und Herr Ackermann beweist, daß er wirklich der älteste Abonnent ist. Er schnalzt theilnehmend mit der Zunge und sagt: 71

»Ach, das thut mir nu aber wirklich leid. Aber schlimm is das nich, nich?«

»Nein, schlimm is das nich.«

Herr Ackermann läßt vielmal grüßen, vielmal gute Besserung wünschen.

»Na, soll ich denn morgen kommen? Oder soll ich lieber wo anders hin gehen, Fräulein Klara? Kommen, sagen Sie? Ja, das is aber doch zuviel, da können Sie allein ja nicht gegen an. Wo ist denn Ihre Schwester Martha?«

Klara hatte Herrn Ackermann niemals gern gehabt, in diesem Augenblick haßte sie ihn.

Sie zuckt die Achseln; schnippisch sagt sie:

»Weiß nich, Martha is woll eben,« – aber im selben Augenblick denkt sie; nein, es ist unser ältester Abonnent, man muß ihn warm halten.

Sie wendet sich ihm zu.

»Haben Sie auch alles gehabt, Herr Ackermann? Hat Ihnen geschmeckt? Ich hab die Bratwurst für Sie extra 'n bißchen knusprig gemacht. Sie nennen das ja woll so, wir sagen hier immer ›kroß‹, hier in Hamburg.«

»Ganz in Ordnung!« sagt Herr Ackermann und salutirt militärisch, indem er die Finger an einen unsichtbaren Helm legt. »Mahlzeit, schönes Fräulein! Na, das mit Ihrer Frau Mutter wollen wir wohl kriegen, nicht? Ja ja! Raus sag' ich immer. Frische Luft! Sonnenschein! das ist das halbe Leben! Na, gute Besserung!«

Mahlzeit! schallt es draußen. Herr Ackermann hat eine laute fröhliche Stimme. Mahlzeit! antworteten andere. Mahlzeit beim Kommen, Mahlzeit beim Gehen, Mahlzeit Mittags, Mahlzeit Abends. 72

Ja, es wird wirklich wieder Abend. Schnell wird es dunkel. Es regnet in Strömen; der Vorplatz schwimmt von all den nassen Stiefeln, das Schirmgestell ist schon übergeflossen. Drei Mal schon hat Bertha aufgewischt.

Die Esserei ist zu Ende. –

Im Krankenzimmer ist es still. Bertha sieht, daß auch der kleine Alex neben Mama's Bett eingeschlafen ist. Armer Junge, die runden Brillengläser sind ihm bis auf die Nase gerutscht, und er liegt mit offenem Munde.

»Leg Dich auch hin, Klara«, sagt Bertha, »Du fühlst Deine Füße wohl nich mehr. Martha schläft in der Eßstube mit dem Kopf auf'm Tisch. Mama ist ganz ruhig jetzt. Ich bleib auf, bis der Doktor kommt, leg Dich hin – –«

Da kommt der Doktor.

»Na«, sagt er, »geht es besser?«

Alex wacht nicht auf, wie er ans Bett tritt.

»Bringen Sie die Lampe!« ruft der Arzt, lauter als nothwendig, denn Bertha steht hinter ihm. Und dann, mit ärgerlicher veränderter Stimme: »Wie können Sie denn sagen, daß es besser geht? Die Patientin ist todt – –«

Ganz leise, damit die Gäste nicht gestört würden, hatte die Kranke sich hinaus gemacht. Hinaus!

Wohin?

Aus der Welt! – –

Sie lagen auf dem Boden vor dem Bett, alle vier, und wollten es nicht glauben! Dann sagten sie, sie hätten es gleich geahnt und vom ersten Augenblick an gefühlt, und dann sagten sie nichts mehr, sondern weinten! weinten! weinten! – –

Aber sie weinten nicht lange.

Bertha stand plötzlich auf, nahm Alex in die Arme, 73 so daß sein nasses schluchzendes Gesicht sich gegen ihre Brust drückte, und sagte mit kläglicher Stimme:

»Wir müssen uns ermannen.«

Die zwei anderen antworteten nicht, aber Klara erhob den Kopf.

»Wenn es einer von uns –«, fuhr Bertha zitternd fort, – »wenn es so gewesen wäre, was hätte unsere Mutter gethan?«

Sie faßte Klara an der Schulter.

»Komm, wir müssen überlegen – was – nu –«

Martha schüttelte sich.

»Alles einerlei! Mama!« weinte sie.

Aber Klara richtete sich auch auf. Sie starrte Bertha mit trüben entzündeten Augen an.

»Was soll ich? Laß mich noch 'n Augenblick – –«

»Mutter's Sinn und Geist –« stotterte Bertha – »alles jetzt allein – so viel zu thun – die Anzeige – wir müssen doch denken – o Gott! o Gott, Mutter!«

Aber sowie Bertha zusammenbrach, hielt Klara sie fest.

»Was soll ich denn? Sag mal!«

»O Gott, nicht mal weinen kann man!« stöhnte Bertha, »wir müssen doch überlegen, was nun! Wollen wir das Geschäft in Mutter's Sinn und Geist – – wir haben doch die heilige Pflicht –«

»Ich kann nich! ich will nich!« weinte Martha, »mir is alles egal! thut Ihr, was Ihr wollt!«

Bertha und Klara gingen in die Eßstube, zündeten die Lampe an und stellten sich an Bertha's Pult.

Und Bertha schrieb mit thränenüberströmten Augen einen kalligraphischen Zettel, groß und weiß: 74

»Wegen plötzlich eingetretenen Todesfalles bleibt das Lokal heute geschlossen.

Das Geschäft wird fortgesetzt.

Um ferneren gütigen Zuspruch bitten und empfehlen sich bestens

Frau Weber Wittwe Nachfolger.

Morgen, den 12. April ist wieder geöffnet.

Es wird unser eifrigstes Bestreben sein, durch gute Speisen und Getränke wie bisher unsere werthe Kundschaft zufrieden zu stellen.«

»So is es gut. So ist es ganz in Mutters Sinn und Geist,« sagte Bertha feierlich.

Es mußte Kleister gekocht werden, um den Zettel an der Etagenthür anzukleben.

»Kannst Du denn die Küche übernehmen, Klara? Soll das woll gehen? Mutter hat es noch schwerer gehabt, da waren wir alle noch Kind. O Gott! wie is das so plötzlich gekommen!«

Sie verfaßten die Anzeige für die Zeitung und fügten die Hälfte von dem hinzu, was sie auf den Zettel an der Hausthür geschrieben hatten. Nicht das Ganze, es hätte zuviel gekostet. Nur: »das Geschäft wird fortgesetzt u. s. w.«

»Drei schwarze Blusen kaufen, so wie so –, gottlob, daß wir die schwarzen Röcke haben! Aber Alex – das geht, wenn der 'n kleinen Flor um 'n Arm kriegt – findest Du nich, Bertha?«

»Ja und um'n Hut. Aber Trauerhüte für uns drei – was wird das alles kosten! Und das Begräbniß –«

Dann suchten sie im Adreßbuch nach dem nächsten Sargmagazin.

»Immer wollte Mutter in 'n Sterbeverein –, das wär' billig gewesen –, nu muß man sehn –« 75

Sie umfaßten sich um zu weinen und überlegten dann wieder.

»Wenn wir die Beerdigung morgen abend spät machen könnten –, daß sie so wenig wie möglich davon merkten!

– Die Schüttkopp is imstande und fängt uns morgen die Kunden weg! – Herr Ackermann hat all heute gefragt! – Diese Schüttkopp! die hat Mama noch in ihren letzten Stunden geängstigt! –«

»Ich will das mal zusammenzählen, ungefähr 'n Ueberschlag, Klara – –«

Sie begann zu rechnen.

Zwischen ihnen die todte Mutter, hinter ihnen die bittere Noth, vor ihnen das grausame Leben! –

– »Es wird schon Morgen, Martha, komm, weine nich mehr,« flüsterte Klara der Schwester zu. »Wein' nich! – Wir haben keine Zeit –«

Martha sah sie mit ihrem hübschen kindischen Gesichte ängstlich an.

»Einen Tag, Klara!« bat sie, die Hände aufhebend. »Ist es nicht wenig für eine Mama?«



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