Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Ein langgestreckter Bau; auf einem hohen, alten Erdgeschoß mit gotischen Spitzbogenfenstern ein niedriges, in einer nüchterneren und ärmeren Zeit aufgesetztes Stockwerk; nur das Portal – unter dem geschmückten Giebel ein in schönen Verhältnissen nach innen abgestuftes Spitzgewölbe – zeugt von Künstlerhand, aber das altersgraue Haus macht doch Eindruck auf den Beschauer. Freilich »verwahrlost gönnte man fast sachen«, aber das Haus hat manchen Sturm erlebt, von dem großen Auflauf von 1510, da sich die Studenten hier gegen Bürger und Söldner verschanzten, bis zu dem kleinen Unfug, den heute die Realschüler beim Kommen und Gehen an dem bröckelnden Gestein verüben. Ein anderer Inwohner des Hauses zieht um so weniger Besucher herbei: das Thüringerwald-Museum, obwohl es ganz hübsche Kuriosa und Volkstrachten enthält. Das ist das Schicksal der Erfurter Sehenswürdigkeiten, nicht besehen zu werden, und darum ist es einigen nicht zu verübeln, daß sie streiken und sich überhaupt nicht besehen lassen. So zum Beispiel war die, wie es in den Reisebüchern heißt, gut erhaltene Aula zur Zeit nicht zugänglich. »Da müssen Sie in einigen Wochen wiederkommen«, sagte mir ein sehr würdevoller Herr, der eben aus dem Portal trat. Ich bemerkte bescheiden, ich sei ein Fremder. »Das ist nicht logisch«, war die Antwort. »Deshalb könnten Sie doch in einigen Wochen wiederkommen.« Ich blickte bestürzt an mir hinunter, ob mich der liebe Gott nicht etwa plötzlich in einen Realschüler verwandelt hätte, und erwiderte dann mit der Bescheidenheit, die man Männern der Wissenschaft schuldet: ich würde gern wiederkommen, wenn nur die Aula genügend sehenswert sei. Worauf der Gelehrte mit vernichtendem Lächeln: »Was denken Sie sich denn unter einer Aula? Das ist kein Frauenzimmer: Aula heißt, wie schon bei den Griechen so bei uns, der Festsaal einer Universität.« Worauf ich: ich sei bisher der Meinung gewesen, die Griechen hätten noch gar keine Universitäten gehabt, ebenso der Meinung, das Wort sei lateinisch und habe bei den Römern den Hofraum des Hauses bedeutet. Er zuckte zusammen: »Sind Sie Philologe?« – »Nein, Schriftsteller.« Da erschien flugs wieder jenes Lächeln um seine Lippen: »Das ist alles falsch! Übrigens kümmert sich kein Gebildeter heute um verstaubten Kram!« Und er schritt erhobenen Haupts, ohne Gruß, von dannen. Ich sah ihm nicht nach; ich trat an die Mauer der Michaelskirche, der Universität gegenüber, prägte mir die Umrisse des ehrwürdigen Baues ein und gedachte der Männer, die einst täglich durch dies Portal geschritten.

Eine lange, lange Reihe. Alle in langem, dunklem Talar, die einen mit herabwallendem Haar, die anderen in der Allongeperücke, dazwischen Mönche und Männer im lutherischen Priestergewand, die einen das sichere Lächeln des Alleswissers um die Lippen, die anderen mit dem milden Blick und den feinen Runen um den Mund, die die schmerzvolle Erkenntnis des »Ignorabimus« dem Antlitz des Forschers eingräbt. Weise und Toren, Gelehrte und Silbenstecher, kleine Lichtlein der Wissenschaft, die ausgeglommen waren, als sie noch lebten, und andere, die fortleuchten bis in unsere Tage hinein. Da wandeln Eobanus Hessus, der trinkfeste »König der Dichter«, und Konrad Celtes, der dann auch leibhaftig als Dichter gekrönt ward; da Crotus Rubianus, der große Begründer klassischer Studien an dieser Hochschule; da Luderus und Rufus, die welschen Dichter-Gelehrten, die hier eine Heimstätte gefunden; Justus Jonas und Joachim Camerarius; da Adam Riese, der 1525 hier sein berühmtes Rechenbuch herausgab, da, wie es sich für die Stadt der Blumen geziemt, zwei berühmte Vertreter der »scientia amabilis«, der Botanik, Valerius Cordus und Johannes Thal. Das sind Persönlichkeiten, die wert sind, daß man ihren Namen nenne. Andere wieder in diesem langen Zug haben nur als Schar Bedeutung; so die Erfurter Theologen, die einst neben ihren Kollegen zu Paris und Löwen gegen den edlen Reuchlin für die Kölner Dominikaner entschieden. Sie kniffen die Augen vor der aufleuchtenden Flamme des Humanismus zu, die anderen aber begrüßten sie freudig und halfen ihr Licht mehren; Erfurt war die beste und stärkste Stütze des Humanismus in Deutschland. Von hier aus ward der »verstaubte Kram« ein Erwecker der Bildung und der geistigen Freiheit, des Sinns für Schönheit und für Menschlichkeit. Welche Bedeutung Homer und Horaz für unsere Zeit haben, darüber mag man verschiedener Meinung sein; ich meinerseits, meiner Zeit ein treuer Sohn, aber nicht ihr Knecht, glaube mit Jean Paul, daß die Menschheit unergründlich tief versänke, wenn unsere Jugend nicht mehr durch die Tempel der Alten den Weg auf den Markt des Lebens nähme; aber auch wer anders denkt, beuge doch sein Haupt vor dieser altersgrauen Burg des Humanismus auf deutschem Boden. Denn all unsere Kultur und alle Größe deutschen Namens in Wissenschaft und Dichtung erhebt sich auf dieser Grundlage. Berühmt waren die Lehrer, die einst durch dies Portal schritten, aber einen Ruf, wie sich zwei ihrer Schüler errungen, hat keiner von ihnen. Denn so unendlich verschieden diese beiden waren, gemeinsam ist ihnen, daß ihre Namen auf Erden nie ersterben werden: Martin Luther und Johannes Faust.

Man weiß, Erfurt darf sich mit Recht eine Lutherstadt nennen wie Eisleben, Wittenberg oder Worms. Er hat nur sieben Jahre seines Lebens hier verbracht (1501–1508), aber es waren die, wo er sich zu der »tapferen, frommen, ehrlichen Innerlichkeit« durchrang, ohne die er vermutlich nur ein begabter Richter oder Advokat geworden wäre wie viele andere. Hier studierte er die Rechte und ward Magister der Jurisprudenz, hier erschloß sich ihm durch Crotus Rubianus und Johannes Lang die Welt der Alten, hier traf ihn durch ein Gewitter jener »Schrecken vom Himmel«, der ihn als Mönch zu den Augustinern trieb; in einer Erfurter Zelle durchlebte er jene Qualen des Zweifelns und Verzweifelns, aus denen ihn das Studium der Schrift emporhob. Dann ist er noch zweimal hier gewesen, 1521 auf der Reise nach Worms, dann das Jahr darauf, wo er in der Kaufmannskirche predigte.

Neben diese Kirche, unter den Schatten ihrer alten Bäume, haben die Erfurter darum auch ihr Lutherdenkmal gesetzt. Es ist ein tüchtiges Werk von Fritz Schaper, 1889 errichtet; auf einem hohen Granitsockel steht ernst und ruhig die hochaufgerichtete Gestalt; die beiden Hände halten die aufgeschlagene, an die Brust gedrückte Bibel: »Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkündigen«; es hätte der Inschrift auf dem Sockel kaum bedurft, die Gestalt spricht es aus. Rietschels Lutherstandbild in Worms ist ja zweifellos ungleich gewaltiger; es hat in der leidenschaftlichen Bewegung, im kämpfenden Antlitz, in der geballten Faust, die auf der geschlossenen Bibel liegt, etwas Hinreißendes; aber auch Schapers Arbeit ist ein gutes Werk. Die vier Reliefs wirken gleichfalls erfreulich; der Magister der Rechte vergnügt sich zum letzten Mal mit den Freunden bei Sang und Saitenspiel; sein Eintritt ins Kloster, von dem die Freunde abmahnen; seine Tröstung durch den ehrwürdigen Staupitz; sein Empfang in Erfurt auf der Reise nach Worms. Besonders zu rühmen scheint mir das zweite Relief; ich zähle es den besten bei, die ich von modernen Meistern gesehen habe. Das gute Werk ist den Erfurtern zu gönnen; gar so viel Freude können sie, glaube ich, an ihren anderen Denkmälern nicht haben, auch nicht am Kaiser-Wilhelm-Denkmal, obwohl der Erfurter Herr, der mir sagte: »Alles ist gut, aber was gar das Pferd betrifft, so ist so was sonst selten zu sehen«, wenigstens teilweise recht hatte. So ein Pferd ist wirklich in der Natur nie und auch auf Denkmälern nicht oft zu sehen, aber Gestalt und Sockel sind nicht gut. Ich gebe zu, ein Denkmal dieses Fürsten ist eine schwere Aufgabe; es ist kein Zufall, daß fast alle Lutherdenkmäler gut, fast alle Kaiser-Wilhelm-Denkmäler mißlungen sind. Der Grund leuchtet ein: es ist ein natürlicher Gegensatz zwischen der ungemeinen Schlichtheit der Erscheinung und der Größe der Aufgabe, die das Schicksal den greisen Fürsten hat lösen lassen. Nur ein Genie könnte beides vereint zum Ausdruck bringen; die Talente, die sich bisher daran versucht haben, vermögen es nicht; entweder sie geben eine stilisierte oder gar posierende Imperatorengestalt, und das ist dann nicht der greise Fürst, wie er im deutschen Volksgemüt lebt, oder einen freundlichen alten General, und das ist nicht der Einiger Deutschlands. Nicht daß der Schöpfer des Erfurter Denkmals den Kaiser in »anspruchsloser Interimsuniform« dargestellt hat, stört den Beschauer, wohl aber die ungemeine Nüchternheit der Auffassung. Auch daß der romanische Sockel aus rotem Granit so hoch und schmal ausgefallen ist, stört ernstlich; freilich tröstet es andererseits, daß man bei dem vierbeinigen Wesen, auf dem der Kaiser sitzt, nicht eben an ein wirkliches Pferd denkt, das ausschreiten könnte. Das Antlitz des Kaisers ist dem, das mir in der Erinnerung lebt, ähnlicher, als ich es auf anderen Denkmälern gesehen habe, aber das gilt nur von dem Schnitt der Züge, nicht von ihrem Ausdruck. Hier sehe ich nur eben einen freundlichen, alten General, aber in Kaiser Wilhelms Zügen war neben der Freundlichkeit das Bewußtsein, ein zu Größtem erlesenes Werkzeug der Vorsehung zu sein, und der stille Stolz großer und treu erfüllter Pflichten. Von den anderen Denkmälern der Stadt ist nicht viel zu sagen. In den Anlagen am Flutgraben nahe der Pförtchenbrücke steht das Sandsteindenkmal des braven Ratmeisters Christian Reichardt, im Kostüm der Zopfzeit, eine freundliche, mittelmäßige Arbeit. »Der hat schiene Baime und gude Flumen (Pflaumen) gepflanzt«, erwiderte mir ein ganz kleiner Erfurter auf die Frage, wer der Mann wäre; die Pflaumen abgerechnet, die sein Lieblingsobst sein mochten, wußte also der Junge Bescheid, denn Reichardt hat sich um den Gartenbau der Stadt große Verdienste erworben. Hingegen wußte mir von den Knaben, die sich am Hermannsbrunnen mit vieler Ausdauer bespritzten, nur einer zu sagen, wem der Brunnen gelte: »Das war ein General gegen die Römer«, und der sagte es falsch; der gotische Brunnen ist nicht Hermann dem Cherusker, sondern nur einem Stadtrat Hermann gewidmet, könnte aber deshalb doch hübscher sein. Erfreulicher ist das Kriegerdenkmal im Hirschgarten, eine hohe, von einem vergoldeten Adler gekrönte Steinsäule, nur ist das Beiwerk an Emblemen und Reliefs etwas zu reich und zu zierlich ausgefallen. Ringsum aber schlägt nicht Mars, sondern Amor seine Schlachten; ich habe selten auf einem bewohnten Flecken Erde so viele verliebte Pärchen gesehen wie in diesen Anlagen zur Dämmerstunde; das ist ja kein Hirschgarten mehr, sondern schon fast ein Hirschpark. Das relativ beste unter den kleinen Erfurter Werken ist Hoffmeisters Brunnen am Anger. Freilich eine Allegorie; die Dame ist, nach dem Blümchen in ihrer Hand zu schließen, eine Flora, hingegen habe ich nicht herausgebracht, wer der bärtige Herr ist; im Reisebuch steht, es sei der Herr Gewerbefleiß; das kann ich glauben oder nicht. Aber die Figuren sind hübsch modelliert, und das getriebene Kupfer hat im Sonnenschein einen warmen Ton.

Doch zurück zu Luther. Auch vom Kloster, in dem er drei Jahre verweilte, sind in der Augustinerstraße noch Reste zu sehen, freilich so verwandelt und modernisiert, daß man zu keinem rechten Eindruck kommt. Die Kirche, seit 1521 evangelisch, hat 1850 das Unionsparlament beherbergt; wer heute das helle, geräumige Schiff betritt, denkt an Radowitz, der hier den glänzenden Scheinerfolg seiner Politik erlebte, oder an Bismarck, der ihn bekämpfte; an Luther zu denken hat er keine Veranlassung. Im Martinsstift, einer Anstalt für verwahrloste Knaben, und im Waisenhause werden noch einzelne Erinnerungen an Luther gezeigt, eine Reihe von Kammern, die von dem Bau des Klosters eine Anschauung geben, seine Zelle, 1872 ausgebrannt und seither mit neuem Gerät im Stil seiner Zeit ausgestattet usw. Der Atem der Persönlichkeit schlägt einem aus diesen Spielereien nicht entgegen.

Luther bedeutet für Erfurt unendlich viel; es gab Zeiten in der Geschichte dieser Stadt, wo nur sein Wort die Gemüter aufrechterhielt. Und darum ist er hier auch noch im Volksbrauch lebendig, der ja nur eine Verkörperung dessen ist, was die Volksseele bewegt; ist dieser Hauch der Seele verflogen, so stirbt auch sacht der Brauch ab. Der Geburtstag Luthers ist auch heute noch ein bewußt begangenes Fest der Erfurter. Außer der Martinsgans gibt's am 10. November auch Martinshörnchen und Martinskringel. Wenn abends um sechs die Glocken läuten, strömen die Kinder auf die Gasse. Die evangelischen singen:

Martin! Martin! Martin war ein braver Mann!
Steckt hier unten Lichter an,
Daß er oben sehen kann,
Was er unten hat getan!

Der Vers scheint mir nicht recht volkstümlich, doch verzeichnen ihn verläßliche Quellen in diesem Wortlaut. Viel echter, aber auch minder gemütvoll klingt, was die katholischen Kinder singen:

Krik! krak! Schnupt doch ab!
Schneidet auch der Gans das Bein ab!
Laßt doch aber einen Stumpf noch dran,
Daß sie recht noch zappeln kann.

Gemeinsam ist den Kindern beider Bekenntnisse ein Brauch und Vers, der nichts mit Luther zu tun hat, sondern auf den heiligen Martin deutet, der ja bekanntlich Wasser in Wein verwandelte. Die Kinder stellen am Vorabend ein Krüglein mit Wasser vor ihre Kammertür und singen dazu:

Martine, Martine,
Mach das Wasser zu Wine!

Natürlich denken sie dabei nur an Luther, wie ihre Vorfahren, nachdem ihnen das Christentum in Fleisch und Blut übergegangen, nur an den heiligen Petrus dachten, wenn sie Sprüche sagten und Bräuche übten, die dem Donar galten. Neue Götter beerben die alten; das ist der Welt Lauf.

Neben der herrlichen Gestalt, in der sich ein Grundzug der deutschen Volksseele, der starke, aus heißer Sehnsucht geborene Glaube verkörpert, wandelt durchs Portal der alten Universität gegenüber der Michaelskirche und durch das enge, graue Viertel um die Schlösserstraße jene zweite, die einen anderen tiefsten Zug dieser Volksseele verbildlicht, den starken trotzigen Zweifel, der die Hölle anruft, wenn sich die Himmel seinem Pochen nicht öffnen wollen, und der doch derselben heißen Sehnsucht entstammt. Auch Faust ist eine Erfurter Gestalt, freilich nicht der Heinrich Faust Goethes, in dessen Gemüt alles Hellste und Dunkelste menschlichen Empfindens widerklingt, aber der Georg Johannes Faust der Geschichte, der landfahrende, gelehrte Abenteurer, Betrogener und Betrüger zugleich, der Bildung seiner Zeit ebenso mächtig wie ihrer niedrigsten Künste und Ränke, ein geistvoller Ausleger der Alten und ein Lüderjan und Trunkenbold. Über diesen Erfurter Faust ist unendlich viel Tinte vergossen worden, wohl noch mehr, als er in seinem Leben an Wein durch die Gurgel gejagt hat; hier nur nach den neuesten Schriften von S. Szamatolski und A. Pick das Wichtigste, was Geschichte und Sage von ihm zu erzählen wissen.

Nicht erwiesen ist die Angabe des ältesten Faustbuchs von 1587, wonach er »eines Bauren Sohn gewesen zu Rod bei Weimar gebürtig«, also ein Thüringer und in der Nachbarschaft Erfurts geboren; die Heidelberger Matrikel bezeichnet ihn vielmehr als »ex Simern«, also aus dem Fürstentum Pfalz-Simmern. Sicherlich aber hat die Angabe des Faustbuchs ihre tiefere Bedeutung; auch Faust sollte ein Thüringer sein, wie es die Reformatoren waren; ihnen rückte der dichtende Volksgeist den fahrenden Zauberer nahe, und zwar aus einer richtigen Empfindung heraus. So wie Luther ist auch Faust das echte Kind der großen, nach Befreiung ringenden Kampfzeit, die nach neuen Wundern und Wahrheiten dürstet; der Schwarmgeist glänzt neben dem Gottesmann nur wie der Komet neben dem Fixstern, aber Licht geben beide! Daneben mag die Sage, Faust sei ein Thüringer gewesen, durch die Tatsache gestützt worden sein, daß er nach historischen Zeugnissen mindestens 1513 in Erfurt war; freilich nannte er sich hier Georg, nicht Johannes, doch scheint seine Identität mit diesem festzustehen. Auch war sein Aufenthalt sicherlich ein längerer und an Abenteuern reicher, sonst hätte er sich nicht gerade hier dem Volksgemüt so tief eingeprägt; wie in Maulbronn sprießt auch in Erfurt die Faustsage; wie dort eine Faustküche und einen Faustturm, gibt es hier ein Faustgäßchen.

Die Erfurter Sage, schon vor dem ältesten Faustbuch in der Chronik des Wolf Wambach aufgezeichnet, nimmt im Kreise der Faustsagen eine besondere Stellung ein; im Kern nicht völlig erfunden, sondern nur eben übertrieben und ausgeschmückt, also den Zeugnissen über den historischen Faust beizuzählen, läßt sie den Abenteurer in edlerem Lichte erscheinen als die anderen geschichtlichen Quellen; hier ist er nicht bloß ein Saufaus, Schürzenjäger und Betrüger, sondern zugleich ein gelehrter Magister und Disputator, der auch Zaubereien höherer Art zustande bringt. So schlagen die Erfurter Mären die Brücke zwischen dem abenteuernden Prahlhans der Geschichte und dem dämonischen Zauberer der Sage und Dichtung.

In der einen dieser Sagen erklärt Faust den Erfurter Studenten den Homer und beschreibt ihnen das Aussehen der Helden; die »vorwitzigen Pursche« verlangen diese leibhaftig zu sehen, um zu vergleichen, ob Faust sie richtig geschildert habe. Faust erfüllt ihren Wunsch, läßt sie Hektor und Agamemnon sehen, zuletzt aber den furchtbaren Polyphem »mit einem langen füerroten Bart«, der Miene macht, die »Pursche« zu fressen, die nun durch den Schrecken von allem Fürwitz geheilt sind. Man sieht, hier ist Faust noch nicht von dem heißen Drang erfüllt, die Helena zu sehen, sondern benützt als Lehrer die Zauberkraft nur dazu, seinen Hörern zu beweisen, daß er ihnen das Richtige gesagt, und sie zugleich von frevelhaften Wünschen abzuschrecken. Da die Chronik erwähnt, Faust habe nahe dem »großen Collegio« gewohnt, so wurde lange ein altes Haus, Michaelsstraße 38, als Fausts Haus gezeigt; es findet sich auch oft abgebildet. Vollends nur als Gelehrter tritt Faust in einer anderen Erfurter Sage auf. In einem gelehrten Kreise wird über die »verlorenen Komödien« des Plautus und Terenz »diskurrieret und geklagt«. Faust zitiert aus denselben einige Stellen und erbietet sich, »wo es ihm ohne Gefahr und den Herrn Theologen nicht zuwider sein sollte, die verlorenen Komödien alle wieder an das Licht zu bringen und vorzulegen auf etliche Stunden lang, da sie von vielen Studenten oder Schreibern geschwinde müßten abgeschrieben werden, wenn man sie haben wollte und nachfolgens möchte man ihrer nutzen wie man wollte«. Die Theologen sind aber dagegen, weil sie fürchten, »der Teufel möchte in solche neuerfundenen Komödien allerlei ärgerliche Sachen mit einschieben« –, daß Faust die Texte zur Stelle bringen könnte, bezweifeln sie also nicht. Hier ist die Sage wohl größtenteils Wahrheit, denn ähnliche großsprecherische Anerbietungen erzählt Trithemius von Sponheim vom historischen Faust.

Eine dritte Sage berichtet: Faust pflegt im Haus »Zum Anker« in der Schlösserstraße beim Junker von Dennstedt fröhlich mitzuzechen; als er einmal in Prag ist, will ihn die Gesellschaft bei sich haben und ruft seinen Namen; flugs ist er zur Stelle. »Drauf trinken sie ihm einen guten Rausch zu, und wie er sie fragt, ob sie auch gern einen fremden Wein mögen trinken, sagen sie ja. Er fragt, ob es Rheinfall-, Malvasier-, Spanischer- oder Franzwein sein solle? Da spricht einer, sie sind alle gut, bald fordert er einen Böhrl, macht damit in das Tischblatt vier Löcher, stopft sie alle mit Pflöcklein zu, nimmt frische Gläser und zapft aus dem Tischblatt jenerlei Wein hinein, welchen er nennet, und trinkt mit ihnen daran lustig fort.« Inzwischen frißt sein unersättliches Pferd einen Scheffel Haber nach dem andern und tut gegen Mitternacht einen »hellen Schrei«, worauf Faust Abschied nimmt und die Schlösserstraße aufwärts reitet. »Das Pferd aber schwingt sich zusehens eilens in die Höhe und führt ihn durch die Luft gen Prag wieder zu.« Was der Volksgeist in dem uralten, freilich sichtlich wiederholt umgebauten Hause zu Erfurt (Nr. 19 der Schlösserstraße) geschehen läßt, hat Goethe in Auerbachs Keller verlegt, während Lessing eine vierte Erfurter Sage benützte. Faust lädt seine Kumpane nach seiner Wohnung in der Michaelsstraße ein; das Mahl fehlt noch. Da zitiert er dienende Geister und frägt nach ihrer Schnelligkeit. Der erste ist schnell wie ein Pfeil, der zweite wie der Wind, der dritte wie der Menschen Gedanke. Diesen läßt Faust das Mahl rüsten.


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