Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Aber, wie gesagt, die Rede blieb ungesprochen. Wenn der Gelehrte und ich einander begegneten, so machte er mich auf ein Kuriosum haarsträubend falscher Bestimmung aufmerksam, und ich konnte ihm mit Gleichem dienen, denn um diese Böcke nicht zu merken, müßte man blind sein. Da gibt es einige gefälschte Albrecht Dürers, einschließlich seines Zeichens gefälscht; unter Schule Cranachs laufen Bilder, die schwerlich vor 1700 das Licht der Welt erblickten; da gibt es Breughels, die nicht von Breughel, Matthias Grünewalds, die weder von dem Colmarer Meister noch von einem seiner Zeitgenossen, Hans Holbeins, abermals mit Dürers Zeichen signiert, die weder von Holbein noch von Dürer sind usw. Auch die Namen der Porträtierten sind vielfach irrig angegeben, was, nebenbei bemerkt, den wackeren Lavater samt all seiner Physiognomik aufs Eis geführt hat. Teils aus innerem Drang – denn einige Dutzend Distichen täglich waren ihm Bedürfnis –, teils seinem erlauchten Freunde zu Ehren widmete er einer Reihe dieser Porträts physiognomische Charakteristiken in Versen; die Zettelchen in Lavaters eigensinniger Schrift hängen noch heute an den Rahmen. So auch zum Beispiel an Nr. 1512, Cranach des Älteren »Kurfürst Friedrich der Weise« – »Frommes, treues Gemüt, so derbdeutsch, fest und so mannhaft« usw. singt Lavater, gewiß im besten Glauben, daß er dies aus den Zügen des Porträts lese – und in Wahrheit las er's doch nur aus dem historischen Charakter des Beschützers der Reformation heraus! Denn das Bild stellt gar nicht diesen großen, sondern einen weit kleineren Wettiner dar, auf den all das wenig paßt... Ich erzähl's, weil der Lapsus lustig ist und bisher von niemand bemerkt wurde; arg ist's für Lavater nicht, und den meisten Beschauern kann's gleichgültig sein, welchen Wettiner, Askanier oder Oranier sie da vor sich haben. Aber störend sind die falschen Künstlernamen, für den Laien, weil sie ihn verwirren, für den Kunstfreund, weil sie ihn stören, und das Schlimmste ist die Unzahl schlechter Bilder. Kein Raum, der nicht auch erbärmliche Sudeleien enthielte; ärgerliche Kopien guter Werke, wertlose Pinselübungen obskurer Hofmaler, albernen Krimskrams aus weiß Gott welchen Trödelbuden. Man sage nicht, derlei komme auch anderwärts vor; es kommt heutzutage in diesem Grad nicht mehr vor; es ist die unharmonischste Sammlung, die ich je gesehen habe.

Wie sich dies erklärt? Nun, Herzog Franz war ein ehrlicher Kunstfreund, ein feiner Gartenkünstler, jedoch schon in der Beurteilung der Antike, trotz des engen Anschlusses an Winckelmann, nicht ganz sicher, und vollends nicht in der Malerei. Um gerecht zu sein, erwäge man aber, wie selten damals überhaupt solche Kennerschaft war, welches Tohuwabohu von Falsch und Echt, Gut und Schlecht bis tief ins 19. Jahrhundert hinein selbst in den berühmtesten Sammlungen zu finden war, wie jung überhaupt die Kunsthistorie als Wissenschaft ist. Nein, wir haben keinen Grund, über Herzog Franz und seinen getreuen Helfer A. von Rode zu lächeln; Hut ab vor ihnen trotz des falschen Holbein mit dem aufgeklecksten Dürer-Zeichen! Zudem zeigt der Herzog, in fast allem der treueste Sohn seiner Zeit, von ihr geformt, beschwingt und beschwert, auch den typischen Zug des Sammlers jener Tage: Die Kunst ist nicht Selbstzweck, sie »soll« auch immer was; auch jede Kunstsammlung soll daneben einen moralischen oder wissenschaftlichen Zweck erfüllen. Herzog Franz wollte im Gotischen Haus nebenbei auch eine große, möglichst lückenlose historische Porträtgalerie schaffen, und darum hing er neben seine Van Dyck und Frans Hals auch einen anonymen, unglaublichen Rudolf von Habsburg, sogar samt Frau Gemahlin und Fräulein Tochter. Irrtümer, Geschmacklosigkeiten, ja, aber solche der Zeit, und – nur eben die Größten abgerechnet – stecken wir ja alle in unserer Zeit, wie etwa in unserer Haut, und können nicht aus ihr heraus...

Aber auch für das Allerschlimmste, was heute im Genuß dieser Schätze behindert, soll nicht »der würdigste aller Fürsten«, wie Winckelmann den Herzog genannt hat, verantwortlich gemacht sein. Das Gotische Haus taugt zur Bildergalerie wie ein Stall zum Speisesaal. Von außen ein häßlicher Bau von drollig wirkender Unregelmäßigkeit, ist es im Innern ein Gewirre mittlerer und winziger Stuben, in denen man wenig, enger Gänge und winkliger Kammern, in denen man überhaupt nichts sieht. Ursprünglich als Gärtnerswohnung erbaut, wurde es vom Herzog dann zu seinem Sommersitz erwählt und notdürftig durch Zubauten erweitert; hier, wo der schlichte, für seine Person rührend bedürfnislose Mann selbst am liebsten verweilte, vereinigte er darum auch seine geliebten Bilder und Nippes, Waffen und Glasmalereien, so viele ihrer irgend Platz hatten oder in Wahrheit weit mehr: es ist alles übereinander gehäuft, zuweilen so, daß ein Stück das andere ganz deckt, und da für bequeme Möbel kein Raum blieb, so behalf er sich eben mit dem dürftigsten Hausrat. Es muß ein unbehagliches Hausen in den engen, überstopften Räumen gewesen sein; ihm genügte es; nicht sich selber, nur seinen Kunstschätzen wünschte er ein würdiges Heim. Dem aber standen seine beschränkten Mittel entgegen; die Steuerkraft des damals winzigen Ländchens war noch gering und wurde zudem von ihm, der noch heute nicht umsonst von Bauer und Handwerksmann »Vater Franz« genannt wird, gewissenhaft geschont – und das, was er hatte, zu wie vielem mußte es reichen! Vom Philanthropin und der Bibliothek der Gelehrten abgesehen – auch die Chalkographische Gesellschaft zu Dessau, die erste würdige Kunstanstalt Deutschlands, »vergeudete« anscheinend vergeblich, in Wahrheit zu hundertfachem Nutzen für die Nachstrebenden, sein Kapital in einer nüchternen, für künstlerische Reproduktionen noch nicht reifen Zeit. Dazu die Unterstützungen für Dichter, Künstler und Gelehrte. Aber die größten Summen verschlang Wörlitz. Wenn er erst damit fertig sei, hoffte dieser rastlose »ewige Jüngling«, dann wollte er ein Museum bauen, aber mit dem bißchen Lebenskraft wird man immer früher fertig als mit derlei Aufgaben; als er am Vortag seines 77. Geburtstages starb, tröstete ihn nur das Vertrauen in die Pietät, den wachsenden Reichtum seiner Nachkommen. Nun, sie sind sehr reich, aber was am 9. August 1817 an den Wörlitzer Bauten und Anlagen unvollendet war, ist es noch heute, und das mag hingehen; daß jedoch das nun unbewohnte Gotische Haus noch immer als Museum dient, ist ein – hm, sagen wir eine unerfreuliche Erscheinung.

So tappten wir beiden Besucher zunächst hilflos durch das Dämmer dieser dunkelsten aller Bildergalerien, die sich in unserem irdischen Jammertal finden, und erheiternd waren in den ersten Minuten nur die kunsthistorischen Exkurse unserer Führerin. Nun ja, man lacht über derlei Dinge, aber recht ist's doch eigentlich nicht. Diese Führerin war ein nettes, braunäugiges Ding, das trotz seiner siebzehn Jahre bereits ein herzoglich anhaltinisches Hofamt bekleidete: Stellvertreterin des Fräulein Kastellanin. So stellte sie sich uns würdevoll vor und begann dann: »Nummer 1116. Dieses ist ein Stück von einem holländischen Gonservatorium.« Nun unterhielten sich auf dem Bild, soweit ich's im Zwielicht unterscheiden konnte, wirklich nur einige wenige Damen und Herren; ein ganzes Konservatorium schien es also tatsächlich nicht zu sein, gleichwohl kam mir die Erklärung so dunkel vor wie das Zimmer, und ich fragte. Aber sie wiederholte nur das bereits Gesagte und fügte treuherzig bei: »So sagt's auch das Fräulein Kastellanin, also ist es richtig.« Es war aber doch nur annähernd richtig, denn als ich dann im Büchlein von Hosäus das dürftige Kataloglein durchsah, fand ich dort gedruckt: »Nr. 1116. Holländisches Konversationsstück.« Dann weiter: »Nummer 1172. Dieses ist ein Pariser Fräulein und schreibt sich Matzareng. Sie ist eine Tochter vom Herrn Gardinal Matzareng.« Daß die pikante Schönheit mit dem unfranzösischen Namen und der bedenklichen Herkunft leider längst tot, und zwar eine Schönheit des 17. Jahrhunderts war, lehrte ein Blick auf ihre Toilette; auch hieß sie, wenn man ihren Namen aus dem Wörlitzer Französisch übersetzt, Mazarin, zudem war mir ja nicht unbekannt, welch skrupelloser Herr der Minister Ludwig XIV. selbst Königinnen, geschweige denn anderen Frauen gegenüber war, gleichwohl erschien mir eine so offizielle Frivolität unglaubwürdig, und ich fragte: »Fräulein, wissen Sie, was ein Kardinal ist?« – »Aber ja!« erwiderte sie triumphierend, »aus was die Gadholischen manichmal 'nen Babsten machen!« – »Stimmt! Aber die dürfen ja nicht heiraten!« Die liebe Unschuld wurde blutrot. »Aber Fräulein weiß ja alles!« Nun, das eine doch nicht genau; es ist die Nichte Mazarins, die schöne Maria Mancini... Bei einem dritten Bilde sollte sich uns vollends Schreckliches, und zwar aus dem dessauischen Hofleben, enthüllen. »Nummer 1178. Diese ist die allerscheenste Kabriele, welche der kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen dem Fürsten Joachim Ernst geschenkt hat. Wie er dies gedhan hat, war früher in einem Freßgoh an der Decke im Monument zu sehen, aber die Nässe hat leider dieses Freßgoh verdorben.« Nicht leider, sondern gottlob! dachte ich in ehrlicher, sittlicher Entrüstung, aber die Sache ist in Wahrheit gar nicht so schlimm. Es ist das Porträt der Gabrièle d'Estrées, der blonden, schönen Picarde, die der »kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen« (denn Heinrich IV. wird ja allerdings wohl selbst gehabt haben, was er jedem Franzosen wünschte) so sehr geliebt hat. Dieses Porträt nun soll er nach einer Sage dem greisen Fürsten Joachim Ernst bei einer persönlichen Begegnung als Beweis seiner Huld geschenkt haben, und wie sehr sich die Dessauer Fürsten dadurch geehrt fühlten, erweist, daß noch der Schöpfer von Wörlitz den Schenkungsakt einer Verewigung am Gewölbe des Monuments, eines kuriosen Baues, würdig hielt. Aber die Nässe hat das »Freßgoh« und die trockene Kritik die Sage beseitigt – nein, die Dessauer Fürsten waren im 16. Jahrhundert noch nicht so mächtig, als daß sie ein König von Frankreich des Bildes einer seiner Mätressen gewürdigt hätte, sondern ein Oranier genoß dies stolze Glück, und als sein Geschenk kam das Porträt hierher... Es ist sehr oft reproduziert. Aber seinem Kunstwert dankt es seinen Ruf nicht, sondern der Schönheit des Originals. Daß das Porträt von dem sinnlichen Zauber des berückenden, dann so jung dahingeschiedenen Weibes eine Ahnung gibt, ist schließlich kein Verdienst des Künstlers, das hätte vielleicht selbst ein Stümper erreicht, wenn ihm das Glück zugefallen wäre, die »heißeste der Blondinen« malen zu dürfen...

Als ich das Turmzimmer verlassen wollte, wo »das Fräulein Matzareng« und die »allerscheenste Kabriele« hängen, um in den Gang nach dem Rittersaal einzubiegen, trat mir das junge Mädchen mit flammenden Wangen in den Weg. »Lieber Herr«, bat sie, »nun müssen Sie warten; das Fräulein Kastellanin ist zum Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin; ich habe gleich um sie geschickt; sie muß jeden Augenblick zurück sein. Denn ich habe ja erst seit drei Wochen diese Stellung, und jede Woche kann ich nur ein Zimmer lernen, das sind ja schrecklich schwere Sachen! – und mit den drei Zimmern, die ich schon kann, sind wir fertig.« Gottlob, dachte ich; laut aber tröstete ich das gute Mädchen, ich würde mir schon selbst weiterhelfen. Und da in diesem Gang die prächtigen Seestücke hängen, von denen ich bereits erzählt habe, so ging's mir zunächst sehr gut. Aber schon im Schlafzimmer des Herzogs Franz kam eine stattliche Dame hereingerauscht, das Fräulein Kastellanin. Ich bat sie, die Störung zu entschuldigen, was sie hoheitsvoll, aber mild mit einem Lächeln der Entsagung abwehrte: »Bitte, wenn Sie schon hier sind – was fingen Sie sonst mit den Bildern an! Ich wäre schon früher dagewesen, aber Minchen bei Hofgärtners hat's nicht gleich gemeldet.« Und dann begann sie: »Nummer 1309. Dieses Bild ist von dem oft sehr trefflichen und manchmal ganz unbefangenen Kaspar Netscher. Es stellt, wie Sie sehen, einen jungen Menschen mit Locken vor, aber es ist deshalb doch nicht gewiß, daß es ein englischer Prinz ist.« Dies Wissen, diese Würde... unwillkürlich mußte ich an meinen Gönner denken, den Herrn Kastellan des Zerbster Schlosses, den Mann mit dem rosa Giftkleid und dem Leibspruch: »Dieses ist aufgeschrieben«... »Fräulein Kastellanin«, sagte ich anerkennend, »was Sie da gesagt haben, ist nur zu wahr. Auch ich habe schon junge Menschen gekannt, die Locken trugen und doch keine englischen Prinzen waren, im Gegenteil! Aber wo haben Sie die schönen Worte über Kaspar Netscher her?« – »Dieses ist aufgeschrieben«, erwiderte sie, und wie dies Zauberwort erklang, da hätte ich ernsthafter Mann in den leidigen »besten Jahren« fast vor Freude einen Luftsprung gemacht. Übrigens glaubt meine hoffende Seele, wenn sie die innere Stimme nicht trügt, zu wissen, wo es »aufgeschrieben« ist – o Lübkes »Grundriß«, du kunsthistorisches Evangelium meiner hilflosen Jugend, so lebst du wenigstens noch hier in alter Schönheit und Tiefsinnigkeit fort!... Nachdem ich noch einige ähnliche Beschreibungen genossen hatte, wollte ich in meiner Menschenfreundlichkeit auch meinem Gefährten etwas davon gönnen. »Fräulein Kastellanin«, sagte ich, »drüben ist noch ein Herr, der bestimmte Porträts sucht, der wird Sie nötig haben.« Sie stürzte ab, und ich hatte Muße, mir andächtig das schöne Triptychon Lucas Cranach des Älteren zu besehen, vielleicht dasjenige Werk des Meisters, in dem ihn sein Streben nach charakteristischer Kraft am wenigsten zum Häßlichen geführt hat. Aber noch stand ich vor diesem Bilde, als sie wiederkam: »Der Herr läßt Sie grüßen; er verzichtet zu Ihren Gunsten.« Da ergab ich mich in mein Schicksal; bei meinem heutigen Besuch hatte ich den Hosäus mit, und so genügte auf meine Bitte die stumme Begleitung der Stellvertreterin; vorgestern aber bekam ich noch viel Schönes mitgeteilt. So gleich vor dem Bilde, wo sie mich wieder ereilt hatte. »Wissen Sie auch, was das Bild vorstellt?« fragte sie. »Ich glaube ja!«, und ich benannte einige Heiligen und die Kurfürsten. Sie nickte, fragte dann aber streng: »Und wie heißt es?« Ich sah sie fragend an. »Dribbdichohn () heißt es!« rief sie triumphierend. »Warum?« – »Weil es so heißt! Dieses ist aufgeschrieben!« Ich gestehe, ich habe von da ab der Trefflichen nur noch halben Ohrs gelauscht; mir drängte sich ein Gedanke auf, dem ich nachhängen mußte, ein humaner Gedanke, aus der Fürsorge für die kommenden Geschlechter geboren. Diese stattliche Dame ist noch Fräulein, dachte ich; wenn der Herr Kastellan in Zerbst noch Junggeselle wäre, wenn sich diese beiden Menschen voll Wissen und Würde und Respekt vor dem Aufgeschriebenen zum Ehebunde zusammenfänden, welches Geschlecht unvergleichlicher Cicerones könnte dann in zwanzig, dreißig Jahren die anhaltischen Kunstsammlungen ins rechte Licht setzen!... Ja, lustig wär's, aber auch vorgestern schon war's im Gotischen Haus lustig genug, auf die Dauer zu lustig. Nur einige Minuten ertrug ich's noch, an einer Stätte über Kleinstes lächeln zu müssen, die ich aufgesucht hatte, mich andächtig dem Großen zu beugen, dann entfloh ich ins Freie.

Die wenigen Minuten, die ich vorgestern allein in der Umgebung des Gotischen Hauses verbrachte, waren so still und schön, wie ich sie von diesem verhasteten Tag nimmer erwartet hätte. Was ich sah, war so lieblich und hell – ich glaubte damals, ein Zufall habe mich mitten in den schönsten Teil des Parks geführt; seit heute weiß ich, daß Schochs Garten, zu dem diese Insel gehört, nur ebenso hübsch ist wie hier alles. Ich ging zunächst der Sonne nach, durch prächtige Wiesen, wie ich sie so smaragden kaum je habe schimmern sehen, an einzelnen hochstämmigen Bäumen vorbei; überall Luft, Licht, scheinbar endlose Weite: hier der breite Seespiegel, dort eine schräg zurückfliegende Laubwand, die wieder den Blick auf große Wiesen öffnet, der Pfad in mächtigem, nach der Hogarthschen Linie gezogenem Bogen – ein echt englisches Parkbild. Aber nun tritt der Pfad in dichtes Gehölz, und wie er ihn schon nach wenigen Sekunden verläßt, ist dem Blicke ein anderes, grundverschiedenes Bild gebreitet, um das trotz seines Ernstes ein Hauch des Südens weht: dicht am Seeufer eine Gruppe prächtiger Zypressen und Platanen, in ihrem Schatten eine graue, halbrunde Steingrotte, rechts und links der breite Seespiegel. Ich will zugeben, als ich näher kam, schwächte sich der Eindruck; nur die Bäume wirkten herrlich wie zuvor (schönere orientalische Platanen erinnere ich mich kaum gesehen zu haben), aber das Grottchen – das Nymphäum – etwas kindlich; nun, war's kein Bild vom italischen Strand mehr, so doch noch immer ein lebendig gewordenes Kupfer zu Wielands Werken um 1780, und auch das sieht man gern einmal greifbar vor sich... Dann wieder der Ausblick auf die weite Wiese, eine andere dünne, dichte Gehölzwand und abermals ein ähnliches Bild, diesmal von Anbeginn nichts mehr als ein solches altes sauberes Kupfer, aber trotzdem aus der Ferne nett: der Dianenhain mit einer Statue aus Sandstein, vermutlich die Göttin; ich weiß es nicht, denn im Hain hörte eben ein Trupp Reisender den mythologischen Exkurs eines Wörlitzer Fremdenführers an, und ich entfloh. Stimmung ist ein Schmetterling, man muß ihn vor plumpen Händen schützen, sonst wird er zum zerdrückten Insekt, häßlich für uns und andere... Ich ging wieder dem Gotischen Hause zu, an einem Altärchen vorbei, auf dem die Worte stehen: »Wanderer achte Natur und Kunst und schone ihre Werke« – wieder ein hübsches Bildchen, eine Titelvignette, auf meiner Ausgabe von Heinses »Ardinghello oder die glückseligen Inseln« ist eine ähnliche zu finden. Endlich dicht am Hause abermals ein solches in sich geschlossenes Bild, das aber mehr ist als hübsch; es ist wirklich Stimmung darin, sanfte, elegische Stimmung; wer das komponiert hat, war ein Künstler, mit dem Zöpflein im Nacken – gewiß, aber ein Künstler; schöne Zedern und Zirbeln, hinter denen dunkle gewaltige Hemlockstannen aufragen, umgeben eine Grabstätte; über dem Eingang die Inschrift: »Seiner Hände Fleiß verschönerte diese Gefilde, / Sanft walle dort sein Geist wie hier dieses Gebüsch.«... Auch die Inschrift schmiegt sich dem Ganzen an, alles klingt hier in einen Ton zusammen, eine feine, wehmütige, verzitternde Melodie..., und der liebe Schmetterling umgaukelte mein Haupt und ließ seine Flügel farbig vor meinen Augen leuchten... Da klang eine nervöse Stimme in mein Ohr: »Wissen Sie, wer hier begraben liegt? Herr Schoch samt Familie, der Hofgärtner. Ja, ja, Serenissimus wußte alles, sogar daß die Alten ihre Lieblingssklaven zuweilen in der Nähe ihrer eigenen Wohnstätten begruben, war ihm nicht unbekannt!«... Nun ja, man kann es auch so ansehen, aber der arme Schmetterling war für heute tot, ganz tot, und es war gleich gültig, ob ich mit dem Gelehrten nun zum Bahnhof mitfuhr oder nicht. Und so half ich ihm Friedchen aus sanftem, süßem, auf zwanzig Schritte Entfernung hörbarem Schlummer aufrütteln, und der Kahn stieß vom Lande.

Über den Weg ergab sich zwischen der Holden und dem Gelehrten ein Disput; »der Zug geht oft schon vor sechs«, warnte sie und wollte direkt zur Landestelle; er aber, der mit Recht an diese unerhörte Besonderheit der Wörlitzer Bahn schwerer glauben konnte als an die von Brehm bekundete Bequemlichkeit aller Nilpferde, bestand darauf, daß sie mindestens Schochs Garten umkreise, »denn«, erklärte er mir sehr liebenswürdig, »Sie sollen doch noch etwas von Wörlitz sehen«. Aber ich sah so nicht viel, und an das wenige hing er doch nur immer einen Witz, weil er nicht anders konnte. Zudem rückte der Uhrzeiger bedenklich vorwärts, und Friedchen nahm die Mahnung zu größerer Eile ungnädig auf. »Mein kuder Här«, sagte Sie, »so dicke ich bin, so flinke bin ich, und 'ne faule Liese, wie sie der kottseeliche Här drüben zur Straf hat aushaun lassen, bin ich nich!« Sie deutete auf eine Grotte, die einen Augenblick links über der Seefläche sichtbar wurde; aus dem Plan der Gärten konnte ich erkennen, daß es die Grotte der Egeria war. »Das war aber eine Art Göttin«, sagte ich, »und keine ›faule Liese‹.« – »Ja, for die Fremden!« erwiderte Friedchen überlegen. »Da war sie nämlich zu des kottseelichen Härn Lebzeiten hier in Wörlitz 'ne Liese, soweit 'n hübsches Mächen, aber faul und auch sonsten – na, Sie wissen schon! Und da ließ der Här diese faule Liese halb nackig und liegend als Ekeria in Stein machen, weil die auch so 'ne Person war!« – »Die Egeria?!« – »Na freulich! Bei Dache dhat sie nischt, und nachts gab sie 'nem jungen Windbeutel vom Hof beese Ratschläge, zum Beispiel wie er die Leute anpumpen sollte, und davon hieß er Pumpilius...« Der Kahn kam in bedenkliches Schwanken...

Aber diese Probe, wie sich das Volk in Wörlitz seine Denkmäler und die Mythologie menschlich nahe, sehr nahe bringt, sollte leider nicht das letzte sein, was ich aus Friedchens Munde hörte, sondern etwas Furchtbares – oh, hätt ich es nie vernommen... Man erinnert sich meiner Wandnachbarn im Dessauer Hotel am Bahnhof, und wie Fritz in Wörlitz die Schifferin in die Wade zwickte und dann noch seine arme Clara durch den vielleicht begründeten, aber jedenfalls höchst unzarten Vorwurf der Wadenlosigkeit kränkte. Nun denn, die Schifferin war Friedchen – man glaube es mir, so was ersinnt keine Phantasie. Denn als der Gelehrte nochmals, die Uhr in der Hand, zur Eile drängte, da sagte Friedchen: »Na, sonst sind die Herrschaften kottlob besser mit mich zufrieden. Kestern fuhr ich 'n Ehepaar, da sagte der Herr: ›Fahren Sie sachte, liebes Friedchen, strengen Sie sich nich so an‹, und die Frau, 'ne Hopfenstange, ärgerte sich...« Fritz, du hast die Grenzen der Menschheit überschritten, und wenn dich zur Vergeltung das Härteste träfe, ja, wenn Friedchen dein Werben erhören würde, selbst diese Strafe wäre nur gerecht.

Als wir die Landestelle erreichten, fehlten nur noch wenige Minuten auf sechs. »Wir müssen laufen«, sagte der Gelehrte, aber da traf er auf einen der wenigen starren Grundsätze meiner sonst lenksamen Natur: ich laufe niemals. So machte er sich allein auf den Weg; »kommen Sie nach!« rief er, »ich halte so lange den Zug zurück!« Und noch eh er weit um eine Ecke verschwand: »Verlassen Sie sich darauf!« Als ich diese Ecke erreichte, da verzitterten gerade die sechs Schläge vom schlanken Wörlitzer Kirchturm in der heißen, schweren Luft. Nun dampft er ab! dachte ich und ging gemächlich weiter. Aber als ich wieder um eine Ecke bog und nun den Bahnhof sah, stand der Zug noch da. Und wieder nach einigen Minuten konnte ich unterscheiden, wie der Stationschef und der Gelehrte vor dem Bahnhof standen und mir heftig mit ihren vier Armen telegraphierten. Da tat auch ich ein übriges und ging etwas rascher. Zehn Minuten nach sechs war ich im Coupé, und der Zug ging ab. »Wie haben Sie das angefangen?« rief ich. »Mein Geheimnis!« lachte der Gelehrte, und ich hab's wirklich nicht erfahren. Ich weiß nur: als ich gestern abend hier ankam, grüßten mich die Bahnbeamten so rätselhaft, respektvoll, daß mich's wonneheiß überlief: Am Ende halten sie dich für einen Kommissionsrat, wie hierzulande so viele Lotteriekollekteure betitelt sind!


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