Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Erfurt

Merkwürdig ergeht es mir auf dieser Reise. Da sitze ich nun plötzlich in Erfurt fest, und das scheint mir fein, klug und weise. Aber wie ich, der ich ja von Wörlitz mit der Bahn über Dessau, Bitterfeld und Frankfurt in einem Zuge nach Luzern wollte, in diese Stadt der Blumen geraten bin, ist eine Geschichte voll Torheiten.

Als ich nämlich in Wörlitz zum Bahnhof wollte, da sagte plötzlich mein Herz so scheinbar ganz unbefangen zu mir: »Willst du denn wirklich das Klingelbahnchen nach Dessau zum vierten Mal genießen? Wär's nicht vergnüglicher, wir mieteten uns wieder unseren klugen Willem und kutschierten durch Wald und Heide fröhlich nach Wittenberg zur Station?« Das war aber nur Heuchelei von diesem Herzen, es war ihm gar nicht um die Fahrt zu tun, sondern um Wittenberg, und in jeder der 46 Wochen des Jahres, wo ich vernünftig sein muß, hätte ich ihm gesagt: »Dummheiten, altes Herz! Ich weiß, du bist einmal in deiner Jugend dort sehr, sehr glücklich gewesen, drei ganze lange Frühlingstage hindurch. Wie auf dem Anger der Flieder blühte und wie am Schwanteich die Hutnadel verlorenging und wie im Stadtgraben die Nachtigallen schlugen – du, Herz, hast ja für all dies ein besseres Gedächtnis, indes ich weiß es auch noch. Aber eben darum, was willst du dort? Tot ist tot, wir finden in der grauen Stadt nichts von unserem jungen lachenden Glück wieder, nicht einmal die Nadel!« Jetzt aber dachte ich: Dies törichte Herz sehnt sich bei sinkender Sonne an eine Stätte zurück, wo es einst, so recht im vollen Vormittagslicht, glücklich war; es wird, fürcht ich, wenig Freude davon haben, aber sein Wille geschehe! Und ich mietete den Willem, fand mich auch drein, daß er, als mein Koffer aufgeschnallt wurde, dem Hausknecht sagte: »Von Wörlitz zur Station in Wittenberg! Er is doch 'n Engländer!« – recht hatte er ja.

Im übrigen war's, so in der roten Frühe, wirklich eine fröhliche Fahrt; an dem Park und dem Elbdeich vorbei und schnurgerade gegen Nordosten zur Elbfähre. Viel Besonderes ist nicht davon zu berichten. Von der Fähre betrachtet, sieht das Städtchen Coswig sehr malerisch aus, und namentlich das schöne stolze Schloß auf einem Hügel leuchtete im Morgensonnenschein, und die Wellen des langsam und majestätisch vorbeiwallenden Stromes spiegelten es verklärt wider. Da muß sich behaglich hausen lassen, dachte ich. Aber der Schein trügt, es ist das Zuchthaus für Anhalt. Seltsames Land, dachte ich, das für seine Kunstschätze nicht das kleinste und für seine Verbrecher ein so großes Schloß übrig hat, aber ich schwieg, denn mein Willem war wohl auch ein Kunstfreund, aber doch noch stärker als Patriot. »Hier weeß ich Sie ooch was altes Gemahldes for Ihnen!« sagte er, als wir durch Coswig fuhren, und hielt vor einem verwaschenen Wirtshausschild, drauf sich tanzende Paare drehten. »Hier jederzeit kaltes und warmes Essen und Tanzvergnügen«; eine Stunde später aber – die Chaussee geht immer durch hübschen Wald zwischen Bahn und Strom – hielt er mitten zwischen den Tannen an und sagte mit einem Seufzer: »Hier is es! Nu kommen wir ins Ausland!« Die Grenze Anhalts gegen Preußen... Nun, Willem ist nur ein Fuhrknecht, aber vor fünfzig Jahren haben das noch die klügsten Dessauer und Preußen so gesagt und empfunden.

Der Natur sieht man's übrigens auch hier nicht an. Der preußische Wald war ebenso hübsch wie der anhaltsche, und wie wir so dahinfuhren, und in der hellen Morgenluft schwamm der Tannenduft, die Vögel sangen, der Wind rauschte im nadligen Geäst und die Sonnenlichter haschten sich im Moos unten, da fiel meinem Herzen eine zweite Torheit bei. »Du«, sagte es, »wir gehen nach Luzern, gewiß, aber vorher machen wir in einem schönen, tiefen, kühlen Waldtal halt. Wald ist ja doch das Schönste.« Und ich nickte und fragte nur: »Aber wo machen wir's?!« – »Nun, natürlich in Thüringen; da kommen wir ja durch. In Oberhof zum Beispiel, da hat es den beiden Schwestern, Frau Grete und Frau Martha, im vorigen Jahr so gut gefallen, und die müssen wissen, was schön ist; sie sehen ja zuweilen gewiß auch in den Spiegel.« Und ich wieder nur: »Gut, Herz, also Oberhof; da wollen wir's uns fröhlich machen.«

Aber auf dem Marktplatz zu Wittenberg, wohin wir endlich an einigen Dörfern vorbei und durch das langgestreckte Klein-Wittenberg gelangten, da konnten wir das nicht; da wurden wir beide traurig, mein Herz und ich. Wir hatten's zu genau im Gedächtnis, wie es da einst im Mai ausgesehen – und es war alles anders geworden. Die grauen Häuser am Markt waren neu getüncht, und wo früher die alte Karrete zum Bahnhof gestanden, winkte nun eine Pferdebahn; sogar die vierhundertjährige Schloßkirche hatte sich im Innern zwei neue Schiffe beigelegt und einen seltsamen Aufputz des Kuppelturmes, und die fast ebenso alte »Goldene Weintraube« hatte gleichsam kehrt gemacht und streckte ihr Wahrzeichen nun nicht mehr zum Markt, sondern zur Juristengasse hinaus. Nur der Kellner dort war noch derselbe; wenigstens hatte er genau das gleiche Kellnergesicht und die gleiche Redensart: »Wir haben hier die schönsten Gäste.« Ach, dacht ich, einen so schönen wie einst kriegt ihr nicht wieder, und in den Lüften roch es nicht nach Flieder, sondern nach getrockneten Blumen, aber nein, nicht einmal darnach roch es in der Wirtsstube.

Da saßen wir eine halbe Stunde, mein Herz und ich, beide stumm, ganz stumm, bis ich endlich leise sagte: »Nun komm zum Bahnhof.« Auch auf der Fahrt durch die ewig lange Kollegiengasse hatten wir einander nichts zu sagen, nur einmal, als wir am Lutherhaus vorbeifuhren, lauschten wir auf; dort hängt auch das drollig-naive Bild eines Cranach-Schülers »Adam und Eva im Paradiese«, und von diesem Bild her vernahmen wir plötzlich im Vorbeifahren wie aus weiter, weiter Ferne ein silberhelles Lachen... Daß doch die Erinnerung an ein Lachen ein Herz so wehmütig stimmen kann... Am Bahnhof aber schiffte ich mich nach Oberhof ein.

Der Zug war überfüllt, ich fand gleich Bekannte, und wenn ich mich in das Dümmste hätte einlassen wollen, was der Mensch beginnen kann, nämlich in weise Betrachtungen über das Leben im allgemeinen, so hätten sie mir den Stoff dazu geboten. Denn in dem einen Coupé führte ein Kollege sein junges Weib ins Haus ihrer Eltern, daß sie dort ihre schwere Stunde bestehe, stolz wie auf kein anderes seiner Werke und doch in zitteriger Sorge; und im nächsten saß ein feiner, liebenswürdiger Mensch in tiefster Trauer, der geleitete die Leiche seines Vaters zur Verbrennung nach Gotha. Aber ich philosophierte nicht, sondern frühstückte vielmehr mit einem dritten Bekannten, der für vierzehn Tage direkt nach Biarritz sauste, im Speisewagen. Meine Erzählung, daß ich meine Reise in die Schweiz mit einem achttägigen Aufenthalt in Anhalt begonnen und nun durch einiges Verweilen in Oberhof fortsetzen wolle, nahm er mit liebenswürdigem Lächeln auf und fragte dann harmlos, ob ich nicht auch in Weißenfels, Naumburg, Kösen, Weimar und Erfurt anhalten wolle. »Nein«, erwiderte ich, »Weißenfels und Naumburg kenne ich bereits, Weimar erst recht, auch in Kösen war ich schon, aber Erfurt – das wäre wirklich was.« – »Um Himmels willen«, rief er, »eine nüchterne, langweilige Geschäftsstadt. In die guckt selbst von den Leuten, die ihre Ferien nur in Thüringen zubringen, kaum einer hinein!«

Damit war das Gespräch zu Ende, in mir aber klang es nach: »Erfurt – wie wär's? Eine Geschäftsstadt, ja, aber sie ›macht‹ in Blumen, das ist doch eine hübsche Ware. Und das Dogma, daß eine Geschäftsstadt jedenfalls nüchtern und langweilig sein muß, steht ja nur für Banausen geschrieben, Menschen ohne Sinn für die Poesie unserer Zeit. Hamburg zum Beispiel – wer das langweilig findet, verdiente wirklich, immer nur in toten Nestern mit grasbewachsenen Straßen Kalbsbraten und nie in Hamburg ein Beefsteak zu essen. Zudem ist ja Erfurt uralt, eine Hansastadt, da kann's gar nicht nüchtern sein.« Ich suchte in meinem Gedächtnis zusammen, was ich von seiner Geschichte wußte. Der heilige Bonifacius und – Bismarck im Unionsparlament und dazwischen die Universität und Dalberg, der Kur-Erzkanzler... viel war's nicht und zudem nur eben toter Kram ohne lebendige Anschauung; das Faßbarste war noch Dalbergs Wort an Goethe: »In Erfurt ist gut wohnen...« Aber da tauchten mir, während ich so dem Widerklang dieses Städtenamens in mir lauschte, auch Bilder auf, die Farbe hatten und lebten, denn die hatte ich gesehen...

Vor vielen Jahren, so an die fünfzehn mögen es sein, stand ich an einem strahlend schönen Sommertag auf einer Höhe des Thüringer Waldes, auf welcher weiß ich nicht mehr, aber was ich sah, ist mir unvergessen geblieben: zu meinen Füßen das sacht abgestufte Gebirg im dunklen Tannenschmuck, dann eine weite, hellgrüne Ebene, mitten drin ein gewaltiger Haufe grauer, von leichtem Dunst umhüllter Pünktchen, aber über diesen Pünktchen, gleichsam in der Luft über ihnen schwebend und den Dunst durchleuchtend, ein rätselhafter goldner Schein, nun strahlender, nun blasser und oft in der Sonnenglut erzitternd, aber immer, immer zu sehen. Was war dieses Etwas, das noch vom Dunst der Erde umwoben war und doch nicht mehr zu ihr gehörte? »Die Madonna am Erfurter Domgiebel!« erwiderte lächelnd mein Gefährte...

Ein anderes Bild, das ich 1880 gesehen hatte, und doch war's mir nun, als wär's gestern gewesen. Ein Junitag in Haarlem; ich hatte mich den Tag über an den herrlichen Bildern im Rathaus und im Pavillon müde gesehen und fuhr mit sinkender Sonne zur grauen Stadt hinaus, über die Spaarengracht in die Blumenfelder hinein... ja ganze Felder voll Tulpen und Lilien, Hyazinthen und Narzissen! Welche Farben, so weit das Auge reichte, welche Düfte! – der süße, schwere Hauch preßte mir fast die Brust zusammen, die mir ohnehin zu eng wurde vor Freude, am gleichen Tag auch dies Herrliche schauen zu dürfen... Und Erfurt war auch eine Gartenstadt, da mußte ja ähnliches zu sehen sein...

Diese beiden Bilder haben mich nach Erfurt gebracht. Denn wohl befragte ich noch mein gewöhnliches Orakel in derlei Fällen; ich horchte, was die Waggonräder sagten, aber die sagen ja immer, was man hören will. Und richtig, auch diesmal polterten sie ganz deutlich im Schnellzugstakt: »Freilich nach Erfurt, hübsch ist's in Erfurt, ja, ja, du, tu's!« () Da riß ich mein Kofferchen aus dem Netz und stieg dort aus.

Es hat mich auch nicht gereut, wahrhaftig nein. Nur der Anfang war so so. Vor dem Bahnhof ein enges, von häßlichen Häusern und Holzverschlägen umschlossenes Plätzchen, dann an einem großen, wüst aussehenden Hotel vorbei (es kann kaum dreißig Jahre stehen und ist doch gewiß im 18. Jahrhundert zuletzt getüncht worden) in ein gleichfalls enges, dürftiges Gäßchen, das den Verkehr kaum fassen kann; kleine Häuser, hastende Menschen, fluchende Kutscher; nein, nett war das nicht. Und erst der Ausblick in die Seitenstraßen, die Löber-Gera-, die Schmidtstedter-, die Bußlebergasse, überall Gerüste und Mauern, aber was sie niederrissen, war alt und häßlich, und was sie aufbauten, war neu und häßlich. Dazu die Düfte – und eines der Gäßchen hieß Gartenstraße; in solcher Atmosphäre war Bußlebergasse wirklich der sinnigere Name. Mir tauchten aus Dalbergs Briefen an seine großen Freunde im Apoll die Stellen auf, in denen er von seinen Bemühungen um das Erblühen dieser Stadt spricht... Ist kein Dalberg da? dachte ich... Und als ich ins Hotel trat, fragte der Portier freundlich: »Musterkoffer am Bahnhof?« – daß ein Mensch nur zu seinem Vergnügen nach Erfurt kommen könnte, lag offenbar außerhalb des Bereichs seiner Phantasie. Auch an der Table d'hôte saßen nur Herren mit Musterkoffern; ich habe nichts gegen solche Herren, und selbst die Anekdoten, durch die sie sich gegenseitig erheitern, gönn ich ihnen, aber – nun ja – aber, dachte ich, es gibt auch nüchterne Geschäftsstädte!

Das war jedoch ein voreiliges Urteil. Erfurt ist keine schöne Stadt, aber hier erzählen die Steine, wenn man ihre Sprache versteht, eine Geschichte, so seltsam und herzbeweglich, so wechselnder Schicksale voll, daß sich auch der Kaltherzige ergriffen fühlen müßte. Und wer sehen kann, muß auf Schritt und Tritt erkennen, wie diese Stadt war und wie sie ist, und recht betrachtet ist die scheinbar so nüchterne Gegenwart womöglich noch fesselnder als die Vergangenheit, auch erhebender, denn was könnte uns in dieser besten aller Welten tröstlicher sein als die Erkenntnis, daß der Mensch zuweilen stärker ist als das Schicksal? Wie diese Stadt allem, was Menschen und Menschenwerk treffen kann, standgehalten und nun langsam wieder aufblüht – dies ist das Interessanteste an Erfurt und wahrlich auch ein Stück Poesie, stärker und schöner und herzerquicklicher, als sich's der Wanderer im stillsten Waldtal erlauschen kann.

Freilich, das weiß ich erst heute, wo ich von dieser Stadt scheide, aber nicht, da ich sie zum ersten Mal durchwanderte. Mir ist's nun lebendige, aus der Anschauung geborene Wahrheit, dem Leser sind's Worte. Vielleicht wären diese Worte auch ihm zwar nicht Leben, so doch ein Abbild des Lebens, wenn ich Aug in Auge zu ihm reden, ihm die tausend kleinen Bildchen, aus denen mir das Gesamtbild erwuchs, schildern könnte. Aber so – durch tote Buchstaben zu malen versuchen und in der Furcht zu ermüden in der Auswahl der Bildchen sparsam und zaghaft, es ist immer ein Wagnis. Und vollends hier, wo so weniges an sich gewaltig ist, das meiste sogar unscheinbar und nur eben durch das Nebeneinander, die Häufung oder den Gegensatz bedeutsam. Schwer ist's in solchen Städten, die Sprache der Steine zu verstehen, und noch schwerer, sie in Menschenworten nachzustammeln.

Nun denn, so versuch ich's, so gut es eben gehen will und in meiner Art. Wie bisher in der Wirklichkeit, so fahre ich nun in Gedanken wieder auf den Steiger und durch die Blumenfelder und gehe wieder über den Anger und den Domplatz und durch das Gewirr enger Gäßchen, bedächtig und andächtig und der Sehnsucht voll, dies fremde Stück Leben recht zu sehen und recht zu verstehen...

Wenn ich in eine fremde, große Stadt komme, so suche ich sie immer zunächst von einer Höhe zu überschauen. Liegt sie in einer Ebene, so ersteig ich den nächstbesten Kirchturm, auch wenn's im August ist. Denn eine Vogelschau bringt auf einen Schlag Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen: wo der Kern der Stadt zu suchen ist, wie sie wuchs, in welcher Richtung sie nun die Glieder streckt und wo die Reichen, wo die Armen wohnen. Aber noch mehr vermag hier ein Blick zu erkennen, oft klarer und gewiß anschaulicher, als es die Stadtchronik berichtet: was die Menschen hierher zog, warum auf diesem Boden eine große Stadt erwuchs und wie sie sich behauptete. In Erfurt läßt sich solche Überschau mühelos gewinnen; rings heben ja Hügel ihre dicht umlaubten Häupter; der stattlichste im Südwesten der Stadt, der Steiger, wie derlei einzelne Vorberge in Thüringen so oft heißen. Man kann bis dicht an den schönsten Aussichtspunkt fahren.

Das heißt, wenn man eine Droschke kriegt. Das ist in dieser Stadt von 90 000 Einwohnern nicht so leicht. Zu den Zügen finden sich am Bahnhof einige dieser schweren, plumpen Viersitzer ein, mit denen verglichen eine Berliner Droschke zweiter Güte wie das flügelbeschwingte Gefährt des Sonnengotts erscheint; sonst muß man lange nach ihnen suchen. Endlich kam mir auf dem Anger so ein ehrwürdiges Vehikel mit der Geschwindigkeit von einem halben Kilometer in der Stunde entgegengebraust; ich winkte dem Kutscher, er hielt an, ich stieg ein: »Zeitfahrt. Halb drei. Auf den Steiger.« Aber so rasch macht man derlei verwickelte Geschäfte in dieser Geschäftsstadt nicht ab. Langsam kletterte der kräftige Mann vom Kutschbock, öffnete und schloß den Schlag, gleichsam um symbolisch anzuzeigen, daß dies seine Sache und Selbsthilfe hier nicht gebräuchlich sei, zerrte seine Taschenuhr von Tellergröße sacht hervor, zog sie auf, stellte sie nach der meinen und fragte dann freundlich: »Also, lieber Herre, wo'ihn soll's denn giehn?« – »Ich sagte schon, nach dem Steiger!« – »Ei ja, das is gued. Da haben Sie sihre recht, lieber Herre. Da ward's sihre schiene sihn! Da sollt jeder hihn! Also zuerschte ins Restaurang unn dann zum Aussichtspuhnkte! Jaa, so wollen meu's maachen!« Die Nase das Mannes hatte einen sanften Rosenschein. »Lieber umgekehrt«, sagte ich. »Aaber das Restaurang is sihre gued!« – »Eben darum!« Er kletterte wieder auf den Bock und setzte sein Pferd in Trab; nun war's die Geschwindigkeit von einem ganzen Kilometer in der Stunde.

Wir fuhren eine breite Straße entlang, dann durch ein enges Gäßchen, über eine Holzbrücke auf einen winkeligen Platz, den große, altersgraue Häuser umstanden. »Wie heißt dieser Platz?« fragte ich und zog den Plan hervor. »Der Plan is nech gued! Da werds nech druuf stihn!« Aber da las ich selbst an der Ecke. »Hospitalsplatz«, und ein Blick auf den Plan orientierte mich, warum mein Kutscher diesem braven, klaren Kärtchen so unhold war. »Mann«, rief ich, »da kommen wir ja nie zum Steiger!« – es war, als wollte man vom Potsdamer Platz nach dem Zoologischen Garten über die Chausseestraße gelangen. »O doch!« beteuerte er. »Aber ech daachte, Sie määchten doch auf dem Weeche was siehn! Hier is doch Knappen sihne Sammlung, was als Generalgonsul die schwarz-weiß-rote Fahne gegen die nackichten Wilden in Samoa geschwungen hat, unn denn unsre städtischen Altertümer, lieber Herre, steinerne Messer unn Dohbackspfeifen aus die Steinzeit, was die Arforder vor dausend Jaahren gebraucht haben. Allens aus Stein, es heeßt auch dorum die Steinzeit. Unn jetzt fahre meu also –« – »Nach dem Steiger«, fiel ich ein, denn selbst durch die Tabakspfeifen aus der Steinzeit schien mir der Abstecher nicht ganz gerechtfertigt. Er gehorchte, brümmelte aber immer vor sich hin: »Der Plan is nech gued.« Ähnliche Erfahrungen habe ich mit Erfurter Droschkenkutschern immer wieder gemacht. Nicht bloß die Steine, auch die Droschken reden, und diese hier sagen: »Wenig Vergnügungsreisende; eine durchschnittlich arme Stadt von anspruchsloser Lebensführung, in der sich selbst der Wohlhabende selten das bescheidene – ach, wie bescheidene! – Vergnügen einer Fahrt in solcher Droschke gönnt, und der Fremde darum ein sorglich ausgenutztes Geschenk des Himmels...«

Mehr und Erquicklicheres erzählt der Ausblick vom Steiger. Schon früher freute mich was: Das ganze Löberfeld, die weite Fläche im Süden der Stadt zwischen dem alten Erfurt und dem Steiger ist ein freilich derzeit noch zum geringsten Teil bebautes Villenviertel. Diese Villen sind freundlich, aber bescheiden, sichtlich Wohnhäuser von Leuten, die gleichermaßen vor Not wie vor Neid bewahrt sind, der einzige Schmuck der reiche Blumenflor in Fenstern und Vorgärten, und das ist nett – warum sollten nur reiche Leute in Villen wohnen? Auch an den Gassennamen, die freilich zum großen Teil das einzige sind, was schon von der Gasse existiert, hatte ich meine Freude. Sie sind fast durchweg nach Komponisten und Dichtern getauft. Sonderbare Schwärmer, diese Erfurter, wissen sie denn nicht, daß solche Namen nur dann in Deutschland als kümmerliche Lückenbüßer angewendet werden dürfen, wenn kein General, kein Stadtrat und kein Nest der Nachbarschaft mehr unverewigt ist? Mein Kutscher kam meinem Interesse an diesen Namen liebenswürdig entgegen, indem er mich nun kreuz und quer durch das ganze Viertel fuhr. Diesem Umstand verdanke ich die Erkenntnis, daß die braven Stadtverordneten von Erfurt der deutschen Literatur gegenüber ihren besonderen Standpunkt einnehmen: Geibel hat eine Hauptstraße, während sich kleine Leute wie Lessing, Kant und Uhland eben mit Nebengäßchen begnügen müssen; mancher leuchtende Name ist vergessen, aber nicht Voß und Simrock. Gleichviel, brave Leute sind's doch. Als ich endlich den Kutscher an unser Ziel erinnerte, bat er: »Nor noch meine Gasse« – die Wielandgasse. »Eech heeße Wieland«, sagte er stolz. »Christoph Martin?« – »Christoph Martin Wieland.« Und dabei fährt der Mann »nor zur Aushülf in Arford Droschke«. – »Eech bin aachentlich bei Gudhe (Gotha) for Bierfässer gedingt.« Überhaupt geht's den Klassikern heut nicht gut. Johann Goethe war vor dreißig Jahren Schuster in Wien und flickte hauptsächlich studentische »Kanonen«; da er dadurch vollends ins Ideale gekommen war, so hieß sein Ältester Johann Wolfgang; dieser ist dann Zwiebelhändler in Kroatien geworden. Noch immer besser als Friedrich Schiller, der ein berüchtigter Wucherer in Graz war. In der relativ günstigsten Lage traf ich Heinrich Heine; als er mich zuletzt in Eisenach rasierte, entwickelte er mir seinen Plan, Zahntechniker in Wiesbaden zu werden.


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