Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Von einer verschollenen Fürstenstadt

Alljährlich, wenn die Tage länger und heißer werden, faßt mich ein Gefühl, aus brennender Sehnsucht und behaglicher Neugier gemischt, das mich nie verläßt; es folgt mir bis in den tiefsten Traum. Wer ein Landkind ist wie ich, sehnt sich sein Leben lang, kaum daß der Winter vorbei ist, nach grünen, rauschenden Bäumen, nach Kühle und Stille, und hat er den höchst nervenstärkenden Beruf, Schriftsteller und Redakteur zu sein, so rüttelt ihn dies Sehnen in der qualmenden Stadt endlich wie ein Fieber. Aber tröstlich mischt sich in diese Qual die fröhliche Neugier: Wohin nun eigentlich? Mein Plan bei meinen Erholungsreisen ist immer, keinen zu haben. Als ich noch jung war und das Recht meiner Jahre auf Torheit redlich benützte, bin ich nach genau demselben Plan vier Jahre lang von Land zu Land gefahren, immer bereit, zu bleiben oder zu gehen, wie mein ungestümes Herz wollte. Das ist nun über zwanzig Jahre her; ich bin zahm und seßhaft geworden, trage die Fron täglicher Pflichten und mache auch sehr verständige Pflichtreisen mit Rundreisekarte und auf Tag und Stunde vorgeschriebenem Plan, o ja! wenn's sein muß. Aber im Sommer muß es nicht sein; da darf ich's treiben wie in den jungen Tagen. Ich mache mir keinen Plan, dessen Knecht ich dann bin, nehme mir nichts vor und versäume daher nichts, weiß am Morgen nie, wo ich am Abend sein werde, und lasse mich vom Augenblick tragen wie der Fisch von der Welle. Darüber werden die klugen, zielbewußten Leute, die acht Monate an dem Plan ihrer vierwöchigen Reise arbeiten, sicherlich lächeln, und mit Recht – aber, du lieber Himmel, das ganze bißchen Leben und Lebensglück vergeht uns ja in der klugen Jagd nach bestimmten Zielen – sollte man da nicht mindestens in seinem Vergnügen töricht sein dürfen? Auch ist es eine sehr angenehme Torheit: wenn ich so, nachdem der Koffer gepackt ist, die Landkarte vor mir ausbreite und mein Blick über die bunten Linien schweift, dann ergreift mich ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann, das mir um keine Weisheit der Welt feil wäre: da liegt die schöne Erde selbst vor mir ausgebreitet; die Flüsse rauschen, die Wälder flüstern, die Seen blinken zu mir empor, und die Wahrzeichen der Städte heben grüßend ihr Haupt – und dies alles ist mein; ich werde davon sehen und genießen dürfen, was mir beliebt... Und weil schließlich alles schön ist, für das Auge fast und in der Erinnerung gar ganz gleich schön, darum weiß ich, wenn ich abreise, höchstens die Himmelsrichtung, und auch die nur, weil es des Bahnhofs wegen sein muß.

Diesmal also wollte ich nach Westen, zunächst nach Frankfurt und dann in die Schweiz oder weiß Gott wohin, und mit diesem Gedanken ging ich vorgestern abend zu Bette, fröhlich wie ein Schneidergesell, der sich auf den morgigen Sonntag freut. Aber war's die Hitze oder die Freude, ich konnte nicht schlafen und holte daher aus der Handtasche eines der Bücher heraus, die ich mir als Reisebegleiter gewählt hatte: Goethes Briefe an Frau von Stein. Und da fiel mein Auge auf die Briefstelle aus Wörlitz, 14. Mai 1778: »Hier ist's jetzt unendlich schön... Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysäischen Felder; in der sachten Mannigfaltigkeit fließt eins ins andere; keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen an einen einzigen Punkt; man streicht herum, ohne zu fragen, wo man ausgegangen ist und hinkommt...«

Wörlitz? Und so schön ist's dort? Wo ist Wörlitz? Offenbar bei Dessau; Goethe war ja dort der Gast des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau. Aber das ist ja so nahe bei Berlin; das kann man von Berlin aus haben. Nein, morgen bis Frankfurt. Und mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Anders gestern morgen, als ich zum Bahnhof Zoologischer Garten fuhr. Freilich, dachte ich, ist Wörlitz nahe bei Berlin und schön und eigentümlich wie manches andere, wie zum Beispiel der Spreewald, den du noch nicht kennst, eben weil du immer denkst: Also nächstens! Mit Wörlitz soll's dir nicht so gehen. Und ich nahm meine Karte nur bis Güterglück.

Mit mir fuhr ein junges Ehepaar, das ich von irgendeinem Diner her kannte; es wollte nach Rippoldsau und malte mir die Reize des dortigen Kurhotels enthusiastisch aus. »Das teuerste Haus in Deutschland!« rief er begeistert. »Und diese Toiletten!« flüsterte sie. »Mindestens dreimal täglich muß man sich umkleiden!« Nun wieder er: »Kein Mann unter fünfzig Mille Einkommen!« Dann klagten beide über ihre Nerven; darum wollten sie von Rippoldsau nach St. Moritz und schließlich nach Scheveningen. O der Blick, mit dem sie mich maßen, als ich ihnen sagte, daß ich zunächst nur nach Wörlitz wollte! Und mit solchen Leuten kommt man bei Berliner Diners zusammen, dachten sie. Ich auch.

In Güterglück – wie sich nur der seltsame, freundliche Name erklären mag? – mußte ich über eine Stunde auf den Magdeburg-Leipziger Zug warten, der mich nach Dessau bringen sollte, und das war keine verlorene Zeit. Denn ich bin dadurch zu zwei stillbehaglichen Tagen in einer hübschen alten Stadt gekommen, an der ich sonst gewiß, gleich den meisten, vorbeigefahren wäre. Das aber kam so.

Als ich in der Bahnhofswirtschaft mein Bier trank, tat neben mir ein dicker alter Mann das gleiche; jeder Zoll ein Schlächtermeister, dachte ich im stillen, und richtig fragte er die Wirtin, ob sie Brägenwurst gebrauchen könne, »echte Zerbster Brägenwurst mit Zwiebeln«. Sie lehnte ab, und das verdroß ihn. »Den Magdeburgern, den Leipzigern«, sagte er mir, »läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn sie von Zerbster Brägenwurst hören, und in Güterglück mag man sie nicht! Was soll man dazu sagen?!« Da ich auch nicht wußte, was man dazu sagen sollte, so schwieg ich. »Haben Sie schon unsere Wurst gegessen?« fragte er weiter. »Ich erinnere mich nicht«, sagte ich schüchtern. »Die Wurst vergißt man nicht!« rief er. »Schon wegen der Zwiebeln. Dann haben Sie vielleicht gar auch noch kein Zerbster Bitterbier getrunken?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie kennen ja die besten Sachen nicht«, sagte er mitleidig, »fahren Sie nach Zerbst und tun Sie sich's an! Die schönste Stadt! Und morgen ist auch Königs-Vogelschießen auf der Schützenwiese.« – »Was gibt's denn sonst dort zu sehen?« – »Ein Kriegerdenkmal haben wir und die Butterjungfer aus Gold und eine Pferdebahn und alte Sachen. Und dann ist ja doch von uns die große Kathrin her, die sich dann mit mindestens dreißig Männern nacheinander hat trauen lassen. Im Schloß sind Bilder von ihr und ihre Wiege und so Zeugs.« – »Welche Kathrin?« Aber da fiel's mir bei: richtig, Katharina II. war ja eine Prinzeß von Anhalt-Zerbst! Brägenwurst und Bitterbier, Vogelschießen, Pferdebahn und Kriegerdenkmal hätten mich kalt gelassen, und was die goldene Butterjungfer sein sollte, wußte ich nicht, aber die Andenken an die große Kaiserin lockten mich, und um keinen Preis hätte ich den eifrigen und ohnehin gekränkten Lokalpatrioten darüber aufklären mögen, daß es zwar mit den mindestens dreißig Männern seine Richtigkeit hatte, aber mit den Trauungen nicht. Noch ein Blick in den Baedeker, und als ich dort las: »... noch von Mauern, Türmen und Graben umgeben«, da sagte ich: »Ich will hin.« Der Schlächtermeister lächelte mit Mund und Backen und allen vier Unterkinnen. »So ist's recht! Ich selbst muß nach Magdeburg, aber meine Würste treffen Sie überall!... Was sind Sie denn?« – »Schriftsteller.« – »Also beim Gericht«, sagte er (er hatte offenbar von Schriftsätzen gehört). »Dann gehen Sie zu Schulzen gegenüber der Nikolaikirche, hinter dem Rathaus.« Ihm pfiff sein Zug nach Magdeburg, ich aber stieg eine halbe Stunde später in Zerbst aus.

Die Wahrheit zu sagen, der Anfang war nicht ermutigend. Außer mir stieg niemand aus, und als ich aus dem Bahnhof trat, lag in der prallen Sonnenglut ein von grünen Büschen umrahmter kleiner Platz vor mir; in der Ferne tauchten hinter dem Buschwerk Häuser auf, und etwas näher, in einer Ecke des Platzes, stand ein kleiner Pferdebahnwagen mit einem Roß davor, das melancholisch in der grausamen Hitze Schwanz und Ohren hängen ließ. Aber ein Kutscher war weit und breit nicht zu sehen. Minute um Minute verstrich, rings kein Laut, nur heiße, brütende Stille. Das war ja nun allerdings eine Sehenswürdigkeit, diese Pferdebahn.

Aber dann kam Leben in die Sache. Aus der Bahnhofswirtschaft trat der Kutscher, wischte sich den Mund und fragte: »Machen Sie vielleicht mit hinein? Dann geht's los!« Er schaffte mein Gepäck in den Wagen, und nun ging's wirklich los, aber sachte; ohne jede Übereilung rollten wir der Stadt zu. Zunächst breite, gerade Straßen mit kleinen, modernen, freundlichen Villenhäusern; dann jenseit eines kleinen Brückleins, unter dem ein Bächlein dahinschlich, eine hohe, graue Mauer. Aber sieh – jählings, als wär's nicht mehr dieselbe Stadt, rücken nun die Häuser enger zusammen, daß das Wägelchen fast den ganzen kleinen Raum zwischen den Bürgersteigen einnimmt, und diese Häuser sind alte heimelige Giebelhäuser, und die Leute rechts und links bleiben stehen und gucken neugierig den Fremden an. Nun gar ein Prachtstück: ein uralter, riesiger, freistehender Glockenturm, dann immer stattlichere Häuser aus dem 16., höchstens 17. Jahrhundert. Endlich aber als Schönstes der Marktplatz: das prächtige, dreigiebelige Rathaus mit der Rolandsäule davor, aber auch sonst fast jedes Haus mit einem Wahrzeichen geschmückt und selbst ein stattliches, wohlerhaltenes Wahrzeichen deutscher Baukunst. »Ja«, sagte der Kutscher stolz, »unser Markt!« Dann begann er sachte mein Gepäck auf das glühende Pflaster abzuladen; flachshaarige Buben und Mädel schlichen neugierig herbei; einige von ihnen teilten sich in mein Gepäck, und hinter ihnen her wandelte ich langsam über den schönen Platz meinem Gasthof zu. Es lohnt sich zuweilen, dachte ich im stillen, wenn man unterwegs mit alten Schlächtermeistern redet; aber warum bedurfte es erst dieses Zufalls? Seltsam, diese Stadt und dieser Verkehr!

Das war gestern mittag mein erster Eindruck, und heute nachmittags wo ich aus meiner kühlen Stube in dem wohnlichen alten Hause den schönen Platz nochmals übersehe und mich all des Behaglichen und Sehenswerten erinnere, das mir dieser Aufenthalt gebracht hat, kann ich auch nur ähnliches sagen. Ich weiß ja nun: es gibt in Zerbst große Pferde- und andere Märkte, und im Frühling und Herbst kommen die Herren Kommis mit den neuen Mustern und den alten Anekdoten, auch sollen sich die Guts- und Fabrikbesitzer der Nachbarschaft hier oft gütlich tun. Und nicht immer ist's so heiß, daß zur Pferdebahn der Kutscher fehlt. Kurz, ich will meine Erfahrung nicht verallgemeinern, aber warum kommen so wenige nur ihres Pläsiers wegen?

Ja warum? Zerbst ist kein blendendes, bewunderungswürdiges Schaustück, aber in seiner stillen Art ein guter, alter, anheimelnder Raritätenkasten, und auch derlei hat sonst viele Freunde. Hier fehlen sie, weil – aber das weiß ich eben nicht. Freilich, die Notiz im Baedeker ist knapp, und die Stadt hat es noch zu keinem eigenen Führerchen samt Stadtplan gebracht, deren es sonst heute in jedem Nest gibt, aber daran allein kann es nicht liegen. Ich glaube, es ist eben Schicksalssache mit den Städten wie mit den Büchern. Der Ruhm ist nie unverdient, wohl aber zuweilen die Verschollenheit. Was besprochen wird, kennt man, und was man kennt, wird besprochen, und wie sich Erfolg und Reklame verketten, hat noch niemand ergrübelt. Deshalb leben sie doch in der Stille fort, die guten Bücher und die guten Städte.

Und Zerbst lebt sogar behaglich. Das konnte ich schon an dem Mittagessen im Gasthof erkennen. Selbst die großen internationalen Hotels sind immer, wenn auch nur dem schärferen Auge erkennbar, vom genius loci beeinflußt, und nun erst der Gasthof einer Mittelstadt, wo die Honoratioren verkehren, die es dort besser finden wollen als zu Hause. Das Essen war menschenwürdiger als zumeist in diesen Gegenden. Denn in Mitteldeutschland ißt man am schlechtesten. »Wir sind eben keine Schlemmer«, sagte mir vor vielen Jahren ein reicher Leipziger Verleger, als er mich mit einem mir unvergeßlich gebliebenen Kalbsbraten bewirtete, »im Herzen Deutschlands denkt man lieber an ideale Interessen.« Aber ich glaube, das war mehr eine Erklärung für diesen besonderen Kalbsbraten als für die Erscheinung im allgemeinen. Ich wenigstens werde beim Essen ungern durch zähes Fleisch und fades Gemüse an ideale Interessen erinnert und fand es löblich, daß mir dies hier erspart blieb.

Dann aber dachte ich an diese Interessen, und auch hier war, wie in jeder fremden Stadt, mein erster Gang in den Buchladen, mir einen Spezialführer zu kaufen. Ich tue dies immer, nicht bloß in den seltenen Fällen, wo ich über meine Reise zu schreiben vorhabe, und kann dies jedem raten, der rechte Freude am Fremden gewinnen will. Die Baedeker sind in allem Praktischen die besten Reiseführer der Welt, mit größtem Geschick dem Bedürfnis des Durchschnittsmenschen angepaßt, darum eben auch im Detail knapp. Und doch gibt erst das Detail Farbe und Leben, und erst das Wissen gibt rechte Liebe. Nun, hier gab's kein solches Büchlein. Und einen Stadtplan nur in Folio. Da ging ich denn selbständig drauflos. Selbständig, einsam, aber nicht alleine. Denn die drei Buben, die mir mein Gepäck in den Gasthof getragen hatten, Hänschen, Ernstchen und Fritzchen, waren plötzlich wieder da und folgten mir auf drei Schritte Entfernung, verlegen die Rotznäschen senkend, wenn ich umblickte, aber beharrlich.

Zunächst zum Schloß. Über den stillen Markt, dessen alte graue Giebelhäuser mit den geschlossenen, verhangenen Fenstern im grellen Sonnenschein wie in Schlaf gebannt lagen, dann die enge kühle Gasse, die Alte Brücke entlang, durch die ich vom Bahnhof hergekommen war, bis zu dem Glockenturm. Schwer und massig ragt der graue Riese in die Luft, fast die Gasse sperrend; der abgebröckelte Anstrich läßt gewaltige, roh behauene Steinblöcke sehen; so fügten sie bis ins 12. Jahrhundert hinein die klotzigen Türme; bemerkenswert scheint mir die in Norddeutschland seltene Ablösung vom Hauptbau. Dieser Bau, die Bartholomäikirche, ursprünglich natürlich gleich dem Turm romanisch, ist offenbar seither so vielfach umgestaltet worden, daß er heute von außen einen seltsam buntscheckigen Eindruck macht. Ich wollte das Innere besehen und kommandierte meine Leibgarde, den Küster zu holen.

Hänschen und Ernstchen stürzten ab, aber Fritzchen blieb. Er war weitaus der hübscheste von den Jungen, für seine neun Jahre auffallend schlank und stark, das freilich ungewaschene Gesicht von kühnem, edlem Schnitt. Ich strich ihm das feine Haar aus der Stirn. »Sag mal, Fritzchen, wer ist denn dein Vater?« Da wurde der Knabe blutrot, und die blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Mutter sagt's nicht«, stammelte er. Mein Trostwort und ein Trostgroschen machten es nicht gut. Als ich mich einen Augenblick abwandte, war Fritzchen verschwunden und kam nicht wieder. Mein Lebtage will ich kein Kind mehr nach seinem Vater fragen, mindestens gewiß nicht ein auffallend schönes Kind.

Die beiden anderen aber kamen mit einer Magd zurück, die ein behaglich einfältiges Gesicht hatte und einen großen Schlüssel in der Hand trug. Der Küster sei nicht zu Hause, meldete sie, auch sei drinnen nichts Rechtes zu sehen. »Nun, Bilder werden doch da sein«, meinte ich, »auch möchte ich den Bau sehen.« – »Es sind ja aber nur so ganz alte Bilder, und gebaut ist alles von Stein!« Ich mußte laut auflachen; verdutzt sah mich die Gute an und lachte dann mit. »Aber Sie haben da doch einen Schlüssel?« fragte ich weiter. »Der ist ja zum Turm«, sagte sie eifrig, »da werden wir jetzt gleich hinaufsteigen!« – »Ich nicht! Bei dieser Hitze!« – »Aber oben sieht man ganz Zerbst und sieben Dörfer!« Ich blieb hart. Da spielte sie ihren stärksten Trumpf aus. »Mein guter Herr«, sagte sie mahnend, »da ist schon einmal der frühere Herr Kreisdirektor hinaufgestiegen!« Aber selbst dies Beispiel rührte mich nicht, und ich wanderte weiter, nach der Schloßfreiheit.

Ein unregelmäßiger Platz, in den die neuerbaute Schloßwache störend hineinschneidet; auch von den älteren Häusern einige nüchtern – und doch, läge dieser Platz nicht in Zerbst, wie oft wäre er schon gemalt und nun gar photographiert! Denn hier stehen auch einige Bauten im reichsten französischen Barock, wie man sie schöner, ja nur gleich schön selten finden wird. Namentlich zwei kleine einstöckige Palais dicht am Park sind geradezu entzückend, von den schönsten, zierlichsten Verhältnissen; und alles, alles, vom First bis zur Schmucklinie des Erdgeschosses, und Fenster und Fenstergitter und Türen und Schlösser und nun gar die Friese und Kartuschen von demselben Geist feiner, fröhlicher, überquellender Üppigkeit erfüllt. So um 1700 mögen sie erbaut worden sein, von wem weiß ich nicht, aber für wen wag ich zu erraten: das Schloß liegt ja dicht daneben; dort hauste Serenissimus mit Serenissima, hier aber seine Herrin – warum sollten wir immer Mätresse sagen? Ein schweres, blondes Edelfräulein des eigenen Landes oder eine kleine, pikante, braunäugige Französin oder eine italienische Sängerin mit schwarzen Glutaugen. Aber es sind ja zwei solcher Häuser, wird man mir einwenden. Oh, das stößt meine Hypothese noch lange nicht um; die Zerbster Fürsten waren sehr, sehr lustige Herren...

Nun zum Schloß. Ein stolzer Bau, dem Mitteltrakt schließen sich rechtwinklig zwei langgestreckte Flügel an, so daß der Schloßhof ein nur nach dem Park offenes Rechteck bildet. Gleichfalls Barock, aber mit stärkerer Betonung antikisierender Formen als an den Schmuckstücken der Schloßfreiheit; stammt das Schloß von demselben Meister wie diese, so war er für die kleinere Aufgabe begabter. Immerhin ein stattlicher Bau; wir haben in Deutschland schönere Schlösser aus derselben Zeit, aber kaum eines, das imponierender wirkte. Wenigstens auf mich übte es diesen Eindruck, wie es so plötzlich in der Stille und Öde des verwilderten Gartens vor mir stand. Ich setzte mich auf eine Bank am Rand des Parks und schaute hin und schaute. Mir wurde ganz märchenhaft zumut... Das verwunschene Schloß; kein Laut, keine Spur der Menschen; nur die Mücken zirpen im Grase, und um den Turm kreist langsam eine Schwalbe in der heißen, schweren Luft... Hin und wieder blitzt es in einer Ecke des Schloßhofs, die Sonne spiegelt sich in etwas Glänzendem, das kommt und geht, was mag das sein?... Aber nun ist's verschwunden, und auch die Schwalbe sehe ich nicht mehr, und alles ist stumm und schläft und träumt, das stolze Schloß und all die Menschen, die darin hausen, und ich selbst träume... Von fern klingt der Schlag einer Turmuhr herüber und ertrinkt in der Stille; ich zähle: drei Uhr – die Schloßuhr aber weist auf zwölf. Mittag war's, da einst der Zauber gesprochen ward und alles in Schlummer verfiel: Serenissimus, der sich eben nach dem Dejeuner zum Gang in das kleine lustige Palais rüstete, und Serenissima, die sich die Schminke neu auflegen ließ, und der Erbprinz, als er im Schweiß seines Angesichts die »Phädra« übersetzte, und der Kammerjunker, als er das Hoffräulein auf das Schminkpflästerchen der linken Schulter küßte, und der Hofprediger über der Postille, der Gardist in der Wachstube, der Koch am Bratofen und die Lakaien jeder am Platze, wo sie sich gähnend herumgedrückt hatten. Ist aber die Zeit um und der Zauber gebrochen, dann geht Serenissimus quer über den Rasenplatz zu seiner Holden, und Serenissima blickt ihm seufzend nach oder läßt vielleicht im Gegenteil den hübschen Abenteurer, der jüngst aus Paris an den Hof gekommen ist, seine Fortune zu machen, zur Audienz befehlen, und das Leben rollt weiter, das lustige üppige Leben eines kleinen deutschen Hofes um 1700...

»O du Ochse!« Ich fuhr empor. Zehn Schritte hinter mir vertrieben sich Hänschen und Ernstchen die Zeit mit Balgen und landesüblichen Kosenamen. Da war ich wieder ganz wach. Nein, dacht ich, sie schlafen nicht, sie sind tot, ganz tot, und das ist gut. Denn ihr lustiges, üppiges Leben war doch mit zuviel Blut und Tränen ihrer Untertanen bezahlt. Nun aber wollen wir sehen, wie sie gehaust und wie sie ausgeschaut haben. Ich stand auf und ging dem Schlosse zu.

Nun sah ich auch, woher das Blinken rührte, das vorhin gekommen und gegangen war: von der Pickelhaube des Soldaten, der hier Wache hielt. Es war der einzige Mensch auf dem Schloßhof, auch alle Fenster und Türen geschlossen. Einen Wachtposten darf man nicht ansprechen, und er darf nicht antworten, aber laut mit sich selbst reden darf der Mensch, und mit den Augen winken darf der Soldat. Und so sagte ich sehr vernehmlich vor mich hin: »Wo soll ich nun den Kastellan suchen?«, und der brave Anhaltiner lächelte und wies mit den Augen nach dem linken Flügel. Dort traf ich den Mann.

Der Kastellan – aber es schickt sich und ist im vorliegenden Falle wirklich das einzig Richtige, wenn ich »der Herr Kastellan« sage, denn in diesem Manne ist viel Wissen und Würde – hat sich redliche Mühe mit mir gegeben und mich lange, sehr lange treppauf, treppab von Saal zu Saal geführt und dabei unablässig auf mich los erklärt; freilich, allzuviel Besuch hat er ja nicht, und was man auswendig gelernt hat, will man doch auch gern mal aufsagen. Die Mühe war auch nicht vertan, es hat mich fast alles interessiert, nur war ich in vielem anderer Meinung als er. Mehr als manche andere abgedankte Residenz macht dies Schloß den Eindruck eines kalten, verstäubten Raritätenmuseums, nicht eines Hauses, durch das lange volles warmes Leben pulsierte, dessen Hauch man auch heute noch empfinden muß. War doch auch seine Glanzzeit kürzer als seine Bauzeit; 1681 begonnen, wurde es erst 1750, also nach 69 Jahren, vollendet – warum es so lange währte, von welchem Baumeister der Plan herrührt, konnte mir der Herr Kastellan nicht sagen: »Dieses ist nicht aufgeschrieben« –, und dann blieb es nur noch 43 Jahre bewohnt, schon 1793 starb der Mannesstamm der Zerbster Linie aus. Vier Jahre später kamen Schloß und Stadt in den Dessauer Zweig; die Herzoge von Anhalt kamen und kommen selten. Kein Wunder, in dieser ewig langen Reihe von Prunksälen, durch kein Kabinett, keinen mittelgroßen Wohnraum unterbrochen, muß sich's unbehaglich hausen lassen. Dagegen nützen die kostbarsten Möbel im Geschmack Louis' XV., die kuriosesten Spielwerke, Rokoko-Nippes und eingelegten Schränke, die teuersten Teppiche und Gobelins nichts, auch wenn sie sämtlich sehr hübsch wären, was man nicht sagen kann. Die Zerbster Herren haben sich's bei der Einrichtung mehr Geld als Geschmack kosten lassen; jeder, wie er kann. Dem Herrn Kastellan, oder richtiger, dem Verfasser der von ihm vorgetragenen Erklärung, ist freilich alles herrlich und vieles unvergleichlich; ich hütete mich gestern wohl, zu widersprechen; heute aber möchte ich sagen: Wer sich für derlei Dinge interessiert, wird schon deshalb den Besuch in Zerbst lohnend finden; handelt es sich doch um eine Zeit, wo fast jedes kunstgewerbliche Erzeugnis ein Unikum war. Und man findet solche Unika anderswo nicht kostbarer, wenn auch geschmackvoller. Die Zerbster haben ihr Schloß eingerichtet wie heute nur noch ein ganz rüder Parvenü seine Wohnung; sie rafften das Teuerste von dem zusammen, was zu ihrer Zeit erzeugt wurde. Kein Stück aus dem Mittelalter, kaum eines aus dem 16. Jahrhundert. Nirgendwo eine Statue, eine Landschaft, eine Historie; die Bilder fast nur Familienporträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert und fast sämtlich von recht geringem Kunstwert.


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