Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Pflanzen vergehen, Steine bestehen. Dicht am Anger, hinter dem Lutherdenkmal, ragt inmitten uralter Bäume der düstere Bau der Kaufmannskirche empor, der älteste Teil neun, aber selbst der jüngste schon sieben Jahrhunderte alt. Wer aus dem Gewühl des Marktes unter diese rauschenden Bäume tritt, in deren Schatten es ewig feucht, kühl und dämmrig ist, und zu dem gewaltigen Bau emporblickt, müßte sehr stumpf sein, um nicht Ehrfurcht vor dem starken Geschlecht zu empfinden, das ihn so derb und kunstvoll zugleich emporgetürmt hat, vor fast einem Jahrtausend und für Jahrtausende. Nur an wenigen Orten Deutschlands, so namentlich am Hildesheimer Domplatz, schlägt einem so der Hauch uralten deutschen Wesens, der dämmerigen Morgenzeit unserer nationalen Kultur entgegen wie unter diesen Bäumen. Das Innere aber blieb mir verschlossen wie das aller evangelischen Kirchen Erfurts; hier war der Küster zur Abwechslung zwar zu Hause, aber, wie er mir aus einer Tabakswolke entgegenrief, »zu beschäftigt«, vermutlich muß er täglich eine bestimmte Anzahl Pfeifen rauchen. Nun, in sein Schicksal muß sich der Mensch finden. Den starken Eindruck des Äußeren konnte mir mein Mißgeschick hier ebensowenig trüben wie bei der Barfüßer-, Prediger- und Reglerkirche, die sämtlich auch aus dem 12. Jahrhundert stammen, also gleichfalls Wahrzeichen des jungen, unter tausend Fährlichkeiten emporgediehenen Gemeinwesens sind. Ein anderes solches Wahrzeichen, die St. Laurentiikirche in der alten Schlösserstraße, zu der ich eben deshalb pilgerte, ist vor zwölf Jahren von Grund aus so schrecklich schön umgebaut worden, daß sich der Gast mit Grausen wendet; hingegen ragt die in gleicher Zeit erbaute Schottenkirche mit ihren riesigen Pfeilern und winzigen Bogenfenstern noch fast unverändert empor. Als ich vor dem ehrwürdigen, altersgrauen Gemäuer stand, trat ein zierliches, rosenwangiges Männchen mit geöltem Haar, eine schwere Goldkette über dem Spitzbäuchlein, ein Spazierstöckchen in der beringten Hand, gleichfalls heran. »Schgandahl!« sagte er entrüstet. »Verwahrlost gönnde man fast sachen! Ne Girche muß appedidlich sein wie 'ne Apodheke!« Der Vergleich fiel mir auf; das freundliche Wesen, das geölte Haar – kein Zweifel, ein Pillenherr von der Elbe oder Pleiße. »Sie sind wohl Apotheker?« fragte ich. »Ei ja – Sie wohl ooch?« Nun habe ich seit dreißig Jahren allerdings ein kleines Laboratorium, in welchem ich ehrlichen Herzens, wenn auch mit schwacher Kraft allerlei Tränklein gegen die Krankheiten der Zeit braue, aber einen Apotheker darf ich mich deshalb doch nicht nennen. Ich verneinte also und empfahl dem Freunde »appedidlicher« Kirchen die St. Laurentiikirche. Sie ist geeignet, ihm Freude zu machen.

Einen noch stärkeren Eindruck aber als von irgendeiner, selbst von der Kaufmannskirche habe ich von einem anderen Überrest des uralten Erfurt empfangen, von der Krämerbrücke. Von einem gewaltigen, viereckigen, mit spitz zulaufendem Helm gekrönten Kirchlein, St. Ägidien, als Brückenkopf geschützt, öffnet sich auf einer Steinbrücke über der Gera eine enge Gasse alter, mit Kaufläden versehener Häuser; trotz des Gewühls hört man unten den wilden Fluß rauschen, aber man sieht ihn nirgendwo, nur vom Ufer kann man sehen, wie die Häuser auf dem Brückenbogen ruhen, in deren Wölbungen ihre Keller wie Schwalbennester kleben. Es ist kaum zu sagen, wie seltsam, wie so recht mittelalterlich dies Gäßlein anmutet; wer hindurchgeht wird versucht, mit offenen Augen zu träumen, obwohl von den Häusern der größte Teil erst aus dem 17. Jahrhundert stammen dürfte und obwohl sie heute unter anderem auch Maggi und Van Houtens Kakao dort feilbieten. Aber die Phantasie wird rege und setzt an die Stelle der Männer von heute Ritter in stählernem Waffenrock, Bürger in buntem Tuchwams, Bauern in härenem Flaus; dazu Frauen im faltigen Gewand in allen Farben des Regenbogens und Jungfrauen in knappem, blauem Mieder über dem dunklen Tuchrock, den Blumenkranz oder das Schappel im blonden Haar, und Beginen in langem, grauem Sack und mit niedergeschlagenen Augen. Aber freilich, nicht alle diese Büßerinnen schlugen die Augen nieder, wenn man dem bösen Erfurter Dichter Nikolaus von Bibera trauen darf, der so Erbauliches von den metrischen Arbeiten der Beginen zu berichten weiß, immer in Daktylen oder anderen Dreifüßlern, aber man frage mich nicht, warum. An diese Art von Beginen wird man sogar auf der Krämerbrücke sehr oft erinnert; koketter können sie nicht gewesen sein als die unzähligen Näherinnen, die jetzt hier herumlaufen, gibt es doch zur Zeit in Erfurt fünfzehn Mäntelfabriken... Wer hier einst wandelte, das habe ich mir so annähernd ausmalen können, aber nicht entfernt, was alles hier verkauft wurde. »Hier die fremden Tuchstoffe«, berichtet der bereits zitierte Geschichtsschreiber Erfurts, »Samt und Seide, dort duftige Spezereien, Wachs, süßer Kandit, Zuckermehl und Muschetin, Büchsen mit Pfeffer, Safran und Ingwer... Ist es doch hie und da, als wenn des Orients Schätze aus dem Füllhorn eines Zauberers ausgeschüttet wären... Schöne Verkäuferinnen versetzen uns durch ihre phantastische Kleidung auf die Basare der fernsten Lande...« Ich sag's ehrlich: was immer mir die Phantasie, von ihren stärksten Helfern, Auge und Nase, gefördert, auf der Krämerbrücke vorgaukelte, schöne Verkäuferinnen nicht und duftige Spezereien womöglich noch weniger... Aber trotzdem rat ich jedem, der in Erfurt verweilt, sich dies Stück Mittelalter anzusehen. Namentlich in der Dämmerung, wenn die modischen Gewänder und die neuen Ladenschilder verschwimmen und der Fluß stärker unter der engen Häuserzeile rauscht, wird einem wie verzaubert zumute...

Hier war Kraft und Geld und hochgemuter Sinn, und darum kam Erfurt auf und schwang sich lange nach jedem Schicksalsschlag kräftiger empor. Aber Mut bleibt ja die größte Weisheit auf Erden, und vielleicht glückte ihnen deshalb mehr, weil sie mehr einsetzten. Schon was wir bisher von den Wagnissen der Bürger vernommen, grenzt ans Kühnste, was im deutschen Mittelalter versucht wurde, und nun gar die Rolle, die sich Erfurt im 13. Jahrhundert herausnahm! In den Kämpfen, die nach Heinrichs IV. Tode hereinbrachen, war Erfurt, obwohl doch halb dem welfischen Landgrafen Hermann von Thüringen, halb dem welfischen Mainzer Erzbischof Siegfried II. untertan, gut ghibellinisch, huldigte dem Sohne des großen Barbarossa, Philipp von Schwaben, und öffnete seinem Anhänger, Luitpold von Worms, den die Ghibellinen auf den Mainzer Stuhl setzen wollten, die Tore. Nicht zum ersten Male wurde in den furchtbaren Kämpfen, die nun folgten, Erfurt belagert, sein Gebiet verwüstet, aber zum ersten Male griff es als eine Macht in die deutschen Händel ein, der städtische Kernpunkt der Waiblinger wie Köln der Welfen. Die Erfurter wagten's, ob nun aus demselben deutschen Gefühl heraus, das die Edelsten jener Zeit unter Philipps Fahnen führte, ob nur, weil ihnen alles paßte, was gegen ihren Mainzer Zwingherrn ging – genug, sie taten's, und wie schweren Preis sie auch dafür bezahlen mußten, ihr Ziel ward erreicht: nun wußte Deutschland, was Erfurts Bürgerkraft bedeute. Immer gegen Mainz, öffnete dann die Stadt dem vom Papst gebannten Otto IV. ihre Tore und wehrte sich später gegen den gewalttätigen Erzbischof Siegfried III. auf das äußerste; ihre Hoffnung war der Kaiser. Aber Friedrich II., der Städtefreiheit abhold, schützte sie nicht, sondern fügte sogar, als sie dem Mainzer Heerfolge und Steuer verweigerten, dem Bann der Kirche die kaiserliche Acht hinzu. Ihr Geld kaufte die Bürger von beidem los, aber da fast gleichzeitig auch die weltliche Gerichtsbarkeit an Mainz fiel, so waren sie nun scheinbar völlig dem Erzstuhl untertan. Nur scheinbar; die innere Machtfülle Erfurts war eine Tatsache, die ihr Recht forderte. Und so kam es 1255 zu einer in ihrer Art einzigen Verfassung: dem Bischof blieb zwar dem Namen nach die Souveränität, aber er hatte, Ehrengaben geringen Wertes abgerechnet, nichts zu fordern und, wo ihm nicht etwa das Interdikt als Waffe diente, von Rechts wegen nichts zu befehlen. Der eigentliche Regent der Stadt war der Rat der Vierzehn, der frei über fast allem schaltete, was sonst dem Landesherrn zusteht, und nicht allein im Innern: hatte er doch sogar das Recht, auswärtigen Mächten den Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Bündnisse einzugehen. Man sieht, so gut wie die Häupter irgendeiner freien Reichsstadt hatten die Erfurter Ratsmeister das Recht auf den stolzen Titel, den sie führten: Consules. Das Leben ist immer unendlich vielgestaltiger als alle Theorie; kein Terminus des Staatsrechts umreißt das Verhältnis zwischen Mainz und Erfurt; es ging in vielem über die Suzeränität hinaus, blieb in anderem hinter ihr zurück; so wurden zum Beispiel die Urteile vom Grafen-Vogt im Namen des Erzstifts verkündet, hingegen Lehen vom Reich und den Nachbarfürsten im eigenen Namen erworben. Ob Erfurt recht daran tat, sich mit dieser Stellung zu begnügen, statt die volle Souveränität als Reichsstadt zu erringen, warum es dies unterließ, soll später angedeutet sein. Jedenfalls hatte es durch zwei Jahrhunderte keinen zwingenden Grund, eine Änderung anzustreben, es kam unter der Herrschaft seiner Ratsmeister, die dem Mainzer und seinem Lehensmann, dem Grafen-Vogt von Gleichen, den Treueid leisten mußten, so hoch oder noch höher empor als irgendeine Reichsstadt vom 12. bis zum 15. Jahrhundert.

Ohne schwere, harte Kämpfe ging auch dies nicht ab; Ströme Bluts bezeichnen den Weg von dem kleinen, wenn auch blühenden Acker- und Handelsstädtchen zur Großstadt Mitteldeutschlands, von dem bischöflichen Eigen zur Beherrscherin eines stattlichen Gebiets. Immer wieder weht das weiße Rad im roten Feld über der gewaffneten Schar der Bürger und ihrer Söldner, bald zur Erhaltung des Besitzes, bald zur Eroberung. Der Chronist mag die zahllosen Kriegszüge in Trutz- und Schutzfehden zu scheiden suchen, unserem Auge fließen sie in eins zusammen; wer unablässig immer mehr Gut und Macht begehrt, ist auch dann ein Eroberer, wenn er das Erraffte zeitweise mit dem Schwert verteidigen muß. Selbst die »kaiserlose, die schreckliche Zeit« schlug den Erfurtern gut an; noch besser die Regierung Rudolfs von Habsburg; hier hielt er fast ein Jahr (1290) Hof; das Peterskloster, wo er residierte, war der Schauplatz stolzer Feste, deren Ruf bis über die Alpen drang; ein Volksfest der Erfurter, der »grüne Montag«, erinnert noch heute an diese fröhlichen Zeiten. Erfurts Bürgerschaft war Rudolfs Arm, als er die Thüringer Raubburgen brach, und ihr Säckel der des armen Schweizer Grafen; freilich schenkten sie ihm nichts. Ihm nicht und keinem der ewig geldbedürftigen Herren im Lande. Die Art, wie sie zu einzelnen Dörfern, dann zu ganzen Grafschaften kamen, war fast immer dieselbe: es waren zunächst Pfänder für Darlehen. So kam die Grafschaft an der Schmalen Gera, so die von Kapellendorf an Erfurt; Vargula, Sömmerda, die Landschaft um die Drei Gleichen wuchsen seinem Gebiet zu, das an Größe und Zahl der Bewohner manches Fürstentum überstrahlte. Kein Wunder, daß die Landgrafen von Thüringen, die Kurfürsten von Sachsen, von geringeren Herren zu schweigen, immer wieder ihre Hand nach der reichen Stadt streckten; auch mit seinen Mainzer Schutzherren geriet Erfurt je nach dem Zeitenlauf und namentlich je nach der Sinnesart dieser Kirchenfürsten auch wieder in Kämpfe; war einer von ihnen kriegerisch und herrschsüchtig, so suchte er »des Erzstuhls getreue Magd«, die in Wahrheit selbst eine Herrin war, zur Sklavin zu machen; es gelang nicht. Wieviel Einwohner Erfurt zur Zeit seiner höchsten Blüte, um 1420, zählte, ist noch heute ein Gegenstand des Streits seiner Geschichtsschreiber, der an Heftigkeit an die Fehden jener Zeit erinnert: die höchste Schätzung geht auf 80 000 Seelen, aber selbst die geringste auf die Hälfte; auch dies noch doppelt soviel, als Nürnberg im Mittelalter hatte. Also eine der volkreichsten Städte Deutschlands und sicherlich die geldreichste. Aber noch mehr, die geistig strebsamsten die gebildetste. Nur so erklärt es sich, daß diese damals formal einem Gebieter unterworfene Handelsstadt eine Kulturtat vollbrachte, deren sich in Europa keine andere berühmen darf: aus eigenen Mitteln schuf Erfurt, von keinem Fürsten gefördert, von vielen behindert, 1378 eine Universität, nächst Prag und Wien die älteste in Deutschland, zugleich die erste, die alle vier Fakultäten aufwies. Eine Hochburg des aufstrebenden Humanismus, hatte sie in ihrer Blütezeit an 900 Studenten, eine für jene Zeit ungeheure Zahl, und einer von diesen Erfurter Studenten hat seiner Alma mater nachgerühmt, daß alle anderen Hohen Schulen Deutschlands, Wien und Prag, Heidelberg und Leipzig, »dagegen wie kleine Schützenschulen gelten«. Auf dies Zeugnis ist was zu halten, denn der Student hieß Martin Luther aus Eisleben.

Freilich, die Erfurter hatten's dazu. Die Quellen dieses Wohlstandes waren dieselben wie früher, nur immer planvoller und reicher entwickelt. Der Bau und Vertrieb von Waid und Gewürzen mehrte sich mit dem steigenden Bedarf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu einer Höhe, die der sonst armen Zeit wie ein Wunder erschien, auch ein anderer Farbstoff, der Kermes, die Eier der Kermesschildlaus, die von den Stengeln der Stecheiche gesammelt und zu einem roten Pulver zerrieben wurden, brachte den Erfurtern Goldbarren ein. Beträchtlich war aber auch der Ertrag der Obst- und Gemüsezucht; hier gediehen die Riesenäpfel und -birnen, die dem derben Geschmack der Zeit zusagten; die kolossalen Erfurter Rettiche, das Stück zwanzig Pfund und darüber schwer, wurden weit über Deutschland hinaus verfrachtet. Als Friedrich der Freidige 1311 bei einer Belagerung der Stadt alle Obstbäume fällen ließ, klagten mit den Bürgern alle Feinschmecker Mitteleuropas; nach zehn Jahren war der Schade völlig verwunden; viel langsamer erholte sich fünf Jahrhunderte später das geschwächte, gedemütigte Erfurt, als die Franzosen (1813) den gleichen Frevel verübten. Aber nicht bloß die fette Erdschicht über dem Kalkboden, auch Wasser und Gestein machten Erfurt reich: die Gera trieb unzählige Mühlen und wimmelte von Fischen; das Erfurter Salz würzte allen Westdeutschen das Mahl.

Höher und höher kamen auch Gewerbe und Handel empor. Es war ja kein Verdienst der vierzehn Gefrunden (Patrizier), die die Stadt in dieser frühesten Blütezeit regierten, daß die meistbefahrene Handelsstraße Mitteldeutschlands, die Oberstraße, aus dem Hessischen über Erfurt nach Leipzig führte, daß von Erfurt die Straße nach Dresden abzweigte, von hier die nach Norden, und noch weniger ihr Verdienst, daß Thüringen das Herz Deutschlands war und Erfurt das Herz Thüringens, also die »Mitte der Mitte«. Aber ihr Verdienst, wie sie diese natürliche Lage durch Arbeit und Klugheit ausnutzten und festigten. Das Straßennetz um Erfurt war das besterhaltene des Mittelalters; unablässig wurde es weiter ausgebaut; jede Nebenstraße, jede Fähre war auf Erfurt gerichtet. Und nirgendwo waren die Straßen sicherer; um Erfurt gab es keine Raubburgen, in seinem Gebiet keine Wegelagerer; ein Heer von Söldnern, ein Kranz fester Schlösser schützte den Verkehr. Mit der Hansa und den süddeutschen und sächsischen Städten verbündet, war Erfurt der Brennpunkt des mitteldeutschen Geleitswesens; seine Bedeutung als Stapelplatz habe ich bereits angedeutet. Aus all diesen Gründen, vielleicht ebensosehr aber aus der Kühnheit und dem Unternehmungsgeist der Bürger erklärt sich die Bedeutung der Stadt als deutsche Handelsmetropole des Mittelalters. Von allen Richtungen der Windrose kamen hierher die hochgetürmten Lastwagen gezogen; die aus Rhein- und Niederland durchs Brühler Tor, an der Cyriaksburg vorbei, wo sich heute riesige Gärtnereien dehnen; die Niedersachsen und Engländer um den Petersberg herum durchs Andreastor; die Lübecker und Hamburger über das weite Feld, wo nun ein Arbeiterviertel entstanden ist, durchs Johannistor; die Sachsen und Lausitzer über die Gera und durchs düstere Krämpfer Tor; die Vogtländer und Böhmen die Straße entlang, wo auch heute der Schienenstrang aus Weimar heranführt, durchs Schmidtstedter Tor; die Süddeutschen und Welschen über das Gefild, wo jetzt das Villenviertel ersteht, durchs Löbertor; nur da, wo in unseren Tagen der Fremde vom Bahnhof her eintritt, öffnete sich in der Stadtmauer kein gastliches Tor. Erfurt war ein Handelsplatz wie später Leipzig oder heute Hamburg; nur daß damals nicht bloß die Warenballen sich hier zusammendrängten, sondern auch die Scharen der Käufer und Verkäufer. Und weil hier mit allem gehandelt wurde, darum auch natürlich mit Geld; die Erfurter dünnen Silberpfennige mit dem Bischofsbild galten in jener Zeit unerhörter Münzfrevel als ehrliche, vollwichtige Ware sehr viel. Die Münze stand nie still; Erfurt war der Wechsler und Bankier für Mitteldeutschland wie Nürnberg für den Süden. Aus den Schatullen der Erfurter Gefrunden floß das Geld für Bankette, Turniere und Mätressen deutscher Kaiser, Fürsten und Bischöfe, freilich um dann mit gutem Zins zurückzufluten. Und zu diesen größten Formen des Handels gesellten sich die kleinsten; auch dies war eine Quelle von Erfurts Reichtum und sicherte namentlich neben dem blühenden Handwerk den Bürgern die Wohlhabenheit, daß es zugleich der Hauptmarkt für alle Bedürfnisse Thüringens war. Aus Erfurt ging Salz, Bier, Wein, Mehl und Obst, aus Erfurt Tuch und Hausgerät in die ganze Landschaft zwischen Hessen und Brandenburg, dem Harz und Franken. »Ganz Thüringen nährt und wärmt sich aus Erfurt«, sagt Nikolaus von Siegen.

Hier war Reichtum und darum auch Kultur. Arm waren die größten Menschen, die über die Erde geschritten sind, und ein einzelner Großer kann, auch wenn sein Weg immer durch Kälte und Dunkel geht, in seinem Hirn unsterbliche Gedanken tragen, aber der Durchschnitt der Menschen gelangt nur in der Wohlhabenheit zur Erkenntnis, was Bildung und was Schönheit ist. Die Erfurter konnten es wissen, sie hatten das Geld dazu, und alles, was das Leben jener Zeiten schmückte, was es warm und licht machte, war ihnen zugänglich. Aber zu dem Geld kam auch Stolz, Streben, der Weitblick des Großstädters. Doch nicht daran allein, wenn auch daran vornehmlich, lag es, daß die Erfurter des Mittelalters die Schule pflegten, die Dichter und Gelehrten in Ehren hielten, sondern auch daran, daß mindestens in einigen ihrer Klöster ein guter Geist waltete. Namentlich die Predigermönche, die ersten, die vor Luther den Deutschen das Wort Gottes in der Muttersprache verkündeten, haben unleugbar dem Leben der Stadt einen geistigen Hauch mitgeteilt, unter ihnen als Gewaltigster Meister Eckhart, der Begründer der deutschen Mystik, der vor sechs Jahrhunderten verkündete: »Die Seele, wenn sie vom Leibe ist geschieden, hat weder Vernunft noch Willen... Soviel ein Mensch in diesem Leben mit seiner Erkenntnis näher kommt dem Wesen der Seele, je näher ist er der Erkenntnis Gottes.« Und ihm auch war schon klar, daß »die Wollust der Kreaturen vermenget ist mit Bitterkeit«... Ohne ihre Predigermönche, ohne die des Petersklosters, welche die getreuen Freunde und Chronisten der Stadt waren, wären die Erfurter doch wohl nicht dazu gekommen, durch die Schaffung der ersten vollständigen Universität in Deutschland ihrer Stadt einen unvergleichlichen Ruhmestitel zu schaffen.

Freilich, warum dachte keine andere deutsche Stadt daran? An gebildeten Priestern fehlte es nicht. Die Kulturtat von 1378 bleibt das Herrlichste von allem Herrlichen, was aus Erfurts Blütezeit zu berichten ist.

Man weiß, die Universität besteht seit fast hundert Jahren nicht mehr; sie ist 1816 auch offiziell aufgehoben worden, nachdem sie bereits seit Jahrhunderten nur noch ein Scheinleben geführt hatte. Nur ihr Schößling, die 1758 gegründete Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften, die jetzt das Prädikat »königlich« führt, lebt noch; sie wäre die beste in Deutschland, wenn von den Akademien gelten würde, was von den Frauen ein Wahrwort ist; man spricht nicht von ihr. Das soll nicht ihren Mitgliedern zum Hohn gesagt sein; eine gelehrte Akademie in einer Handelsstadt ohne Universität ist wie eine Fassade, der das Haus, eine Wachskerze, der das Wachs fehlt. Ein anderes Überbleibsel ist die Universitäts-, nun Königliche Bibliothek, die jetzt in demselben Rokokohaus am Anger, dem alten Packhof, untergebracht ist, der auch das bereits seiner ungewöhnlichen Einsamkeit und seiner gewöhnlichen Bilder wegen gewürdigte Bildermuseum, daneben aber – das Steueramt birgt. Die Bibliothek enthält viele alte Drucke und über tausend Handschriften; ich suchte sie vergeblich zu sehen; diese Abteilung war eben geschlossen. Andere Bibliotheken sorgen dafür, daß gerade zur Sommerszeit der Reisende mit wissenschaftlichen Interessen ihre Türen offen findet; hier scheint dies nicht Brauch; vielleicht kommen auch zu wenige. Und so mahnt im Weichbild Erfurts nur noch ein Bau an die alte akademische Herrlichkeit, das Universitätsgebäude nahe der Studentengasse.


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