Karl Emil Franzos
Aus der großen Ebene
Karl Emil Franzos

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Nathan der Blaubart.

(1878.)

Und schließlich habe ich noch von einer lustigen Hochzeit zu berichten. »Judas Makkabäus« – Du weißt wohl noch, daß er mit seinem bürgerlichen Namen Nathan Segenswunsch heißt – hat im Herbste trotz (nicht etwa wegen) meiner Bemühungen sein Weib verloren und in voriger Woche wieder geheiratet. Ein junges, kugelrundes Mädchen aus Buczacz. Ganz Buczacz und ganz Barnow schwammen in Wein, Stolz, Schnaps und Fröhlichkeit. Du kannst Dir hoffentlich auch noch genau ausrechnen, die wievielte Hochzeit der Makkabäer da gefeiert hat. Die sechste! Als ich ihn nach der Trauung beglückwünschte, sagte ich ihm, er sei eigentlich ein Stück Kulturgeschichte des östlichen Judenthums. Er nahm mir dies jedoch gewaltig übel und meinte, er sei ein angesehener israelitischer Bürger von Barnow und keine Kulturgeschichte. Hm! ich glaube – doch! . . .«

So schreibt mir mein lieber Schulfreund, der Arzt von Barnow, dem sein Schicksal, welches all seine stolzen Träume geknickt und ihn zu einem podolischen Landdoctor gemacht hat, den guten Humor nicht hat trüben können. Und ebensowenig den klaren Blick. Dieser gute Nathan, der in seinem dreißigsten Jahre das sechste Weib gefreit hat, wandelt wirklich als ungeschriebenes Kulturbild auf Erden herum. Nicht etwa schlichtweg um dieses Factums willen. Wäre er ein Blaubart, wie er im Märchen spukt oder bei St. Peter in Salzburg begraben liegt, hätte er aus Sinnlichkeit oder Habgier ein Opfer nach dem andern unter den Trauhimmel geschleppt, dann wäre er nur der Held einer Schauergeschichte, welche sich zufällig wirklich begeben hat. Aber Nathan ist ein gewöhnlicher Mensch mit gewöhnlichen Schicksalen; seine sechsmalige Verheirathung hat sich, ohne daß er Besonderes dazu gethan hätte, just eben durch die Verhältnisse und Anschauungen seines Lebenskreises gefügt; kein Jude in Podolien findet etwas Merkwürdiges daran. Und darum hat der Stadtarzt von Barnow Recht: dieser Mensch ist ein Stück Kulturgeschichte des östlichen Judenthums.

Kein lustiges Stück trotz der sechs Hochzeiten. Im Gegentheil: das ist eine traurige, ja trostlose Geschichte.

Nathan Segenswunsch gehört zu meinen ältesten Bekannten. Ich vermuthe sogar, daß ich ihn früher kennen gelernt, als mich selbst, zu jener Zeit nämlich, da ich noch im Flügelkleide ging und in der dritten Person von mir sprach. Denn wir waren gleichaltrig, Nachbarskinder und Spielgenossen. Sein Vater Luiser war ein dicker, freundlicher Mann mit langem Bart und blaurother Nase, welche Färbung sich durch sein Handwerk erklärt; er war Weinhändler und versorgte die Keller aller Adeligen des Kreises. Ich mag in die Nebel meiner Kindertage noch so weit zurückblicken, die rothe Nase leuchtet mir doch immer entgegen, und daneben taucht der schwarze Krauskopf meines Gespielen auf. Er war ein lustiger, kräftiger Junge; er, ich und des Postmeisters Sohn, Wladyk, waren ein Kleeblatt unzertrennlicher Freunde, und wie wir einander gepufft, gekniffen und gehauen haben, ist gar nicht zu erzählen. Diese Idylle nahm leider bald ein Ende; der blonde Wladyk starb am Scharlach, Nathan besuchte eine Thoraschule, und ich kam unter die harte Hand der Patres Dominicaner. Beiläufig um dieselbe Zeit ward Luiser Segenswunsch ein reicher Mann; er hatte 1854 die Schnapslieferung für die österreichische Occupations-Armee übernommen, und sein patriotischer Grundsatz, daß unverdünnter Aquavit dem Soldaten den Kopf schwer mache, hatte ihm ein Vermögen eingebracht.

Dieser jähe Umschwung änderte die Lebensweise der Familie nicht, übte jedoch einigen Einfluß auf den Bildungsgang meines Freundes. Wenn ein chassidischer Jude in Galizien reich wird, so sorgt er dafür, daß sein Sohn die deutschen Gesetze lesen und verstehen lerne. Und so erfuhr ich die Genugthuung, bald in Nathans Händen dasselbe Büchlein zu erblicken, um dessentwillen er mich so oft einen »Abtrünnigen vom Glauben« gescholten: die Fibel. Freilich war sein Lehrer nicht ein christlicher Mönch, sondern der Schreiber der Judengemeinde, Leib Rosenberg. Dieser kleine, verschmitzte Mensch verstand sich auch auf die »Gesetze« sehr gut und konnte, namentlich was das Strafrecht betrifft, auf eine stattliche, langjährige, allerpersönlichste Erfahrung zurückblicken.

Die Fibel und die gemeinsamen Betstunden brachten uns wieder zusammen, und ich muß leider bekennen, daß binnen kurzer Frist die Fensterscheiben unserer Vaterstadt Proben dieser neubegründeten Freundschaft aufzuweisen hatten. Von einer Schaar wackerer Mitstrebender unterstützt, gaben wir täglich nach der Schule Vorstellungen in der Kunst, mit Schneeballen und unreifem Obst die schönsten Beulen zu erzeugen. Weil aber Uebung auch hier den Meister macht und Nathan weit mehr freie Zeit hatte, als wir Anderen, so erwarb er sich bald den Ruf des wildesten und ungezogensten Rangen von Barnow. Man hätte es dem auffallend kleinen, blassen Kerlchen kaum angesehen, wie viel Kraft und Verwegenheit in ihm steckte. Die fortgesetzten Proben dieser Eigenschaften und die strengen Verbote unserer Eltern machten ihn allmählig freilich zu einem General ohne Armee. Doch focht ihn dies nicht an; er machte seine Streiche auf eigene Faust und improvisirte zuweilen, wenn er das Bedürfniß nach Geselligkeit hatte, einen kleinen Zweikampf, dem der Friedlichste kaum ausweichen konnte.

So war es auch an einem Sonntag im Frühling 1859. Die Sonne schien warm und spiegelte sich freundlich in den sumpfigen Lachen des Marktplatzes. Ich stand vor dem Thore unseres Wohnhauses, sah zu, wie die Honoratioren von Barnow aus der Kirche traten, und hielt dabei ernste Gespräche mit unserem Kutscher Stephan. Dieser alte, treue Mensch, welcher die Woche über von exemplarischer Nüchternheit war, pflegte sich stets am Sonntag Vormittag eine kleine Erheiterung anzutrinken oder, wie man in seinem Falle sagen muß, eine kleine Betrübniß. Denn er wurde dann regelmäßig tiefsinnig und grübelte über Zweck und Ziel des Daseins. Natürlich in seiner Art. »Junger Herr,« begann er eben, »wenn man es recht bedenkt, so ist das Leben eine Reise, und mir hat Gott leider eine lahme Schindmähre vor den Wagen gespannt.«

»Aber Stephan –«, tröstete ich.

»Ja – eine Mähre – und jetzt steckt mein Wagen bis über die Räder im Schlamm –«

Er machte wieder eine Pause, aber ich konnte sie nicht mehr zu einer Tröstung benützen. Denn urplötzlich kam mir etwas an den Kopf geflogen, schlug mir schmerzhaft an die Wange und kollerte nieder.

»Nathan!« rief ich, indem ich mich nach dem Wurfgeschoß bückte. Es war eine getrocknete Birne. »Nathan!« wiederholte ich und schürzte die Aermel meiner Jacke auf.

Aber der Feind ließ sich nicht blicken. Einen Augenblick stand ich verblüfft, dann lief ich zum Nachbarhause. Und da lehnte Nathan wirklich im Thorweg und blickte arglos vor sich hin.

»Du hast das Ding geschleudert!« rief ich und stürzte auf ihn zu.

»Geschleudert?« fragte er erstaunt. »Ich? Wer hat geschleudert? Was hat man geschleudert? Ich hab' nichts geschleudert!«

»Du lügst!« rief ich und wollte ihn an den Wangenlöckchen fassen.

Da streckte er ängstlich die Arme vor. »Lass' mich!« bat er. »Du weißt, ich prügle mich gerne – den ganzen Nachmittag will ich mich mit Dir herumschlagen. Aber jetzt – siehst Du nicht, wie ich angezogen bin?«

In der That fiel es mir erst jetzt auf, wie festlich angethan er war. Nicht einmal am Sabbath ließ sonst Frau Esther Segenswunsch ihren Erstgeborenen solche Pracht entwickeln. Der Knirps trug einen langen Kaftan aus schwarzer Seide, mit einer Atlasschärpe derselben Farbe gegürtet, auf dem Haupte eine prächtige Pelzhaube, an den Füßen reich gestickte Pantoffel.

»In einer Stunde ist meine Trauung,« erklärte er.

Ich blieb einen Augenblick starr vor Staunen. »Du lügst,« wiederholte ich dann zornig und erhob die Fäuste.

»Ich lüge nicht,« betheuerte das Bübchen. »Ich heirate unsere Köchin!«

»Die Chane?« rief ich. »Die könnte ja Deine Großmutter sein!«

»Das thut ja nichts!« erwiderte er überlegen. »Sie ist ja Witwe!«

»So eine alte Braut!« rief ich verächtlich.

»Das verstehst Du nicht, du Ungläubiger! Eben weil sie alt ist und einen Haufen Kinder hat! Eben deßhalb!«

»Deßhalb!«

»Ja! Mein Vater sagt, daß die Chane sehr gut dazu taugt. Ist arm, alt, hat unversorgte Kinder! Auch Leib der Schreiber sagt es, und der versteht doch gewiß Alles! Reb Mosche der Glaser hätte sie gleichfalls gern für seinen Ruben genommen. Aber weil sie bei uns dient, so heiratet sie mich!«

»Aber warum – warum?«

Er verstand die Frage anders. »Sie thut es ja nicht umsonst. Sie bekommt heute von meiner Mutter das Hochzeitskleid und vom Vater zehn Gulden. Und während unserer Ehe eine Zulage von zwei Gulden monatlich.«

»Aber Du? – sie ist ja triefäugig – warum sucht man Dir nicht eine Junge?«

»Eine Junge bekomme ich später,« sagte er stolz. »Eine Schöne, Reiche, Dicke – meine Mutter hat es mir versprochen.«

»Und Du läßt Dich so foppen?« rief ich höhnisch, »Du Esel! man darf ja nicht zwei Frauen haben!«

»Selbst ein Esel,« sagte er gelassen. »Ich werde ja nur wegen der »Gesere« (Verfolgung) mit der Chane getraut. Und wenn die »Gesere« vorüber ist, so werde ich natürlich gleich von ihr geschieden.«

»Welche »Gesere«?«

»Mit Dir kann man nicht reden! Weißt Du nicht, was in der Welt vorgeht? Der Moskal (Russe) ist auf uns bös und der Franzos und noch andere Kaiser. Es wird ein Krieg sein!«

»Und darum –?«

Er antwortete nicht mehr. In den Thorweg traten eben einige alte, festlich gekleidete Männer – die ersten Hochzeitsgäste. Nathan geleitete sie in's Haus. Wohl blickte er in der geöffneten Thür noch einmal nach mir um, aber nur, um mir die Zunge entgegenzustrecken. »Also Nachmittag!« rief er dann, ballte die Faust und verschwand.

Ich blieb stehen und starrte auf die geschlossene Thür. Ein elfjähriger Bube macht sich nicht viele Gedanken über das Heiraten und hat sehr unklare Anschauungen über die Bedeutung dieses Schrittes. Auch war ich ja im Städtchen aufgewachsen und wußte, daß die Chassidim ihre Knaben bereits im vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahre zu verheiraten pflegen. Aber daß dieser kleine, blasse Knirps, dieser Gassenjunge – ich stand starr vor Staunen. »Es ist doch eine Lüge,« dachte ich. Aber da kamen immer mehr Gäste, und endlich wurde auch das rothseidene Tuch mit den Haltsäulen, der Trauhimmel, an mir vorbeigetragen, in's Haus hinein.

Nun konnte ich nicht länger zweifeln und eilte heim, die unerhörte Nachricht zu verkünden. Auf der Steinbank am Thor saß noch der alte Stephan und spann murmelnd im Selbstgespräch sein pessimistisches System weiter aus. »Junger Herr,« seufzte er, »an meinem Wagen hält der Teufel die Zügel!« Ich erzählte ihm rasch meine Geschichte. »Ja, ja!« sagte er; »die Juden werden immer kecker, weil sie wissen, daß es der alte Herr (Gott Vater) noch immer heimlich mit ihnen hält.« Weiter nahm er keine Notiz davon.

Auch meine Mutter war nicht überrascht; sie hatte die Sache bereits einige Tage vorher, anläßlich der Verlobung, erfahren. »Es ist ein Verbrechen,« sagte sie, »aber Dich geht es weiter nichts an.«

»Ein Verbrechen?« fragte ich doch eifrig. Ich kannte nur Eine Sorte von Verbrechern, die Gefangenen des Bezirksamtes, welche in Ketten die Straßen fegen und Holz hacken mußten. »Wird Nathan auch Straßenkehrer werden?«

»Der Bub' ist ja unschuldig,« sagte sie lächelnd; »die Verantwortung trifft nur den alten Luiser. Es ist unbegreiflich – der Mensch ist sonst so klug, so schlau, aber dieser Wahnsinn war ihm nicht auszureden. Dein Vater hat sich wahrlich genug Mühe mit ihm gegeben!«

Meine Mutter hatte Recht: es war ein Wahnsinn. Aber nicht ein Wahnsinn des Einzelnen, sondern der Masse, der gesammten jüdisch-orthodoxen Bevölkerung des österreichischen Ostens! Wie viele und welche Ehen da im Frühlinge 1859 geschlossen wurden, gehört schlichtweg zu dem Unsagbaren; dies Unerhörte, Ungeheuerliche muß man mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben. Wer einen Knaben hatte, welcher das zehnte Jahr bereits überschritten, der suchte nach irgend einem ledigen Weibsbild und verheiratete ihn – um jeden Preis. Daß man fünfzehnjährige Knaben mit sechsjährigen Mädchen, achtzehnjährige Mädchen mit zehnjährigen Knaben vermählte, das war nichts Besonderes, das kam in jeder Gemeinde zwei Monate hindurch fast alle Tage vor. Sogar der Fall unseres Nathan, dessen Braut eine fünfzigjährige Witwe war, gehört noch nicht zu dem Seltsamsten. Je älter und gebrechlicher so ein armes, alleinstehendes Weib war, für je mehr Kinder sie sorgen mußte, desto höher stand ihre Hand im Preise. Man hat damals Paare zusammengekuppelt, wie sie die Sonne noch nie beschienen. Ueberhaupt hat diese alte Dame schwerlich bereits Tolleres auf Erden gesehen . . .

Und warum begab sich dies Alles?

Die Antwort ist mit wenigen Worten gegeben. Als Österreich vom März ab energisch für den italienischen Krieg zu rüsten begann, da erlaubte sich irgend ein Mensch im Lande den bodenlos schlechten Witz, auszusprengen, daß Österreich diesmal genöthigt sein werde, als Reserve eine Knabenlegion zu bilden. Nur verheiratete Knaben werde man schonen und als befreit gelten lassen.

Und dieser Scherz wurde ernst genommen und geglaubt, geglaubt von diesen sonst so klugen, scharfgeistigen, mißtrauischen Menschen! Dieses Factum muß dem Leser des Westens an der ganzen Historie entschieden als das Merkwürdigste und Räthselhafteste erscheinen. Zur Klärung desselben muß auf drei Dinge hingewiesen werden. Erstens haben die Juden des Ostens im Allgemeinen eine unsägliche Furcht vor dem Soldatenrock, und der bloße Gedanke daran macht ihnen das Hirn wirbelig. Es geschieht dies nicht blos aus Mangel an persönlichem Muth, obwohl natürlich auch dies Motiv bei einem sklavischen, seit Jahrhunderten unmenschlich behandelten Volke mitwirkt, sondern in erster Linie aus religiösen Gründen; wer Soldat wird, kann die Vorschriften bezüglich Speise, Tracht, Gebet, Heiligung der Festtage u. s. w. nicht mehr einhalten, hört also auf, rechtgläubiger Jude zu sein, und verliert somit den Anspruch auf die Freuden des Himmels.Ich habe die Anschauung, welche der Jude des Ostens vom Soldatenstande hat, und die Verwicklungen, die sich daraus für den Einzelnen und die Gesammtheit ergeben, in meiner Erzählung »Moschko von Parma« (2. Aufl. Stuttgart 1886) darzustellen versucht. Man vergleiche auch im vorliegenden Buche die Skizze: »Der Fehlermacher.« Gewiß ein entsetzliches Los in den Augen eines Volkes, welches nur um des Glaubens willen lebt und so wenig irdische Freuden kennt! Zweitens hatte wenige Jahre vorher in einem benachbarten Staate, in Rußland, eine solche Razzia auf Kinder thatsächlich stattgefunden. Czar Nikolaus hatte Tausende von jüdischen Knaben im Alter von acht bis vierzehn Jahren den unglücklichen Eltern entrissen und in die Militär-Colonien schaffen lassen »zum Zwecke militärischer Erziehung und zur Heranbildung einer wehrhaften Generation«. Bei der Solidarität der Juden hatten Alle wie eine einzige Familie das grauenvolle Leid mitgefühlt, welches Einzelnen widerfahren; Hunderte von flüchtigen Kindern aus Rußland lebten in Galizien, der Bukowina, Rumänien und Nord-Ungarn, einzig auf die Barmherzigkeit ihrer Glaubensgenossen angewiesen, aber auch von diesen genügend versorgt; der Schrecken war noch lebendig in den Gemüthern und – warum sollte Oesterreich nicht thun, was Rußland gethan? Hier wie dort ein absoluter Staat, hier wie dort grimmiger Judenhaß – der Unterschied zwischen beiden Staaten, der schärferen Augen immerhin auch während der allerschwärzesten und allergelbsten Reactionszeit sichtbar blieb, war diesen armen Menschen nicht klar! . . . Endlich wirkte noch ein zufälliges, an sich sehr unbedeutendes Motiv mit, das tolle Gerücht glaubhaft zu machen. Gerade damals wurde nämlich ein Cadetten-Institut begründet oder erweitert, einige in Galizien stationirte Officiere und Beamte bewarben sich für ihre Söhne um Aufnahme in dieses Institut und erhielten dieselbe; man sah zuweilen in den Städten Galiziens einen solchen putzigen kleinen Krieger in neuer Uniform – Grund genug, daß sich die Juden sagten: »Seht, sogar christliche Knaben werden schon assentirt!«

So erklärt es sich, warum mein elfjähriger Spielkamerad Nathan Segenswunsch sich erst am Nachmittag mit mir prügeln wollte, weil er vorher mit der alten Köchin Chane getraut werden mußte.

Wie diese Trauung verlief und ob alle Anwesenden den nöthigen Ernst bei der feierlichen Handlung bewahrten, vermag ich leider nicht zu sagen, meine Mutter verbot mir strengstens, hinzugehen. Aus demselben Grunde mußte ich leider auch auf die Vergnügung am Nachmittag verzichten und seufzend aus dem Fenster zusehen, wie sich Nathan – wieder in seinem gewöhnlichen Costüme – auf dem Marktplatze herumtrieb und mir allerlei einladende Geberden machte. Meine Eltern mochten wohl fürchten, daß der Umgang mit einem verheirateten Knaben nicht eben günstig auf die Reinheit meiner Phantasie einwirken könnte. Ich glaube – mit Unrecht. Ich bin überzeugt, daß Nathan damals und in den nächsten Jahren nicht mehr von den Geheimnissen der Liebe und Ehe wußte, als andere Kinder seines Alters. Auch in seinem sonstigen Wesen änderte sich nichts, am wenigsten in seinen Beziehungen zu Chane. Als ich am Montag, also am Morgen nach der Hochzeit, zur Schule ging, scholl mir aus dem Thorwege des Nachbarhauses klägliches Geheul entgegen: die Köchin hatte eben ihren gestrengen Eheherrn auf das Knie gelegt und bearbeitete seine fleischigste Partie mit einem Stöckchen. »Ich werde Dir das Naschen abgewöhnen!« rief sie grimmig. Er hatte ihr aus der Küche ein Stück Zucker entwendet! Sie blieben eben trotz der traurigen Posse, zu welcher das heiligste Institut der Erde zwischen ihnen herabgewürdigt worden, genau dasselbe, was sie bisher gewesen: sie die alte treue Dienerin des Hauses und er das ungezogene Kind, das oft ihre knochige Hand zu fühlen bekam.

Aehnlich erging es in den meisten dieser »Gesere«-Ehen. Oft genug sahen sich Braut und Bräutigam zum ersten- und zum letztenmal unter dem Trauhimmel. Eine halbstündige Posse also, die weiter keine Folgen hatte, sofern man es nicht als schwerwiegende Folge gelten lassen will, daß dadurch in den Augen von Tausenden und aber Tausenden die Ueberzeugung von der Ehrwürdigkeit eines solchen Bundes getilgt wurde. Aber dieser Satz bedarf einer Einschränkung, und davon später. Hier nur die Bemerkung, daß der tolle Rummel ungeschwächt bis in den Sommer jenes Jahres hinein währte. Die Hiobsposten aus der lombardischen Ebene vermehrten ihn sogar: nun, wo der Kaiser so viel erwachsene Soldaten verloren, werde er gewiß auch die Knaben recrutiren lassen! Endlich begann es an Frauen zu fehlen, und diese Noth haben erfinderische Hochstaplerinnen gehörig ausgenützt. So erzählte mir erst vor Kurzem ein verläßlicher Gewährsmann von einer Krakauer Hebamme, die damals im Lande umherzog und sich gegen eine Taxe von zwanzig Gulden Oesterreichischer Währung in jedem Städtchen mit einem andern Knaben trauen ließ. Natürlich gab sie sich überall für verwitwet aus. Das Stückchen soll ihr an die vierzigmal gelungen sein! Also nicht eine Bi-, Tri- oder Tetra-, sondern sogar eine Tessarakonta-Gamistin! Gewiß ein Ungeheuer, welches die ausschweifendste Phantasie nicht hätte erzeugen können. Nur das Leben wagt es, solche Erscheinungen vor uns hinzustellen!

Erst der Friede von Villafranca rückte diesen unheimlich komischen Alp hinweg von der Brust der Bethörten. Wie es früher Trauungen geregnet, so hörte man nun überall von Scheidungen sprechen. Dies hatte, abgesehen davon, daß meistens im vorhinein eine Abmachung für diesen Fall getroffen war, auch sonst keine sonderlichen Schwierigkeiten, weil nach dem gegenwärtig unter dem Chassidim geltenden Gebrauch zur Scheidung kein ernstlicher Scheidungsgrund nöthig ist, ja nicht einmal der beiderseitige Wille, sondern nur die Entschließung des Mannes. Er hat der Gattin in Gegenwart zweier Zeugen unter Aussprechung einer bestimmten Formel den sogenannten »Get« (Scheidungsbrief) zu übergeben, und nimmt sie ihn an, so ist sie nach orthodoxer Ansicht rechtskräftig von ihm geschieden. Die Chassidim gehen so weit, nicht einmal vorzuschreiben, daß die Frau den Inhalt des Papiers kenne. Nimmt sie es in die Hand, so ist der Gatte aller Bande ledig; nur wenn Kinder aus der Ehe stammen, so haben diese Ansprüche an den Vater, nicht aber die Gattin.

Diese gegenwärtig unter den Chassidim – wenn auch nur in Ausnahmsfällen – geübte Praxis steht bekanntlich mit der biblischen Satzung in keinem Widerspruche. »Wenn jemand ein Weib nimmt und ehelicht sie und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen . . ., so soll er einen Scheidebrief schreiben und ihr in die Hand geben und sie aus seinem Hause lassen« (5. Mose 24). Verboten ist nach mosaischem Gesetze nur, die Verstoßene, nachdem sie inzwischen eines Andern Weib gewesen, wieder zu ehelichen, während es einem Priester (Kohen) überhaupt verboten ist, eine geschiedene Frau zu heirathen. Hingegen nahm sich die rabbinische Tradition der Frauen kräftig an. »Das Heiligthum Gottes klagt, wenn eine Scheidung stattfindet,« sagt der Talmud und statuirt zur Erschwerung die Einwilligung der Frau, welche dieselbe mit lauter Stimme vor dem »Besdin« (dem aus drei Rabbinern zusammengesetzten Ehegericht) auszusprechen hat. Weigert sie sich und liegt kein religiöser Grund vor, so kann sie nur dann zur Scheidung gezwungen werden, nachdem hundert Rabbiner die Gründe des Mannes als triftig anerkannt. Doch ist diese letztere Bestimmung wohl sehr selten zur praktischen Ausführung gekommen. Gegenwärtig gilt unter den Juden in civilisirten Ländern, sie mögen sonst welcher Richtung immer angehören, die Einwilligung der Frau als unbedingt nöthig, auch kann von ihr die Initiative zur Scheidung ausgehen. Das Gleiche gilt unter den aufgeklärteren Juden des Ostens. Was nun speziell den »Chassid« betrifft, so sucht in der Regel auch er sein Weib durch gütliches Uebereinkommen zur Scheidung zu bewegen; ist dies vergeblich, so wählt er unbedenklich jenes oben erwähnte Mittel. Nimmt nun das Weib den Scheidebrief aus seiner oder seines Boten Hand in Gegenwart zweier Zeugen entgegen, so ist er frei und jeder weiteren Verpflichtung entbunden; die Einwendung der Frau, sie habe weder geahnt, noch ahnen können, was jenes Papier enthalte, gilt vor dem geistlichen Gerichte nichts und kann vor den weltlichen nur eben die Regelung der civilrechtlichen Folgen beeinflußen: die Rückgabe der Mitgift, etwaige Abmachungen des Ehevertrags bezüglich der Versorgung ec. Doch kommen solche Processe äußerst selten vor, hingegen ist der Fall gar nicht selten, daß die Frau die Absicht des Mannes wittert und so vorsichtig ist, die Annahme jedes Papiers zu verweigern! Dann freilich nützt ihm, da sie dazu nicht gezwungen werden kann, auch jenes Mittel nichts und er muß abermals den Weg friedlicher Verhandlung betreten. Auf den gleichen Weg ist die orthodoxe Jüdin gewiesen, wenn sie sich aus drückenden Ehebanden befreien will; ihre Klage vor dem »Besdin« kann wohl nur im extremen Falle des »matrimonium non consumatum« auf Erfolg zählen; in der Regel muß sie sich mit dem Gatten über die Ausstellung des Scheidebriefs gütlich vereinbaren. Verweigert er dieselbe, oder verweigert andererseits das Weib die Annahme des Scheidebriefs, so dauert die Ehe eben fort; hier weiß die Satzung keine Hülfe mehr! – Form und Inhalt des Scheidebriefs sind durch die Tradition streng geregelt. Derselbe muß auf einem rechteckig zugeschnittenen Pergament-Streifen mit Druckbuchstaben chaldäischer Form und in chaldäischer Sprache geschrieben sein, und darf nur zwölf Zeilen enthalten; die dreizehnte Zeile dürfen nur die Namens-Unterschriften der beiden Zeugen bilden. Auch der Inhalt ist bis in's kleinste Detail vorgeschrieben; ein Pünktchen zu viel oder zu wenig, eine verwischte oder radirte Stelle macht den »Get« ungiltig; die Frau ist dadurch so wenig gebunden, als wenn sie ihn nie berührt hätte. Warum es gerade zwölf Zeilen sein müssen, hiefür ist ebensowenig ein Grund auffindbar, als für die Bestimmung, daß der Brief in einer solchen Gemeinde geschrieben und ausgestattet sein muß, welche an einem fließenden Wasser liegt; die Uebergabe kann jedoch an einem beliebigen Orte erfolgen. Ausstellung und Übergabe müssen nicht an einem und demselben Tage erfolgen, wohl aber ist die Uebergabe nur dann rechtskräftig, wenn sie an jenem Tage erfolgt, der in der Urkunde genannt ist; dieselbe kann also im Voraus angefertigt werden, bleibt aber nutzlos, wenn der darin bezeichnete Tag keine günstige Gelegenheit zur Uebergabe bietet. Die Formel lautet:

»Am (z.B. Montag) der Woche (folgt die hebräische Bezeichnung der Woche nach dem Sabbath, der sie einleitet), am (sechsten) des Monats (Adar) im Jahre (5642 = 1882) seit Erschaffung der Welt, wie wir hier zählen in der Stadt (Barnow), welche am Flusse (Sered) liegt und Brunnenwasser hat. Ich (Nathan) Sohn des (Luiser) heute ansässig in (Barnow), welche Stadt an dem Flusse (Sered) liegt und Brunnenwasser hat, mache Dich, Du Frau (Chane), die Du wohnst in der Stadt (folgt der Name des wirklichen Wohnorts der beiden Gatten, der ja mit dem, wo der Mann »heute ansässig« ist, nur dann identisch sein darf, wenn auch dieser faktische Wohnort an fließendem Wasser liegt,) und bis zu diesem heutigen Tage meine Ehefrau gewesen bist, gänzlich frei, los und ledig, also daß Du über Dich gebieten und schalten darfst und daß Dich jeglicher Mann, wer immer es sei, zur Ehefrau nehmen darf. Niemand soll Dir dies verwehren, von heute ab und in alle Zeit. So nimm denn von mir entgegen Rolle und Brief der Freiheit und der Scheidung nach dem Gesetze Mosis und Israels. (Folgen die Namen der beiden Zeugen.)«

Der Brief kann an jedem Tage, den Sabbath ausgenommen, übergeben werden; auch bezüglich der Stunde besteht keine Beschränkung, doch sind die officiellen Gebetsstunden durch den Usus ausgenommen. Schließlich sei noch bemerkt, daß sogar bezüglich der Zusammenfaltung dieser Briefe eine feststehende Norm herrscht. Geht derselbe von einem Abkömmling des Priesterstandes aus, so wird er (die Schrift der zwölf Zeilen nach innen) zwölfmal fächerförmig zusammengefaltet, dann so zusammengeheftet, daß nichts von der Schrift sichtbar ist. Dies Letztere darf auch bei dem Brief eines Andern nicht vorkommen; er wird zu gewöhnlicher Briefform zusammengelegt, jedoch so, daß die freigebliebenen breiten Ränder über der Schrift zusammengeschlagen werden und diese letztere keinen Bug erleidet.

Man sieht, die »Gesere«-Ehen konnten noch leichter getrennt werden, als sie geschlossen worden. Nur zuweilen ergaben sich Schwierigkeiten und führten komische Vorfälle herbei, sofern freilich überhaupt noch solche Thatsachen komisch genannt werden können, welche gleichzeitig den Einblick in so traurige Zustände eröffnen. Ich theile zwei solcher Fälle mit, weil sie auch sonst recht charakteristisch sind.

Der Glasermeister von Barnow, Mosche Strisower, ein wohlhabender Mann, hatte einen Knaben von zwölf Jahren, Ruben. Aus der triumphirenden Mittheilung unseres Nathan wissen wir bereits, daß Mosche für diesen um die Hand der Köchin warb, aber von derselben aus Treue für ihre Herrschaft abgewiesen wurde. In seiner Noth mußte er endlich leider zu einer jungen, kinderlosen Witwe greifen, der Tochter des Schulklopfers, einem armen Weibe, welches froh war, auf diese leichte Art einige Gulden zu verdienen. Natürlich blieben beide Gatten in ihren elterlichen Häusern und sahen sich während der wenigen Wochen ihrer Ehe nicht anders, als vielleicht zufällig auf der Gasse, wie andere Bewohner einer und derselben Stadt. Als nun aber die »Gesere« zu Ende war und Mosche Strisower, wie früher verabredet, die Schwiegertochter in sein Haus lud, um da die Scheidung vorzunehmen, da lehnte Miriam die Einladung freundlich ab: sie habe keine Lust, sich scheiden zu lassen, auch gefalle ihr Ruben recht gut, und sie wolle geduldig warten, bis er zum Jüngling herangereift. Der alte Mosche schäumte vor Wuth, und obwohl er recht gut wußte, daß sich die Sache durch zwanzig Gulden würde gütlich begleichen lassen, so beschloß er doch, sein Ziel durch List zu erreichen. Er lud die Tochter zu einer Besprechung in sein Haus, hielt dabei jedoch den Sohn, den Scheidungsbrief und die Zeugen wohl vorbereitet im Hinterhalte. Ruben wurde dahin dressirt, sich unversehens heranzuschleichen und den Brief seiner Gattin in die Hand zu drücken. Miriam erschien, und die Unterredung begann sehr freundlich. Als aber die Frau den Knaben hinter dem Ofen hervorschleichen sah, da verschränkte sie die Arme ruhig auf dem Rücken und faltete die Hände fest ineinander. Ruben stand rathlos, Mosche wußte sich vor Wuth kaum zu fassen, indeß er dabei doch fortfahren mußte, gelassen zu reden. Da zog einer der geladenen Zeugen den Knaben beiseite und gab ihm den Rath, sich sachte hinterrücks an die Frau heranzuschleichen und ihr den Brief zwischen die Hände zu schieben. Behielt die Verblüffte das Dokument auch nur einen Augenblick lang in der Hand, so war ja die Aufgabe vollzogen! Die Frau that, als ob sie nichts bemerkte, und gab auf die süßen Reden des Alten süße Antwort – wie sie aber die erste Berührung des Papiers an ihrer Handfläche spürte, da wendete sie sich jählings um und gab dem Knaben eine so wuchtige Maulschelle, daß er in eine Ecke flog. Sie selbst lief rasch zur Thür hinaus. Natürlich erweckte diese mißglückte Scheidung ungemeine Heiterkeit im Städtchen, und da der Glasermeister auch sonst lebhaft wünschen mußte, seinen Ruben freizumachen, weil sich just Aussicht auf eine andere günstige Verlobung bot, so entschloß er sich, in den nun doppelt sauer gewordenen Apfel zu beißen und von Miriam die Annahme des Scheidungsbriefes zu erkaufen. Diese aber, gereizt und erbittert, steigerte ihre Forderungen dergestalt, daß Mosche endlich froh sein mußte, als sie sich mit zweihundert Gulden begnügte. Durch diese Summe wurde sie nun aber selbst eine »gute Partie« und heiratete bald darauf – einen jüngeren Bruder des Glasermeisters, mit dem sie denn auch glücklich und zufrieden lebte.

Löste sich hier der Knoten durch das allmächtige Geld, so in dem andern Falle, der scheinbar verzweifelt lag, durch eine talmudistische Spitzfindigkeit. Einer der ärmsten Hausväter von Barnow, Reb Esra Bendiner, seines Zeichens »Melamid« (Lehrer) und Besitzer eines »Cheder« (Schulstube), welches jedoch nur von wenigen Kindern besucht wurde und kärglichen Ertrag abwarf, hatte einen sechzehnjährigen Sohn, Chaim, für den er bis dahin trotz aller Mühe keine Braut hatte auffinden können. Denn der arme Junge war kränklich, verwachsen, auch seine geistigen Gaben waren sehr gering. Wohl fungirte er angeblich in der Schule seines Vaters als »Belfer« (corrumpirt aus »Behelfer«, Unterlehrer), doch beschränkte sich seine pädagogische Mithilfe während der Lehrstunden darauf, den Buben vor Beginn ernster Proceduren, wie sie in solchen Anstalten sehr oft stattzufinden pflegen, die Höschen abzuziehen. Diese Fertigkeit schien den Vätern heiratsfähiger Mädchen vielleicht mit Recht nicht genügend, um ein Weib zu ernähren, und so wurde allmälig der arme Reb Esra mindestens nach Einer Richtung hin reich: an Körben, die er sich für seinen Sohn geholt. Als nun zudem die »Gesere« hereinbrach und er doppelte Anstrengungen machte, wuchs dieser Reichthum zum Ueberfluß. Wohl sah sein Chaim wahrlich nicht danach aus, um die Wehrkraft Oesterreichs durch sein Zuthun erheblich vermehren zu können, aber wenn andere Väter für zehnjährige Knaben zitterten, wie hätte Esra nicht für diesen Jüngling ängstlich sein sollen? In verzweiflungsvollem Brüten ging der alte Mann umher; er hatte ja kaum so viel, um das tägliche Brot und die tägliche Zwiebel erschwingen zu können, und so viel Geld, als nöthig war, um eine Braut zu miethen, hatte er vielleicht in seinem Leben nie beisammen gesehen, geschweige denn je besessen! Denn unter den Juden finden sich nicht blos die reichsten, sondern auch die allerärmsten Menschen der Erde, und von der Noth, welche in vielen Kreisen des östlichen Ghetto zu finden, kann kaum ein Wort die genügende Anschauung geben. So herrschte tiefer Jammer im Hause Bendiner; die Mutter, Frau Gittel, weinte sich die Augen aus, der blasse Chaim zitterte vom frühen Morgen bis zum späten Abend bei dem Gedanken an die Vertheidigung des Vaterlandes so stark, daß er nicht einmal seine einzige Fertigkeit ausüben konnte, und Reb Esra verwechselte aus Betrübniß in den Lehrstunden die verschiedenen Abschnitte der Thora und verlor allen Respekt bei seinen Schülern.

Da ereignete sich plötzlich etwas, was den Bedrängten wie ein Wunder erscheinen mußte: der vornehmste Heiratsvermittler des Kreises, Herr Isaak Türkischgelb, den Esra gar nicht um seine Hilfe anzuflehen gewagt, weil dieser einflußreiche Mann nur reiche »Partien« zu arrangiren pflegte, erschien eines Tages in der Hütte des Melamid und warb um Chaim für die einzige Tochter eines wohlhabenden Schankwirthes bei Tluste. Die Hochzeit wolle der Vater der Braut bestreiten und stelle die einzige Bedingung, daß Chaim sofort nach der Trauung wieder nach Barnow zurückkehre und sich nie wieder bei seiner Gattin blicken lasse. Esra und Gittel stimmten freudig bei. Chaim hörte auf, vor Angst zu zittern, und zitterte vor Jubel. – »Ein Wunder!« rief die Familie wie aus Einem Munde. »Gott hat sich unserer Noth erbarmt!« Als sich Reb Esra jedoch nach der Zukünftigen seines Sohnes zu erkundigen begann, da wurde ihm freilich allmälig klar, daß die Sache nicht ganz so wunderbar sei, und endlich erschien sie ihm so natürlich, daß der Jubel in Jammer umschlug, Jener Schankwirth bei Tluste, Hirsch Wechselreiter, war wirklich wohlhabend, aber woher seine Schätze rührten, bewies sein Beiname, unter dem er in weitesten Kreisen verachtet war: »Roth Ganefel« (Rothes Diebchen), wovon sich das erste Wort freilich auf eine Eigenschaft bezog, für die er nichts konnte: die Farbe seines Bartes. Was aber gar seine einzige Tochter betrifft, so war dies Mädchen freilich schön, stark und kerngesund, aber sie war bereits vierundzwanzig Jahre alt geworden, ohne einen Gatten finden zu können, woran nicht ihr Vater, sondern sie selbst Schuld trug. Ihr Ruf war arg bemakelt. Das ist eine seltene Erscheinung im Familienleben der östlichen Juden, und sie strafen eine solche Ausschreitung hart, ja grausam. Die Eltern Chaim's stritten einen harten Kampf mit ihrem eigenen Herzen, endlich siegte die Zärtlichkeit für den Sohn; es schien ihnen doch leichter, über ihre Schwiegertochter zu erröthen, als den Sohn beweinen zu müssen. Einige Tage darauf holte Herr Türkischgelb die Familie in einer stattlichen Kutsche ab, die Ceremonie wurde im Hause der Braut vollzogen und darauf sofort die Rückfahrt angetreten. Im Städtchen hatten sie viel Hohn und Spott zu erdulden: Reb Esra schluckte auch diese Pillen schweigend hinab; als aber die »Gesere« vorüber war, da begann er darüber zu grübeln, wie diese schlimmen Bande zu zersprengen wären. Vor Allem versuchte er es mit Güte und machte dem biederen Hirsch einen verwandtschaftlichen Besuch. Der Schänker hörte ihn mit dem freundlichsten Lächeln an und wies dann stumm nach der Thür. Hierauf wendete sich Esra an den Rabbi und klagte auf Scheidung, weil die Frau sich weigere, in das Haus ihres Ehegatten zu ziehen. Aber der Schänker erklärte, sie werde dies mit Vergnügen thun, sofern nur Chaim sich ausweise, daß er sie ernähren könne. Das war jedoch nicht möglich, und die Klage wurde abgewiesen.

Da sollte dem Melamid unvermuthet doch noch die Rettung kommen, und zwar aus dem Munde desselben Mannes, der ihm schon einmal wie ein Bote des Himmels erschienen. Er traf nämlich eines Abends bei einer fröhlichen Hochzeit mit dem einflußreichen Türkischgelb zusammen und machte ihm bittere Vorwürfe. »Ich begreife Euch nicht,« sagte dieser humoristische Mann, »es kann Eurem Sohne nur schmeichelhaft sein, daß seine Miriam Gittel sogar einigen christlichen Herren gefällt!« – »Was –?« rief Esra, und sein Antlitz strahlte. »Miriam Gittel, heißt sie wirklich so?« – Türkischgelb schaute ihn verwundert an. »Ihr werdet doch wissen, wie Eure Schwiegertochter heißt?« – »Miriam,« war die Antwort, »aber sie hat zwei Vornamen, sagt Ihr – o Gott! – Miriam Gittel?« Der alte Mann zitterte vor jäher Freude. – »Ja!« erwiderte Türkischgelb verblüfft, »aber seid Ihr meschugge (verrückt)? Was kann euch das freuen?« Aber dieser gab keine Antwort mehr, er machte noch einen Freudensprung und rannte dann wie besessen zur Thür hinaus.

In der That war nun sein sehnlichster Wunsch erfüllt. Die talmudischen Gesetze verbieten nämlich aus mystischen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, nicht blos, daß der Sohn denselben Namen erhalte wie der Vater oder die Tochter den Vornamen der Mutter, sondern sie stellen es auch als Ehehinderniß hin, wenn die Braut zufällig denselben Namen führt, wie die Schwiegermutter. Wird eine solche Ehe dennoch geschlossen, so ist sie ein Frevel, »schreit gegen Gott« und muß gelöst werden. Als daher Reb Esra am nächsten Morgen wieder vor dem Rabbi erschien, hatte er gewonnenes Spiel; auch seine Frau hieß »Gittel«. Nun nahm der Rabbi »um Gotteswillen« die Sache in die Hand, und als Hirsch Wechselreiter sich dennoch sträubte, da wurde ihm mit dem »Cherem« (Bann) gedroht, und er fügte sich. In drei Wochen war Chaim wieder frei.

Luiser Segenswunsch hatte keine solchen Fatalitäten. Die alte, treue Dienerin stand selbst dabei, als der »Get« geschrieben wurde, und nahm das Document lächelnd aus den Händen des Knaben. Wenn ihr etwas dabei wehe that, so war es der Umstand, daß sie nun aus dem Hause mußte. Geschiedene Ehegatten dürfen nach rabbinischer Satzung nicht unter Einem Dache leben. Doch entließ sie Luiser reich beschenkt, und so löste sich die erste Ehe Nathan's in beiderseitiges Wohlgefallen auf.

Auch die weiteren Ehen meines Spielgefährten verdienen eingehend geschildert zu werden. Sie sind fast alle mehr oder minder sonderbar und merkwürdig, aber wieder liegt das Sonderbare einzig in den Verhältnissen, keineswegs in den Individuen. Die einzige Eigenschaft, durch welche sich Nathan von dem großen Haufen unterschied, sein persönlicher Mut, spielt keine Rolle in diesen Geschichten.

Als ich im Herbste 1859 zur lateinischen Schule abging, war der Knabe bereits wieder ledig, und als ich im nächsten Juli wiederkam, war weder in dieser Beziehung noch sonstwie eine Veränderung eingetreten. Er war noch immer ein wilder Range, der die stärksten Beinkleider binnen wenigen Tagen zu Schanden riß und mit Vorliebe barfuß lief. Auch hielt er an der Gewohnheit fest, mir getrocknete Birnen an den Kopf zu werfen, nur daß ich jetzt den Fehdehandschuh nicht mehr aufheben konnte, weil dies meine Würde als absolvirter Parvist – Parva oder Prima heißt in Oesterreich die unterste Gymnasialklasse – nicht zuließ.

Auch im Juli 1861 fand ich ihn wieder in derselben Verfassung. Schon als Stephan mit mir ankam, lief der Junge, zerlumpt wie gewöhnlich, neben dem Wagen her. Als ich am Nachmittage auf den Marktplatz trat, rekelte er eben auf der steinernen Bank vor seinem Elternhause. Neben ihm saß ein blasses, krankes Kind, ein Mädchen. Wenigstens schienen die Glieder so zart und schwächlich wie die eines Kindes. Das Antlitz freilich zeigte so welke, gefurchte Züge, wie man sie an Zwergen findet.

Neugierig besah ich mir die seltsame Erscheinung. Das Kind war offenbar krank – es blickte stumpf und trüb vor sich hin, und zuweilen überflog ein Zittern seinen Körper, als friere es trotz der drückenden Juligluth.

Nathan bemerkte es, daß ich hinübersah, und kam langsam zu mir geschlendert. »Du Aff,« sagte er statt aller Begrüßung, »Du brauchst nicht so stolz zu sein, ich kann jetzt auch schon Deutsch lesen. Ganz gut – Du kannst mir das »Bürgerliche Gesetzbuch« aufschlagen, wo Du willst – ich kann es auf jeder Seite lesen. Verstehen kann ich noch nichts, aber mein Lehrer Leib sagt, daß ich auch das bald lernen werde, und was Leib sagt, das ist wahr.«

»Nathan!« rief das Mädchen. Dieser that, als hörte er es nicht. »Nathan!« wiederholte die Kranke in ungeduldigem, weinerlichem Tone. Er zuckte die Achseln – »Wart',« sagte er zu mir und ging auf sie zu.

»Führe mich hinein!« befahl sie kreischend. »Ich bin schläfrig! Warte nur, ich werde es der Mutter sagen, daß Du mich zweimal hast rufen lassen!«

Er zuckte schweigend die Achseln, schlang den Arm um das Mädchen, hob es hinab und geleitete es hinein. Die Ärmste konnte sich offenbar nicht ohne fremde Hilfe bewegen.

Er war gleich darauf wieder bei mir.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Nun – unsere Surke!« (Diminutiv von Sarah.)

»Aber wer ist sie?«

»Meines Vaters Bruderstochter.«

»Ist sie schon lange bei euch?«

»Seit sechs Monaten.«

»Ist sie krank?«

»Hast Du's nicht gesehen? Sehr krank. Kann sich nicht rühren!«

»Wie alt ist das Mädchen?«

»Fünfzehn Jahre. Aber sie ist ja kein Mädchen.«

»Sondern?«

»Meine Frau!«

»Du lügst!« Das Wort entfuhr mir ganz unwillkürlich. Die Kunde von seiner ersten Vermählung hatte mich seinerzeit nicht in so große Verblüffung versetzt, als diese letztere. Denn wohl war er nun dreizehnjährig, aber ich hatte die beiden letzten Jahre in einer andern Luft verbracht, in einer gebildeten deutschen Stadt, und so war mir jetzt klar, daß diese Ehe ein Frevel sei oder besser: ein schlichtweg unglaublicher Unsinn.

Er lachte. »Nach Purim (Fastnacht) war die Trauung. Sehr lustig – die ganze Stadt war dabei. Nun, mein Vater hat es thun können. Die Surke hat zehntausend Gulden . . .«

»Hast Du sie deshalb genommen?«

»Ich? Was habe ich dabei zu sagen gehabt? Mein Vater hat es befohlen.«

»Aber ich hätte nicht gehorcht!«

»Warum nicht? Mein Vater hat mir gesagt: ›Du wirst die Surke heiraten, weil sonst das Geld an Andere fällt. Du bist eben erst zwölf Jahre alt geworden, es kann Dir noch durch einige Jahre gleichgiltig sein, wer Dein Weib ist.‹ Da habe ich nichts weiter gesagt – wozu auch!«

»Aber Deine Mutter hat Dir ja einmal eine Schöne versprochen?«

»Die bekomme ich auch noch!«

»So? Wirst Du Dich auch von der Surke scheiden lassen?«

»Nein! Das geht ja nicht – mein Vater müßte ja sonst die Mitgift herausgeben! Aber sie wird bald sterben!«

Ich wendete mich in höchster Entrüstung ab. Von da ab sprach ich durch einige Wochen kein Wort mehr mit dem Jungen.

Die Sache verhielt sich übrigens nicht ganz so widrig und empörend, als sie mir damals erschien, obwohl immerhin widrig genug. Der Bruder des alten Luiser Segenswunsch, ein wohlhabender Handelsmann in Kolomea, war mit Hinterlassung einer einzigen Tochter gestorben. Diese, ein armes, mißbildetes Kind, war nun selbstverständlich die Erbin seines Vermögens. Ihre Mutter, obwohl bereits in vorgerückten Jahren und von abstoßendem Aeußern, fand gleichwohl bereits nach wenigen Monaten einen stattlichen Freier und vermählte sich mit ihm. Sie hatte nur sehr wenig eigenes Vermögen, aber der würdige Mann rechnete auf den baldigen Tod ihres Kindes, dessen gesetzliche Erbin sie dann war. Weil aber das arme Kind ihm nicht so bald, als er gehofft, den Gefallen erwies, zu sterben, so begann er es schlecht zu behandeln, und schließlich so empörend, daß die Sache ruchbar wurde und Luiser in Barnow davon erfuhr. Er reiste sofort nach Kolomea, entriß die unglückliche Surke ihrem Peiniger und brachte sie in sein Haus. Hier schaffte er ihr, soweit dies durch Geld und liebevolle Pflege möglich, ein behagliches Dasein, consultirte auch mehrere Aerzte und befolgte pünktlich ihre Anordnungen, obwohl ihm Keiner verhehlte, daß das kranke Mädchen durch die sorgsamste Pflege höchstens noch ein paar Monate am Leben erhalten, aber nicht wiederhergestellt werden könne. Er war aufrichtig darüber betrübt, verheiratete die Nichte aber doch gleich darauf mit seinem Nathan. Zahlreiche und merkwürdig verschiedene Motive bestimmten ihn zu diesem Schritte; er schlug da nicht weniger als vier Fliegen auf Einen Schlag. Erstlich befriedigte er die Rache an dem Peiniger seiner Nichte, indem er ihm seine Hoffnungen auf die Erbschaft vernichtete. Zweitens befriedigte er die eigene Habgier, indem er im Ehevertrage die gegenseitige Beerbung der Gatten festsetzte; drittens vollführte er in der That ein Werk der Barmherzigkeit, weil die unnatürliche Mutter bereits Schritte that, ihr Kind zurückzufordern, damit es in ihrem Hause und unter ihren Augen rascher zu Tode gefoltert werde; viertens glaubte er zum mindesten eine fromme That zu vollführen. Denn die Ehe ist nach der Ansicht des orthodoxen Judenthums so wohlgefällig, daß es fast eine Sünde ist, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen noch nicht vermählt ist. Uralte Traditionen, aus südlichen Ländern mitgebracht, wo die Menschenpflanze früher reift, mögen hier mit wirksam sein . . . Daß es nicht die Habgier allein war, welche Luiser bestimmte, bewies die Behandlung, welche er der Kranken widerfahren ließ. Es geschah nicht blos, was ihr heilsam und von den Aerzten geboten war, sondern auch Alles, was sie wollte. Die arme, bedauernswürdige, unausstehliche Surke war die Gebieterin des Hauses und brachte Familie und Dienerschaft durch ihre Launen oft zur Verzweiflung. Da sie die Tage fast ganz verschlief, so fehlte ihr Nachts der Schlummer, und dann schrie und weinte sie so lange, bis ihr Wunsch erfüllt war; alle Hausleute mußten sich im hell erleuchteten Zimmer um sie versammeln und mit ihr plaudern oder jene Arbeiten verrichten, die sie anbefahl. Das kam so oft vor, daß sich Luiser bei den Nachbarn kaum noch darüber beklagte. Aber auch an außergewöhnlichem Vergnügen fehlte es ihm nicht. Da hörte die Nachbarschaft einmal urplötzlich um Mitternacht Tanzmusik im Hause ertönen, und als einige Neugierige eintraten, bot sich ihnen ein seltsames Schauspiel: in der festlich erleuchteten Stube drehte sich der alte, dicke Mann mit seinem Nathan im Tacte, daß ihre Gesichter glühten und die Kaftane nur so in der Luft flogen. Außer den Musikanten waren nur noch zwei Menschen in der Stube: Frau Esther Segenswunsch, welche den curiosen Sprüngen ganz melancholisch zusah, und Surke, die vergnügt in die Hände klatschte. Sie hatte sich urplötzlich erinnert, wie lustig es gewesen, als ihr Onkel bei ihrer Hochzeit umhergesprungen, und hatte eine Wiederholung des Schauspieles anbefohlen. Und Luiser hatte sich gefügt, »weil die Aufregung der Kranken sonst schaden könnte«. Ein andermal liefen Frau Esther, Nathan und die Köchin wie verzweifelt im Städtchen herum und kauften alles Geflügel zusammen, dessen sie habhaft werden konnten. Surke hatte den Entschluß ausgesprochen, künftig nur Hühnerleberchen zu essen, und nachdem sie durch zwölf Stunden jede andere Nahrung zurückgestoßen, mußten sich ihre Pfleger entschließen, den kostspieligen Wunsch so lange zu erfüllen, bis das Mädchen – oder richtiger: das junge Weib – selbst davon abkam.

Das Schlimmste hatte wohl Nathan unter diesen Eigenthümlichkeiten seiner Cousine und Gattin zu erdulden. Er war ihr zur Gesellschaft zugetheilt, und daß er jeden ihrer Wünsche erfüllte, daran hatte ihn Luiser in seiner bestimmten, nicht mißzuverstehenden Weise gewöhnt. Da die Beiden die wenigen Tagesstunden, wo Surke nicht schlief, auf dem Bänkchen vor dem Hause verbrachten, so war ich oft Zeuge der Qualen, welche sie ihrem Gefährten anthat. Es war dem unruhigen Jungen schon Qual genug, wenn sie ihn stundenlang, oft in vertrackter Lage, regungslos neben sich hocken ließ, noch härter fiel ihm wohl die Art, wie sie ihn zuweilen beschäftigte. So sah ich einmal zu, wie er ihr Fliegen fangen mußte, welche sie dann langsam tödtete; war sie mit einer Fliege fertig, ehe er ihr eine neue zubringen konnte, so hielt sie ihm Mund und Nase zu, bis sich sein grünlichblasses Gesicht roth färbte. Ein andermal vergnügte sie sich damit, ihm die Haare auszuzupfen – eine Weile hielt er still, bis er plötzlich laut aufweinend ins Haus stürzte, während Surke ihrerseits auf dem Bänkchen ein Höllengezeter anhub. Der alte Luiser stürzte aus der Stube und trug sie unter zärtlichen Worten ins Haus zurück. Nach einer Weile trat Nathan kleinlaut mit rothgeweinten Augen vor die Thür. Da überwog mein Mitleid die einstige Entrüstung, und ich trat auf ihn zu.

»Das mußt Du Dir nicht gefallen lassen,« sagte ich.

Er zuckte die Achseln. »Meines Vaters Kantschu thut noch mehr weh!« sagte er seufzend.

»Das braucht man doch von einer Frau nicht zu dulden!« sagte ich mit der Entschiedenheit eines erfahrenen Mannes. »Auch wenn sie krank ist . . .«

»Das versteht Du nicht,« erwiderte er. »Wäre sie nur meine Frau, so würde ich in einem solchen Falle sie prügeln, nicht sie mich. Aber die Sache ist ganz anders. Wir haben sie ins Haus nehmen müssen, weil sie meine Base ist und in Kolomea todtgeprügelt worden wäre. Wäre sie nicht mit mir verheiratet, so müßten wir doch Alles thun, was sie will, weil das ihr Leben verlängert. Nur bekäme dann noch obendrein ihr Stiefvater das Geld. So wenigstens bekommen wir es, wenn sie stirbt.«

»Hoffst Du auf ihren Tod?«

»Gott bewahre!« rief er überlaut. Dann sagte er ganz leise: »Oft kommt mir so ein Gedanke, aber der Vater hat es strenge verboten –«

»Den Gedanken?«

»Ja! Er sagt, für jeden solchen Gedanken muß ich nach meinem Tode ein Jahr in den »Gehenim« (Höllenräumen) sitzen. Und das wäre unangenehm, weil es dort furchtbar kalt ist . . .«Nach der Vorstellung der »Chassidim« sind die »Gehenim« eisige, nachtdunkle Räume, in welchen der Verdammte unausgesetzt arbeiten muß. Gewiß eine charakteristische Anschauung für ein aus dem heißen, trägen Orient stammendes Volk.

Als der Herbst hereinbrach und meine Ferien zu Ende gingen, erschien Surke nicht wieder auf dem Bänkchen. Sie lag immer fiebernd im Bette. Bald darauf erlöste sie der Tod von ihren Qualen. Im Sommer 1862 traf ich unseren Nathan nicht blos als Witwer wieder, sondern schon zugleich als glücklichen Bräutigam.

»Nun endlich,« sagte er mir stolz, »bekomme ich eine solche Frau, wie sie mir die Mutter versprochen hat. Ein dickes, gesundes Mädchen. Sie hat zwar nur achttausend Gulden, ist aber von »Jichus« (vornehmer Abkunft): sie stammt von einem großen Rabbi. Hast Du nie von Reb Mendele Suchower gehört?«

»Nein!«

»Weil Du ein Ungläubiger bist! Das war ihr Urgroßvater. Ganz Polen ist noch heute voll von seinen Wundern. Mit dem deutschen Namen heißen sie Rosmarin. In Tarnopol wohnen sie, also in einer großen Stadt, sind aber doch die »koscherste« (frömmste) Familie!«

»Wie hast Du Deine Braut kennen gelernt?«

»Wie heißt: kennen gelernt?« Er schien sehr erstaunt über diese Frage. »Isaak, der »Schadchen« (Heiratsvermittler, nämlich der bereits erwähnte Türkischgelb), hat die Sach' ins Reine gebracht. Dann ist mein Vater hingefahren und hat sich das Mädchen angeschaut, und sie hat ihm sehr gut gefallen . . .«

»Aber wenn sie Dir nicht gefällt!«

»Stuß!« (Unsinn) erwiderte er unwillig. »Gefällt sie meinem Vater, warum soll sie mir nicht gefallen? Bin ich klüger als mein Vater?«

»Und wenn Du ihr nicht gefällst?«

»Das ist mehr als Stuß,« schrie er, »das ist Verrücktheit. Ein Mädchen wird sich so was erlauben? Hat man je gehört, daß man ein Mädchen um seinen Willen fragt? Übrigens hat ja ihr Vater, Reb Srul, erst in voriger Woche Schabbes bei uns gemacht (den Sonnabend zugebracht) und große Freude an mir gehabt. Warum hätte er nicht Freude an mir haben sollen? Schau' mich nur an!«

Ich lachte ihm ins Gesicht, mußte ihm aber dann doch zugestehen, daß er sich zu seinem Vortheile verändert. Nicht blos in der Tracht – er ging nun reicher, eben wie ein jüdisch-orthodoxer Elegant: in tadellosem Kaftan und mit sorglich gedrehten und eingeölten Wangenlöckchen – sondern auch in seinem Wesen. Er war ernster und gesetzter geworden, und die Prügelei, an welcher er sich zuletzt, vor wenigen Monaten, betheiligt, gereichte ihm keineswegs zur Unehre. Das war am »Purim«-Feste gewesen, wo die Juden ihre Freude über die Hinrichtung des schlimmen Haman durch Trinkgelage und Maskeraden zu feiern pflegen. Einen solchen festlichen Zug hatte auch Nathan arrangirt und war als König Ahasverus an der Seite seines jüngeren Bruders, welcher die Esther vorstellte, würdevoll einhergeschritten, als plötzlich einige christliche Lehrjungen aus dem Hinterhalte hervorbrachen und auf die maskirten Knaben einzuhauen begannen. Haman, Esther und das Gefolge ergriffen unter durchdringendem Jammergeschrei die Flucht, Ahasverus aber hielt Stand und gebrauchte sein Scepter so wacker, daß die Angreifer von ihm abließen. Das imponirte in weiteren Kreisen, und Herr Thaddäus Williszewski, der Schöngeist von Barnow, sagte kurz darauf bei einer Soirée, welche die Frau Bezirksrichterin gab: »Meine Damen! – auf Ehre! – ich möchte gewiß alle Juden ausgerottet sehen – aber dieser kleine Nathan – ein Judas Makkabäus – auf Ehre.« Und seitdem wurde der älteste Sprößling des Hauses Segenswunsch von allen »Gebildeten« in Barnow nur mit diesem Kriegsnamen genannt. Er sah aber doch noch immer recht klein und unansehnlich aus, und wie das Bürschchen so protzig vor mir stand, kam mir unwillkürlich die Frage auf die Lippen:

»Wie alt ist Deine Braut?«

Er wurde verlegen. »Ich weiß es nicht ganz genau,« sagte er dann zögernd.

»Also beiläufig?«

»Beiläufig siebzehn Jahre.« Und dann fuhr er rasch und trotzig fort: »Ganz genau: achtzehn Jahre! Du darfst aber deßhalb nicht glauben, daß ein Makel an ihr ist.«

Diesen Beisatz mochte er für mich, bei dem er trotz der »Ungläubigkeit« einige Kenntniß der Verhältnisse voraussetzen mußte, nicht für überflüssig halten. Das Befremdende lag übrigens nicht in dem Umstande, daß sie älter war, als der Bräutigam, sondern darin, daß sie, »dick, gesund, mit achttausend Gulden Mitgift« und noch obendrein die Urenkelin eines Mannes, von dessen Wundern »Polen noch voll war«, bis in ihr achtzehntes Jahr hinein unvermählt, ja unverlobt geblieben!

»Hm!« sagte ich, »sie wird vielleicht gar nicht so dick sein oder es ist sonst etwas nicht in der Ordnung!«

»Du!« rief er drohend und ballte die Fäuste. »Alles in Ordnung!« rief er. »Und für ihren Bruder kann sie doch nichts!«

»Was ist's denn mit ihrem Bruder?«

»Er ist ein »Apokoiris« (Abtrünniger),« erwiderte Nathan grimmig. »War noch vor acht Jahren ein ganz braver Mensch, ein gelernt Jüngel, fromm und still, die »Schadchonim« (Heiratsvermittler) haben sich die Füße abgelaufen um ihn. Aber mein Schwiegervater Reb Srul hat immer gesagt: »Wer meinen Hirsch zum Eidam will, muß ihn mit Gold aufwiegen!« Aber wie das Jüngel siebzehn Jahre alt wird, verwirrt Gott seinen Verstand und er geht zu seinem Vater und fängt an zu reden von der neuen Zeit und von Bildung und daß er will studiren auf einen Doctor. Da erschrickt Reb Srul und rauft sich den Bart und fängt an zu weinen. »Hirschleben,« weint er, »das wär' ja die größte Schand' und das größte Unglück, wenn der Urenkel von Reb Mendele Suchower möcht tragen einen deutschen Rock und »trefe« essen und am Sabbath Recepten schreiben! Hirschleben, thu' mir das nicht an!« Schweigt das Jüngel und sagt dann: »Vater, weine nicht, ich werde nie etwas Schlechtes thun!« Ist Reb Srul wieder getröstet. Aber drei Tage darauf ist Hirsch weg gewesen – nicht im Haus und nicht in Tarnopol – als wär' er in die Erd' gesunken. Srul läuft herum, die Gemeinde läuft herum, die Gendarmen laufen herum – Alles umsonst. Da hört man auf einmal: Hirsch sitzt in Lemberg und studirt die »Gumnasia« und tragt einen kurzen Rock. Reb Srul reißt sich die Haut vom Leib: »Mein Sohn ein Tatsch« (Deutscher, Aufgeklärter) und fährt nach Lemberg. Wie trifft er Hirsch? In einem Bodenzimmer, im größten Elend, mit noch drei anderen solchen Studenten. »Vater,« sagt er, »es ist alles Reden umsonst – ich bleibe hier. Denn hier thu' ich glücklich sein, und nach Jahren komme ich wieder!« Da sagt Reb Srul: »Ich hab' keinen Sohn mehr« – und geht. Mein Schwiegervater ist ein eiserner Kopf, er hat sein Wort gehalten durch alle die acht Jahre, die seitdem vergangen sind. Anfangs sind noch Briefe gekommen, aber obwohl sie verzahlt waren, hat er sie doch nicht angenommen. Nur von fremden Leuten hat man gehört, daß Hirsch nach Wien gefahren ist, und jetzt schneidet er dort – Gott soll uns bewahren! – Todte auf und heißt Heinrich. Wenn man aber sagt, daß er sich hat taufen lassen, so ist das eine Lüge – nur unsere Feinde sprengen das aus. Es ist ja ohnehin bitter genug, einen solchen Schwager zu haben, und deßhalb hat auch Reb Srul bisher keinen Bräutigam finden können für seine Malke. Aber mein Vater hat gesagt: »Das ist ein Unglück und keine Schande, und Reb Srul bleibt doch immer der Enkel vom großen Suchower Rabbi, und es ist mir eine Ehre, sich mit ihm zu verbinden.« Und so sind die »Tnoim« (Verlobungsbriefe) ausgetauscht worden, und in vier Wochen ist in Tarnopol die Hochzeit.«

»Und bleibst Du in Tarnopol?«

»Nein!«

»Also werdet ihr hier wohnen?«

»Ja!« Er wurde sehr verlegen, und sein Gesicht färbte sich hochroth. »Das heißt – ich. Aber sie bleibt noch zwei Jahre bei ihrem Vater. Man sagt – ich bin noch zu jung. Aber,« sprang er rasch auf ein anderes Thema über, »weißt Du – ich kann schon die deutschen Gesetze verstehen . . .«

. . . Bald darauf reiste die ganze Familie Segenswunsch in Begleitung des Herrn Türkischgelb zur Hochzeit nach Tarnopol. Luiser bewies da, nebenbei bemerkt, wirklich einige Vorurtheilslosigkeit. In den orthodoxen Kreisen des östlichen Judenthums herrscht noch immer der größte Abscheu gegen das Studiren, weil es dem Glauben entfremde. Kann sich eine solche Familie vollends der Verwandtschaft mit irgend einem Wunderrabbi oder sonstigen frommen Gauner rühmen, so wird Alles aufgeboten, um den »Bethörten« zu bekehren, und gelingt es nicht, so ist er für seine Angehörigen todt. Mancher Wiener Mediciner aus Galizien und Ungarn, welcher sich überaus mühselig durchbringt, ist der Sohn vermöglicher Eltern und könnte daheim als Wucherer oder Talmudist in Kaftan und Pantoffeln ein sehr behagliches Leben führen. Statt dessen leidet so ein armer Mensch einsam und verlassen, nur von seinem eigenen Wissenstriebe aufrechterhalten, in der Großstadt Hunger und Kälte und denkt doch nie reuig an die Fleischtöpfe der Heimat zurück. Ach ja, diese Juden sind doch ein seltsames Volk!

. . . Ich konnte in jenem Jahre die Rückkunft des Vermählten nicht abwarten. Aber um so ausführlicher berichtete er mir im Sommer 1863 von der Pracht der Hochzeit und der Schönheit seiner Gattin. Sogar poetisch wurde er dabei. »Malke heißt sie,« rief er, »und eine Malke ist sie. (Das Wort heißt hebräisch: Königin.) Ihr Haar ist wie die Nacht und ihr Gesicht ist wie der Tag! Und ihre Stimm' – wie eine Flöt' . . .«

»Habt ihr viel mit einander gesprochen?«

»Viel nicht; vor der Trauung hat es sich nicht geschickt, und nach der Trauung sind wir auch nie allein gewesen. Weißt Du – ich hab' mich geschämt, weil ich noch so jung bin . . . Aber geredet haben wir doch – natürlich! Sie hat mich gefragt: »Ich höre, daß Ihr Deutsch lesen könnt, Nathan, ist das wahr?« – »Natürlich,« sag' ich. – »Und was habt Ihr gelesen?« fragt sie. – »Die Fibel,« sag' ich, »und das Lesebuch und das bürgerliche Gesetzbuch, und jetzt werde ich noch das Strafgesetz lesen.« – »Sonst nichts?« fragt sie. – »Was sonst?« frag' ich erstaunt. Hat sie geschwiegen; dann frag' ich: »Könnt Ihr Deutsch lesen, Malke?« – »Ja,« sagt sie. – »Wozu?« frag' ich. »Was braucht Ihr die Gesetze?« Hat sie wieder geschwiegen . . .«

»War das Alles?«

»Alles?«

»War sie heiter?«

»Ich weiß nicht . . . aber warum soll sie nicht heiter gewesen sein?«

»Hast Du sie geküßt?«

»Nein!« sagte er erröthend. »Ich hab' nicht den Muth gehabt. Auch waren ja immer Leut' da. Aber sie kommt nächstens mit ihrer Mutter hieher, uns zu besuchen, und da werd' ich mir den Muth fassen.«

Ob er seine Absicht verwirklichte, weiß ich nicht, vermuthe jedoch das Gegentheil. Denn als Malke mit ihrer Mutter kam und mit dem Gatten die obligaten Besuche machte, wagte er es kaum, den Blick zu erheben, geschweige denn, sie anzureden. Es war ein sonderbares Paar und ein größerer Contrast kaum erdenkbar – der blasse, unreife Knabe neben dem neunzehnjährigen, herrlich erblühten, jungfräulichen Weibe! Malke war sehr schön – auch jetzt noch, da sie statt ihres natürlichen Haarschmuckes einen »Scheitel« aus Seide trug – ihr Haar war bei der Vermählung nach der barbarischen Sitte der Orthodoxen unter der Scheere gefallen! Es war wohl kohlschwarz gewesen, man sah es an den Augenbrauen, deren Farbe seltsam mit dem tiefen Blau der Augen kontrastirte. Solche Augen trifft man selten unter den Frauen dieser Race; im Uebrigen repräsentirte Malke den Typus der östlichen Jüdin, aber den Typus in seiner reizendsten Verkörperung. Nach Einer Richtung blieb sie entschieden hinter dem Schönheits-Ideal ihres Volkes zurück; sie war nicht dick, nicht einmal voll, sondern von strengstem Ebenmaß der Formen. Schon die äußere Erscheinung gewann ihr Aller Herzen, noch mehr die Art, wie sie sich in ihre, im Grunde lächerliche Situation an der Seite dieses Gatten fügte; sie benahm sich mit freundlicher, ruhiger Sicherheit; nur zuweilen, wenn Nathan eine Bemerkung hervorstotterte, wie sie seinem Alter und seiner Anschauungsweise entsprach, preßte sie die Lippen fest aufeinander, und ein Schatten überflog ihre schöne Stirne. Sie gab sich so bescheiden als möglich, gleichwohl hörte man es ihren Antworten, ihrer dialektfreien Aussprache an, daß sie sich einige Bildung erworben.

Meine gute Mutter faßte gleich bei der ersten Begegnung tiefstes Mitleid mit dem armen, schönen Opfer einer barbarischen Convenienz, und Malke mochte dieses Wohlwollen rasch herausgefühlt haben, denn sie verbrachte während der wenigen Tage ihrer Anwesenheit manche Stunde bei uns. Ich war selten dabei, und dann erzählte Malke auch nur Gleichgiltiges, doch hörte ich einmal ohne mein Zuthun durch die dünne Thür die Bruchstücke eines Gespräches, welches mich sehr interessirte. Ich konnte nicht verstehen, was das junge Weib heftig, hastig, mit thränenerstickter Stimme erzählte, hörte aber zwischendurch die tröstende Stimme meiner Mutter: »Dann kann ja noch Alles gut werden! Sie haben ja noch ein volles Jahr Frist, da kann sich Vieles wenden! Ich bin überzeugt, daß sich in Ihrem Vater die Stimme des Herzens regen wird, wenn Ihr Bruder nach so langer Zeit wieder heimkehrt. Und dieser wird Ihnen dann eine Stütze sein in dem harten Kampfe, den Sie freilich werden bestehen müssen! Ihres Adolph sind Sie sicher?« – »Ja!« rief Malke laut, fest, freudig. – »Dann weinen Sie nicht länger, mein Kind!« schloß die alte Frau. »Gott wird das Vertrauen Ihres starken, treuen Herzens nicht zu Schanden werden lassen!«

»Wer ist Adolph?« dachte ich neugierig, mochte aber meine Mutter nicht fragen. Noch weniger natürlich den Herrn Gemahl. Ich sollte es aber doch erfahren, und nicht in allzu langer Zeit. Im nächsten Frühlinge erhielt ich in Czernowitz einen Brief meiner Mutter, und darin stand als Nachschrift: »Das Neueste aus Barnow ist, daß die Ehe zwischen Nathan und der schönen Malke wieder getrennt wurde. Es ist Alles im Frieden abgegangen und rascher, als man hätte glauben sollen. Malke heiratet einen Mann, der ihrer würdiger ist, einen jungen Arzt, Dr. Adolph Goldberger.«

Bei meiner Heimkunft erfuhr ich die näheren Umstände. Dr. Goldberger war der Sohn eines gebildeten Mannes in Tarnopol. Er hatte schon als Student eine tiefe Neigung zu der schönen Tochter des frommen Srul Rosmarin gefaßt und war auch heimlich für ihre Bildung thätig gewesen. Gegen ihre Vermählung hatte er, selbst noch Student, freilich nichts thun können, ebensowenig sein Freund und College Heinrich Rosmarin, obwohl dieser stets in heimlichem Briefverkehre mit der Schwester gestanden. Erst als Adolph sein Doctorat gemacht, hatten Beide handelnd eingegriffen. Zuerst erschien Heinrich plötzlich wieder im Hause seines Vaters, und die jähe, so lange vermißte Freude seines Anblicks machte den alten Vater weich und ließ ihn seinen Fanatismus niederkämpfen. Und dann gelang es auch, ihn für die Verbindung seiner Tochter mit dem »Deutschen« zu gewinnen. Er selbst leitete die Verhandlungen mit Luiser Segenswunsch. Sie waren sehr langwierig und kamen erst zu einem Resultate, als Reb Srul schweren Herzens auf die Rückgabe der Mitgift Verzicht leistete.

Auch mein einstiger Spielgenosse faßte die Sache nicht sentimental auf. »Malke hat mir sehr gut gefallen,« sagte er mir, »und darum hätte ich in die Scheidung unter keiner Bedingung gewilligt, wenn sie auch sonst zu mir gepaßt hätte. Aber ich habe mich immer vor ihr gefürchtet, sie war so stolz, und dann habe ich auch schöne Geschichten von ihr erfahren! Schöne Geschichten – Gott soll alle jüdischen Kinder davor bewahren. Weißt Du, was sie schon als Mädchen gethan hat und dann später, wie sie schon mein angetraut Weib war?!«

»Gewiß nichts Schlechtes!« rief ich unwillig.

»Schlechtes? – Verbrechen! Sie hat deutsche Bücher gelesen, schlechte Bücher, in welchen die »Liebe« beschrieben ist, und andere solche schamlose Sachen. Ich hab' auch gewußt, wie solche Bücher heißen . . .«

»Romane?« fragte ich.

»Ja – Romanen! Vielleicht zehn Romanen hat sie als mein Weib gelesen! Wie ich das gehört hab', hab' ich meinem Vater gesagt: »Ich brauch' ein ehrlich jüdisch Weib und keine solche Person. Kann ich die Mitgift behalten, so ist es gut, denn ich will nicht zwei Jahr umsonst ihr Narr gewesen sein, wenn nicht – auch gut – aber jetzt will ich endlich ein Weib, mit dem ich wirklich verheiratet bin.« Nun – mein Vater hat die Sache so gerichtet, daß ich das Geld behalte – desto besser! Und jetzt sucht mir Isaak der Schadchen ein wirklich frommes Kind!«

Dieser einflußreiche Mann löste seine Mission in der That binnen kurzer Frist glücklich und zu beiderseitiger Zufriedenheit. Im Winter 1864 feierte der sechzehnjährige Nathan seine Vermählung mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der Kreisstadt Zalesczyki. Sie hieß Taube und machte ihrem Namen keine Unehre – ein blondes, hübsches, sanftes Geschöpf, welches keinen anderen Willen hatte, als den ihres Eheherrn. Doch nützte dieser seine Überlegenheit in keiner Weise aus; er und seine Eltern behandelten das kleine Frauchen mit überströmender Sorgfalt und Güte. Sie vergalt dies, so gut sie konnte; es war eine stille, glückliche Ehe, und da bei der Anschauung jenes Kreises Niemand in Barnow an der Jugend der Beiden Anstoß nahm, so sprach auch in der ersten Zeit Niemand von der vierten Frau des Nathan. Später freilich begannen die Leute zu flüstern und mitleidig den Kopf zu schütteln. Der junge Ehemann, obwohl ihm sein Getreidehandel reichen Gewinn abwarf, ging betrübt umher, der alte Luiser betete daheim und in der »Schul« inbrünstiger als je, und die arme Taube hatte oft rothgeweinte Augen. Es kam dies nicht daher, weil Unfrieden, Abneigung oder gar Untreue in die Ehe gekommen. Die Beiden hatten sich bei der Verlobung zum ersten- und unter dem Trauhimmel zum zweitenmale gesehen; sie hatten sich erst kennen gelernt, als sie aneinander gekettet waren, aber mit keinem Hauch waren sie von der Idee berührt, daß dies anders sein könnte oder müßte. Sie waren nun einmal verheirathet und schickten sich ineinander, und Jedes bestrebte sich ehrlich, nur das Gute an dem Andern zu sehen, nicht das Schlimme. »Seltsames Weben in der Seele eines Volkes!« habe ich vor Jahren über die Juden-Ehe geschrieben. »Auf die Gottheit und allein auf diese überträgt es alle Glut und Sinnlichkeit seines Herzens und seines Geistes. Demselben Volke, welches einst das hohe Lied gedichtet, den ewigen Hymnus der Liebe, und die Geschichte der Ruth, die schönste Idylle der Weiblichkeit, demselben Volke ist in der tausendjährigen Nacht, Bedrückung und Ruhelosigkeit die Ehe ein Geschäft geworden, geschlossen, um Geld zu erwerben und um die Auserwählten Gottes nicht aussterben zu lassen. Und sie ahnen nicht einmal den entsetzlichen Frevel, der darin liegt!« Von diesen Worten habe ich auch heute nichts zurückzunehmen. Aber hinzufügen muß ich, daß die Reinheit des Familienlebens nicht darunter leidet. Es gibt selten so treue Gatten und gewiß nirgendwo so zärtliche Eltern, als unter den polnischen Juden. Das wird bei der unwürdigen Art, in der die Ehen geschlossen werden, dem Leser des Westens wie ein Rätsel erscheinen. Die Lösung ist leicht. Dieselbe, sagen wir patriarchalische Sitte, welche die Wahl des Bräutigams oder der Braut nicht dem eigenen Herzen, sondern der Einsicht der Eltern überläßt, dieselbe Sitte gebietet es auch dem Gatten, die Gattin zu ehren, zu pflegen, zu schützen. Sie zwingt zu dem Ersteren, aber auch zu dem Letzteren. Und ferner: derselbe Druck von Außen, welcher alles Sinnen auf den Erwerb concentrirt und darum auch die Heirathsfrage zu einer Geldfrage macht, derselbe Druck hat auch das Band der Familie unzerreißbar fest gemacht. Außer der Glaubenskraft seines Herzens hat der Jude der Verfolgung von Außen her die Macht des Geldes und die Reinheit seiner Sitten entgegengesetzt, und – er hat sie überdauert. Nicht deßhalb also ist die derzeitige Art der Eheschließung und Ehelösung im Judenthum verwerflich, weil sie etwa Unsittlichkeit herbeiführt. Nirgendwo ist Ehebruch seltener als im Ghetto des Ostens. Aber aus anderen Gründen ist diese Erscheinung höchst betrübend. Daß der Jude des Ostens baldmöglichst zum Bewußtsein seiner Menschenwürde gelange, daß er mit eigener Hand die Binde von seinen Augen reiße, welche eine harte Zeit um sie gelegt – das ist die höchste Frage, um die es sich derzeit im Culturleben des Judenthums handelt. Und darum, im Interesse dieser Entwicklung, muß eine Anschauung bekämpft werden, welche ihm eine Handlung, in der er sich nach ethischen Gesetzen die Freiheit und Würde eines Individuums äußern sollte, zu einem Handelsvertrag macht. Daneben haben natürlich diese Ehen zwischen unreifen Jünglingen und Mädchen, welche obendrein nicht nach den Gesetzen der natürlichen Zuchtwahl, sondern nach fremdem Willen geschlossen werden, auch eine traurige physiologische Folge; die Rasse degenerirt! Das sind wahrlich Gründe genug, um eine Aenderung lebhaft wünschen zu lassen, aber wie kann, wann wird es anders werden?! Erst dann, müssen wir antworten, wenn sich dereinst die Juden im Osten entnationalisirt und europäischer Bildung erschlossen; partiell ist dies Symptom so wenig zu beheben, wie irgend ein anderes! Jener Prozeß der Entnationalisirung wird sich vollziehen; aber wann er sich vollziehen wird, liegt nicht allein in der Macht und dem Willen der Juden, sondern hängt noch weit mehr von der Cultur-Entwicklung jener Völker ab, unter denen sie leben. Doch habe ich diese Anschauung an anderer Stelle dieses Buches so nachdrücklich verfochten, daß ich sie hier nicht weiter zu begründen habe. So bleibt es dem Menschenfreunde nur übrig, sich bis dahin mit dem einen Troste zu begnügen, daß weder diese geschäftsmäßige Schließung der Ehen, noch ihre rasche Lösbarkeit der Volksseele jene Makel aufgedrückt, die an sich so begreiflich wären. So wäre es z. B. wahrlich nicht verwunderlich, wenn wir da in jeder Gemeinde einem wirklichen und wahrhaftigen »Blaubart« begegneten – oder gar mehreren! Wollte der Jude des Ostens seine Sinnenlust nach dem alten Recepte: »variatio delectat« befriedigen, so stünde ihm die Satzung nicht entgegen, er könnte sich allmonatlich eine andere Jungfrau rechtmäßig antrauen lassen; ein »Get« ist ja leicht geschrieben und nicht allzuschwer eingehändigt. Aber was die Satzung nicht verbietet, verhindert die Sitte, die moralische Empfindung des Volkes. Mir ist kein solcher Fall aus eigener Anschauung bekannt geworden, auch vom Hörensagen weiß ich nichts davon zu berichten. Nur in der »St. Petersburger Zeitung« vom Sommer 1869 fand ich in einem Artikel über das Eheleben der polnischen Juden die Thatsache angeführt, daß ein jüdischer Schuhmacher, Chaim, mit dem Beinamen »Cholewka« (Schäftchen) »nicht weniger als dreißig Frauen nach einander geheirathet habe.« Dieser jüdische »Blaubart«, fügt der Verfasser hinzu, »welcher ein unstetes Leben führt und sich noch in den besten Jahren befindet, soll das Maß seiner Sultanslaunen noch nicht gefüllt haben.« Ich bezweifle die Richtigkeit der Angaben nicht, betone aber, daß es sich hier um einen unerhörten Ausnahmsfall handelt. In der Regel findet sich im polnischen Ghetto, wenn überhaupt, dann nur jene ungefährliche Spezies des »Blaubart«, die unser Nathan repräsentirt.

Kehren wir zu ihm und seiner Taube zurück. Wenn sich ihr Eheglück allmälig trübte, so lag der Grund nicht darin, weil sie einander nicht frei gewählt, sondern weil der Hauptzweck ihrer Verbindung nicht erfüllt wurde: sie blieben kinderlos. Nun sind Kinder dem orthodoxen Juden nicht blos ein Glück, sondern ein Verdienst vor Gott, eine kinderlose Ehe also nicht blos ein Unglück, sondern eine Sünde. Schon als das erste Jahr verstrichen war, wurde Luiser unruhig; als auch das zweite nicht den gehofften Segen brachte, wurden auch die jungen Eheleute von tiefer Trauer ergriffen. Die Aerzte riethen das und jenes. Taube reiste nach Dorna Watra, dem Franzensbad des Ostens. Als aber auch das dritte Jahr verstrich und die Aerzte keinen weiteren Rath wußten, fuhr Frau Esther mit ihrer Schwiegertochter nach Sadagora, zum Wunderrabbi. Dieser fromme Gaukler ist ja diesen verblendeten Menschen in allen Dingen die höchste Instanz, und darum, meinen sie, vermag auch sein Segen unfruchtbare Frauen fruchtbar zu machen. Er erhielt ein schönes Geschenk und sprach darum über das blasse, traurige Weib einen sehr kräftigen Segen – aber es nützte nichts. Nathan harrte noch zwei Jahre, dann gab er dem Drängen der Verwandtschaft nach. Taube erhielt mit dem Scheidungsbrief ihre Mitgift wieder und kehrte in das Haus ihrer Eltern zurück.

So stand Nathan im Alter von einundzwanzig Jahren, nachdem er vier Frauen unter den Trauhimmel geführt, wieder unbeweibt und noch immer kinderlos da. Der Vater drängte zu einer neuen Verbindung, und Nathan war nicht abgeneigt. Nach wenigen Monaten vermählte er sich wieder.

Von dieser Ehe ist nur wenig zu berichten und nur Gutes. Als ich im Jahre 1875 nach Barnow kam, zeigte mir mein einstiger Spielgenosse stolz seine Häuser und Fruchtschober, noch stolzer sein üppiges, gesundes Weib, am stolzesten aber seine drei Jungen. »Gottlob! ich werde das halbe Dutzend nicht voll machen,« sagte er mit fröhlichem Lachen, als ich ihn an den Tag seiner ersten Hochzeit erinnerte. In der That sah Frau Rachel aus wie das liebe Leben.

Nun, der Leser weiß, daß es leider anders gekommen. Das halbe Dutzend ist voll. Möge es dabei bleiben!

Ich schließe. Nicht jeder orthodoxe Jude in Galizien führt so viele Frauen nach einander heim. Nathan Segenswunsch ist immerhin eine seltene, wenn auch keineswegs beispiellose Erscheinung. Aber, wiederhole ich, seine sechsmalige Verheirathung hat sich, ohne daß er Besonderes dazu gethan hätte, just eben durch die Verhältnisse und Anschauungen seines Lebenskreises gefügt; kein Jude in Podolien findet etwas Merkwürdiges daran. Und darum, nur darum glaubte ich seine Geschichte niederschreiben zu sollen, denn nur eben darum ist sie ein Stück Kulturgeschichte des östlichen Judenthums.

 


 


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