Karl Emil Franzos
Aus der großen Ebene
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Volks- und Schwurgerichte im Osten.

(1879, 1887.)

Es war im Juli 1872, als ich, der Einladung eines Schulfreundes folgend, einige Wochen auf seinem Gute im südöstlichen Galizien verbrachte. Das Dorf liegt am nördlichen Abhang jener zerklüfteten Hügelkette, welche den Lauf des Dniester begleitet; seine Bewohner sind Klein-Russen oder, wie sie die k. k. offizielle Ethnographie nach dem Jesuitenlatein des XVII. Jahrhunderts benannt, Ruthenen.

Mit Bauern dieses Stammes kann der Gutsherr leicht Frieden halten, sofern er nur gerecht und ruhig ist; vermag er zu diesen Eigenschaften auch noch ein wenig Wohlwollen und Herzlichkeit zu fügen, so kann er vollends auf diese Leute, als seine treuergebenen Freunde und Helfer zählen. Denn kein anderer slavischer Stamm vereint mit so unbegrenzter Gutmüthigkeit ein so peinlich waches und reges Rechtsgefühl. In diesem letzteren liegt freilich zugleich der Grund, warum das Verhältniß der polnischen Herren zu den ruthenischen Bauern oft genug ein überaus unerquickliches ist. Die Erbfeindschaft zwischen beiden Nationen macht den Landmann im Vorhinein mißtrauisch, und läßt sich nun der Edelmann irgend eine Ungerechtigkeit zu Schulden kommen, vielleicht nicht gerade aus Bosheit, sondern nur eben unbedachtsam oder jener Tradition seines Standes und Volkes folgend, die in dem Ruthenen noch immer den rechtlosen Hörigen steht, so ist der Friede für immer zerstört, und Kleinigkeiten, die anderwärts durch einiges Geld und mehrere gute Worte ausgeglichen wären, führen hier zu blutigen Gewaltthaten oder doch zu langwierigen Prozessen, die von den Streitenden mit steigender Erbitterung durch alle Instanzen gezerrt werden. So stellt sich das Verhältniß zwischen dem Herrn und den Bauern immer als ein Extrem dar, im Guten oder im Bösen. Entweder ist ihnen der Gutsbesitzer ein Teufel, ein »schwarzer Teufel, dem Gott im Schlafe die Erlaubniß gegeben, auf Erden zu wirtschaften,« oder ein Engel, ein »geliebtes Väterchen,« ein »goldenes Seelchen,« das nur ein Unhold kränken könnte.

So ein »Väterchen« war denn auch mein Freund, obwohl er gerade volljährig geworden und ein »goldenes Seelchen« dazu, obwohl sein Wesen von herber, strenger Prägung war. Aber den armen Bauern genügte die Thatsache, daß er ihnen kein Unrecht that und zuweilen freundlich mit ihnen sprach. »Die Leute gingen für mich durchs Feuer,« sagte er mir stolz, als ich zum ersten Male mit ihm über die Felder ritt, und es war leicht, wahrzunehmen, daß er nicht prahlte. Gleichwohl sollte sich schon wenige Tage nach meiner Ankunft ein Conflict ergeben und aus ganz seltsamen Gründen.

Der Kutscher meines Freundes war krank geworden, und der Hausjude, der kleine Baruch, brachte am nächsten Tage einen Stellvertreter auf den Hof, den er in Zaleszczyki gemiethet. Es war dies ein schöner, starker Mensch im Anfang der Dreißig, Hritzko Boriuk mit Namen, aus der Zloczower Gegend gebürtig, der als Corporal bei den Ulanen und später als Leibkutscher bei mehreren Edelleuten gedient, zuletzt auch in der Moldau. Er machte den Eindruck eines tüchtigen, intelligenten Menschen, auch seine Zeugnisse lauteten überaus günstig. Auffallend war es nur, daß er in jedem galizischen Dienstorte höchstens drei Monate geblieben; nur in der Moldau hatte er durch ein Jahr ausgeharrt. Gleichwohl beschloß mein Freund, es mit ihm zu versuchen und hatte dies nicht zu bereuen. Hritzko erwies sich als geschickter Automedon, hielt Stall und Pferde prächtig in Ordnung und machte sich auch sonst im Hause nützlich.

So verging etwa eine Woche. Da trat der Mann eines Morgens, als wir am Frühstückstische saßen, mit bleichen, entsetzten Mienen vor uns hin. »Herr,« stammelte er, »sie sind da!«

»Wer?« fragte mein Freund erstaunt.

»Der Richter und die Aeltesten,« erwiderte Hritzko leise, aus gepreßter Kehle, und schielte scheu nach der Thüre.

»So laß sie eintreten!« sagte der Gutsherr. »Warum zitterst Du so? Und warum meldest Du sie? Ist nicht Janko im Vorzimmer?«

»Freilich ist der Janko draußen, aber ich bin statt seiner gekommen, um noch meine Bitte . . . Herr!« rief er plötzlich schrill auf und sank in die Kniee, »ich flehe Sie an, behalten Sie mich in Ihrem Hause . . .«

»Was hast Du?« fragte der Gutsherr, »ich denke nicht daran, Dich fortzuschicken . . .«

»Thun Sie's auch nicht, was immer Ihnen die Leute sagen mögen!« flehte Hritzko. Aber ehe wir ihn noch weiter befragen konnten, hatte er sich erhoben und war hinausgestürzt.

Wir blickten ihm erstaunt nach. Da klopfte es aber auch schon demüthig an der Thüre und herein traten unter unzähligen Bücklingen und Segenssprüchen drei Greise in festlicher Tracht: hohen Stiefeln, Linnengewand und weithin duftendem Schafspelz. Der Richter des Dorfes, Harasim Pomenko und zwei der Aeltesten. Das lange silberweiße Haar, der tiefe Ernst der Mienen, das blitzende Handbeil in der Rechten gab ihnen den Ausdruck des Ernsten und Ehrwürdigen.

»Herr!« begann der Richter, »Du bist unser Vater und wir Deine Söhne! Du bist unser Gebieter und wir Deine Knechte. So war es und so ist es! Und auf daß es so bleiben möge – erfülle uns eine Bitte!«

»Sprich!« befahl mein Freund.

»Wir bitten Dich, Deinen Kutscher Hritzko zu entlassen, heute lieber als morgen und in dieser Stunde lieber als in der nächsten!«

»Warum?«

»Weil er eine schlechte That begangen hat und nicht werth ist, Dein Diener zu sein!«

»Was hat er Euch gethan?«

»Uns – nichts!« Und mit überlegenem Lächeln fuhr der Greis fort: »Er hat ja nur mit wenigen Menschen im Dorfe gesprochen und kaum etwas berührt, was uns zugehört – wie könnte er uns etwas gethan haben?«

»Warum verfolgt Ihr dann einen Unschuldigen?«

»Bewahre uns Gott, der Allmächtige,« rief Harasim und schlug ein Kreuz. »Bewahre uns Jesus Christ vor solcher Sünde! Einen Unschuldigen verfolgen! Aber – sieh, Väterchen, das ist ja die Sache – er ist kein Unschuldiger, sondern ein Sünder, ein Verurtheilter!«

»Das muß ein Irrthum sein!« erwiderte der Gutsherr. »Ich habe seine Papiere, seine Zeugnisse! Er scheint mir ein braver, unbescholtener Mensch . . .«

»Herr!« sagte Harasim bedächtig, und wieder glomm jenes überlegene Lächeln in den düsteren, scharfgeschnittenen Zügen auf, »wie sollte denn in seinen Papieren Etwas davon stehen? Er ist ja nicht von des Kaisers Schreibern gerichtet worden, sondern von uns! Das heißt, nicht von mir oder dem Olexa hier, aber von unseren Leuten!«

»So?« Der Edelmann trat einen Schritt zurück, sein Antlitz verfärbte sich. Aber dann richtete er sich auf. »Und das wagt Ihr mir einzugestehen?«

»Warum nicht? Du bist ja unser Freund! Und Dein Freund ist ein Deutscher – was geht ihn die Sache an! Er verräth die Sache nicht und Du nicht!«

»Und wenn ich es dennoch thäte?«

»Dann kämen wir, einer oder der andere, vielleicht in den Kerker. Vielleicht auch nicht! Du aber, gnädigster Herr Wohlthäter –«

»Nun – ich? – Du drohst?«

»Davor bewahre mich der Himmel! Ich wollte nur sagen: Du hättest auch Verdruß davon, aber die Schreiber würden doch nichts herausbringen!«

»Also besteht das Unwesen noch?«

»Darauf, vielvermögender Herr Wohlthäter,« erwiderte Harasim demüthig, aber entschieden, »darauf wäre zweierlei zu erwidern. Erstlich, daß es kein Unwesen ist, sondern ein Wesen, ein heiliges Wesen, weil es von den Vätern auf uns gekommen und durchaus immer mit Ehrlichkeit gehandhabt wurde. Und zweitens: ja, es besteht und wird mit Gottes und der Heiligen Hülfe immer aufrecht bleiben!«

»Wozu?«

»Damit Gerechtigkeit auf Erden ist!«

»Aber dafür sorgt des Kaisers Gericht!«

»Ja – soweit es kann, aber wo es nicht richten kann oder nicht richten soll, da ist unser Gericht nöthig!«

»Nicht richten soll?«

»Ja«, erwiderte Harasim schlicht und entschieden, »wo es nicht richten soll. Aber nun ist genug darüber geredet. Wozu willst Du noch länger fragen, da ich ja doch, wie Du weißt, nicht antworten darf!«

»Gut – aber bezüglich des Hritzko müßte ich doch Näheres wissen, wenn ich Euch den Gefallen thun soll!«

»Das ist ein gerechter Wunsch,« erwiderte Harasim, sich tief verneigend, »frage, Herr Wohlthäter!«

»Nun denn, wer hat den Hritzko verurteilt?«

»Unsere Leute,« erwiderte der Richter demüthig, und verbeugte sich tief. »Die Namen weiß ich selbst nicht! Was liegt auch daran, wer es war? Sicherlich waren es ehrliche Männer, denen es zustand! Und daß es bei dem Gerichte ordentlich zuging, nach Recht und Gerechtigkeit, das kann ich Dir beschwören, Herr!«

»Wie kannst Du das?«

»Weil es dabei immer ordentlich zugeht!«

»Wo und wann ist er verurtheilt worden?«

»Daran liegt ja nichts – der Ort ist gleichgültig. Aber zufällig kann ich Dir die Frage beantworten: in seiner Heimathgemeinde im Zloczower Kreise und vor drei Jahren.«

»Und was war seine Schuld?«

»Ich weiß es nicht!«

»Du lügst!«

Der Greis lächelte mild, fast mitleidig.

»Ich habe weiße Haare,« sagte er, »und stehe bald vor Gott! Wie sollte ich in einer solchen Sache lügen? Wenn ich es wüßte, aber nicht sagen dürfte, so würde ich Dir dieses antworten. Aber ich weiß es wirklich nicht, und Niemand weiß es, außer jenen Leuten, die ihn gerichtet haben, und ihm selbst und jenen, an denen er seine Sünde gethan. Aber weder seine Richter, noch seine Opfer würden Dir seine Schuld verrathen! Denn also halten wir es: wer verurtheilt ist, dem darf seine Schuld nicht mehr nachgesagt werden! Und es ist recht so, recht und gerecht!«

»Und zu welcher Strafe wurde er verurtheilt?«

»Er ist ausgestoßen! Er darf nicht bleiben und verweilen, weder in seiner Heimath, noch in einem anderen Dorfe, soweit eben unser Gericht gilt!«

»Auf wie lange?«

»Auf Lebenszeit!«

»Du weißt es genau?«

»Ja! So ist es mir vermeldet worden.«

»Das begreife ich nicht! Du hast, ehe er hierher kam, nicht um seine Schuld gewußt! Und er ist kaum acht Tage hier. Binnen einer Woche kann doch schwer eine mündliche Nachricht den Weg von hier nach Zloczow doppelt zurücklegen! Oder habt Ihr schriftlichen Verkehr, etwa ein Verzeichnis der Schuldigen?!«

»Nein! Alles ist mündlich. Aber ich weiß es doch, und hätte es jedenfalls mit der Zeit erfahren. Es ist ja auch an früheren Orten aufgekommen, wenn auch erst nach zwei, drei Monaten. Daß ich es schon nach einigen Tagen weiß, ist freilich nur ein Zufall. Nämlich – ich war am Jahrmarkt in Ulaszkowce, und da erfuhr ich's!«

»Gut – aber was geht die Sache mich an? Warum haltet Ihr Euch nicht an ihn?«

»Das ist geschehen. Er ist vorgestern verwarnt worden, aber, wie Du siehst, nicht gegangen!«

»Das hätte er denn doch nicht so plötzlich thun können, sondern erst kündigen müssen.«

»Freilich – wenn er ein Freier wäre! Aber er ist ja ein Ausgestoßener. Der braucht keine Verpflichtung einzuhalten, weil er sie nicht eingehen darf. Dir hätten wir sofort einen anderen Kutscher gestellt. Mein eigener Sohn hätte ihn vertreten.«

»Er scheint sich also nichts aus Eurer Verwarnung zu machen?«

»O doch! Er hat seit vorgestern keinen ruhigen Athemzug gethan, und kein Schlaf ist über seine Augen gekommen. Auch hat er sich mir heute am frühesten Morgen zu Füßen geworfen und hat mein Mitleid angefleht! Der Thörichte! als ob ihm –« der Greis lächelte wehmüthig – »mein oder irgend eines Menschen Mitleid etwas nützen könnte! Verurtheilt und ausgestoßen, daran könnte höchstens der Allerbarmer im Himmel etwas ändern. Ich aber muß ja meine Pflicht erfüllen und das Urtheil seiner Gemeinde an ihm vollbringen, sowie jene Leute dort unser Urtheil an einem Schuldigen vollbringen würden!«

Er verstummte, auch der Gutsherr blickte lange schweigend vor sich hin.

»Höre,« begann er endlich, »ich bin Euer Freund, und darum will ich es so halten, als hätte ich nichts von dem gehört, was Du mir eben gesagt. Das ist aber auch Alles, was ich mit gutem Gewissen thun kann. Der Büttel Eures Gerichts kann und will ich nicht werden. Es ist eine Sache zwischen Euch und dem Hritzko. Machet sie mit ihm ab. Will er selbst aus meinem Dienste gehen, so werde ich ihn nicht zurückhalten. Ich aber schicke ihn nicht fort!« Er richtete sich hoch auf. »Und so lange er in meinen Diensten steht – merket wohl – steht er auch unter meinem Schutze! Wer unter meinem Dache wohnt, darf diesen Schutz von mir fordern, und ich werde ihn auch dem Hritzko nicht weigern können und wollen.«

Harasim verbeugte sich tief, wie zum Abschied. Er machte einen Schritt zur Thüre, die beiden Aeltesten folgten ihn. Dann blieben sie doch wieder, wie unschlüssig stehen, und abermals trat der Richter vor.

»Gnädigster Gebieter,« begann er im Tone flehentlicher Bitte, »nur Eins noch höre gütig an! Wir sind ja Deine Kinder und Knechte, Deine Nachbarn und Freunde, Du hast sonst ein Herz für uns, habe es auch in dieser Noth!«

»Die Noth sehe ich eben nicht!«

»Und doch ist sie so klar einzusehen! Also der Hritzko ist ausgestoßen, er hat sein Leben behalten, seine Freiheit, sein väterliches Erbe, nur das Eine ist ihm verwehrt, unter solchen Leuten zu wohnen, wo unser Gericht gilt. Niemand also hindert ihn, über die Waldberge nach Ungarn zu gehen, oder über den Pruth zu den Moldauern, oder über Lemberg hinaus zu den »Ljachen« (Polen). Nur unter uns darf er nicht bleiben. Aber sieh', er bleibt doch. Das dürfen jedoch wir nicht dulden, denn auf Gerechtigkeit ist die Welt gebaut und ein Urtheil darf nicht zum Spotte werden. Es muß uns gleichgültig sein, aus welchen Gründen er nicht aus unserem Volke weichen will, fortbringen müssen wir ihn. Dies kann durch Güte oder durch Gewalt geschehen. An den Orten, wo er früher war, ist es stets durch Güte geglückt; er ist auf die Verwarnung hin gegangen oder der Gutsherr hat ihn auf unsere Bitte weggejagt. Aber jetzt will er nicht selbst gehen. Und Du willst ruhig zusehen, was sich begibt. Daher unsere Noth. Denn bleibst Du, Gnädigster, bei Deiner Weigerung, dann muß Gewalt helfen. Das ist ein leichtes Ding für »Hajdamaken« (Räuber), aber ein bitter Ding für Greise, für Christen, für Familienväter, wie wir sind. Erspare uns Herr, diese Bitterkeit und –«

»Was heißt das?« rief der Gutsherr dazwischen. »Ihr wollt ihn tödten?«

Der Greis blickte starr und düster vor sich hin.

»Auf unseren Willen,« sagte er dumpf, »kommt es nicht an, wir wollen nicht, wir müssen. Aber zum Todtschlagen kommt es in solchen Fällen selten. Man ergreift ihn, bindet ihn und führt ihn davon. Höchstens, wenn ihn Andere befreien wollten oder er selbst Lärm schlüge . . . aber wozu davon reden! Du wirst unsere Noth erkennen und ihn fortweisen von Deiner Schwelle, auf der Segen sei in alle Ewigkeit!«

Wieder folgte ein langes Schweigen. Mein Freund schritt unschlüssig auf und ab. Endlich blieb er vor Harasim stehen. »Du kannst nicht verlangen,« sagte er, »daß ich mich gleich entscheide. Vorher muß ich den Hritzko darüber anhören. Das fordert ja die Gerechtigkeit!«

Der Richter schüttelte das Haupt. »Ich will nicht gleich Deine Entscheidung erbitten, sondern morgen um dieselbe Stunde. Aber warum Du den Hritzko zuerst hören mußt, begreife ich nicht. Was er Dir auch sagen mag, unsere Noth bleibt ja dieselbe!«

Die Bauern gingen. Kaum war die Thüre hinter ihnen geschlossen, als der junge Mann heftig zur Klingel griff und nach dem Kutscher schellte.

Hritzko trat ein, noch immer bleich, aber das Antlitz war ruhiger, der Blick sicher. Er hatte ein offenes, gutmüthiges, gescheidtes Gesicht, welches gewiß kein Mensch für eine Verbrecher-Physiognomie hätte halten mögen.

»Du weißt, was die Leute bei mir wollten?« begann sein Herr.

»Ja!«

»Du bist also wirklich ein Verurtheilter?«

»Ja!«

»Ist Dir Unrecht geschehen?«

»Nein!«

»Warum nimmst Du denn die Strafe nicht auf Dich?«

»Ach Herr!« rief der Mann, und plötzlich verließ ihn die erkünstelte Ruhe, die Züge verzerrten sich schmerzlich und aus den Augen brachen jählings die Thränen. »Ach Herr! Die Strafe sollte man nie ertheilen. Denn einem schlechten Menschen thut sie gar nicht wehe und einem besseren ist sie schlimmer, als der Tod! Ich habe es ja in der Fremde versucht, aber das Heimweh hat mir das Herz abgedrückt und mich zurückgezogen wie mit Ketten. Auch hat mich eine Hoffnung zurückgeführt. Sehen Sie, Herr, ich bin kein armer Knecht, ich habe einen Grundbesitz, der an 6000 Gulden werth ist. Die Hälfte davon möchte ich meiner Gemeinde abtreten, wenn sie dieses Urtheil wieder aufhebt. Dazu bin ich jetzt aus der Moldau zurückgekommen, habe mich aber doch nicht in mein Dorf zurückgetraut!«

»Und glaubst Du, daß Dein Verbrechen durch Geld zu sühnen ist?«

»Nein, Herr, bloß der Schade, den ich meinen Leuten angethan, ist durch Geld zu sühnen. Mein Verbrechen jedoch sühnt nur die Reue, und vielleicht ist mir Gott barmherzig!«

»Was ist's für ein Verbrechen?«

Der Mann wurde roth und wieder bleich. »Diebstahl!« sagte er endlich tonlos.

»Wie?« rief der Gutsherr enttäuscht und verächtlich zugleich. »Und Dich habe ich schützen wollen! Geh, geh!«

»O Herr!« flehte Hritzko, und es war ein Ton der Verzweiflung in seiner Stimme, der unwillkürlich ans Herz griff, »urtheilen Sie nicht, ehe Sie mich hören. Ich bin kein gewöhnlicher Dieb. Ich habe es nie nöthig gehabt, nach fremdem Gut zu greifen, mein Vater war der Richter im Dorfe und hatte das größte Ansehen, ich bin sein Aeltester und hätte das Haupttheil geerbt. Sehen Sie, Herr, mein Unglück kam auf besonderem Wege. Als im Freiheitsjahre die Hörigkeit von uns fiel, da wurden die Aecker und Hutweiden zwischen uns und dem Herrn getheilt, einem Polen, dem Grafen Z. Es sei dabei nicht redlich zugegangen, sagte mein Vater immer, und die anderen Bauern stimmten ihm zu und wollten einen Prozeß beginnen. Nun war aber der Graf ein guter und gerechter Herr, er kam in's Dorf und berief die Gemeinde und sagte: »Höret, Leute, wir wollen den Advocaten und Schreibern nichts zu verdienen geben. Vergleichen wir uns in Güte!« Und er verglich sich mit uns und gab uns ein Papier darüber. Leider hat aber unser guter Graf sonst nur allzuviel mit Advocaten und Schreibern zu thun gehabt, denn er gab so viele Wechsel aus, als Haare in seinem buschigen Schnurrbart waren, nämlich, weil er's leichtsinnig mit den Frauen trieb. Und endlich fügte es sich mit ihm, wie es bei solcher Wirtschaft ergehen mußte; das Gut kam unter den Hammer, den größten Theil erstand ein benachbarter Gutsbesitzer, der ihn mit seinem Besitz vereinigte, und den kleineren ein Armenier Anton Harasimowiz, der früher irgendwo Verwalter gewesen war und dabei soviel zusammengestohlen hatte, um sich endlich selbst ein Gut zu kaufen. Er war sehr süß gegen uns, der Herr Anton, aber wir hatten ihm nicht recht getraut, schon weil das Sprüchwort noch nie gelogen hat: »Ein Armenier ist schlimmer als zehn Juden!« Die Anderen sind bei diesem Mißtrauen geblieben, nur ich habe mich mit dem Schurken befreundet. Freilich war es nicht er, der mich so umstrickte, sondern ein schönes Mädchen, seine Nichte, welche als Wirthschafterin in seinem Hause lebte, denn er war seit Jahren Wittwer. Herr, ich war schon damals ein ausgedienter Soldat, ich war in allen Provinzen gewesen, ich hatte genug schöne Mädchen gesehen, aber so schön wie diese Anielka war keine! Wenn sie mich ansah, so siedete mein Blut auf, als hätte ich Feuer in den Adern, wenn sie mir winkte, so mußte ich ihr folgen, auch wenn sie mich in die Hölle geführt hätte. Herr, es ist nicht zu beschreiben, wie schön dieses Teufelsweib war! Freilich warnte mein Vater. »Heirathen«, sagte er, »kannst Du sie nicht, denn obwohl sie bettelarm ist, so ist sie doch eine Städtische, die sich für einen Bauern zu gut hält, und selbst wenn sie Dich wollte, so darfst Du sie nicht nehmen, denn die Leute sagen ihr nach, daß sie dem schwarzen Hallunken nicht bloß das Bett macht, sondern auch mit dem eigenen Leibe wärmt! Das waren kluge Worte, aber ich schlug sie in den Wind. Denn sie hatte mir ja unter Thränen geschworen, daß ihr die Leute Unrecht thäten mit diesem Verdachte, und ich hätte schon einem Worte von ihr geglaubt, geschweige denn einer Thräne und einem Schwur! Und was das Heirathen betrifft, so gab sie freilich keine bestimmte Antwort, machte aber doch immer wieder Anspielungen, so daß ich hoffen konnte. Denn so schlau ist noch nie ein Weib gewesen, Herr, sie versprach mir nichts, sie gewährte mir nichts, und doch hätte ich täglich schwören mögen, daß ich morgen Alles bei ihr erlange. Kurz, mich hätten keine zehn Teufel mehr von ihr fortreißen können, und ich ging im Hause aus und ein, auch nachdem es das Haus unseres Todfeindes geworden. Der Armenier forderte nämlich von uns jene Aecker und Wiesen, die uns der Graf im Vergleich abgetreten hatte, er behauptete, sie seien im Grundbuch zu seinem Eigenthum verzeichnet. So war es auch; das Dorf hatte versäumt, das Papier am rechten Orte vorzuweisen. Aber dies konnte nachträglich geschehen, wir besaßen es ja, mein Vater verwahrte es im Namen des Dorfes. Unter den Bauern war große Erregung, man sprach von einem Prozesse, und mein Vater verbot mir, zum Armenier zu gehen. »Sohn,« sagte er, »auch ich bin Soldat gewesen, wir wissen Beide, was sich in Kriegszeiten gebührt. Wer da in des Feindes Land geht, ist entweder ein Spion oder ein Ueberläufer, und das ist beides unehrliches Handwerk. Als Spion brauchen wir Dich nicht, denn unsere Sache ist rein und gerecht, und ein Ueberläufer, ein Lumpenhund wirst Du nicht werden wollen.« »Gewiß nicht,« sagte ich und ging selbigen Abends doch zur Anielka. Es war zum ersten Mal, daß ich stundenlang allein mit ihr blieb, zum ersten Mal, daß sie mir einen Kuß gab, und wenn ich schon früher gefügig, wie ein Sclave, gegen sie war, so trank sie mir mit diesem Kusse vollends allen Willen und alle Ehre aus dem Leibe. Sie sah, wie ich nur ein Werkzeug in ihrer Hand war, und nützte es sofort. Von dem drohenden Prozesse begann sie zu sprechen, und wie sehr sie dies bedaure, weil nun die Hoffnung auf die Heirath mit mir unerfüllt bleiben müßte. »Ich kenne meinen Onkel,« sagte sie. »Wenn der Prozeß wirklich beginnt, so hält er alle Bauern für seine Feinde, verbietet Dir sein Haus und gibt seine Einwilligung nie und nimmer. Und doch meint er es sonst gut mit uns und ist auch mit unserer Verbindung ganz einverstanden. Erst gestern hat er mir gesagt: der Hritzko ist ein tüchtiger Mensch und wenn er ernstlich um Dich wirbt, so gebe ich Dich ihm, und als Mitgift bekommst Du die Gründe, die mir zugehören und von den Bauern mit Unrecht in Besitz genommen sind; ich will der Gemeinde beweisen, daß ich nicht aus Eigennutz auf meinem Rechte bestehe!« Ach, Herr, kein Wort kann sagen, wie mir dabei zu Muthe wurde, ich wurde wie toll voll Glück und Liebe. »Und es ist so leicht,« sagte sie weiter, »den Prozeß zu verhüten. Die Gemeinde wird ihn ohnehin verlieren, aber wenn jenes Papier nicht wäre, so könnte sie ihn gar nicht führen!« – »Aber leider ist es da!« sagte ich, »es liegt in meines Vaters Truhe.« Da fiel sie mir um den Hals und weinte und küßte mich und lachte, und beschwor mich, es ihr zu bringen. Und ich – sagte zu! Ich glaube, ich hätte ihr in jener Stunde nicht widerstanden, wenn sie einen Mord von mir verlangt hätte. Und am nächsten Abend« – die Worte kamen heiser, fast zischend aus seiner Kehle – »am nächsten Abend stahl ich das Papier und brachte es ihr. Das war mein Verbrechen . . .«

Dem Manne versagte die Stimme, die Erregung übermannte ihn, und er griff mit zitternder Hand an den Thürpfosten, um sich zu halten.

Der Gutsherr blickte ihn mitleidig an. »Das ist freilich anders, als ich dachte!« sagte er mild. »Die Schlange hatte Dich überlistet, nicht wahr?«

»Ja, Herr. Nachdem sie das Papier erlangt, bekam ich freilich noch manchen Kuß, aber von Verlobung und Heirath sprach sie nicht gerne mehr. Dennoch schöpfte ich kein Mißtrauen; erst viel später und urplötzlich sollte ich erkennen, in welche Hände ich mich da gegeben hatte; ein Vierteljahr später. Das war im Herbste; ich arbeite am späten Nachmittag auf einem unserer Aecker an der Straße, da sehe ich von der Ferne Staub aufwirbeln, es ist meines Vaters Wägelchen, und er peitscht unsere Braunen im Galopp von der Kreisstadt her dem Dorfe zu. Das fällt mir auf, denn ich weiß ja, daß er zum Wochenmarkt hingefahren ist, und da pflegt er sonst erst am späten Abend zurückzukommen und hübsch im Schritt, wie eben die Pferde gehen wollen – Sie verstehen mich, Herr? Ich laufe also an die Straße und er hält an, wie er mich gewahrt. Ganz verstört ist der alte Mann und zornroth im Gesichte. »Sohn!« sagte er, »der Prozeß ist da. Der Armenier hat die Klage überreicht! Ich fahre zurück, mit den Aeltesten zu berathen!« Ich werde todtenbleich, meine Kniee schlottern, mein Herz steht still. Er merkt es nicht, haut in die Pferde ein und fährt davon. Ich aber sinke am Rain nieder und sitze da eine Weile regungslos, vernichtet von Schmerz, Wuth und Reue. Dann raffe ich mich auf, es kann ja nicht sein, tröste ich mich, »so viel Niedertracht trägt die Erde nicht!« – und eile zum Gutshof. Es ist in der Dämmerung. Anielka und der Armenier sitzen vor der Thüre, und vor ihnen stehen zwei ihrer Knechte und erzählen eifrig; ich komme näher, sie erzählen von der Nachricht, welche mein Vater gebracht und verstummen, als sie mich gewahren. »Anielka!« rufe ich, »ist es denn wahr? Hast Du mich betrogen?« Sie schaut mich erstaunt an und schweigt, ihr Onkel aber sagt: »Mein geehrter Herr Bauernlümmel,« sagt er, »belieben Sie sich gefälligst höflich und verständlich auszudrücken. Zu meiner Nichte sagt man übrigens »Fräulein!« – »Metze und Schlange sagt man zu ihr,« rufe ich wüthend. »Ihr Hunde, gebt mir das Papier zurück!« – »Welches Papier?« fragt sie und er: »Bursche, Du bist verrückt! Packe Dich!« Und als ich mich auf ihn stürzen will, fassen mich die Knechte und überwältigen mich und stoßen mich aus dem Hofe.

Ich aber gehe langsam gegen das Dorf zurück, und auf halbem Wege sinke ich nieder und lasse wir willenlos meine wüsten Gedanken durchs Hirn zucken. Wohl an die zwei Stunden bin ich dagelegen in der Dunkelheit und habe mich am Boden gewunden und geächzt, wie ein verwundetes Thier, und was auch in der Folge Schweres über mich gekommen ist, das waren doch die bittersten Stunden meines Lebens. Endlich war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte zu meinem Vater gehen, meine Schuld gestehen, und als Sühne der Gemeinde mein Erbtheil anbieten, und dann wollte ich meine Büchse laden und die beiden Verruchten im Gutshofe niederschießen. Darüber hinaus dachte ich nicht; was mit mir geschehen sollte, war mir gleichgültig; es bleibt wohl noch eine dritte Kugel für mich übrig, meinte ich. Und in diesen Gedanken ging ich heim.

Aber« – fuhr der Unglückliche fort – »es sollte anders mit mir kommen. Als ich in die Stube trete, finde ich sie hell erleuchtet; die beiden Aeltesten sitzen am Tische; mein Vater aber steht über die Truhe geneigt und wühlt verzweiflungsvoll darin umher. »Es ist ja nicht möglich!« stöhnt er. »Ich kann es nicht verloren haben, es muß sich finden.« Das Blut schießt mir ins Gesicht, daß es mir vor den Augen flimmert, und die Kehle ist mir wie zugeschnürt. Aber ich überwinde es und sage laut und heiser: »Vater, Ihr braucht nicht länger zu suchen! Ich habe das Papier gestohlen!« Die beiden Männer fahren auf und fluchen, er aber windet sich langsam und lautlos zu mir heran und starrt mir in's Gesicht; todtenbleich ist sein Antlitz und die Augen drängen aus den Höhlen. Ich nehme meine Kraft zusammen und berichte Alles und füge hinzu, wie ich es sühnen will. Die Männer werfen Flüche dazwischen, während ich erzähle, und nachdem ich geendet, spucken sie vor mir aus und ballen die Hände gegen mich; mein Vater aber kann noch immer kein Wort finden, wie versteinert liegt das Entsetzen und der Abscheu auf seinem Gesichte. Endlich hebt er die Hand, aber da verzerrt sich das Gesicht noch furchtbarer, und er schwankt und fällt auf der Diele hin, plump und schwer, wie ein gefällter Baum. »Du hast ihn getödtet!« rufen mir die Männer zu. Aber er war nicht todt. Zwei Stunden lag er in tiefer Ohnmacht, dann raffte er sich empor. Und so eisern war sein Wille, daß er alle Schwäche überwand. Kaum steht er auf den Füßen, als er zu befehlen beginnt. Mir sagt er: »Ein Verbrecher richtet sich nicht selbst, Du rührst Dich nicht, bis ich es befehle!« und meinem Bruder Janko: »Spanne die Braunen vor den Wagen und den Schimmel vor die Britschka!« – »Richter,« sagt einer der Aeltesten, »es geht auf Mitternacht!« – »Gleichviel,« erwidert er, »am frühen Morgen sind wir in der Stadt. Ihr Beide, ich und der Dieb da. Durch meine Schuld soll in dieser Sache keine Stunde Verzug sein!« – »Aber wozu beide Wagen?« fragt mein Bruder schüchtern. – »Weil ich keinem ehrlichen Manne zumuthen kann, neben einem Verbrecher zu sitzen! Mach rasch!« Und eine halbe Stunde später fahren wir in die Nacht hinaus, voran die Männer, hinterher ich allein. Morgens sind wir beim Advokaten. »Höret Leute,« sagt er, nachdem ihm mein Vater Alles berichtet, »hier ist nichts zu machen! Selbst wenn sich Dein Sohn selbst des Diebstahls anklagen wollte, so könnte er kaum verurtheilt werden, weil das Mädchen leugnen würde, nach dem Papiere gestrebt und es bekommen zu haben. Noch weniger könntet Ihr die Beiden auf Herausgabe des Papiers verklagen, beweisen läßt sich ihnen nichts. Ohne die Urkunde aber ist der Prozeß nicht zu führen; sparet Euer Geld, Leute!« – »Und hätten wir,« fragt einer der Aeltesten, »den Prozeß gewonnen, wenn das Papier noch vorläge?« – »Darauf,« erwidert der Advokat, »ist die Antwort schwer, man müßte das Papier gesehen haben. Vielleicht war es rechtskräftig abgefaßt, vielleicht nicht!« Mit diesem Bescheide fuhren wir zurück, und am Abend dieses Tages, Herr – am Abend haben sie mich gerichtet.«

»Wie ging es dabei zu?«

Hritzko blickte seinen Herrn demüthig bittend an. »Fragen Sie nicht, Herr,« bat er, »Sie wissen es ja wohl, daß ich es nicht verrathen darf!«

»Willst Du gegen Deine Peiniger Rücksicht haben?«

»Deßhalb bleiben sie doch meine Leute,« erwiderte der Mann fest, »und nach bestem Wissen und Gewissen haben sie mich gerichtet. Wie ehrlich es dabei zuging, mögen Sie daraus erkennen, daß sie allen Ersatz des Schadens abwiesen, obwohl mein Vater und ich mein Erbtheil anboten. »Das können wir nicht nehmen,« sagten die Richter, »denn der Advokat hat gemeint, daß auch mit dem Papier der Entscheid zweifelhaft wäre. Unzweifelhaft ist blos der Diebstahl und der Verrath an der eigenen Gemeinde!« Und dafür stießen sie mich aus, weil ihnen diese Strafe die richtige schien.«

»Du möchtest Dir eine Umwandlung erbitten?«

»Ja, Herr, im Namen des Allerbarmers will ich meine Leute um Barmherzigkeit anflehen. Sie mögen die Hälfte meines Erbtheils nehmen oder auch das Ganze, und dafür den Fluch von mir nehmen!«

»Warum verkaufst Du nicht lieber Dein Gut und siedelst Dich anderwärts an, in der Bukowina, in Ungarn . . .«

»Herr!« erwiderte er seufzend. »Der Spatz fühlt sich nur unter Spatzen wohl!«

»Und was kann ich für Dich thun?«

»Dulden Sie mich eine Weile in Ihrem Hause und verwenden Sie sich für mich. Die hiesigen Leute, bitte ich, mögen den Meinigen berichten, daß ich jetzt ein reuiger gebesserter Mensch bin. Sie mögen mit mir verkehren und mich kennen lernen!«

»Gut,« schloß der Gutsherr; »ich stehe mit meinen Bauern gut und hoffe, Dir dies erwirken zu können!«

Er hatte zu viel versprochen, so weit reichte seine Macht nicht. Als sich Harasim und die Aeltesten am nächsten Morgen wieder einfanden, da verlangten sie nur Eins zu wissen, ob der Herr ihnen willfahren wolle oder nicht. »Alles Andere,« meinte der Richter, »ist nicht unsere Sache. Seit dieses heilige Wesen besteht, hat man noch nie von der Aenderung eines Urtheils gehört. Die Richter überlegen und beschließen, und das Beschlossene gilt. So war es, so ist es, so wird es sein. Der Hritzko ist eines Richters Sohn und ein gescheidter Mensch, er weiß dies ebenso gut, wie wir. Will er dennoch eine Aenderung versuchen, so ist dies seine Sache; und seiner Leute Sache wird es sein, ob sie darauf eingehen wollen oder nicht. Wir aber wollen nichts damit zu thun haben. Was uns obliegt, ist nicht, ihn kennen zu lernen und dann über ihn zu berichten, sondern das gültige Urtheil, welches über ihn ausgesprochen wurde, für unser Theil zu erfüllen. Seine Gemeinde hat uns nicht darum gebeten; wir haben es zufällig erfahren, aber schon daraus erwächst uns unsere Pflicht. Also, gnädigster Herr, zwinge uns nicht, Gewalt zu gebrauchen, befreie uns im Guten aus dieser Noth.«

Dagegen half keine Widerrede, keine Bitte, kein Zuspruch, kein Befehl. Je mehr sich der Edelmann ereiferte, desto gleichmüthiger erwiederten die Bauern ihr Sprüchlein: »Befreie uns aus unserer Noth!«

»Ist dies Euer letztes Wort?« fragte der Herr endlich zornglühend.

»Wir können nicht anders!«

»Dann geht! Wir haben einander nichts mehr zu sagen!«

Der Greis verbeugte sich demüthig. »Wie Du willst, Herr,« sagte er. Und fast feierlich fügte er hinzu: »Gott wird uns milde richten, wenn wir thun, was wir müssen!«

Sie gingen. Mein Freund blieb in heftiger Erregung zurück. »Was ist hier zu thun?!« rief er heftig. Auch ich wußte keinen Rath. Es war klug, dem Unglücklichen zu sagen: »Geh', Dir nützt Dein Verbleiben nichts und mir schadet es!« Aber edel und würdig war es nicht.

Während wir noch so unschlüssig debattirten, trat Hritzko ein. »Herr!« sagte er, »wenn ich um meine Zeugnisse bitten dürfte . . .

»Du willst gehen?« fragte mein Freund erstaunt.

»Ja. Ich will's. Der Richter Harasim hat eben mit mir gesprochen. »Wenn Du bleibst,« hat er mir gesagt, »so zerstörst Du den Frieden zwischen dem Gutsherrn und uns, bringst uns ruhige, ehrliche Leute in's Unglück und nützest Dir doch nicht das Geringste. Ich will Dir sagen, was wir thun werden – es ist kein Geheimnis, Du kannst es Deinem Herrn erzählen. Wir werden zuerst jede Verbindung mit dem Gutshofe abbrechen, und wenn dies nichts nützt, so werden wir Dich gewaltsam wegführen!« So hat er gesprochen, und ich sehe ein, Herr, er kann nicht anders. Darum will ich gehen!«

»Wohin?«

»Nach Hause!«

»Du willst es wagen?«

»Ja. Höchstens kann es mich mein Leben kosten. Und ein Leben, wie ich es in den letzten Jahren geführt habe, ist ohnehin nicht werth, gelebt zu werden!«

»Einen Mord werden sie ja nicht wagen!« tröstete der Edelmann. »Höchstens machst Du die Reise nutzlos.«

»Wie Gott will!« erwiderte der unglückliche Mann düster. »Also – wenn ich bitten darf«

Mein Freund gab ihm die Zeugnisse, schrieb einige lobende Zeilen und legte einen vollen Monatslohn auf den Tisch. Aber Hritzko nahm nur, was ihm zukam. »Wer weiß, ob ich es brauche . . .«, sagte er mit trübem Lächeln und wandte sich dann zum Gehen.

»Du mußt mir in einigen Wochen schreiben, wie es Dir ergangen ist!« rief ihm der Edelmann nach. »Hörst Du? Und ich wünsche, Du könntest mir Fröhliches schreiben!«

. . . Er konnte es nicht. Etwa zwei Monate später kam sein Brief, aus einem Dorfe Ober-Ungarns. »Sie haben,« hieß es darin, »mir daheim gesagt: »Wenn Du nicht sofort gehst, müssen wir Dich mit Gewalt fortschaffen, und wenn Du Lärm schlägst, so müssen wir Dich tödten. Also geh' – denn Du hast auch ohnehin genug Unglück über uns gebracht!« So bin ich denn gegangen, weil ich nicht die Bürde auf mich nehmen wollte, mich selbst zu morden!«

Ich habe diesen Einzelfall deshalb den Thatsachen gemäß und in voller Ausführlichkeit mitgetheilt, weil er durchaus typisch ist und über das Wesen der Volksgerichte, wie sie noch heute im Osten bestehen, vollkommen zu orientiren vermag. Einige Andeutungen werden genügen, das Bild zu vervollständigen.

An sich kann die Existenz von Volksgerichten auf dem Boden Halb-Asiens natürlich nicht verwundern. Sie fanden und finden sich überall dort, wo noch ein Volk an seinen ursprünglichen Anschauungen festhält und in der angestammten Unkultur verharrt: die Befugniß des Richtens und Strafens steht im Urzustande der Menschheit überall zuerst der Familie, dann dem Geschlecht, hierauf der Gemeinde zu; sie verbleibt im weiteren Verlauf der Entwicklung entweder dieser letzteren oder fällt dem einzelnen Gewalthaber zu, wo dieser die Herrschaft an sich reißt, bis sie endlich an die Vereinigung Aller, den Staat, fällt, der die Befugniß dann nach geschriebenem Gesetz und durch bestimmte Beamte ausübt. Aber auch wo dieser Kulturzustand bereits erreicht ist, währen die Volksgerichte überall dort fort, wo das Volksbewußtsein ein begründetes Mißtrauen in die Macht oder den guten Willen des staatlichen Richters setzt, ja über diese Zeit hinaus und nachdem dieses Mißtrauen längst ein unberechtigtes geworden, weil es ja im Wesen jeder Volksseele liegt, am Alten festzuhalten, welches einst natürlich und vernünftig war – nur das, was niemals natürlich und vernünftig gewesen, vergeht so rasch, wie es gekommen. Ebenso liegt es auf der Hand, daß diese Gerichte, die vormals die öffentlichen und gesetzlichen gewesen, unter dem Drucke der Staatsgewalt, welche derartige Eingriffe in ihre Rechtspflege nicht dulden darf, zu heimlichen, zu Vehmgerichten werden müssen. Erwägt man ferner, daß es in dem Lande, welches hier zunächst in's Auge gefaßt ist, der österreichischen Provinz Galizien, erst seit kaum vierzig Jahren eine ausschließliche und völlig geordnete Rechtspflege des Staates giebt, während er dieselbe von der Besitzergreifung des Landes bis zur endgültigen Organisirung der Justiz (1850) mit den Gutsbesitzern theilte und der Rechtszustand vor der österreichischen Herrschaft vollends ein gänzlich willkührlicher und ungeordneter war, so würde es uns höchstens befremden, wenn wir auf diesem Boden keine Vehmgerichte mehr fänden. In der That giebt es solche nicht bloß unter den Slaven, sondern auch unter den orthodoxen Juden; über diese letzteren habe ich bereits in meinem Buche »Aus Halb-Asien«, in dem Abschnitt »Ein jüdisches Volksgericht«, einige Mittheilungen gemacht. Bei beiden Völkern darf als erste und wichtigste Ursache für das Fortleben des alten Brauchs die zähe Beharrlichkeit gelten, mit welcher sie, wie in jeder anderen Lebensbeziehung, so auch in dieser am Hergebrachten hängen, erst in zweiter Linie wäre das Mißtrauen zu nennen, welches sie dem »Schreiber« des Kaisers entgegenbringen – ein Mißtrauen, welches leider mit den Jahren nicht schwindet, sondern zunimmt oder sich doch zum mindesten gleich bleibt. So lange es deutsche oder deutsch sprechende Richter in Galizien gab, festigte sich auch allmählich das Vertrauen in die Gerechtigkeit des Spruches, welchen sie im Namen des Kaisers fällten, heute, wo die Amtssprache die polnische, der Richter ein Pole, also ein Sprößling jenes Volkes ist, in welchem Ruthenen und Juden den Erbfeind ihres Volksthums und ihres Glaubens erblicken, wird auch dem Einzelnen der Gang zum k. k. Bezirksgericht immer schwerer, selbst wenn es eine durchaus gerechte Sache ist, die er vorzubringen hat. Daneben wirkt auch ein anderer, völlig unpolitischer Grund, den man sich auszusprechen scheuen müßte, wenn er nicht so offenkundig zu Tage läge: die Verlangsamung und Verschlechterung der Rechtspflege seit der Zeit, da sie ein polnisch-nationales Gepräge erhalten. Geht es noch lange so fort oder verschlimmert sich gar dieser Zustand, dann werden wohl auch die Volksgerichte zu erhöhter Wichtigkeit kommen und eine Erscheinung werden, mit welcher sich der Politiker, wie der Gesetzgeber ernstlich werden zu beschäftigen haben.

Vorläufig kommt ihnen diese Bedeutung nicht zu; noch hält sich das Bestreben nach Selbsthilfe in sehr bescheidenen Grenzen, in jenen, welche neben dem wirklichen Bedürfniß auch die Tradition gesetzt hat, und Juden, wie Ruthenen rufen das Gericht der Volksgenossen nur in jenen Fällen an, wo auch nach der Meinung der Altvordern das Gericht des Staates »nicht richten kann oder soll«. Es sind dies also zunächst diejenigen Vergehen, welche das Volksgemüth als solche empfindet, während der Schuldige vor dem ordentlichen Gerichte entweder straflos ausginge oder doch mit einer ganz gelinden Buße wegkäme, welche zur Schwere des moralischen Vergehens in keinem Verhältniß stünde.

Ein solcher Fall ist z. B. gleich der oben geschilderte. Hritzko Boriuk hat sich thatsächlich schwer an seiner Gemeinde vergangen, er ist an ihr zum Verräther geworden, was in den Augen seiner Volksgenossen, welche die Heiligkeit des Gemeindebandes nach altslavischer Sitte kaum minder hoch halten als jene der Blutsverwandtschaft, ein furchtbares, ja geradezu entsetzliches Verbrechen ist, aber vom Standpunkte des formalen Rechts hat er seinem Vater lediglich aus einer Truhe ein Dokument von zweifelhaftem Werthe enttragen, und selbst wenn dieser gegen den Sohn die Anzeige wegen Hausdiebstahls beim Bezirksgericht erstattet hätte, zu welcher Strafe hätte ihn der Richter verurtheilen können?! Im Wesen ähnlich liegt die Sache im nachstehenden Falle, welcher sich in meiner Heimath, dem Czortkower Kreise, zugetragen. Ein junger schöner Bauernknecht von wüsten Sitten hatte das Glück gehabt, der alternden und häßlichen Tochter seines Brotherrn zu gefallen. Nach dem Tode ihrer Eltern heirathete sie ihn, trotzdem alle Leute des Dorfes, bei denen sie ihrer Gutmüthigkeit und Wohlthätigkeit wegen sehr beliebt war, ihr dringend davon abriethen. In der That hatte sie den Schritt bitter zu bereuen; der schlechte Mensch mißhandelte sie in jeder möglichen Weise und hatte die Rohheit, ihr und Allen, die es hören wollten, offen zu sagen, daß er bald der alleinige Herr des stattlichen Bauerngutes zu sein hoffe; sie hatte ihn nämlich im Ehevertrag als Mitbesitzer aufgenommen und ihm für den Fall ihres kinderlosen Hinsterbens den alleinigen Besitz zugesichert. Da es nun aber trotz der Kränklichkeit des armen Weibes und der vielen Mißhandlungen, die es zu erdulden hatte, doch nicht so rasch ging, als der Unhold wollte, so nahm dieser seine Geliebte als Wirtschafterin in's Haus und suchte mit deren Hilfe sein Weib so rasch als möglich zu Tode zu quälen, was ihm denn auch nach einiger Zeit gelang. Die Empörung über seine Handlungsweise war so groß, daß die Bauern – ein überaus seltener Fall – die Anzeige an das Bezirksgericht machten, worin sie ihn ganz unverhüllt des Mordes beschuldigten. Die Untersuchung wurde eingeleitet, mit allem Eifer durchgeführt und endete mit einer Einstellung des Verfahrens, da sich dem Angeklagten keine Handlung nachweisen ließ, welche den Tod direkt herbeigeführt oder auch nur beschleunigt hätte. Triumphirend kehrte er auf seinen Hof zurück und ließ sich vom Pfarrer mit seiner Geliebten aufbieten, aber Hochzeit hat er im Dorf selbst nicht gefeiert. Das Volksgericht verurtheilte ihn zum Exil, sowie zur Abgabe der Hälfte seines Gutes an die Verwandten der Todten; die andere Hälfte mußte er, da sich kein Käufer zum richtigen Preise dafür fand, endlich um ein Spottgeld losschlagen und mit diesem kargen Rest seines einstigen Besitzes das Weite suchen. Eine dritte Begebenheit ähnlicher Art trug sich vor etwa zehn Jahren in einem Dorfe am Dniester zu. Der griechisch-katholische Pfarrer, der dort hauste, war eine Ausnahme von der Regel, wonach die – sämmtlich verheiratheten – Priester dieses Bekenntnisses bezüglich ihrer sittlichen Führung durchaus makellos sind und höchstens die Schwäche haben, den feuchten Freuden dieser Welt allzu ausgiebig nachzugehen. Obwohl gleichfalls verheirathet, war dieser Seelenhirt ein rechter Schürzenjäger und bereitete, da er kraft seines Amtes, sowie durch seine stattliche Erscheinung großen Einfluß auf die Weiber hatte, den Hausvätern des Dorfes viel Kummer und Schande. Nachdem alle Verwarnungen, sowie eine Anklage beim Consistorium wirkungslos geblieben, brachte ein Volksgericht rasche und gründliche Abhilfe. Der Pfarrer kam selbst um seine Versetzung in eine andere Gegend ein und mußte sein Vermögen opfern, um einige uneheliche Kinder, die er bisher nicht anerkannt, zu versorgen.

Wie man sieht, durchweg Fälle, in welchen das Gericht nicht einschreiten oder doch nicht vollen Erfolg erzielen konnte und bei welchem das Volksgericht thatsächlich nur dem verletzten Rechtsgefühl zum Siege verhalf. Würde es sich lediglich auf Dinge dieser Art beschränken und wären die Urtheile immer gerecht und nicht allzu streng, so wäre gegen die Erscheinung an sich nicht viel einzuwenden. Bedenklicher liegt die Sache schon in jenen Fällen, wo das Gericht nach Ansicht der Bauern nicht einschreiten soll, dies heißt, wo ein unzweifelhaft Schuldiger dem Arm der staatlichen Gerechtigkeit aus welchem Grunde immer entzogen wird. Dieser Grund ist fast stets in der persönlichen Sympathie, welche sich der Verbrecher bei seinen Dorfgenossen erworben, oder darin zu suchen, daß die Andern seine That zwar nicht billigen, aber gewissermaßen doch als im Namen Aller verübt betrachten. Auch hiefür seien einige Beispiele angeführt. Auf einem Gute bei Trembowla in Ost-Galizien war ein Förster angestellt, der sich durch seinen Eifer und seine Härte bei den Bauern sehr mißliebig gemacht. Die Entrüstung gegen ihn steigerte sich derart, daß ihm eines Tages die Warnung zukam, er möge sich seiner Kinder erbarmen und milder werden. Er that dies nicht und wurde kurz darauf im Walde erschossen vorgefunden. Alle Bauern des Dorfes kannten den Thäter, doch nannte ihn keiner. Die einzige Buße, die sie ihm auferlegten, bestand darin, daß er einiges Geld für die Kinder des Erschossenen opfern mußte, welchen Betrag dann der Richter des Dorfes dem Gerichte unter der Angabe übergab, daß ihm derselbe zur Nachtzeit durch einen Unbekannten in's Fenster hineingereicht worden. Alles Inquiriren blieb nutzlos. War es hier die Sympathie mit der That, welche den Schuldigen schützte, so im nachstehenden Falle jene mit der Familie des Thäters. Ein sehr angesehener Bauer im Dorfe Biala bei Tluste hatte das Unglück, einen ganz entarteten Sohn zu haben, der sich an einem Nachbar, welcher ihm ein Darlehn verweigert, dadurch rächte, daß er ihm den rothen Hahn auf's Dach setzte. Auch hier wußte alle Welt, wer das Verbrechen verübt, aber eine Anzeige an das Gericht wurde nicht erstattet, und als das Bezirksamt über Anzeige des Agenten der Feuerversicherung die Untersuchung eröffnete, wollte Niemand eine Ahnung davon haben, selbst der Beschädigte nicht. Seine Einbuße, so weit sie nicht durch die Versicherung gedeckt war, hatte ihm der Vater des Brandstifters ersetzt, weiter ging sein Begehren nicht. Mein Vater, welcher als Bezirksarzt mit den Bauern wohl bekannt war und ihr volles Vertrauen genoß, fragte den Mann in meinem Beisein, ob er keine Vermuthung über den Thäter habe. »Nein,« erwiderte er wörtlich, »ich hatte sie wohl, aber ich habe sie nicht mehr.« – »Warum?« – »Weil man es mir verboten hat.« – »Wer?« – »Wer eben derlei zu verbieten hat,« war die Antwort. Das Wort Volksgericht wagte er selbst meinem Vater gegenüber nicht über die Lippen zu bringen. Aber auch viel schlimmere Thaten sind dadurch der Thätigkeit der Gerichte entzogen; ohne Sühne geblieben sind sie allerdings nicht, aber man wird die Strafe schwerlich als eine ausreichende befinden können. So erschlugen zwei junge Bauernsöhne gleichfalls im Czortkower Kreise vor nun etwa zwanzig Jahren einen jüdischen Pferdehändler, der sie angeblich übervortheilt, nachdem er sie durch die Weigerung, den Handel rückgängig zu machen, in Zorn gebracht. Beide wurden lediglich in die Verbannung geschickt und dies ist, wie unser Hritzko Boriuk nicht mit Unrecht bemerkt, eine Strafe, welche man nie ertheilen sollte, da sie gerade einem schlechten Menschen gar nicht wehe thut.

Diese Strafe gilt als die höchste; daneben werden nur Geld- oder Besitzbußen verhängt. Kerkerstrafen können selbstverständlich nicht in Anwendung kommen und daß die Gerichte auf körperliche Züchtigung erkannt hätten, ist mir wenigstens nie bekannt geworden. Daß auch jemals die Todesstrafe verhängt wird, ist an sich höchst unwahrscheinlich und die Leute läugnen es auch mit größter Entschiedenheit, wie es denn überhaupt jeder Kenner des Landes als ganz unmöglich darstellt. Zum Aeußersten also scheinen diese Vehmgerichte nur dann zu schreiten, wo der Verurtheilte der Strafe trotzt; hat er dieselbe abgebüßt, so ist es strengstens verboten, ihn an seinen Frevel zu erinnern.

Mehr weiß ich über die Volksgerichte der Ruthenen nicht mit Gewißheit mitzutheilen, alles Uebrige, was man hierüber hört, ist entweder offenbare Erfindung oder gehört zu jenen Ausschmückungen eines dürftigen Kerns, zu welchem sich phantasievolle Naturen gerne hinreißen lassen, wo die Erkundung des Thatsächlichen Schwierigkeit macht. Diese Schwierigkeit aber ist gerade diesem Brauche gegenüber eine ungemein große, ja geradezu nicht zu besiegende; über die Form dieser Gerichte z. B. habe ich absolut gar nichts Gewisses in Erfahrung bringen können; ich vermuthe bloß, daß es kein besonderes Richterkollegium gibt, sondern daß höchst wahrscheinlich die Gesammtheit der Männer unter Vorsitz des Richters urtheilt. Mit vollster Bestimmtheit glaube ich aussprechen zu dürfen, daß es weder besondere Bannformeln, noch Boten gibt. Aehnlich steht es bei den Slovenen, hingegen ist die Frage, ob auch andere nord- und westslavische Stämme als die Ruthenen noch heute die Einrichtung der Volksgerichte kennen, eine offene; unwahrscheinlich ist dies nicht.

Es mag unentschieden bleiben, ob die Volksgerichte bisher mehr Nutzen oder Schaden gebracht. Erwägt man, daß die Vorurteilslosigkeit und das Gefühl der Verantwortlichkeit die unbedingten Erfordernisse jedes Richter-Collegiums sein müssen, so wird man von vornherein gegen eine Einrichtung, welche sich im Dunkel birgt, starke Bedenken haben und dringendst wünschen müssen, daß sie trotz des einzelnen Guten, das sie unzweifelhaft im Gefolge hat, doch baldmöglichst verschwinde. Dies aber kann nicht durch polizeiliche Maßregeln und gerichtliche Strafen bewirkt werden, sondern lediglich durch die fortschreitende Cultur und das wachsende Vertrauen in die Gerechtigkeit der amtlichen Richter. Daß hiezu derzeit weniger Hoffnung vorhanden ist, als vor dreißig Jahren, ist eine der traurigsten Thatsachen, welche dies Buch zu berichten hat.

Auch auf dem Gebiete der Rechtspflege erweist es sich, daß Halb-Asien das Land der Gegensätze ist, auch in dieser Hinsicht dürfen wir uns keiner stetigen allmähligen Entwicklung erfreuen, auch hier wohnen autochthone Barbarei und bloße Nachäffung der Formen des Westens hart neben einander. Deß werden wir inne, wenn wir uns von den Volksgerichten zu den Schwurgerichten wenden.

Die Jury ist auf dem Kontinent allüberall eine relativ junge Einrichtung, und es hat lange gewährt, bis die Ueberzeugung zur That geworden, daß die Gesellschaft selbst dazu berufen sei, direct, durch Einzelne aus ihrer Mitte, und nicht blos durch gelehrte Richter, ihr Urtheil über Verbrechen zu fällen, welche an ihr begangen worden. Bei dem heutigen Stande der Frage wäre es wohl überflüssig, die Berechtigung dieser Anschauung erst noch zu vertheidigen. Um diesen Punkt hat sich auch der Kampf, welcher der Einführung der Jury in Frankreich und Italien, Deutschland und Oesterreich voranging, nicht mehr gedreht, nur darüber wurde debattirt, ob bereits die nöthige Vorbedingung erfüllt sei. Diese Vorbedingung läßt sich bekanntlich kurz dahin zusammenfassen: daß das Rechtsgefühl eines Volkes ein genügend geklärtes und gefestigtes sein müsse. Der Geschworene taucht nur für die Dauer einer Verhandlung aus der Masse hervor und verschwindet nach derselben wieder in der Masse – er ist Niemand für seinen Spruch verantwortlich, als dem eigenen Gewissen – sein Spruch gilt unabänderlich, es gibt in den wenigsten Fällen noch ein Rechtsmittel dagegen. Das ist eine schwere, oft genug furchtbar schwere Bürde, und eine solche soll man nur auf Schultern legen, welche stark genug sind, sie zu tragen. Der Geschworene muß ein gerechter Richter sein, aber die gute Absicht reicht da nicht aus – dieser Mann muß frei sein von Vorurtheilen des Standes, der Religion, der Nationalität, der politischen Ueberzeugung, oder es muß wenigstens die Kraft seiner Seele eine genügende sein, um diese Vorurtheile in sich zu besiegen, wenn und so lange er diese Bürde trägt. Ob diese Fähigkeit im Volke vorhanden, nicht etwa bloß in vielen Einzelnen, sondern in den Meisten – darüber allein ist im westlichen Europa gestritten worden. Und erst als man nach gewissenhaftester Prüfung geglaubt, die Frage bejahen zu können, erst dann sind die Schwurgerichte in den Kulturländern eingeführt worden. Sie haben sich, man darf dies ruhig als Thatsache aussprechen, trefflich bewahrt – die Geschworenen in Europa sind gerechte Richter.

Und die Geschworenen in Halb-Asien?

Auch dort arbeitet seit etwa zwanzig Jahren die Jury. Aber ähnliche Debatten wie in Europa sind ihrer Einführung in jenen Ländern der Halbcultur und Uncultur nicht vorangegangen. Dort hatte man keinerlei Bedenken, ob das Rechtsgefühl der Masse ein genügend starkes sei. »Frankreich und Deutschland,« meinte man dort, »lassen nur durch Männer aus dem Volke die Schuldfrage entscheiden. Das entspricht den modernen Anschauungen, das ist ein Fortschritt. Und wir wollen auch fortschreiten! . . .«

So geschah es in Rußland, in Rumänien, in Ungarn. Nur in Österreich hatte man einige Bedenken, ob die neue Institution auch auf die östlichen Provinzen ausgedehnt werden dürfe. Man scheint sie als grundlos befunden zu haben, denn das Gesetz wurde für das ganze Reich erlassen.

War aber in der That in Halb-Asien jede Debatte überflüssig? Handelte man, als sie völlig unterlassen wurde, bloß in gerechtem Selbstbewußtsein oder in – unverantwortlicher Gewissenlosigkeit? Ist das Volk in Rußland, Rumänien und Galizien ebenso reif für die Jury, als jenes in Frankreich und Deutschland? Haben sich die Geschworenen in Halb-Asien als gerechte Richter erwiesen?

Zwanzig Jahre find keine allzu lange Zeit, aber doch immerhin genügend, ein Urtheil zu ermöglichen. Ich will es zunächst nicht selbst formuliren, sondern nur einige Thatsachen bieten. Seit lange sammle ich aus den Zeitungen jener Länder authentische Berichte über Verhandlungen, welche mir als Material für ein solches Urtheil geeignet scheinen. Aus diesen Berichten greife ich drei heraus und gebe sie hier wieder, was die Thatsachen betrifft. Die Namen der Angeklagten glaube ich weglassen zu sollen. Die Dinge werden dem Leser des Westens geradezu unglaublich klingen. Gleichwohl darf ich mich mit Recht gegen die Muthmaßung verwahren, nur grelle Ausnahmefälle zu bieten; gerade die beiden bezeichnendsten Verhandlungen, welche ich in meiner Mappe finde, lassen sich an dieser Stelle, vor einem Leserkreise, der sich nicht bloß aus Männern zusammensetzt, gar nicht wiedergeben. Ferner habe ich alle politischen Prozesse grundsätzlich ausgeschlossen, weil ja bei diesen Seelenkräfte in Thätigkeit kommen, deren Niemand völlig Herr ist – auch nicht die Geschworenen in Europa. Ich berichte Thatsachen, welche keineswegs unerhört oder gar zu selten sind. Aber selbst wenn dies zuträfe, was ich der Wahrheit gemäß nachdrücklich bestreiten muß, sie wären doch kein verwerfliches Material, denn es gibt Dinge auf Erden, bei welchen schon das bloße Faktum, daß sie geschehen sind, also geschehen konnten, mit tausend Zungen spricht! . . .

Hier die Geschichten.

Es war im Frühling 1879, als eine Stadt des westlichen Galiziens durch die plötzliche Verhaftung ihres reichsten und angesehensten Bürgers in größte Aufregung versetzt wurde. Der Mann – ich will nur seinen Vornamen Thaddäus hiehersetzen – bekleidete ein wichtiges Ehrenamt, war Vorstand einiger wohlthätiger Vereine und galt nicht bloß als der reichste, sondern auch als der ehrenwertheste Mann der Stadt. Täglich ging er zur Messe und hatte sowohl die Kirche als einige nationale Institute mit reichen Spenden bedacht. Besonders das Letztere hatte ihn in den Augen seiner polnischen Mitbürger hoch erhoben, denn schöne Worte für die heilige Sache der Nation hört man dort zu Lande häufig, aber die Thaten sind spärlich. Was Herrn Thaddäus zu solchen Opfern bewogen, war sicherlich nur sein Herz und nicht etwa die Stimme des Blutes, denn er führte einen urdeutschen Namen und war der Sohn deutscher Eltern. Vielleicht eben darum gab er sich doppelt eifrig als polnischen Patrioten.

Dieser Mann nun wurde eines Tages als Untersuchungsgefangener aus seinem stattlichen Hause in's Kriminalgebäude übergeführt. Das regte seine Freunde und Mitbürger nicht bloß deßhalb auf, weil man Herrn Thaddäus keiner Missethat fähig hielt, sondern namentlich, weil eine Untersuchungshaft nach der milden und an sich gewiß nicht tadelnswerthen Praxis der dortigen Gerichte nur dann verhängt wird, wenn ein Fluchtverdacht besteht, ein Fall, welcher hier durch Stellung und Besitz des Angeklagten von vornherein fast undenkbar war. Es erwies sich aber bald, daß das Gericht zu dieser Maßregel genöthigt gewesen. Herr Thaddäus war des Meineids angeklagt und hatte den Versuch gemacht, einen Belastungszeugen durch Geld und gute Worte zu seinen Gunsten zu stimmen.

Der Sachverhalt war folgender. Herr Thaddäus dankte sein Vermögen einer trüben Quelle, er war der listigste und grausamste Wucherer des Kreises, und seine Deklamationen gegen »die verdammten Juden, welche das Land aussaugen«, waren weniger durch sittliche Entrüstung hervorgerufen, als durch den Neid des Konkurrenten. Seit vierzig Jahren hatte er sein Handwerk mit steigendem Erfolg getrieben, seine Klientel, welche namentlich aus masurischen Bauern der Umgebung, ferner aus Edelleuten und Beamten bestand, ging zwar an ihm zu Grunde, ergänzte sich jedoch immer wieder durch neue Opfer. Herr Thaddäus wuchs an Reichthum und Ansehen und blieb dabei außer jeder Gefahr, denn so lange die Wuchergesetze in Oesterreich bestanden, wußte er seine Geschäfte zu maskiren, ließ dann, als diese Gesetze im Juni 1868 unglückseligerweise aufgehoben wurden, die Maske fallen, und nahm dieselbe, als am 19. Juli 1877 abermals ein Wuchergesetz für das östliche Cisleithanien in Kraft trat, seufzend, aber gefaßt wieder vor das biderbe Antlitz. Hatte er in der glücklichen Zwischenzeit, wo man öffentlich beliebig hohe Prozente fordern und einklagen konnte, von den Schuldnern die Wechsel nur in der Höhe der wirklich empfangenen Valuta ausstellen lassen und dann die hundert, zweihundert oder vierhundert Prozent ruhig dazu geschlagen, so mußte er nun wieder zu dem alten Mittel greifen: der Schuldner stellte den Wechsel gleich auf den doppelten oder dreifachen Betrag des wirklich Empfangenen aus und unterschrieb überdies eine Bestätigung, daß ihm diese Wechselsumme baar und ohne jeden Abzug eingehändigt worden. Konnte er am Verfalltage nicht zahlen, so klagte Herr Thaddäus den Wechsel mit sechsprozentigen Zinsen ein und war dann erst recht ein Ehrenmann. Denn Sechs vom Hundert sind in jenen Ländern mit barbarischen Kreditverhältnissen ein unerhört milder Zinsfuß.

Nach diesem Rezept hatte der Mann auch im August 1877 ein Geschäft mit einem Beamten der Karl-Ludwigs-Bahn abgeschlossen, einem älteren Manne aus Steyermark, der durch verschiedene Unglücksfälle in so schwere Noth gerathen war, daß ihm selbst die Hülfe unseres edlen Menschenfreundes willkommen kam. Der Beamte hatte zweihundert Gulden erhalten und dafür einen Wechsel von vierhundert Gulden ausgestellt, im November zahlbar, dazu jene Bestätigung. Als er am Verfalltage nicht zahlen konnte, hatte ihm Herr Thaddäus großmüthig bis zum Februar prolongirt, nur lauteten jetzt Wechsel und Bestätigung auf sechshundert Gulden. An diesem zweiten Verfalltage erbot sich der Beamte, dreihundert Gulden sofort, die andere Hälfte im Herbst 1878 zu zahlen. Herr Thaddäus war es zufrieden, wenn ihm der Schuldner für den Herbst wieder Wechsel und Bestätigung auf sechshundert Gulden ausstelle. Darauf konnte der unglückliche Mann nicht eingehen und Herr Thaddäus klagte den Wechsel sammt sechsprozentigen Zinsen ein. Nun gieng der Beamte zu einem Advokaten und erzählte ihm den Fall. Es war dies ein junger, eifriger und ehrlicher Mann, der sich sofort mit größter Energie für seinen Klienten einsetzte. Nachdem eine gütliche Ausgleichung mißglückt war, erhob er gegen die Klage die »Einwendung der nicht vollständig erhaltenen Valuta«; Herr Thaddäus lächelte Hohn und rückte mit der Bestätigung heraus. Als aber der Advocat seine Einwendung festhielt und Schwur und Zeugenbeweis anbot, daß nur zweihundert Gulden wirklich entlehnt worden, da lächelte Herr Thaddäus nicht mehr, verlor den Kopf, gab seinem Advocaten die widersprechendsten Informationen und brachte es durch sein Ungeschick dazu, daß der Rechtsfreund des Gegners sogar den Spieß umkehren und ihm den Eid zuschieben konnte. Nun stand die Sache so: leistete Thaddäus den Eid, so erhielt er sein Geld und war auch im Uebrigen geborgen, leistete er ihn nicht, so war sein Gewinn verloren und überdies stand dann die Anklage wegen Wuchers in Sicht. Der fromme Thaddäus besann sich nicht lange: er beschwor es, daß der Schuldner wirklich baare sechshundert Gulden erhalten. Und dieser wurde sachfällig und war ein ruinirter Mann.

Das konnte auch jener junge Advocat nicht ändern, machte aber nun im Namen seines Klienten gegen Herrn Thaddäus die Anzeige wegen Meineids. Die Untersuchung begann und ergab sehr bald gravirende Resultate. Wohl war der einzige Mensch, welcher außer den Betheiligten bei Abschluß des Geschäfts zugegen gewesen, – gleichfalls ein Eisenbahnbeamter aus den deutschen Provinzen, – deßhalb nicht ganz verläßlich, weil auch er ganz in den Händen desselben Gläubigers war – immerhin war dem Manne zuzumuten, daß er seine ehrliche Seele mit keinem Meineid belasten werde.

Diese Sachlage war bedenklich und Herr Thaddäus wählte jedenfalls das ungeschickteste Mittel, sie gefährlicher zu gestalten: er bestürmte jenen Zeugen mit Drohungen und Versprechungen. Dieser machte Anzeige davon und der angesehene Bürger mußte verhaftet werden.

Die drei Wochen, welche zwischen diesem Ereignis und der Schwurgerichtsverhandlung lagen, vergingen nicht bloß der Hauptperson, sondern auch der Bürgerschaft in fieberhafter Aufregung und Spannung. Denn der Ausgang war keineswegs so gewiß vorauszusehen, als der Leser nach dem Thatbestande vermuthen könnte. Dem reichsten, populärsten Bürger der Stadt, standen da zwei »fremde Hungerleider« gegenüber, zwei »verdammte Deutsche«, und es war den Geschworenen freigegeben, wem sie größeren Glauben schenken wollten. Daß jene beiden Männer Eisenbahnbeamte aus den deutschen Provinzen waren, entschied die Sache in den Augen jedes Bürgers der Stadt zu ihren Ungunsten. Wären nur polnische Bürger zur Jury berufen, Herr Thaddäus hätte selbst auf seinem harten Lager ruhig schlafen können. Aber zu diesem Amte waren ja auch Juden beigezogen, welche diesem Manne, als ihrem grimmigsten Feind, unmöglich gut sein konnten, ferner wohlhabende masurische Bauern, die an dem biederen Thaddäus das harte Schicksal manches ihrer Brüder zu rächen hatten.

In welcher Stärke diese drei Schichten unter den Geschworenen vertreten waren, davon hing das Schicksal des Angeklagten ab. Und darum hatte bei dieser Verhandlung nur ein Moment entscheidendes Interesse, welches im Westen fast nebensächlich ist: die Bildung der Geschworenenbank. Das wußten Staatsanwalt und Vertheidiger und handelten darnach. Jede dieser Parteien hat das Recht, sechs Geschworene abzulehnen. Und so ergab sich denn die merkwürdige Thatsache, daß die ersten zwölf ausgeloosten Männer sämmtlich abgelehnt wurden. War es ein Pole, so verwarf ihn der Staatsanwalt, war es ein Masure oder Jude, so legte der Vertheidiger sein Veto ein. Die nächsten Zwölf konnten dann freilich ohne Einspruch Platz nehmen, wie das Loos fiel. Dasselbe bestimmte fünf Juden, zwei Bauern, fünf Polen zu dem Amte.

Der Vertheidiger athmete auf, der Staatsanwalt blickte düster vor sich nieder. In der That war die Anklage bereits von vornherein verloren. Denn obwohl die Verhandlung die Schuld des Angeklagten bis zur Evidenz darlegte, lautete das Urtheil doch, wie vorauszusehen war: Sieben Stimmen »Schuldig!«, fünf Stimmen »Nichtschuldig!« Eine Verurtheilung kann nur mit Zweidrittelmajorität erfolgen – Herr Thaddäus war frei, und wenn er nicht gestorben ist, so wuchert er noch heute . . .

Man hat nur einen Trost bei dieser seltsamen Historie, jenes schöne Wort, welches Kaiser Joseph 1782 an seinen Staatsrath geschrieben: »Lieber mögen hundert Schuldige von der irdischen Gerechtigkeit nicht erreicht werden, als daß ein einziger Unschuldiger verurtheilt wird!« Aber im folgenden Falle, welcher sich 1876 vor einer rumänischen Jury ereignete, fehlt uns auch dieser Trost.

Die Zigeuner sind die verachtetsten Menschen in Rumänien, mit ihnen verglichen sind sogar die Juden jenes Landes beneidenswerthe Leute, was wahrlich nicht wenig sagen will. Das rumänische Volkssprüchwort spiegelt jene Thatsache in drastischer Weise wieder, aber es gibt auch theilweise ihre Gründe an. Da hören wir zum Beispiel: »›Man muß zuerst an die Verwandten denken,‹ sagte der Zigeuner, als er Sultan wurde, und ließ seine Brüder aufhängen.« – »Stehlen wie ein Zigeuner.« – »Um einen Groschen verkauft der Zigeuner seine Seele, um einen Heller seine Tochter.« – »›Ach, wie es regnet, das thut den Feldern gut,‹ sagte der Zigeuner, als ihm Alle in's Gesicht spieen« u. s. w. Ich zitire aus der Erinnerung, habe sicherlich nur relativ wenige rumänische Sprüchwörter im Gedächtniß und könnte gleichwohl noch ein gutes Dutzend ähnlicher Sentenzen hierhersetzen. Man könnte die rumänischen Sprüchwörter wahrhaftig in zwei Gruppen eintheilen, solche, welche den Zigeuner geißeln, und solche, die es ausnahmsweise nicht thun. Wer erwägt, welch' treuer Spiegel der Volksseele das Sprüchwort ist, wird jedenfalls schon aus dem Bisherigen genügend über die Art instruirt sein, wie der Rumäne den Zigeuner beurtheilt und behandelt.

Dieses Urtheil, diese Behandlung sind im Ganzen und Großen – das wird jeder Unbefangene zugeben müssen – nicht unverdient. Wie freilich diese armen Nomaden, wenn man sie fortwährend als unreine Bestien mißhandelt, jemals gesittete Menschen werden können, ist eine andere Frage. Dieselbe ist keineswegs eine müßige, wenn man wahrnimmt, daß gerade jene Familien dieses Volkes, welche bleibende Wohnsitze aufgeschlagen und also den ersten Schritt zur Kultur gethan, am meisten unter dem Vorurtheil und Haß gegen ihre Rasse zu leiden haben. Mögen die Zigeuner eines Dorfes brav und ehrlich oder schlimm und unehrlich sein, mögen sie vorwiegend vom Diebstahl leben oder vom Fleiß ihrer Hände – auf ihre soziale Stellung innerhalb der Gemeinde hat dies leider geringen Einfluß. Sie bleiben stets die Parias, die Auswürflinge, und ereignet sich im Dorfe ein Diebstahl oder eine schwere Unthat, so lenkt sich doch zunächst der Verdacht gegen sie.

Daran wird man denken müssen, um das Folgende nicht für die Ausgeburt einer wüsten Phantasie zu halten.

In einem Dorfe bei Roman lebte eine Zigeunerfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Söhnen, Olexa und Stephan, der Erstere zwanzig, der Letztere neunzehn Jahre alt. Die Jünglinge waren die Ernährer des Hauses, sie arbeiteten als Taglöhner bei dem Bojaren des Dorfes, welcher ihnen eine verfallene Hütte eingeräumt. Der Vater war an den Füßen gelähmt und die Mutter eine greise, gebrechliche Frau, welche selbst diesen kümmerlichen Haushalt nur mit Anstrengung besorgte. Die Leute hielten sich brav, waren jedoch gleichwohl bereits einige Male, so oft ein kleiner Diebstahl im Dorfe vorfiel, von den Bauern heftig mißhandelt worden. Es hatte sich ihnen aber nie auch nur die geringste Unehrlichkeit wirklich nachweisen lassen.

Am 22. März 1876 ward am frühen Morgen auf der Straße, welche von dem Dorfe nach Roman führt, die Leiche eines Mannes aufgefunden, dessen Kopf durch Keulenhiebe bis zur völligen Unkenntlichkeit zertrümmert war. Erst als man die Leiche in's Dorf geschafft, erkannte eine Bäuerin trotz der grauenhaften Verstümmelung die Züge ihres Gatten. Es war dies ein ziemlich wohlhabender, aber durch den Trunk herabgekommener Grundbesitzer, Doxaki M. Der Mann war am Tage vorher zum Markte in Roman gewesen und hatte sich dann in einer Schenke gütlich gethan. Dort war er noch am späten Abend von einigen seiner Nachbarn gesehen worden. Als sie ihn aufgefordert, den Heimweg mit ihnen anzutreten, hatte er sich willig erhoben, war aber in Folge des schweren Rausches beim ersten Schritte zu Boden gestürzt. Die Nachbarn ließen ihn liegen und gingen heim. Es war offenbar, daß der Mann, nachdem er den ersten Rausch ausgeschlafen, mitten in der Nacht aus der Stadt aufgebrochen und dann auf der einsamen Straße Räubern in die Hände gefallen war. Daß ein Einzelner die Unthat verübt, war fast undenkbar, denn Doxaki war ein riesiger Mensch und überdies, nach der Sitte der Landleute jener Gegend, stets mit einem Handbeil bewaffnet.

In der That waren auch die Bauern sofort überzeugt, daß zwei Menschen den Raubmord verübt: jene beiden Jünglinge. Denn erstens waren sie ja Zigeuner und zweitens hatten sie mit Doxaki kurz vorher heftigen Streit gehabt. Der Bauer hatte nämlich ihrem greisen, gelähmten Vater, als er ihn vor der Hütte im Sonnenschein sitzen sah, in's Antlitz gespieen, ohne jeden Grund, bloß zum Vergnügen. Das nahmen die Jünglinge übel und stellten Doxaki zur Rede. Nachdem Dieser das Erstaunen überwunden, daß ein Zigeuner einen so harmlosen Scherz übel nehme, packte er den Olexa mit der Rechten, den Stephan mit der Linken und warf dann den Olexa in den linken, den Stephan in den rechten Straßengraben; denn er war stärker als die Beiden zusammen.

»Die Zigeuner haben es gethan,« riefen also die Bauern an jenem Morgen und stürmten zur Hütte, wo die Parias wohnten. Nur die Eltern waren zu Hause und diese betheuerten hoch und heilig, daß ihre Söhne keine Mörder seien, Olexa habe die Nacht zu Hause zugebracht, Stephan im Stalle des Bojaren. Darauf hörten aber die Bauern nicht, sondern riefen nur immer: »Gebt das Geld des Doxaki her, sonst geht es euch schlimm!« Und da die Alten das Geld gleichwohl nicht geben konnten oder, wie die Bauern meinten, nicht geben wollten, so begann nun eine ganz gräßliche Scene. Den beiden greisen, gebrechlichen Menschen wurden Qualen angethan, welche es fast unglaublich erscheinen lassen, daß sie überhaupt mit dem Leben davonkamen. Doch gehört dies eigentlich nicht her, denn darüber wurde nie eine Untersuchung geführt, eine Anklage erhoben. Und ebensowenig bezüglich dessen, was nun geschah. Die Bauern stürmten nach dem Gutshof, wo die Brüder arbeiteten und begannen dieselben ganz entsetzlich zu prügeln. Nur die Dazwischenkunft des deutschen Inspektors rettete den Gequälten das Leben. Er verbürgte sich den Bauern dafür, daß er die beiden Jünglinge sofort an das Gericht in Roman abliefern werde, und hielt sein Wort gerne, weil das der einzige Ausweg war, einen Akt der Lynchjustiz hintanzuhalten.

Die Brüder saßen im Gefängnis und die Untersuchung gegen sie wurde eingeleitet. Daß dies geschehen, kann nicht wundern, denn alle Bauern des Dorfes bezeichneten sie als die Thäter und auf Andere lenkte sich nicht der leiseste Verdacht. Doxaki hatte sonst mit Niemand einen Streit gehabt und an Raubmord aus Gewinnsucht war schwer zu denken, weil die Straße sonst völlig sicher war und der Ermordete überdies ärmlich gekleidet einherging und gewiß nicht den Schein erwecken konnte, daß viel bei ihm zu holen sei. Wenn man jedoch andererseits erwägt, daß weder in der Hütte der Zigeuner noch sonstwo auch nur eine Spur der geraubten Sachen entdeckt werden konnte, daß ferner Stephan ein Alibi durch die Aussage der anderen Knechte, welche mit ihm im Stalle geschlafen, überzeugend darthun konnte, daß endlich Olexa ein schwächlicher Mensch war, dem wahrlich kaum zuzumuthen war, daß er allein den Riesen angefallen und getödtet, so ist es höchst befremdlich, daß dieser Letztere doch von dem Hüter des Gesetzes, dem Procurator, vor die Assisen gestellt wurde.

Dies ist höchst befremdlich. Mit welchem Ausdruck ich aber das Urtheil der Geschworenen bezeichnen soll, weiß ich wahrlich nicht. Es waren dies acht Bauern, vier Städter. Der Zigeuner Olexa wurde, obwohl sich mit Ausnahme jenes vorhergegangenen Streites nicht der geringste Verdachtsgrund gegen ihn ergab, obwohl der Präsident die Bemerkung eines Zeugen: »Jemand muß es doch gethan haben und nur ein Zigeuner ist so schlecht!« heftig getadelt, von den Geschworenen mit acht gegen vier Stimmen des Raubmords schuldig erkannt und zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in den Salzbergwerken von Okna verurtheilt.

Der dritte und letzte Fall, den ich hier berichten will, hat sich im Sommer 1878 ereignet.

Vor dem Schwurgerichte einer ostgalizischen Stadt steht ein hübscher Mann in Jägertracht. Er ist noch sehr jung, hat nie eine Forstakademie besucht, bekleidet jedoch gleichwohl bereits das ansehnliche Amt eines Oberförsters bei einem der reichsten polnischen Magnaten. Das darf nicht wundern, denn er ist von altem Adel und seine Manieren sind entzückend, was sich selbst heute nicht verleugnet. Und selbst heute kann man erkennen, wie sehr die Frauen für ihn schwärmen. Die vornehmsten Damen des Kreises sitzen, dicht aneinandergedrängt, auf den niedrigen, unbequemen Bänken des Zuhörerraums, und zwischen diesen Bänken und dem Sessel des Angeklagten ist ein eifriger Verkehr in Blicken und Grüßen. Es ist offenbar, daß alle diese Herrschaften in der Veranlassung, welche den jungen Edelmann auf den verhängnißvollen Sitz gebracht, vielleicht ein Unglück erblicken, aber sicherlich keine Schande. Und als sich eine der Damen erhebt und dem schönen Manne ein kleines Bouquet hinüberwirft, geht sogar ein Murmeln des Beifalls durch die Reihen. Er fängt die duftige Gabe gewandt auf, führt sie an die Lippen und befestigt sie stolz im Knopfloch. Es ist aber auch kein gewöhnliches Bouquet: eine junge Rose von Lorbeerblättern umgeben . . .

Liebe und Ruhm! Steht der junge Mann hier, weil er den Beleidiger seiner Ehre ritterlich zum Duell gefordert? Oder hat ihn sein heißblütiger polnischer Patriotismus in Konflict mit den k. k. Behörden gebracht?

Wer auf die Bank der Zeugen blickt, kann diese Vermuthungen schwer aufrecht erhalten. Die vier Personen, die dort sitzen, können wohl weder bei einem Duell, noch bei einer politischen Unternehmung eine Rolle gespielt haben. Es sind dies drei ruthenische Bauern, welche dumpf und stumpf vor sich hinstarren, und eine alte verkrüppelte Judenfrau, der die Thränen unablässig aus den rothgeränderten Augen über die Wangen fließen. Nicht selten auch stöhnt die Greisin laut, und so oft dieser Ton das Ohr des Angeklagten trifft, stemmt er das Monocle in's Auge und besieht die Schluchzende mit vielem Interesse.

Der Gerichtshof tritt ein, der Staatsanwalt, der Vertheidiger. Die Sache wird aufgerufen. Der elegante Mann ist eines schweren Verbrechens bezichtigt, des gemeinen Mordes, begangen an dem Juden Simon W.

Dann werden die Geschworenen in den Saal geleitet, eine sehr gemischte Gesellschaft: da steht der polnische Kleinbürger im Kaputrock, der Jude im Kaftan, der Städter in seiner französischer Tracht. Die Ausloosung beginnt, aber die Bank der Geschworenen füllt sich doch nur langsam, denn während der Staatsanwalt sich völlig passiv verhält, macht der Vertheidiger von dem Rechte der Ablehnung größtmöglichsten Gebrauch: er lehnt jeden Juden ab, bis sein Recht erschöpft ist. Dann muß er sie freilich dulden. Endlich ist die Bildung der Geschworenenbank vollzogen; drei Juden, neun Christen haben Platz genommen.

Der Staatsanwalt verliest die Anklage. Sie stützt sich auf die Aussagen der vier Thatzeugen und das unumwundene Geständniß des Mörders. Der Sachverhalt ist in Kürze folgender:

Der Jude Simon W. war der Pächter der Fähre, welche bei dem Dorfe K. den Verkehr über den Dniester vermittelte, und wohnte daselbst in einem einsamen Häuschen mit seiner alten Mutter. Der Oberförster kam an einem Märztage in seiner Kalesche vorgefahren und wünschte übergesetzt zu werden. Nun war die Fähre einige Tage vorher durch den Eisgang beschädigt worden und erst kümmerlich ausgebessert. Simon W. bat also den Herrn, daß zuerst das Gespann, dann der Wagen hinübergeführt werden möge, weil er sonst die Verantwortung nicht übernehmen könne. Obgleich die drei christlichen Knechte, welche die Fähre lenkten, gleichfalls auf das Bestimmteste vor größerer Belastung warnten, gerieth der Edelmann gleichwohl über diesen Vorschlag in heftigen Zorn, weil er glaubte, daß der Jude ein doppeltes Fährgeld erlisten wolle. »Du jüdisches Hundsblut!« rief er dem W. zu, »Du willst mich nur betrügen!« – »Ich will Sie nicht betrügen,« erwiderte der Jude ruhig, »auch bin ich kein Hund, sondern ein Mensch!« – »Alle Juden sind Hunde!« schrie darauf der Edelmann heftig, »schweige, sonst geht es Dir schlimm!« – »Ich fürchte mich nicht vor Ihnen!« erwiderte darauf Simon gelassen. – »Schweig'!« schrie der Edelmann, »sonst werde ich Dir zeigen, wie man Juden und Hunde traktirt!« – Darauf erwiderte der Pächter nichts mehr, sondern zuckte die Achseln und lächelte. Der Edelmann aber eilte zum Wagen, riß die Hundspeitsche herab, welche am Sitze lag, und hieb dem Juden über's Antlitz. Dieser entriß ihm die Peitsche, warf sie zu Boden und schrie: »Ein Hund bist Du selbst!« Der Edelmann eilte wieder zum Wagen und riß die Flinte hervor, welche dort lag. Als der Jude dies sah, flüchtete er in's Haus. Es sollte ihm nichts nützen. Denn der Oberförster lud die Flinte, erbrach mit seinem Kutscher die Thür, drang in's Haus und schoß den Simon W. durch den Kopf, so daß dieser sofort, ohne Schrei, todt zu Boden sank. Nachdem dies geschehen, fragte der Mörder die Knechte noch einmal, ob die Fähre Gespann und Wagen tragen könne. Als Diese verneinten, ließ er beide getrennt hinüberbringen und fuhr dann zu einem Freunde, wo er am nächsten Tage zu einer Jagd geladen war und dann zu einem Ballfeste. Bei diesem Feste war er verhaftet, aber gegen sein Versprechen, sich jederzeit dem Gericht zu stellen, sofort wieder freigegeben worden.

So die Anklageschrift. Nun begann das Verhör des Angeklagten, welches jedoch sehr kurz dauerte.

»Bekennen Sie sich schuldig?« fragte der Präsident.

»Ja!« erwiderte der Edelmann laut, mit höflicher Verbeugung.

»Empfinden Sie Reue über Ihre That?«

»Nein!« erwiderte der Angeklagte lächelnd. »Ich würde heute ebenso handeln. Wenn ein Jude zu einem polnischen Edelmann ›Hund‹ sagt, so halte ich diesen berechtigt, dies Ungeziefer zu zertreten!«

Leise Heiterkeit und ein Murmeln des Beifalls ging durch den Zuschauerraum. Der Präsident befahl Ruhe und begann das Zeugenverhör. Es bot keinerlei neue Momente und ließ die Zuhörer völlig gleichgültig. Nur als die greise Jüdin aufgerufen wurde und nun die laute Wehklage erhob, daß ihr der einzige Sohn, der Ernährer, ermordet worden, als sie schluchzend erzählte, wie brav und gut ihr Simon gewesen, ging laute Heiterkeit durch den Raum. Aber der Präsident erhob sich wieder. »Schweigen Sie,« rief er den vornehmen Damen zu, »schämen Sie sich!« Ob sie sich schämten, ist ungewiß, jedenfalls verstummten sie.

Freilich nicht für lange. Nur die Rede des Staatsanwalts wurde schweigend angehört; sie war sehr kurz. »Hier ist ein Mord geschehen,« sagte der Beamte, »Ihnen, meine Herren Geschworenen, liegt es ob, daß der Mörder nicht straflos bleibe.« Hingegen wurde das Plaidoyer des Vertheidigers mit Beifall überschüttet. Freilich war das auch ein berühmter Advokat und sprach sehr schwungvoll. Zuerst erörterte er die Frage, was die Juden seien und kam zu dem Resultate, sie seien jedenfalls keine Menschen, »wenn auch vielleicht nicht alle Hunde sind.« Dann gab er eine poetische Schilderung seines Klienten, den er einen »Rächer seiner Ehre«, ferner auch einen »modernen Achilles« nannte. Aber besonders wirksam war der Schluß: »Sie sind der Majorität nach Christen, meine Herren Geschworenen, sorgen Sie dafür, daß hier nicht ein Christ durch jüdische Tücke zu Grunde gehe!«

Der Präsident gab sein Resumé, kurz und thatsächlich. Nur ein Passus machte Sensation. »Es schiene mir eine herbe und ungerechte Beleidigung für Sie, meine Herren Geschworenen, wenn ich sie erst daran erinnern würde, daß Christen und Juden Menschen und Staatsbürger sind, deren Leben in gleicher Weise unter dem Schutze des Gesetzes steht!«

Die Geschworenen, die neun Christen und drei Juden, zogen sich zur Berathung zurück. Dieselbe dauerte nur fünf Minuten. Der Obmann verkündete:

»Drei Stimmen ›Schuldig!‹, neun Stimmen ›Nichtschuldig!‹«

Ein Jauchzen ging durch den Saal. Es übertäubte den Jammerruf der Greisin, ja selbst die Stimme des Präsidenten, welcher nach dem Urtheil der Geschworenen den Angeklagten sofort freisprechen mußte. –

Auch diese Verhandlung ist wirklich und wahrhaftig geführt worden. Aber hier fühle ich die Nothwendigkeit, dem Vertrauen des Lesers in meine Wahrheitsliebe nicht zu viel zuzumuthen – und hielte er mich für die personifizirte Wahrheit, er müßte den Kopf schütteln. Darum setze ich hier ausnahmsweise Ort und Datum her. Diese Verhandlung wurde am 4. Juli 1878 zu Stanislau durchgeführt.

Dies die drei einzelnen Fälle, auf deren Mittheilung ich mich beschränken will. Verwerfliches Material, habe ich bereits betont, wären sie auch dann nicht, wenn sie unerhörte Ausnahmsfälle wären. Dies aber sind sie nicht; ähnliche, ja noch grellere Fälle haben sich vielfach begeben, wie selbst jeder Zeitungsleser weiß, geschweige denn jeder Kenner des Ostens. So ist zum Beispiel der Mordproceß gegen Moses Ritter und Genossen in den weitesten Kreisen bekannt geworden. Dieser jüdische Mann, welcher in einem westgalizischen Dorfe lebte, wurde bekanntlich beschuldigt, seine christliche Magd, nachdem er sie verführt und zur Mutter gemacht, theils aus egoistischen, theils aus rituellen Gründen mit unerhörter Grausamkeit ermordet zu haben. Er läugnete hartnäckig und die Untersuchung ergab auch nicht den Schatten eines wirklichen Beweises. Vor gelehrten Richtern wäre ein Schuldspruch unmöglich gewesen, die Geschworenen sprachen Ritter schuldig. Der Oberste Gerichtshof in Wien kassirte das Urtheil und ordnete eine neue Verhandlung an. Sie hatte das gleiche Resultat. Wieder wurde das Urtheil kassirt und der Prozeß zum dritten Male, diesmal vor einem anderen Schwurgerichte, abgehandelt. Das Ergebniß war dasselbe. Nun erst kassirte der Oberste Gerichtshof nicht bloß das Urtheil, sondern sprach auch Ritter endgiltig frei. Ohne dieses Eingreifen der obersten Gerichtsbehörde wäre das Urtheil vollstreckt und damit unzweifelhaft ein Justizmord gräßlichster Art verübt worden.

Auf die Akten dieser Justizstelle darf ich mich berufen, so weit es sich um die Beantwortung der hier angeregten Culturfrage in Betreff Galiziens und der Bukowina handelt. Die Zahl der Urtheile, welche der Oberste Gerichtshof für ungültig erklären muß, ist geradezu eine erschrecklich hohe und beweist unwiderleglich, daß die Schwurgerichte thatsächlich ihrer Aufgabe, das Recht zu schützen, das Unrecht zu strafen, nur dann nachkommen, wenn keinerlei Vorurtheil des Standes, des Glaubens oder der Rasse ins Spiel kommt. Wie oft aber spricht dieses Vorurtheil in dem halbasiatischen Lande, in welchem der Glaubenshaß wild wuchert und die sozialen Gegensätze unüberbrückt sind, mit! Ein äußeres Zeichen genügt, dies anschaulich zu machen. Die Bildung der Geschworenenbank ist nirgendwo ganz gleichgiltig, in Halbasien ist sie – wie bereits angedeutet – geradezu die Hauptsache. Ist ein Jude der Beschuldigte, so lehnt der Staatsanwalt, ist er der Beschädigte, so lehnt der Vertheidiger jeden jüdischen Geschworenen ab. Aehnlich steht die Sache, wo es sich um Deutsche gegen Polen oder Ruthenen gegen Polen handelt u. s. w. Dies einzige Faktum macht eigentlich jede weitere Erörterung überflüssig.

Für Oesterreich bietet der Oberste Gerichtshof einen gewissen Trost. Er verhütet zum mindesten das Schlimmste, obwohl es ihm natürlich schon formell unmöglich ist, jedes Urtheil zu prüfen, da nur jene zu seiner Kenntniß gelangen, bezüglich deren von Staatsanwaltschaft oder Vertheidigung die Nullitätsbeschwerde erhoben wird. Wie aber steht es um Rumänien, wie um Rußland? Hier fehlt selbst dieser karge Trost. Der Deutsche, der Jude und der Pole sind vor einer moskowitischen Jury übel daran und ein Eingreifen der obersten Gerichtsbehörde findet äußerst selten, ja fast nur dann statt, wenn der Fall ungeheures Aufsehen erregt und man sich vor dem Ausland zu schämen beginnt. Ein derartiger Fall hat sich im Februar dieses Jahres in Moskau begeben und ist sicherlich allen Lesern dieser Zeilen noch in lebhafter Erinnerung. Ein Postbeamter unterschlug einen Geldbrief, welcher bei der deutschen Gesellschaft Victoria versichert worden war. Er war der That geständig, aber sein Vertheidiger betonte, daß sein Klient doch nur deutsches Geld gestohlen, und dies genügte für den edlen Patriotismus der Jury, den Dieb freizusprechen, so daß er auch das Gestohlene hätte behalten dürfen. Nur deshalb, weil die deutschen Börsen auf die Kunde dieses Urtheils hin den Cours des Papierrubels stark hinuntertrieben, sah sich der Justizminister veranlaßt, das Urtheil aufheben zu lassen und eine neue Verhandlung anzuordnen. Vermuthlich wird der Dieb diesmal nicht straflos ausgehen und die deutsche Gesellschaft zu ihrem Gelde gelangen. Aber wer zählt die Fälle, wo es anders kam und ein Frevel an den verhaßten Deutschen ungerächt blieb, ja vom wahnwitzig aufgestachelten Nationalhaß als eine Bethätigung patriotischer Gesinnung gefeiert wurde!

Die Frage, ob die Schwurgerichte im Osten sich bewährt, wird nur von Jenen bejaht werden, welchen die Kultur- und Rechtszustände Halb-Asiens unbekannt sind.



 << zurück weiter >>