Karl Emil Franzos
Aus der großen Ebene
Karl Emil Franzos

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Der Galilei von Barnow

(1879)

Es war an einem Frühlingstage von 1879, in früher Vormittagsstunde, als schüchtern an die Thür meines Arbeitszimmers gepocht wurde. Daneben ließ sich ein langsames, aber deutliches Scharren mit den Füßen hören.

»Herein!«

Niemand erschien, nur das Scharren dauerte fort. Endlich wieder ein leises Klopfen.

»Herein!«

Nun endlich that sich die Thür auf. Aber der schüchterne Besucher ward auch nun nicht sichtbar. Nur seine Stimme ließ sich vernehmen.

»Fünf Minuten! Verzählen möcht' ich Ihnen etwas thun! Nur fünf Minuten! Für die Zeitung – Gott! Augen werden Sie machen . . .«

Ich war nach der ersten Silbe nicht mehr im Unklaren, weß Glaubens und Landes der Gast sei. Und als er endlich auf einen dritten Zuruf in der Thürspalte erschien, auf einen vierten sich zögernd hereinwand, da erkannte ich, daß ich recht vermuthet. Schmachtlöcklein, Sammtkäppchen auf bärtigem Haupt, langer Kaftan; der Mann war ein israelitischer Halb-Asiate. Sogar ein sehr israelitischer – die Schaufäden, die minder Fromme versteckt halten, guckten bei ihm hervor.

»Sie wünschen?«

»Was soll ich wünschen? Genug Freud', daß ich endlich kann reden über mein Unglück! Wünschen soll ich mir noch was?«

»Treten Sie näher!«

»Näher? Warum? Bin ich ein Herr? Ich komme zu dem Herrn Wohlthäter, er wirft mich nicht hinaus – soll ich noch bis zum Tisch gehen, wie ein guter Freund?! Für mich, Gott sei gelobt, ist es schon ganz angenehm, hier zu stehen bei der Thür!«

Aehnliches hat für mich wahrhaftig nicht mehr den Reiz der Neuheit, lächeln mußte ich diesmal doch. Vielleicht trug das Drollige des Aeußern hierzu bei; der Mann war von herkulischem Körperbau, zu welchem ein kleines, melancholisches Köpfchen und ein dünnes, zittriges Stimmchen in grellstem Gegensatz standen.

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Die Ehre? Entschuldigen Sie, was reden Sie da für Dummheiten? Ich habe die Ehre mit Ihnen!«

»Gut – wie heißen Sie?«

»Singmirwas, Jossef Singmirwas!«

»Also aus Chorostkow?«

»Gott über der Welt . . .« Er trat in ungeheurem Erstaunen einen Schritt zurück . . . »Wirklich aus Chorostkow!«

Sein Erstaunen war natürlich, aber mein Wissen nicht minder. Ein Gabriel Singmirwas aus Chorostkow war in den unteren Klassen des Gymnasiums mein Mitschüler gewesen. Und der sonderbare Name grub sich mir natürlich ins Gedächtniß.

Uebrigens hatte dieser Name auch recht sonderbaren Ursprung. Der Ahn des Geschlechtes war ein »Chasan« gewesen, ein Vorbeter in der Synagoge. Der Ruhm und der Ruf seiner schönen Stimme war weit gedrungen, sogar zu dem Rittmeister-Präsidenten der Commission, welcher unter Joseph II. den Juden Galiziens Familien-Namen ertheilte. Als der »Chasan« vor der Commission erschien, rief der Rittmeister: »Jud', wie willst du heißen? – aber dann sing' mir was!« – »Sing' mir was?!« wiederholte der Chasan nach Art seiner Stammesgenossen zweifelnd und überrascht, vielleicht auch geschmeichelt. Der Rittmeister aber nahm es als Antwort auf seine Frage, oder stellte sich wenigstens so, um rasch fertig zu sein. »Meinetwegen »Singmirwas« – aber nun singe . . .«

»Was macht Euer Vetter Gabriel?« fragte ich.

»Ga–gawril?!« Der Mann stand abermals starr vor Staunen. »Sie kennen meinen Gawril?!« Die melancholischen Aeuglein begannen zu glänzen, und die Riesenhände klatschten fröhlich ineinander. »Gott! die Freud'! Mir fallt ein Stein herunter vom Herzen, ein großer Stein! Wenn Sie meinen Gawril kennen, Herr Wohlthäter, dann kennen Sie mich auch und meine ganze Geschichte, und es ist gar nicht mehr nöthig, daß ich sie Ihnen verzählen thu'.«

»Doch nicht so ganz . . .«

»Nicht? Scheint Ihnen nur so! Werd' ich Ihnen beweisen, daß Sie wissen schon Alles . . .«

Er trat einige Schritte vorwärts und pflanzte sich vor meinem Schreibtisch auf.

»Herr Wohlthäter,« begann er mit überlegenem Lächeln, »sagen Sie mir zur Güte, was für ein Mensch Gabriel Singmirwas ist. Ich sage nicht »Gawril«, ich sage »Gabriel«. Antworten Sie zur Güte!«

»Ich weiß nur, was er 1862 war. Da hatte er die Tertia des Czernowitzer Gymnasiums absolvirt, war fünfzehn Jahre alt und ein sehr fleißiger Schüler.«

Jossef's Antlitz leuchtete. »Gut! also damals war er ein Deutscher, ein Gelehrter! Frage ich Sie, was ist er heute? Dann ist er auch noch heute ein Deutscher, ein Gelehrter! Denn wenn man etwas gelernt hat, so vergißt man es nicht und wird kein Chassid, kein Dunkelmann . . .«

»Gabriel hat nicht fortstudirt?«

»Nein! Wozu?! Er weiß wirklich genug! Er ist heimgekommen nach Chorostkow, hat geheirathet und vom Vater das Specereigeschäft übernommen. Jetzt ist er noch außerdem Agent der Assecuranz und Gemeinderath und ein gebildeter Mensch. Er hält sich mit dem Pächter zusammen die »Neue Freie Presse«, und täglich liest er sie durch – ich sage Ihnen: von oben bis unten, kein Wort läßt er aus. Zuerst liest er allein und dann für die Anderen, es ist wirklich ein Vergnügen, wenn man kann zuhören, so gut erklärt er Alles. Erstens von den Russen und den Türken – dann was für Theater in Wien war oder etwas eine Geschichte – dann vom Kaiser oder was sich sonst thut in der Welt, dann wer in Wien sich aufgehenkt hat und die Processe und den Courszettel und was man verkaufen will – Alles, Alles, bis zum Schluß: Joseph Kohn hat sich verlobt mit Emma Silberstein – »Maseltow!« (Viel Glück!) Und jetzt frage ich Sie – ein solcher Mann, so ein Deutscher, so ein Gelehrter – kann der glauben, daß sich die Sonne um die Erde dreht? – Ja oder Nein?«

»Nein!«

»Also! Und nun frage ich Sie, bin ich der Vetter von diesem Goldmenschen oder bin ich es nicht? Ich bin es! Spricht er mit mir über Alles? Auf Ehre – ja! »Ein' eisernen Kopf hat mein Vetter Jossef«, sagte er, »Alles kann man ihm erklären thun!« Frage ich Sie weiter: kann ich glauben, daß sich die Sonne um die Erde dreht – ich, der Vetter von ihm? Nein! – nicht kann ich es glauben! Und sehen Sie – das ist meine ganze Geschichte und mein ganzes Unglück! Jetzt verstehen Sie Alles! . . .«

»Doch nicht so ganz . . .«

»Nein!« fiel er mir heftig und entschieden in's Wort. »Alles verstehen Sie jetzt!«

»Gut – aber was ist denn eigentlich Ihre Beschäftigung?«

»Jetzt bin ich ein Ketzer

Er sprach das Wort aus, wie man etwa ein Wort aus fremder Sprache citirt, und lächelte dazu, schmerzlich, aber selbstbewußt.

»Was heißt das?«

»Was das heißt? Ganz einfach: ich bin jetzt ein »Meschumed« (hebr. »Abtrünniger«). Mein Gawrilleben hat mir gesagt: auf Hochdeutsch bist Du jetzt ein »Ketzer«. Und er versteht Deutsch!«

»Sind Sie das wirklich?«

»Heißt eine Frag'! Nicht gestogen, nicht geflogen! Tragt das ein »Ketzer«?« Er zog die Schaufäden hervor! »Gottlob! Ich bin ein frommer, ehrlicher Jude! Aber mein Gawril hat mich aufgeklärt, und da hab' ich mir gedacht: es ist schad', daß die Barnower Leute dumm bleiben sollen, und da habe ich sie aufklären wollen. Denn ich bin aus Chorostkow, aber in Barnow habe ich gewohnt. Da stehe ich also vor acht Wochen am Sabbath Nachmittags vor der Schul und mit mir der rothe Avrumele und Jizchok der Dorfgeher und Nathan mit dem krummen Fuß und andere Nachbarsleut'! Da stehen wir also und reden so und warten und schauen zum Himmel und warten wieder. Aber nämlich worauf? Auf die ersten drei Sterne! Denn »Mincha« (das Nachmittagsgebet) hatten wir bereits gesagt und »Marew« (das Abendgebet) wollten wir sagen. Aber das darf man ja erst, wenn drei Sterne am Himmel stehen. Und wie wir so reden thun, stellt sich Roth-Avrumele hin und fängt an, als wenn er ein »Pilesof« (Philosoph) wär' und kein Schneider: »Gott!« sagt er, »wie groß ist die Welt und überall wohnen Juden. Gott! jetzt stehen gewiß auf der ganzen Erde Hunderttausend Juden, so wie wir, und warten, bis die drei Stern' aufgeh'n.« Da fang ich an zu lachen. Fragt er: »Warum lachst Du?« Sag' ich: »Lachen soll ich nicht, wenn Du so ein Esel bist?!« Sagt er: »Ich bin ein Esel? Warum? Du bist ein Esel!« Sag' ich: »Hör' zu, Avrumele, Du bist nur ein Schneider für alte Sachen, darum muß man Dir Deine Unwissenheit verzeihen. Nur die Juden in Polen stehen jetzt da und warten auf die drei Sterne. Andere Juden sitzen gerade schon beim Nachtmahl, wieder Andere schlafen schon. Aber Gegenden gibt es auch, wo sie jetzt »Mincha« beten, dann solche, wo sie gerade den »Schalet« essen und »Kugel« und andere gute Sachen, ferner auch Länder, wo sie gerade aufsteh'n und in Schul' gehen.« – »Gott über der Welt!« schreit Avrumele, »närrisch bist Du geworden.« Und die Anderen schreien: »Wie heißt? Warum glaubst Du das?« Und da hab' ich Mitleid mit ihnen und klär' sie auf und sag': »Weil nicht überall auf der Erde jetzt Abenddämmerung ist, sondern Mittag, Morgen, und in Amerikum ist Nacht oder früher Morgen. Denn was ist die Erde? Eine Kugel! Und woher bekommt sie ihr Licht? Von der Sonne! Und was thut die Erde? Sie dreht sich um die Sonne! Also wenn auf der einen Hälfte Tag ist, ist auf der andern Hälfte Nacht. Das weiß man in der ganzen Welt, das weiß man in Chorostkow, aber ihr in Barnow seid so zurück, daß ihr das nicht wiss't! Schämt euch!« – »Wer soll sich schämen?« schreien sie, »Du sollst Dich schämen! Denn Du thust Gott beleidigen, Du lügst! Weißt Du nicht, was geschrieben steht von Josua?!« – »Nicht werd' ich's wissen!« antwortete ich ruhig. »Aber das ist kein Beweis!« – »Was, Du Meschumed?« schreit Jizchok der Dorfgeher, welcher die ganze Bibel auswendig kann. Und stellt sich hin und schreit: »Im Josua, im zehnten Capitel, Vers zwölf und dreizehn, da steht zu lesen: »Da redete Josua mit dem Herrn an dem Tage, da der Herr die Amoniter überlieferte den Kindern Israels und rief vor Israel, welches dabei stand: Sonne, stehe still zu Gideon und, Mond, im Thale Ajalon! Da stand die Sonne und der Mond stille, bis sich das Volk an seinen Feinden rächte. Also stand die Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen einen ganzen Tag.« Wer also sagt, daß die Sonne sich nicht dreht und stillstehen kann, der ist ein Lügner und lästert Gott.« – »Ich bin nicht dabei gewesen,« sag' ich. – »Was?« schreien sie, »Du zweifelst, daß Josua gerufen hat und der Herr hat's gethan?« – »Gerufen hat er vielleicht,« sag' ich, »der Mensch, wenn er nicht stumm ist, kann rufen, was er will; auch daß die Sonne stillgestanden ist, glaub' ich gerne, das thut sie ja immer; aber daß es Tag geblieben ist, das glaub' ich nicht!« – »Weh! weh!« schreien sie und laufen von mir fort, »ein Sünder ist in Israel, ein großer Sünder.« Nur Roth-Avrumele, welcher eigentlich mein guter Freund war und eine treue Seele, hat mich nach Hause begleitet und mir gesagt: »Gib Acht, Jossef, da hast Du Dir eine schöne Suppe eingebrockt. Für Jeden war's gefährlich, aber doppelt für Dich – Dir kann es an Dein Brot greifen.« Ich aber lache ihn aus und geh' ohne Sorgen schlafen und freue mich noch im Bett, daß Gawril's Vetter aufgeklärter ist, als alle Barnower zusammen. . . .«

»Was war denn Ihr Brot?«

»Ich war ein »Katziw« (Fleischhauer). Mein Gawrilleben, was ein sehr witziger Mensch ist, hat später auf mich den Witz gemacht: früher »Katziw« jetzt »Ketzer«. Nämlich, warum bin ich ein Fleischhauer geworden? Weil mein Vater Mosche es auch war. Aber es ist kein Geschäft, bei welchem man reich wird; wir haben kaum das Essen gehabt, während sein Bruder Jonas, der Vater von Gawril, sich von seinem Specereihandel ein großes Haus gebaut hat. Darum sagt mir mein Vater: »Jossef,« sagt er, »geh' zu meinem Bruder in's Geschäft, es ist gescheiter für Dich, als wenn Du bei mir bleibst!« Ich aber habe meinen alten Vater sehr gern gehabt und hab' gewußt, daß er im Geheimen stolz ist auf sein Gewerb', und darum hab' ich gesagt: »Vater, was Du bist, will ich auch sein.« Da lacht mein Vater im Herzen, aber ganz wild sagt er: »Wenn der Vater ein »Chammer« (Esel) ist, soll es auch der Sohn sein?« Und ich darauf: »Ja, Vater!« – So bin ich auch Fleischhauer geworden, aber in Chorostkow hab' ich nicht bleiben können, weil dort schon ihrer zu viel waren. So bin ich nach Barnow gezogen und hab' geheirathet – Rosel, die Tochter von Nachman Wechsler, eine brave, schöne, dicke Maid. Sie hat mir drei Kinder geboren: Gerson, Riste und Mosche. Es ist mir nicht gut gegangen, aber auch nicht schlecht. Und immer hab' ich mein Handwerk ehrlich betrieben und alle Gesetze Mosis genau befolgt und alle Vorschriften der Talmodim. Es sind unzählige Vorschriften, aber alle kenne ich und alle habe ich befolgt, auch wenn es zu meinem Schaden war. Denn wenn in Barnow ein Stück »trefe« (für die Juden nicht eßbar) wird, was fangt man mit dem Fleisch an? Die Bauern essen kein Fleisch, und es gibt wenige christliche Herren in der Stadt, und die nehmen gern auf Borg. Aber ich kann beschwören, daß ich an Juden nie Fleisch verkauft habe, das nicht »koscher« (nach den rituellen Vorschriften erlaubt) war. Auf Ehre, und wenn Sie mir nicht glauben . . .«

»Ich glaube Ihnen,« versicherte ich. »Aber Sie sprachen von einem Unglück . . .«

»Ich sprach? Ich spreche noch und ich schreie und ich werde sprechen und schreien und werde nie aufhören! O Herr, lieber Herr, wie weh ist mir geschehen – o wie weh!«

Der Mann begann zu schluchzen. Dann faßte er sich und fuhr fort:

»Am Sonntag nach jenem Sabbath, am frühen Morgen – wir liegen noch Alle im Bett – kommt mein Knecht Ruben und schreit: ›Herr, ich habe den grauen Ochsen zur Schlachtbank führen wollen, aber die Leute lassen mich nicht herein. Sie sagen: ›Der Rabbi hat es verboten, weil Ihr gestern Gott geschmäht habt!‹ – ›Wie heißt?‹ schrei' ich und spring' mit beiden Füßen aus dem Bett, und mein Weib springt auch heraus und meine Kinder und Alle fangen an zu jammern. Ich fahre in meine Kleider und stürze zur Schlachtbank. Da steht der »Gabe« (Gehilfe) des Rabbi und sagt: »Es thut mir leid, aber Rabbi Baruch Maier hat mich hieher gestellt, damit ich nicht zulasse, daß Dein Vieh geschlachtet wird!« Natürlich laufe ich nun zum Rabbi. Und der sagt mir: »Eben habe ich um Dich schicken wollen. Drei Männer haben ausgesagt, daß Du Irrlehren verbreitest und die Wunder Gottes leugnest. Ist das wahr?« – »Nein!« sage ich. – »So wird man Dir die Männer gegenüberstellen,« erwiderte der Rabbi; »ich werde die Gelehrten aus der »Klaus« berufen und Gericht über Dich halten. Erscheine um zwölf Uhr.« – »Gut,« sage ich und gehe ruhig fort. Aber auf der Straße wird es mir schon bänger; alle Leute weichen mir aus oder wenden mir den Rücken zu, wenn ich sie ansprechen will. Und wie ich heimkomme, zerfließen Weib und Kinder in Thränen. »Man sagt, der Rabbi wird Dich in den »Cherem« (Bann) thun, und dann sind wir brotlos!« Ich tröste sie, aber mir selbst ist das Herz schwer. »Leugne ab, was Du gestern gesagt hast,« bittet sie. – »Es sind ja Zeugen da,« erwidere ich. – »So sag', daß Du im Rausch gesprochen hast, und widerrufe!« – »Das kann ich nicht,« erwidere ich; »das kann Gawril's Vetter nicht thun. Aber sonst werde ich sehen, was sich machen läßt.«

»Um 12 Uhr gehe ich zum Rabbi. Das Gericht ist versammelt, dann die Leut', mit denen ich gestern geredet, und viele Zuhörer. Zuerst fragt man Roth-Avrumele, aber der gute Mensch kann sich auf nichts erinnern. Dann Jizchok, den Dorfgeher, und der erzählt natürlich haarklein Alles, was ich gesagt habe, und noch mehr dazu. »Ist das wahr?« fragt mich der Rabbi. – »Zum Theil ja, zum Theil nein!« – »Leugnest Du, daß Gott ein Wunder machen kann, so daß die Sonne hoch am Himmel stehen bleibt?« – Ich denke reiflich nach. Dann erwidere ich nach meiner Ueberzeugung: »Bei Gott ist Alles möglich. Aber dann hat er das Wunder nicht dadurch bewirkt, daß die Sonne stehen geblieben ist, denn das geschieht ohnehin immer, sondern dadurch, daß die Erde im Drehen eingehalten hat und still gestanden ist!« – Der Rabbi lacht: »Du meinst, daß die Sonne sich nicht bewegt?« – »Das meine ich!« – »Aber ein Kind kann es ja sehen!« – »Das scheint uns nur so.« – »Aber in der Heiligen Schrift steht ausdrücklich geschrieben: »Das Wunder geschah, weil die Sonne stille stand.« Glaubst Du daran?« – »Nein!« – »Dann thue ich Dich in den »Cherem«: verflucht sei, wer mit Dir spricht, verflucht, wer berührt, was Dir gehört, verflucht, wer Dich nicht verfolgt, gesegnet, wer Dich schädigt. Geh'!« Da ist es mir schwarz vor den Augen geworden und ich bin ohnmächtig zusammengestürzt.«

Er schwieg und starrte traurig vor sich hin. »Und wie kam es weiter?« fragte ich.

»Weiter? Ha ha!« – er lachte bitter – »ein Fleischhauer im »Cherem« – was ist da viel zu erzählen? Ich war brotlos. Schon am nächsten Tage bin ich nach Chorostkow gefahren, zu meinem Gawril. Und der hat mir einen Rath gewußt, der Goldmensch. »Selbst wenn Du lügst und widerrufst,« hat er gemeint, »so kannst Du doch nicht mehr in Podolien bleiben. Denn ein jüdischer Fleischhauer muß bezüglich der Frömmigkeit einen Ruf haben, wie ein junges Mädchen bezüglich der Keuschheit. Es muß sich Beides von selbst verstehen – die Leute dürfen nie davon reden. Selbst wenn Du Dich demüthigst und aus dem »Cherem« entlassen wirst – die Leute werden Dein Fleisch nicht mehr kaufen. Du mußt in ein anderes Land, nach Böhmen oder Mähren. Dort wohnen Juden, welche nicht minder fromm sind, als die Barnower, aber gottlob nicht so dumm. Sie nehmen gern Fleischhauer aus Polen, weil diese geschickt sind und viele Uebung haben. Ich werde Dir Geld geben, fahre nach Wien und gehe dort zu Hirsch Blumenstock am Salzgries. Er wird Dir weiter helfen.« – So hat mein Gawril gesprochen, und darum bin ich hier –«

»Und haben Sie eine Stelle?«

»Nein, noch nicht. Aber morgen soll ich einem »Roschkol« (Gemeindevorsteher) aus Mähren vorgestellt werden. Und wenn mir dieser gute Hoffnung gibt, übersiedle ich mit Weib und Kind. Zu Ihnen aber bin ich gekommen, damit Sie Alles aufschreiben thun. Gott, was werden die Leut' Augen machen, Augen wie Räder! Mein Gawrilleben wird springen, und Rabbi Baruch Maier wird auch springen, aber vor Galle!«

Ich sagte es ihm zu, der Mann empfahl sich. Er versprach auf meine Einladung wiederzukommen, wenn er morgen die Stelle nicht bekäme.

Er kam zunächst nicht wieder. Ich aber hielt meine Zusage und veröffentlichte seine Leidensgeschichte in der »Neuen Freien Presse«, allerdings erst dann, nachdem ich mir aus authentischen Quellen die Ueberzeugung geholt, daß mein Gewährsmann nur eben die Wahrheit berichtet. Darauf erhielt ich einen Brief von ihm, worin er mir mittheilte, daß er jene Stelle in Mähren erhalten, und im vorigen Jahre fand er sich auch wieder persönlich bei mir ein. »Mir geht's gut,« sagte er, »aber wenn ich an die Leut' in Barnow denke, thut mir doch das Herz weh'! Es müßt' ja nicht so sein, und wird es je anders werden?!«

Gewiß, mein guter Singmirwas, auch dort wird es einst lichter und besser werden! Aber hiezu bedarf es wohl noch der Arbeit eines Jahrhunderts, der ehrlichen Arbeit muthiger Werkleute, die sich nicht einschüchtern lassen, weder durch den wüsten Glaubens- und Rassenhaß der Andersgläubigen, noch durch den Fanatismus der eigenen Glaubensbrüder. Daran wollen wir halten und dafür kämpfen, jeder an seiner Stelle und nach seiner Kraft. Freilich, auch dieser Vorsatz kann uns nicht ganz davor bewahren, daß uns zwischendurch doch zuweilen das Herz wehe thut, wenn wir »an die Leut' in Barnow« denken . . .«



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