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Zweiter Band.

Der Erbe von Saldeck.

Erstes Capitel.
Margaretens Ehrentag.

Der Domherr von Saldeck hatte sich verspätet, indem er mit seinem Gerichtshalter und Pächter die letzten auf die Uebergabe des Gutes an den neuen Käufer bezüglichen Verabredungen traf. Ein Blick des alten Dieners mahnte ihn jetzt, daß es hohe Zeit sei, sich dem Eindrucke des peinlichen Actes zu entziehen. Der Kauf war vor einigen Wochen in der unfernen Gerichtsstadt abgeschlossen worden, jeder specielle Beding und Vorbehalt letztgültig festgestellt, das alte reichsfreiherrliche Stammgut factisch schon in den Besitz des Kriegsraths Justus Gall übergegangen, dessen Einzug in dieser Stunde erwartet wurde.

Der Domherr hatte keine Söhnen und als der letzte seiner Familie keinen Lehnsverband zu berücksichtigen; die Krone sich des Heimfallsrechtes begeben. Das Gut lag fast verwüstet noch von den Zeiten her, wo der Krieg auf seinem Grund und Boden gehaust, die größten Heere der Neuzeit sich auf demselben gedrängt, und die schmachvollste, wie die ruhmwürdigste Schlacht binnen weniger Jahre in seiner Nähe geschlagen worden waren. Freund und Feind hatten die Felder zertreten, das Holzwerk der Gebäude an ihren Wachtfeuern verbrannt, Schloß und Dorf bis auf die Mauern geplündert. Einige friedliche Jahre waren seitdem verflossen, der Landmann begann sich allmälig zu erholen, seine Felder regelmäßig zu bestellen, die Häuser neu von Lehm und Fachwerk aufzurichten. Aber was dem kleinen, fleißigen, eigenhändig schaffenden Bauer gelingen mag, ist ein Schweres für den großen Grundbesitzer, dessen Mittel erschöpft sind. Die Lage des Domherrn war eine mißliche schon als das Gut nach dem Tode seines einzigen Bruders ihm zufiel; die Stiftspräbende, auf deren Anrecht hin er in seiner Jugend weder Soldat, noch Beamter geworden, wie es dem jüngeren Sohne unter anderen Verhältnissen zugestanden haben würde, war ihm durch die Säcularisation des Domcapitels in dem nördlichen Theile unserer Provinz von Seiten der fremden Eroberer entgangen; er führte den Titel, unter den neuen Verhältnissen bis jetzt vergeblich auf eine Wiederbelebung der gefallenen Rechte hoffend, gleichsam aus eigner Machtvollkommenheit. Sein Bruder, früher Soldat, dann, nach dem Frieden, ein eifriger Landwirth, hatte eben begonnen, den verwüsteten und tief verschuldeten, väterlichen Besitz durch energische Thätigkeit zu befreien, als sein plötzlicher Tod den Domherrn an seine Stelle setzte, einen Mann, gegen dessen Emporkommen sich seine innere Natur mit dem Schicksale verbündet zu haben schien. So war er denn nach und nach zu dem Aeußersten getrieben worden, den alten Familiensitz zu verkaufen, um sich und seine einzige Tochter vor dringendem Mangel zu schützen; ja, wie eng auch seine Neigung mit historischen Institutionen verwachsen war, mußte er im Grunde die gegenwärtige Gesetzgebung des Staates segnen, da sie ihm gestattete, das Gut in bürgerliche Hände übergehen zu lassen. Sie waren die einzigen allenfalls emporgekommenen in jenen Zeiten der Drangsal, in welchen der grundbesitzende Adel zu viel gelitten hatte, um zu Neukäufen fähig oder geneigt zu sein, und, so niedrig der Bodenwerth im Vergleich zu dem heutigen stand, die Bedingungen einzugehen, welche Herr von Saldeck zu seiner Selbsterhaltung stellen mußte.

Das Schloß, stolz, hoch, kahl, uneinnehmbar in den Zeiten der Eigenfehde, ein Felsenbau starr auf einen Felsen gegründet, konnte als ein Abbild, oder besser als ein Vorbild des letzten Herrn gelten, der es in diesem Augenblicke verließ. Seine Mauern standen unversehrt, aber Fenster, Thüren, Dielen, Tapeten, alles was die Ruine zu einer menschlichen Wohnung machte, lagen vernichtet; der seitherige Pächter hatte sich nothdürftig seine Behausung in einem Seitengebäude des Wirthschaftshofes eingerichtet und nur ein kleines, freundliches Haus, wenige Minuten vom Schlosse seitab im Garten liegend, war wohl erhalten, da es, durch den vorspringenden Berg vor dem ersten Anlaufe gesichert und als Wohnung des Gerichtshalters umsichtig geschützt, wenig von dem Kriegstrosse zu leiden gehabt hatte. In den neuen staatlichen Einrichtungen war dieses Haus durch die Uebersiedlung des Justitiarius nach der Gerichtsstadt disponibel geworden, und so hatte der Domherr sich dasselbe nebst dem anhängenden Garten und gewissen Naturalien als Nutznießung während seiner und seiner Tochter Lebenszeit im Kaufcontracte ausbedungen. Hier wollte er künftig wohnen und sich nur heute auf einige Tage oder Wochen entfernen, um nicht Zeuge der ersten Einführung des bürgerlichen Eindringlings zu sein.

Mühsam zogen die alten Schimmel das schwerfällige, vergoldete Vehikel, das einzige, aus besseren Tagen übrig gebliebene, über den steinigen Weg, der, seit Jahrzehnten ungebessert, von dem abbröckelnden Felsen überrollt, durch Regenströme ausgehöhlt und ohne Barriere gegen den zur Linken steil abfallenden Grund, fast nicht ohne Lebensgefahr zu passiren war. Indessen, die alten Thiere waren an einen regelmäßigen Tritt gewöhnt, der alte Kutscher war nach immer ein Meister in seiner Kunst und der alte Diener, nachdem er seinen Herrn und das junge Fräulein sorgfältig und ehrerbietig in den Wagen gehoben hatte, ging neben demselben her, um rechtzeitig zu warnen, zu schützen und zu stützen. Man hatte diese wenig mehr benutzte Auffahrt vom Thale nach dem Schlosse gewählt, um aus dem oberen, Dorf und Umgegend verbindenden, bequemeren Wege die unvermeidliche Begegnung des neuen Gutsherrn zu ersparen, zu dessen Begrüßung Knechte und Bauern sich in der Nähe des Schlosses zusammendrängten. Unter einer Ehrenpforte von grünen Gewinden stand der Schulmeister mit seiner Jugend, bereit zu einem:, »Nun danket alle Gott!« Der Wirth zur Ledernen Trompete lüftete im voraus seine weiße Mütze und der Prediger im schwarzen Talar ging gedankenvoll auf und nieder, dem vergoldeten Glaswagen nachblickend, wie er den halsbrechenden Pfad zum Thale hinabschwenkte. Der bleiche Mann, der in dem Wagen saß, ein hagerer Fünfziger, mit scharfen Zügen um die feingeschnittenen, festgeschlossenen Lippen und einer hohen, schmalen Stirn über dem klaren, kalten, hellgrauen Auge – der bleiche Mann wäre in diesem Augenblicke gewiß lieber von dem Leben geschieden als von dem letzten Denkmale der ehrwürdigen Vorzeit seines Geschlechts. Die Tochter an seiner Seite schien zu fühlen, was in der Seele des Vaters vorging, denn sie ergriff seine Hand, zog sie an ihre Lippen und blickte lange und traurig zu ihm auf mit großen, braunen Augen, in deren frühzeitigem Ernste ein einsames, und freudloses Kinderleben geschrieben stand.

Der Kutscher wurde in diesem Augenblicke durch den Knall einer Peitsche beunruhigt; ein Zeichen, daß hinter einer Biegung des Weges ein anderes noch nicht bemerkbares Fuhrwerk ihnen entgegen kam. Die Straße war zu schmal, als daß zwei Wagen sich hätten ausweichen können, einer von beiden mußte eine Strecke zurückschieben. Der Kutscher hielt an und der alte Andreas ging, ohne eine Weisung seines Herrn abzuwarten, voraus, um dem Herankommenden den Befehl des Zurückweichens zu geben. Aber schon nach wenigen Minuten kehrte er mit bedenklicher Miene und der Meldung zurück, daß es nothwendig sein werde, selber den Rückweg anzutreten, da, wie er von einem Vorsprunge aus wahrgenommen, nicht blos ein einzelnes Fuhrwerk, sondern ein langer Zug von Wagen und Karren, mit einem Gefolge von Kühen, Schafen und Schweinen mehr als die Hälfte des berganführenden Weges überschritten habe. Da Herr von Saldeck verlangte, daß der Zug bis zu einer unfernen Stelle, an welcher die sich verbreiternde Bahn ein Ausweichen möglich machte, zurückschieben müsse, entfernte der Diener sich von neuem, um nach wenigen Augenblicken wieder neben dem Schlage der herrschaftlichen Kutsche zu erscheinen, in sichtbarer Bestürzung und mit dem hastigen Berichte, daß gnädige Herrschaft den Zug unmöglich kreuzen dürfen

»Unmöglich, warum?« fragte der Domherr verstimmt.

»Es ist – es ist ein Leichenzug!« stammelte der alte Andreas.

»Ein Leichenzug mit einem Gefolge von Kühen und Schweinen?« rief Herr von Saldeck ungeduldig, »was sollte ein Leichenzug hier oben wollen?«

»Ich weiß es nicht, gnädiger Herr,« entgegnete der Diener, »aber ich habe deutlich einen Sarg auf dem vorderen Wagen gesehen.«

»Gleichviel! Fahr zu, Veit!« befahl der Herr.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, gnädiger Herr,« rief händeringend der alte Mann, »es bringt ein entsetzliches Unglück, einen Leichenzug zu kreuzen.«

»Unsinn!« sagte der Domherr, »fahr zu, Veit!«

Der seltsame Zug war aber während dieser Unterhandlungen in die Höhe gekommen und bog just in dem Augenblicke, wo der Kutscher die Pferde zum Weiterfahren antrieb, um den Vorsprung, so daß die Deichseln der beiden entgegenfahrenden Wagen sich beinahe berührten. Der vom Thale kommende, mit zwei derben Gäulen bespannt, war ein einfacher Leiterwagen, auf welchem man einen mit Stroh umwundenen Sarg durch Stricke befestigt hatte; ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren lehnte bitterlich weinend über demselben, vor ihm führte ein alter Bauer die Zügel. Nur dieses vordere Gefährt war bis jetzt zu erblicken, die nachfolgenden deckte der vorspringende Berg.

»Schiebe Er zurück!« rief der Kutscher des Domherrn dem Bauer zu, »weiter unten können wir aneinander vorüber.«

»Er wird zurück schieben, mein Freund,« entgegnen gelassen der Bauer, »ich fahre vorwärts; nur zu!«

»Unverschämter Kerl!« rief der Kutscher, die Peitsche hebend; der alte Andreas fiel ihm in den Arm; er war bei dem ersten Blick auf den Bauer todtenblaß geworden und trat jetzt zitternd und mit gefalteten Händen zu dem Wagen zurück. So groß war seine Bestürzung, daß er vergaß, seinen Hut abzunehmen, ja, es scheint unerhört, aber er nannte in der Aufregung seinen Herrn »Sie.«

»Befehlen Sie zurückzufahren,« bat er athemlos; »fragen Sie nicht, blicken Sie nicht um sich: Veit soll zurückschieben und augenblicklich den Weg über die Höhen einschlagen. Um des Heilandes Willen, gnädiger Herr, zögern Sie nicht!«

»Alter Narr, was giebt es den eigentlich,« fragte Herr von Saldeck, sich aus dem Wagenfenster biegend.

»Zurück!« rief in diesem Augenblicke der Kutscher noch einmal, »es ist der Herr des Schlosses, welcher den Berg herunterfährt.«

»Just das Gegentheil,« versetzte der Bauer gelassen, »der Herr des Schlosses ist es, welcher herausfährt. Schieb Er nur ohne weiteres seine Kutsche zurück, guter Freund.«

»Schiebe zurück, Veit!« rief jetzt auch der Domherr, bleich wie ein Schatten vor dem Anblick dieses Gesichtes und dem Klange dieser Stimme, »schiebe zurück, schnell, gleich!«

Es ließ das Fenster nieder und sank in die Ecke des Wagens.

»Was ist Dir, Vater?« fragte das Kind mit ängstlichem, auf die zitternde, aschfarbene Gestalt gerichtetem Blick. Er winkte mit der Hand und antwortete nicht.

Der Kutscher versuchte das Rückwärtsschieben des Wagens, eine halsbrechende Procedur! Das schwere Gehäuse schwankte so gefährlich hin und her, daß Herr von Saldeck sich schließlich dazu verstehen mußte, auszusteigen und zu Fuße mit seiner Tochter dem wunderlichen Zuge voranzuschreiten. Als er eben den Wagen verlassen hatte, hörte er den alten Bauer einem nachfolgenden Knechte zurufen:

»Mach' vorweg, Klaus, und bestelle das Läuten! Thu's auch dem Herrn Pastor zu wissen, daß der alte Oberweg kommt, um seiner Tochter die letzte Ehre zu erweisen.«

Der junge Bauer drängte sich an Vater und Kind vorüber; so nahe die Frage nach dem Zusammenhange dieses seltsamen Abenteuers lag, Herr von Salden konnte dieselben nicht über seine Lippen bringen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, schritt er schweigend an der Spitze der Caravane, bis er oben, wo die beiden Wege vom Thale und über die Höhen vor der Einfahrt nach dem Schlosse zusammenstoßen, unter der Ehrenpforte still zu halten gezwungen war. Hier vermochte er nicht allsobald durch das Gewühl von Bauern und Bäuerinnen, von Kindern, Knechten und Mägden zu dringen, das sich zur Begrüßung der neuen Herrschaft versammelt und selber die kleine, zu seinem eignen Hausgarten führende Pforte versperrt hatte. Da er überdies wußte, daß der alte Andreas, der noch, den Kutscher unterstützend, mit dem Hineinschieben des Wagens beschäftigt war, den Schlüssel zu dieser Pforte bei sich trug, so stand er eine Weile mit seiner Tochter rath- und regungslos unter der Menge, von dieser kaum bemerkt, und Zeuge der aufregenden Wirkung, welche die unglaublichste, unerhörteste Neuigkeit um ihn her verbreitete. – »Wie, was?« lief es gleich einem Lauffeuer von Mund zu Mund, »Simson Oberweg? Simson Oberweg unser neuer Herr? Der Alte von Mittwerben? Der mit seiner Tochter vor ein Mandel Jahren mit Schimpf und Schande hier abziehen mußte? Auf den alles mit Fingern wies dazumalen? – Und die gute Grete ist gestorben? Die arme Seele! Schändlich war's, wie man ihr mitgespielt. Ich hab es mein Lebtage gesagt, 's war schändlich. – Und die soll nun doch noch in die Gruft neben ihren Herrn? Das ist Gottes Finger! – Und der Alte unser neuer Herr? – So was ist noch nicht da gewesen auf der Welt! Ja, das ist Gottes Finger! – Simson Oberweg unser neuer Herr!« –

So gingen die Stimmen durch einander, bis jetzt plötzlich der Schenkwirth beim Anblick des Bauernwagens seine Mütze schwenkte und mit donnernder Kehle schrie:

»Hurrah, hoch, unser neuer Herr!« und die ganze Versammlung im Chore nachjubelte: »Hurrah, hoch! Simson Oberweg hoch!«

In dem Augenblicke begannen die Glocken zu läuten; der Zug langte vor dem geöffneten Thore an, durch welches Herr von Saldeck unwiderstehlich in den Hof gedrängt wurde, umringt und gedrängt von der aufgeregten Mengen

Der Hof war ein weitläufiger Platz, hin und wieder von uralten Rüstern und Nußbäumen beschattet, nach Nord und West umschlossen von den ansehnlichen, aber zum großen Theil zerstörten Wirtschaftsgebäuden, nach Osten von der kleinen, gothischen Schloßkirche, und nach Süden von der Hinterseite der Burg. Dieser viereckige Bau, einen kleinen, inneren Hof trichterartig umfassend, mit der vorderen Front auf das hohe steile Flußufer gegründet und meilenweit das liebliche Thal auf und nieder überblickend, war einer von den stattlichen Ueberresten des Mittelalters, wie sie in unserer Gegend selten sind. Denn so dicht sich die Edelhöfe drängen, so sind sie doch meist neueren Ursprungs, und mehr mit dem Sinn für das Bequeme und Wirthliche, als für das Schöne und Vornehme ausgeführt, daher sich denn auch die bäuerlichen und bürgerlichen Besitzer, in deren Hände sie seit der Zeit, daß unsere Erzählung beginnt, vielfach übergegangen sind, sich gar behaglich darin einzuleben verstehen.

So wüst und verkommen nun aber auch der große Hof von Saldeck sich darstellte, so dringend er einer ordnenden Hand bedurfte, in diesem Augenblicke bot er ein buntes, lebendiges Schauspiel, in der Art wie seine alten Mauern noch keines wahrgenommen haben mochten. Und in der That war es ja auch in engem Rahmen der Abdruck einer neuen Zeit, welcher hier zur Erscheinung kam.

Ein Jeder schien in dem neugierigen Drängen um den seltsamen Aufzug den Kopf verloren zu haben, selber der Domherr, der bleich und verstört an der Schloßpforte lehnte. Alles lief und rief unruhig durch einander, bis plötzlich, mit seinem Fuhrwerk in der Mitte des Hofes angelangt, der Alte sich auf demselben in die Höhe richtete und mit gewaltiger Stimme rief: »Still da! Ihr Nachbarn! Ein Todter will Ruhe haben!«

Alles verstummte augenblicklich vor diesem ernsten Gebot, und es herrschte eine lautlose Stille unter der Menge. Der Alte fuhr fort, zu einigen Knechten aus seinem Gefolge gewendet:

»Helft mir den Sarg vom Wagen heben! Und Sie, Herr Pastor, grüß' Sie Gott, und sein Sie so gut, das Gewölbe öffnen zu lassen, daß wir meiner Tochter ihre Ehre geben.«

Unwillkürlich gehorchte ein Jeder den Befehlen des Alten, als denen eines Herrn, bis denn der Gerichtshalter schließlich seine Besonnenheit wiederfand und auf den wunderlichen Eindringling zuschreitend sagte:

»Er geberdet sich hier, als wäre Er zu Hause, mein Freund, erkläre Er mir doch gefälligst mit welchem Rechte –«

»Mit dem Rechte des Herrn und Eigentümers,« entgegnete der Bauer gleichmütig, ohne seine Beschäftigung um den Sarg zu unterbrechen.

»Herr und Eigentümer dieses Gutes und mit ihm des Erbbegräbnisses in der Schloßkirche sind gegenwärtig der Herr Kriegsrath Justus Galt, alter Narr. Er und seine Familie haben ein Recht weder an das Eine, noch an das Andere, wie er weiß« – sagte der Andere.

»Vielleicht hätte ich es gehabt auch ohne mein teures Geld, wenn ich die Sache hätte Rechtens betreiben wollen. Sie verstehen mich, Herr!« versetzte der Alte unerschütterlich. »Aber meine Tochter wollte keinen Streit, Gott hab sie selig! Nun aber habe ich ein Recht, das mir kein Scribax bekritteln soll. Hier ist's.«

Er zog bei diesen Worten ein wohlverwahrtes und versichertes Actenstück unter seiner Weste hervor, das er dem Gerichtshalter reichte.

»Das ist der Contract,« fuhr er fort, »in aller Form Rechtens vollzogen und beglaubigt vor dem königlichen Oberlandesgerichte in N., ehevorgestern den 17. Mai; und hier steht es schwarz auf weiß, verbrieft und versiegelt, daß Schloß und Rittergut Saldeck mit allen Accidentien von diesem Tage an aus den Händen des Herrn Kriegsraths Justus Gall übergegangen sind in die des Hans Simson Oberweg, Nachbarn und Einwohner von Mittwerben.«

Der Gerichtshalter hatte einen raschen Blick auf das Document geworfen und sagte jetzt ein wenig kleinlaut, indem er höflich seinen Hut vor dem neuen Herrn zog:

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oberweg, die Sache scheint in der That ihre Richtigkeit zu haben; ich werde das Document augenblicklich durchsehen und es dem seitherigen Gutsherrn und theilweisen Nutznießer, Herrn Domherrn von Saldeck, zur Kenntnißnahme unterbreiten.«

»Meinethalben!« entgegnete der Bauer, »doch thät es im Grunde nicht nöthig; der Herr hat nichts damit zu schaffen; mit dem Auszug behält's seinen Verbleib.«

Damit wendete er dem Gerichtshalter den Rücken, der auf den Domherrn zuschritt und mit diesem schweigend den Hof verließ.

Man hatte während dessen den Sarg von dem Wagen gehoben und ihn von seiner Strohumhüllung befreit; die Freundschaft und Nachbarschaft von Mittwerben, welche das Trauergeleit bildeten, befestigten eine Guirlande von Buchsbaum um das eichene Gehäuse, legten ihre Kränze von Rosmarin und Flittergold mit langen weißen, silbergefransten Seidenbändern darauf und ordneten sich paarweis zum Trauerzuge, dem die ganze Saldecker Gemeinde sich anschloß. Simson Oberweg wendete sich jetzt zu dem Prediger, der die ganze Zeit gedankenvoll und schweigend neben dem Sarge gestanden hatte.

»Und nun, Herr Pastor,« sagte er, »halten Sie meiner Tochter die Leichenrede; 's braucht nichts Studirtes zu sein, wenn's nur aus dem Herzen kommt. Sie haben sie ja gekannt, meine Margarete, Sie werden's schon erbaulich zu machen wissen.«

»Sie war eine vortreffliche Frau!« entgegnete der Pfarrer, gerührt dem alten Vater die Hand drückend.

»Ja, das war sie, Herr Pastor,« versetzte der Alte. »Und stille hat sie gehalten in der Noth, wie's im Liede heißt, das ihr Leiblied war, meiner Grete. Sie waren nur erst Substitut dazumalen, Herr Pastor, aber Sie haben's angesehen mit leiblichen Augen und können's attestiren, daß sie ihrem seligen Eheherrn angetraut worden ist als eine christliche Ehefrau, wie sich's gebührt, hier in dem nämlichen Gotteshause, in dem sie nun ihren ewigen Schlaf thun soll. Die Heirath war nicht nach meinem Gusto; Sie wissen's, Herr Pastor, wie ich mich dagegen gesteift; aber sie hat dazumalen nicht gehört und nicht gesehen, meine arme Grete, Gott hab sie selig; und daß es nicht der Hochmuth war, der sie verblenden that, das hat sie bewiesen, da sie nachher wiederum meine Tochter und eine fleißige Bauersfrau geworden ist wie zuvor.«

»Sie liebte ihren Gatten, Herr Oberweg,« sagte der Prediger mit niedergeschlagenen Augen.

»Ja, das war's,« bestätigte der Vater mit dem Kopfe nickend, »das war's. Der Mann hatte es ihr angethan, daß sie nicht wußte, wo aus noch ein ohne ihn. Ich habe ihr dazumalen keine Hochzeit ausrichten können, so still und heimlich ging alles zu, nun feiere ich heute ihren Ehrentag.«

»Ist das Ihr Enkelsohn, Herr Oberweg?« fragte der Prediger, auf den Knaben deutend.

»Ja, Herr Pastor, das ist der Jürgen, den sie unter ihrem Herzen trug, als ihr Eheherr so jählings verschied. Sie hat ihn in Zucht und Gottesfurcht aufgezogen, meine Grete. Er ist meine ganze Nachkommenschaft. Wär's nicht um ihn und seine Ehre, ich hätte mein Lebtage nicht daran gedacht, aus Mittwerben zu gehen, wo ich gute Zeiten erlebt, und wo der Herr meinen Hausstand gesegnet hatte. Und nun wissen Sie genug, Herr Pastor, was Sie anbringen können. Nun vorwärts, ihr Freunde, daß die Todte ihre Ruhe kriege!«

Die Träger setzten sich mit dem Sarge in Bewegung; unmittelbar dahinter folgte Hans Simson; der Prediger führte den Knaben, der in unsäglichem Schmerze nichts zu bemerken schien, was um ihn her geschah. Ganz anders der alte Vater. Wie ein Triumphator schritt er hinter dem Sarge des einzigen Kindes. Das Gefolge fast um Kopfeshöhe überragend, schien er, wie sein Name sagte, wirklich ein Simson, mit den breiten Schultern, den kräftigen Gliedmaßen, der Fülle schlichten, schneeweißen Haares, das sorgfältig aus der Stirn gestrichen und durch einen Kamm im Nacken festgehalten, auf den Kragen des blauen Tuchrockes niederfiel. Ein Trauerflor war am linken Aermel befestigt. Auch an dem dreikrämpigen Hute wehten schwarze Bänder, ein Rosmarinzweig steckte im Knopfloch der dunklen Weste. Hohe Stiefel über den braunen Lederhosen ragten bis über das Knie. Das große, blühende Gesicht mit den starken Backenknochen, der breiten geraden Nase, dem vollen Munde, dem noch kein Zahn mangelte, vollendeten das Bild dieses Musterbauern. Aus seinen klaren, hellblauen Augen leuchtete der Stolz: »Heute ist meiner Margarete Ehrentag und ich, ihr Vater, habe ihn ihr ausgerichtet.«

Man setzte den Sarg vor dem Altar nieder; die Orgel ertönte, und die Gemeinde fiel ein in »Jesus, meine Zuversicht;« der alte Oberweg sang ohne Buch aus dem Gedächtnisse; seine kräftige Baßstimme übertönte alle übrigen. Dann hielt der Prediger eine einfache Rede zum Lobe der Geschiedenen; man fühlte, er selber war bewegt bei seinen Worten, er hatte die gekannt und werth gehalten, deren Andenken er pries, wenngleich er ihr Schicksal nur leise und schonend berührte. Kein Auge blieb trocken, als er das letzte Amen sprach und der Schulmeister die Fallthür öffnete, welche in das Freiherrlich von Saldeck'sche Erbbegräbniß führte. Die Treppe war steil und schmal, so daß man zweifelte, den schweren Sarg hinunterzubringen, ohne ihn zu erschüttern. Da trat der alte Hans Simson vor und einem Nachbarn aus seinem Dorfe zurufend:

»Kilian, saß an! wir Beide vermögen's!« lud er das Kopfende auf seine Schultern, trug, vorangehend, ohne Schwanken und ohne Anstoß sein einziges Kind die steile Stiege hinunter in die Gruft und gab ihm seinen Platz an der Seite des Gatten, des letztverstorbenen Freiherrn, Dietrich Georg von Saldeck, wie die Platte auf seinem Sargdeckel zeigte.

»Der Herr hat sie gegeben, der Herr hat sie genommen,« sagte er laut, betete leise ein Vaterunser und stieg ruhig die Treppe zur Kirche wieder hinauf, um die Geschäfte dieses großen Tages fortzusetzen. Der Prediger folgte ihm; er ließ mit Absicht den Knaben allein am Sarge der Mutter zurück, denn er fühlte, daß es ihm Noth that, seinen Jammer still und unbemerkt auszuweinen.

Und sobald er allein war, warf sich der Arme auch über den Sarg, umklammerte, küßte ihn; »o, meine Mutter!« rief er, »meine liebe, liebe Mutter!« und weinte bitterlich. Er drückte seinen Kopf fest auf die Bretter, das lange, hellbraune, lockige Haar hing an beiden Schläfen nieder wie ein Schleier, der ihn von der übrigen Welt trennte. Ihm däuchte, er läge wieder, wie als Kind an dem Herzen seiner Mutter, er fühlte eine sanfte Ruhe über sich kommen, ja, ihm wurde fast wohl und nach den letzten Tagen schmerzhafter und geschäftiger Aufregung hätte die stille Kühle des Gewölbes ihn einzuschläfern vermocht. In diesem Zustande halber Betäubung war es ihm plötzlich, als spüre er die Nähe eines lebenden Wesens; eine warme Hand legte sich leise auf seinen Kopf und strich über seine Locken, wie einst die Mutter es zärtlich zu thun pflegte. Bebend, schaudernd, fuhr er empor und eine Gestalt stand vor ihm, halb Kind, halb Jungfrau, die er mit ihren großen, ernst auf ihn gerichteten Augen, in ihrem weißen Gewande, in der dämmrigen Stille dieses heiligen Ortes für einen Engel hätte halten mögen.

»Wer bist Du?« fragte er leise und zitternd.

»Meine Mutter liegt hier neben der Deinen,« antwortete das Kind, »ich heiße Luitgard von Saldeck.«

Ihre Stimme klang tröstend in das Herz des trauernden Sohnes; die Verhältnisse seiner Familie waren ihm nicht fremd, er fühlte einen verwandten Zug zu dem ernsten, theilnehmenden Kinde.

»Wir wollen oft mit einander hinuntergehen und unsere Mütter besuchen,« fuhr sie nach einer Weile fort, in welcher er, stumm ihre Hand haltend, vor dem Sarge gestanden hatte; »aber jetzt steige mit mir hinaus armer Knabe, es ist dumpf und schwül hier unten; Du zitterst, es thut Dir nicht gut.«

Der Ton mütterlicher Sorgfalt, so im Widerspruch mit der Jugend des Mädchens, mahnte den Verwaisten von neuem an den Verlust der einzigen, fürsorgenden Seele, die über ihn gewacht hatte. Seine Thränen strömten immer von neuem, er konnte sich nicht von dem theuren Platze trennen.

»Wie gut muß Deine Mutter gewesen sein, daß Du so um sie weinst!« sagte seine kleine Trösterin, während er laut bei dieser Erinnerung schluchzte; »aber,« fuhr sie nach einer Pause fort, »hast Du denn keinen Menschen, den Du lieb haben darfst, außer ihr?«

Er schüttelte traurig den Kopf.

»Keinen Vater?« fragte Luitgard; er wiederholte die vorige Bewegung.

»Keinen Bruder, keine Schwester?«

»Niemand, niemand!« schluchzte er.

»So habe mich lieb, armer Knabe,« rief sie entschlossen, »ich, ich will Deine Schwester sein!«

Er sah ihr betroffen in das Gesicht.

»Wie heißt Du?« fragte sie.

»Georg – Oberweg,« antwortete er zögernd.

»So komm, Georg,« sprach sie, seine Hand ergreifend, »ich werde Deine Schwester sein.«

Sie stieg leise die Treppe hinauf, ihn halb unwillkürlich nach sich ziehend; oben ließ sie geräuschlos die schwere Fallthür nieder, durchschritt an seiner Hand die Kirche und trat in den gefüllten Hof, wo Simson Oberweg eben im Begriff war, den Ehrentag seiner Tochter mit der ersten und einzigen Rede seines Lebens zu feiern.

Nicht nur die Thaler, auch die Worte schienen dem knapplebigen Alten heute flott geworden zu sein. Als er nach dem Versenken des einzigen Kindes über die Kirchenschwelle schritt, strahlte sein Gesicht von einer Freude, wie er sie noch niemals im Leben empfunden. Er wußte, er hatte das Seinige gethan und es war ihm Großes gelungen. Dem Pfarrer die Hand schüttelnd sagte er:

»Schönen Dank, Herr Pastor, für die Ehre, die Sie meiner Tochter angethan haben. Das Herz im Leibe lacht mir bei der Vorstellung, was sie sagen wird, wenn sie dort oben von Gottes Thron die Stelle sieht, auf der ihre armen Gebeine nunmehr in Frieden ruhen und wie sie ihrem alten Vater danken wird, dem das Alles so brav geglückt ist.«

Der Gerichtshalter trat in diesem Augenblicke zu ihnen heran und sagte nicht ohne Verlegenheit, indem er dem neuen Herrn das Kaufdocument zurückstellte:

»Nichts für ungut, Herr Oberweg, wegen meiner Grobheit von vorhin, aber wer konnte denken –«

»Daß der alte Bauer,« fiel dieser langsam, jedes Wort betonend ein, »den Sie mit seinem Kinde von der Schwelle dieses Hauses weisen thaten, Herr Gerichtshalter, weil eine Bauerntochter nicht das Recht habe, ein ehrbares Wittwenkleid um ihren adligen Eheherrn zu tragen, daß der alte Bauer nach einem Mandel Jahre als Ihr Gerichtsherr über diese nämliche Schwelle einziehen werde? Gelt, das klingt spaßig, Herr?«

»Alles wechselt unter den Menschen,« versetzte begütigend der Prediger, »auch das Recht; die Gesetze werden menschlicher und besser.«

»Weiß wohl,« erwiederte der Alte, »weiß wohl, daß es ehemals Rechtens also war, und daß der Herr seine Schuldigkeit gethan nach dem Gesetz. Hab's ihm auch just nicht übel genommen zu der Zeit. Halten Sie nun aber auch brav auf das was jetztunder gilt, Herr Gerichtshalter, da wir eine neue Ordnung haben und schlagen sich das aus dem Sinne was ›selt‹ liegt,« fügte er, mit der Hand über seinen Rücken deutend, hinzu.

»Nun, ich hoffe, daß wir gute Freunde werden sollen, Herr Oberweg,« versetzte der Mann des Gesetzes; »ich habe alle Zeit auf das Recht der Herren gehalten, deren Stelle ich zu vertreten hatte. Das Gesetz giebt der Landesherr; der Richter urthelt danach es geschrieben steht, gleichviel ob's ihm gefällt oder nicht.«

Er wendete sich darauf zu dem Prediger, um das Gespräch auf eine andere Bahn zu lenken und fuhr fort:

»Sie sollten einmal hinübergehen, Herr Pastor, und sehen ob Sie den alten Baron nicht auf andere Gedanken bringen können. Seit er den Wechsel der Dinge hier oben erfahren hat, will er partout das Gut noch heute verlassen und denkt nicht daran, daß, wenn er seinen Vorbehalt im Stiche läßt, er wenig mehr zu brechen und zu beißen haben wird.«

»Warum will er das?« fragte der alte Oberweg mit großer Gelassenheit; »ich werde ihn nicht molestiren und ich könnte es auch nicht, denn die Sache ist richtig verclausulirt. Es soll ihm kein Erdapfel von seinem Auszuge abgehen, und um seinen Garten mag er sich eine Mauer bauen lassen, wenn er den alten Bauer nicht sehen will, der ihm sein Rittergut abgehandelt hat. – Und nun, ihr Nachbarn!« – rief er, hochaufgerichtet unter die Bauern tretend, die sich noch immer um ihn drängten und ihn betrachteten wie ein Wunderthier, während Gerichtshalter und Pastor langsam dem Thore zuschritten: »Nachbarn, seht's und merkt's Euch, wie der Bauer ein Herr wird! Arbeiten muß er und seine Stunde abpassen. Dazumalen, da meine Grete, die Eure Gutsfrau war von Gottes und Rechtswegen und ihrem Eheherrn vor dem Altare christlich angetraut, dazumalen, da sie, ein Lebendiges unter ihrem armen Herzen, zitternd und zagend aus diesem Thore ging, weil ihr leiblicher Schwager ihr hatte kund thun lassen, daß Bäuerinnen nicht Edelfrauen werden und Bauernkinder nicht Edelhöfe erben könnten, da nahm ich meine Grete unter den Arm und sagte: ›Halt stille, mein' Tochter, der alte Gott lebt noch im Himmel und Dein alter Vater auf Erden, die werden's schon machen!‹ Und sie haben's gemacht. Mein Vater selig, es wird ihn Keiner mehr gekannt haben unter Euch, war Großknecht hier auf dem nämlichen Schlosse, wo ich nun der Herr bin. Er hatte brav gearbeitet und gespart und mir die schöne Wirtschaft in Mittwerben hinterlassen, die ich, weiß Gott, nicht in meinen alten Tagen im Stiche gelassen haben würde, wenn's nicht um meine Grete gewesen wäre und um ihre Ehre. Seitdem hat der Herr nicht aufgehört, mein Haus zu gesegnen; unser Dorf lag im Schutz vor dem Kriege, kein Halm ist uns zertreten, kein Sparren verbrannt worden; ich konnte es freilich nicht einsehen, warum just mir die Wohlthat vor den Anderen, die zu Grunde gingen, aber der dort oben wußte es. Und nun mit einem Schlage hat sich's geändert in der Welt; die Reihe kommt jetzt an uns, an die Bauern, Kinder, auf die dürren Jahre folgen die fetten, das ist des Herrn Ordnung. Denn warum, he? Weil wir arbeiten können, brav arbeiten; und wer am längsten arbeitet, lebt am längsten, das ist mein Spruch; damit bin ich Euer Herr geworden. Ich hätt's erstreiten können alleweile bei dem neuen Regiment. Ich hätt's meinem Enkel erstreiten können, sie sagten's Alle, die Advocaten in der Stadt, aber 's wäre langweilig geworden, ich hätt's nimmer erlebt, und meine Grete vielleicht auch nicht, und sie wollte nichts davon wissen, und, und – kurzum so machte sich's schneller und besser. Freilich, daß es so jählings mit ihr auf die Neige gehen sollte, hätt' ich mir nicht schwanen lassen. Wie ich ehenächstens heim komme aus der Stadt, wo ich den Handel richtig gemacht, und vor ihr Bette trete, und ihr die Urkunde zeige mit dem großen königlichen Insiegel, und zu ihr sage: ›Sieh, mein' Tochter, nun kannst Du in Frieden schlafen gehen, denn Deine Gebeine werden neben Deinem Eheherrn liegen und Dein Sohn wird künftig in seiner Väter Erbe hausen,‹ da lächelt sie noch einmal, wie die Mutter Gottes drüben über dem Altare in der Kirche, da der Engel ihr ansagt, daß sie den Heiland zur Welt bringen werde, und drückt mir noch einmal herzhaft die Hand, und blickt in die Höhe und – weg war sie, meine Grete, mein einziges Kind!«

Eine Thräne stand in dem blauen Auge des alten Mannes, er fuhr mit dem Rücken der Hand über sein Gesicht, und setzte nach einer kleinen Stille seine Rede fort:

»Darum ist heute ihr Ehrentag, und wir wollen ihn feiern, Nachbarn, wie sie's verdient hat, die gute Frau. Ich konnt' es mir wohl vorstellen, daß ich hier oben nichts zu brocken und zu beißen finden würde, wenn ich käme; kaum Dach und Fach. Aber meine Muhme, die Marchristine, hat fleißig gebacken und gewirtschaftet gestern bei Tage und die ganze Nacht hindurch, und die gesammte Freundschaft hat ihr beigestanden. Nehmt vorlieb Nachbarn! Fehlt's an Tischen, dort in der Ecke lehnen Bretter und Pfähle, richtet sie auf wie's gehen will; holt die Bänke aus der Schule, laßt Euch schmecken was da ist, ich lade die ganze Gemeinde zu meiner Tochter Ehrenschmaus!«

Im Nu waren hundert Hände bereit, die nötigen Anstalten zu treffen; Pfähle wurden eingerammt, Bretter darauf gebunden und genagelt, aus Schenke und Schule die Bänke herbeigetragen; ein Jeder brachte aus seinem Hause was er an Schemeln und Stühlen, an Krügen, Tellern und Löffeln besaß. Die Marchristine und ihre Mittwerbener Gehülfinnen hatten indessen die Körbe von den Wagen gehoben und packten aus; da gab es hohe und breite Kuchen, goldglänzend von Saffran und schwarzgesteckt mit großen und kleinen Rosinen, da gab es noch edleres Gebäck von gelbem Matz und grauem Mohn, Leibkuchen der Gegend, die für die Kuchengegend Deutschlands gilt, da gab es Schinken und Würste, gebratene Schweinskeulen und gebackene Pflaumen. Nur der Kalbskopf fehlte mit der Brühe von Majoran, der sonst bei Leichenschmäusen eine Ehrenrolle spielt; man mußte diesen Mangel der Eile und den Umständen zu gute halten. Im Uebrigen hatte Vater Oberweg nichts gespart, um diesen wichtigen Tag zu verherrlichen. Das Bier floß, so lange einer Durst hatte, an Branntwein war kein Mangel und für das vornehmste Leichengefolge wie für den Herrn Pastor gab es sogar Wein von des alten eigenem Gewächse, der als der beste Weinzüchter in der Gegend berühmt war. –

Der Prediger hatte den Gerichtshalter vorangehen lassen und war unter der Pforte stehen geblieben, dem unerwarteten Redeflusse seines neuen Patrons Gehör gebend.

»Wie doch die Fluth hochauf schießt,« sagte er zu sich selbst, »die im Herzen des Volkes verborgen ruht, sobald einmal das Schicksal den Bohrer anlegt und dem Quell eine Oeffnung giebt!«

Der Prediger war ein weißer Sperling unter seinen protestantischen Amtsbrüdern – er hatte keine Frau. Die Mütter von Saldeck munkelten, daß er als junger Substitut ein Auge auf die selige Margarete, die Ausgeberin des ehemaligen Gutsherrn, geworfen habe, ehe dieser selber sein Wohlgefallen an der schönen Dienerin und seine Zufriedenheit mit ihrer Wirtschaftsführung durch eine Heirath mit ihr bekräftigte. Ja, die Frau Schulmeisterin, ein weiblicher Polyhistor in der Gemeinde, ließ es sich nicht nehmen, daß später der nun in Amt und Würden stehende Herr Pastor der jungen Wittwe seine Hand angetragen, aber einen Korb erhalten habe. Wir wissen nichts Genaueres von den stillen Wünschen und Entsagungen dieses geistlichen Herzens; nur daß es warm und jung geblieben war wissen wir, und daß sein eng scheinender Beruf es mit jedem Tage erweiterte. Für seine Gemeinde aber war es eine Wohlthat in den Jahren der Kriegsdrangsal, daß einer unter ihr lebte, der keine näheren Sorgen und Pflichten hatte als die ihren, und der ihr Rather und Helfer in geistlicher, wie in leiblicher Noth zu werden vermochte. Er predigte nicht nur, lehrte, traute, taufte seine Gemeindeglieder, sondern er war, auch ihr Arzt und Chirurg, ihr Baumeister und Gärtner geworden, war Weinzüchter und Bienenvater. Und wie die Verhältnisse aus dem blassen Stubengelehrten einen praktischen Mann gebildet hatten, ohne ihm die stille Liebe zu den Büchern abzustreifen, so sehen wir neben dem Allen ihn auch noch als Lehrer und Erzieher der Tochter seines Patrons, der kleinen Luitgard von Saldeck.

Eben bemerkte er das liebe Kind, wie es Hand in Hand mit dem verwaisten Knaben unter einer alten Linde stand und mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Rede des Großvaters horchte. Er selber hatte Sorge getragen, daß die kurze, tragische Episode, welche die Tochter des Bauern aus dem Schlosse ihres Gatten entfernte, dem jungen Mädchen fremd geblieben war. Niemals hatte man je derselben im Herrenhause wieder erwähnt, und Luitgardens Leben war von dem Vater so streng geregelt, nach Außen so abgegrenzt, daß sie selten aus der Umhegung ihres Hauses trat und den Dorfbewohnern fast eine Fremde schien. Ueberdies lebte der Domherr auch erst auf dem Gute, seitdem die Zeitverhältnisse sich völlig friedlich gestaltet hatten und jener Zwischenfall schon halb vergessen war. Bis zu dem Tode seiner Gemahlin hatte er die Stadt bewohnt, in welcher seine Vorfahren als Pröbste und Dechanten eine reiche Stiftspfründe bezogen und eine stattliche Curie gleichsam als eigenen Palast bewohnt hatten. Herr von Saldeck rechnete noch immer auf eine Wiederbelebung des ehrwürdigen Domcapitels und seiner eigenen Ansprüche an dasselbe, nachdem die fremde Herrschaft ihr Ende erreicht. Einstweilen schützten ihn die Trümmer des väterlichen und brüderlichen Vermögens, wie eine Leibrente, welche seine Gemahlin aus Familienstiftungen bezog, vor dringendem Mangel. Nach seiner Uebersiedlung nach Saldeck beschränkte sich sein Hausstand auf den alten Kutscher und Diener, die wir schon kennen lernten und auf Luitgardens ehemalige Kinderfrau, welche in ihrer Person das ganze weibliche Dienstpersonal der Familie vereinigte. Alle drei hatten sich mit der Zeit nach dem Bilde ihres Herrn gemodelt, verkehrten nur in Geschäften und mit vornehmer Herablassung mit den Bauern des Dorfes, selbst mit Schulmeister und Pächter und sahen in ihrem Herrn und seiner Tochter Wesen einer höheren Ordnung, für welche sie geboren waren, zu schaffen und zu sorgen. Wo sind sie hin, diese Leibdiener und Kindermuhmen? Ach, im naturgemäßen Zusammenhange mit den zweiunddreißig Ahnen ihrer Herren sind sie eine Rarität geworden, bald werden sie, wie diese, eine Fabel sein!

Der Prediger sah mit Besorgniß, welchen Eindruck die Rede des Bauern auf seine junge Schülerin gemacht hatte; er ging deshalb auf sie zu und sagte: »Lassen Sie uns zu ihrem Vater gehen, mein Kind, er wird Sie vermissen.«

Sie ließ mechanisch die Hand des Knaben los und folgte dem Lehrer; an der Pforte aber blickte sie sich noch einmal nach dem Alten und seinem sich langsam aus dem Getümmel entfernenden Enkel um, dann blieb sie stehen und ihre großen, braunen Augen angstvoll auf den Prediger heftend, fragte sie mit zitternder Stimme:

»Was wollte der alte Mann? Haben Sie verstanden was er sagte, und wen er meinte, Herr Pastor?«

»Fragen Sie nicht,« antwortete der Prediger ablehnend, »fragen Sie nicht nach Verhältnissen, mein Kind, die Sie bei Ihrer Jugend und Abgeschiedenheit gar nicht oder nur falsch würden beurtheilen können. Weil Sie aber ernstere Gedanken haben als sonst Mädchen Ihres Alters, liebe Luitgard, so nehmen Sie in dieser Stunde eine vielleicht letzte Lehre von mir an, eine Lehre, welche die Grundlage jedes gerechten und gütigen Lebens bildet, und welche Sie in dem Ihren mehr als viele Andere zu berücksichtigen haben werden. Beurtheilen Sie einen Menschen immer nur nach dem Rechte, das er selber anzuerkennen im Stande ist; verlernen Sie aber niemals nach jenem zu handeln, das in Ihrem eigenen Gewissen geschrieben steht, und das die heiligste Offenbarung zum Gesetz erhoben hat.«

Sie traten nach diesen Worten in das Haus und fanden den Freiherrn in Gesellschaft des Gerichtshalters mit lebhaften Schritten in seinem Zimmer auf und niedergehend. Er sah sehr blaß aus, seine große, gebogene Nase trat noch schärfer hervor als gewöhnlich, ja es schien, als ob die Blatternarben seines Gesichtes sich noch deutlicher markirten. In den tiefliegenden, grauen Augen glänzte eine ihnen fremde Aufregung. Von Zeit zu Zeit gab er dem alten Diener einen Befehl, welcher auf die Auflösung seines hiesigen Hausstandes Bezug hatte, und dieser ging feuchten Auges aus dem Zimmer, um seine Ausführung zu betreiben und so schnell als möglich, neuer Weisungen harrend, zurückzukehren. Luitgard stand wie im Boden gewurzelt. Zum ersten Male durchbebte sie eine Ahnung von der Natur ihres Verhältnisses zum Vater; sie fühlte eine unüberwindliche Scheu, sich ihm zu nahen und ein Zweifel begann sich zu regen, daß es nicht Ehrfurcht allein gewesen sei, die bisher eine so strenge Schranke zwischen ihnen gezogen.

Sobald Herr von Saldeck ihrer ansichtig ward, sagte er:

»Hast Du etwas über das Verpacken Deiner Sachen anzuordnen, Luitgard, so geh und sprich mit Frau Nolle; Du wirst Dich einige Tage ohne ihre Dienste behelfen müssen, da wir noch in dieser Stunde abreisen und sie erst hier mit Andreas den Umzug besorgen wird, ehe sie uns nachkommt.«

Luitgard entfernte sich und fand ihre alte Muhme schon in voller Thätigkeit des Einpackens, unter Koffern und Kisten am Boden kniend. Wäsche, Betten, Bücher, Kleidungsstücke und allerlei Hausgeräth lagen auf Tischen und Stühlen ausgebreitet. Beim Anblick ihres geliebten Pflegekindes brach die gute Alte in Thränen aus und mit einer Vertraulichkeit, die sie sich, wenn außer den Augen des Vaters, noch immer nicht versagen konnte, umarmte sie ihre Kleine, herzte und küßte sie und rief mit schluchzender Stimme:

»Ach, daß Gott erbarm', mein Lämmchen, was soll daraus werden, wenn der gnädige Herr auf seinem Vorhaben bestehen? Sie wissen ja selber nicht, wie sie daran sind, der Herr Papa, sie sind viel zu großartig für solche Dinge. Aber ich weiß es und Andreas, Gott sei's geklagt! Gehen Sie hinüber, Fräuleinchen, fallen Sie ihm zu Füßen, beschwören Sie ihn, daß sie sich nicht um den alten, einfältigen Bauer scheeren und hier in Saldeck wohnen bleiben!«

»Aber was ist denn geschehen, Muhme,« fragte Luitgard, »wohin will denn mein Vater?«

»Wohin? Der Himmel weiß es. Er hat keinen Platz, wo er sein Haupt hinlegen könnte, der unglückliche Mann. Aber fragen Sie nicht, halten sich nicht auf, Luitgardchen, es ist die höchste Zeit, der Veit spannt schon an unten im Stalle. Ach Du meine Güte, was soll das geben, was soll das geben?«

So jammerte sie vor sich hin, während sie die Falten von Luitgardens Kleidern sorgfältig auseinanderstrich und Knöpfe und Haken gewissenhaft mit Papier umwickelte. Luitgard aber trat leise in ihres Vaters Zimmer zurück, der noch immer in heftiger Unterredung mit den beiden Herren im Zimmer auf und niederschritt. Seine Erregung war so groß, daß er ihr Hereinkommen gar nicht bemerkte. Sie glitt ungesehen in eine der tiefen Fensternischen und hörte hier – es schien eine Stunde allseitiger Offenbarungen, mit athemloser Spannung ihren verschlossenen Vater zum ersten Male sprechen, wie es aus seinem Herzen kam.

»Sie können mir nicht im Ernste zumuthen, Herr Pastor,« sagte er, »unter den hochmüthigen Blicken dieses Mannes zu leben, der sich einbilden würde, feurige Kohlen auf meinem Haupte zu sammeln, wenn er mich in seinem Eigenthume duldet.«

»Sie verkennen unseren Bauer, Herr Baron,« fiel der Gerichtshalter ein, »er denkt nicht an Großmuth; er verlangt sie nicht und er übt sie nicht. Seine Leidenschaft ist das Recht. Für sein Recht, für einen Fußbreit Wiesenrain, für eine hohle Weide an der Grenze seiner Flur verstreitet er eher seinen letzten, lieben Thaler, als daß er sie einem Nachbar gönnen würde. Simson Oberweg hat aber niemals bezweifelt, daß Sie im Rechten waren, Herr Baron, als Sie handelten, wie das Gesetz Ihnen gestattete, sonst würde er Sie nicht Jahrelang unangefochten in Ihrem Besitzthum belassen haben.«

»Gleichviel!« entgegnen Herr von Saldeck, »er wird das Gesetz von heute dem Gesetze von gestern entgegensetzen und mich wie einen Abhängigen betrachten und behandeln.«

»Das wird er nicht, Herr Baron,« versetzte der Mann des Gesetzes. »Der Vorbehalt, den Sie sich unantastbar gerichtlich festgestellt haben, wird von dem alten Oberweg heilig gehalten werden, und so wenig er sich dazu verstehen würde, denselben auch nur in die kleinste Rente in baarem Gelde umzuwandeln, oder eine Handvoll Erbsen oder Gerste zuzufügen, zu welcher er nicht verpachtet ist, so wenig wird es ihm je einfallen, dieses Haus als sein Eigenthum zu beanspruchen oder zu benutzen.«

»Und ich möchte Ihnen dafür bürgen, Herr Baron,« fiel hier der Prediger dazwischen, »daß Sie in diesem Hause so unbeobachtet, so als eigner Herr schalten und walten können, als läge es meilenweit von dem Sitze des gegenwärtigen Eigentümers entfernt. Wenn der Herr Gerichtshalter im allgemeinen unseren Landmann richtig genug gezeichnet haben mag, so erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß Herr Oberweg außer diesem bäurischen Rechtssinn bis zu einem gewissen Grade noch einen Zartsinn besitzt, der sich in der vollständigsten Discretion gegen Ihre Person und Ihre Umgebungen äußern würde.«

»Desto schlimmer!« rief der Baron gereizt. »Sie wollen mich von der Delicatesse dieses alten Bauern abhängig, wollen sich wohl gar anheischig machen, dieselbe Schonung mit der Zeit auf alle Ihre Gemeindeglieder zu übertragen – ich danke Ihnen, Herr Prediger, ich danke Ihnen viel tausendmal!«

Die beiden Herren schwiegen; ihre Argumente, vielleicht auch ihr guter Wille, waren erschöpft. Der Baron ging noch immer in leidenschaftlicher Wallung auf und nieder. Nach einer Weile blieb er vor dem geistlichen Herrn stehen und bot ihm die Hand. Er schien ruhiger geworden und seine vorige Bitterkeit begütigen zu wollen.

»Ich danke Ihnen, Herr Prediger,« sagte er. »Sie meinen es gütig, mit meiner Tochter mindestens, ich weiß es. Aber Sie verstehen mich nicht. Verzeihen Sie das herbe Wort in der Stunde der Trennung, aber meine Rechtfertigung liegt in ihm, Ihren Ansichten gegenüber, die von Ihrem Standpunkte aus vernünftig und wohlwollend sind: kein Mensch kann verstanden werden außer von seines Gleichen, und nur ein Edelmann kann fühlen, wie ich bei dieser Wendung der Dinge fühlen muß. Das ist auch der Grund, aus welchem ich meine Handlungsweise niemals mit Ihnen besprochen habe. Ich wußte, wie Sie im Herzen über mich urtheilen. Aber hätte ich Sie wohl überzeugen können, daß ich nicht aus Egoismus, nicht aus Haß und Grausamkeit, nicht aus Leichtsinn, am wenigsten aber aus Eigennutz that, was ich that? Unsere Besitzungen waren schon damals, bei meines Bruders Tode, so verschuldet, daß ich wohl einsah, nur ein tüchtiger und sparsamer Landwirth könnte sie mit angestrengter Arbeit nach und nach wieder in die Höhe bringen. Ich selbst verstand nichts von der Landwirtschaft und liebte sie nicht. Ich hatte nach einer fünfzehnjährigen, kinderlosen Ehe keine Aussicht auf einen Erben; meine Tochter wurde erst später geboren; ich wußte, daß unser Stamm und Name nur in dem Sohne meines Bruders erhalten werden konnten. Ich begriff die Neigung meines Bruders zu der schönen und tätigen Bäuerin; ich schätzte sie um mancher löblichen Eigenschaft willen und wäre ihr Sohn meines Bruders Bastard gewesen, zweifeln Sie nicht, daß ich mich nach Kräften seiner angenommen haben würde. Aber ich durfte nicht dulden, daß ein tausendjähriger Grundsatz in meinem Geschlecht, vor seinem Erlöschen durch meine Schwäche angetastet wurde, und wie mein Vater diese Ehe niemals anerkannt haben würde, so mußte ich handeln nicht wie der Erbe, sondern wie der Betraute eines unveräußerlichen, moralischen Familienschatzes, mußte unsere Ehre unbefleckt zu Grabe tragen lassen. Es war schon damals ein Kampf der Notwehr des Einzelnen gegen die Massen; es wäre feige gewesen, unter meinen Augen im Kleinen ein Unheil gewähren zu lassen, das im Großen mein Zeitalter in Flammen setzte, ein Unheil, an welchem, ich sehe es, unser Stand, Staat und Altar, an welchem Europa zu Grunde gehen wird. Ich und die Meinen sind in diesem Kampfe unterlegen; Gottlob, daß ich alt bin und keinen Sohn habe, der das Aergerniß künftiger Tage erlebt; wo jede Schranke gebrochen, die letzten Höhen nivellirt, die Gesellschaft verflacht, entlaubt, entwässert wie unsere Berge, ein großer kahler Gemeinplatz werden wird.«

Man hörte in diesem Augenblicke den Wagen vorfahren und Luitgard schlich sich leise, wie sie gekommen, aus ihrem Versteck. Sie flog die Treppe hernieder, ihre Glieder bebten, ihr Herz klopfte hörbar, die Wangen waren hochgeröthet. Georg lehnte unter der Pforte des Hofes; er war dem Wagen gefolgt, der ihm seine junge Freundin entführen sollte. Da plötzlich stand sie wieder vor ihm, faßte seine beiden Hände, blickte mit ihren großen, ernsten Augen in die seinen und sagte mit vor Hast zitternder Stimme:

»Du heißt nicht Georg Oberweg, ich weiß es, wir haben einen Namen, und ich, Georg, ich will Deine Schwester sein!«

Mit kindlicher Heftigkeit schlang sie die Arme um den Hals ihres jungen Verwandten, küßte ihn auf den Mund und ließ die Spur einer heißen Thräne auf seinen Wangen zurück; dann lief sie eilig zu dem Wagen zurück, an welchem Frau Nolle mit Hut und Reisemantel ihrer wartete. Ihr Vater erschien in diesem Augenblicke, drückte den beiden begleitenden Herren zum Abschiede die Hand und stieg in den Wagen. Seine Tochter folgte ihm. Er ließ die Scheiben nieder und drückte sich tief in eine Ecke. In langsamen, sicherem Schritte führte das alte, vergoldete Gehäuse auf dem Wege über die Höhen Vater und Kind aus dem Erbe ihrer Väter, während der Gerichtshalter mit dem Prediger langsam in den Hof zurückkehrt, um an dem Ehrenschmause der todten Bauerntochter Theil zu nehmen, deren Sohn aber still in den einsamen Garten trat, sich einen schattigen Winkel suchte, und unter heißen Thränen den Schmerz der jüngsten Tage und den tröstenden Engel der jüngsten Stunde an seiner Seele vorüberziehen ließ.

*


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