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Fünftes Capitel.
Laurentia in ihrer Herrlichkeit.

So war denn die arme Aschenbrödel von Kettenburg über Nacht eine Herrin geworden; sie war reich, unabhängig, frei in allem Lassen und Thun, konnte anordnen, befehlen; Vater und Schwester lebten abhängig von ihrer Güte in ihrem, Laurentia's, gräflichem Schlosse. Wenn die häßliche Erbin heute in eigner Carrosse, mit oder ohne Federbarett, über die Brücke der Nachbarstadt gefahren wäre, sie würde nicht verlacht und beleidigt, sondern vielleicht bescheidentlicher gegrüßt worden sein als selber ihre Schwester, die schöne Rose von Hochberg.

Aber unsere Erbin fuhr nicht in eigner Carrosse und überhaupt nicht über die Brücke der Stadt, sie wollte nirgend und von niemand gegrüßt sein und kein Roman hat je eine so uneigennützige Heldin gehabt als diese unsere wahrheitstreue Geschichte. Ja, diese Heldin hätte ihr Schloß und ihre Schätze, Freiheit und Herrlichkeit ohne Bedenken hingegeben für einen einzigen Liebesblick aus dem Auge ihres unglücklichen Vaters, für eine Stunde ausschließlicher, dankbar empfundener Pflege an seinem Krankenbette.

Stimmung und Lage dieses Mannes waren die beklagenswerthesten. Es gehört nicht in den Bereich unserer Darstellung, auf welche Weise Leichtsinn und Leidenschaft seine Verhältnisse bis zum Aeußersten erschüttert hatten; genug, wenn wir berichten, daß er am Tage der geschilderten Entscheidung ein Bettler war, und daß die Täuschung, welche ihm aus derselben hervorging, ihn zu Boden schmetterte wie ein Blitz aus heiterer Luft. Und nun zu diesem Zerfall seiner äußeren, bis dahin so glänzend scheinenden Angelegenheiten, die Kränkung scharfen Tadels und Mißtrauens, welche der letzte Wille der einzigen, hochangesehenen Schwester im Angesichte des Todes ausgesprochen hatte, nun Reue und Selbstanklage im Hinblick auf die unbeschützte Lage des schönen Lieblingskindes, die Demüthigung der Abhängigkeit von der vernachlässigten, schwer beleidigten Tochter: dieser Zusammenstoß nagender Vorstellungen mit der qualvollen Aufregung des gestrigen Abends überwältigte seine starke Natur und entzündete eine Krankheit, welche ihn Monate lang ohnmächtig an das Lager fesselte und jeden Augenblick seiner Pflegerin Sybille in Anspruch nahm.

Laurentia war weit davon entfernt, die Natur dieser Qualen zu verstehen, ja nur zu ahnen. Wie sie, sorglos um reich oder arm, vordem an des Vaters Seite gelebt hatte, so fiel es ihr jetzt nicht ein, daß er sich als ein von ihr Abhängiger fühlen könne und daß, Testament und Klauseln zum Trotz, alles was ihr gehörte nicht zuerst und zunächst das Seine sei. Was hätte sie selbst denn mit dem Reichthume beginnen sollen, dessen Werth und Verwerthung ihr gänzlich unverständlich waren? Sie hörte es gleichgültig an, daß ihr Vater arm und verschuldet sei; sie fragte nicht wodurch, oder an wen; sie fand es in der Ordnung für ihn einzutreten und würde jedem sich vorstellenden Gläubiger ohne Prüfung gegeben haben so viel er verlangte, oder so viel sie im Augenblicke besaß, wenn nicht Sophie ihr ein Geschäft abgenommen hätte, in das jene sich niemals zu finden vermochte.

So begnügte sie sich denn damit, die Gelder, welche ihr von gerichtlicher Seite, wie von Inspector, Lehns- und Zinspflichtigen ausgezahlt wurden, vorschriftsmäßig in Empfang zu nehmen, darüber zu quittiren und dieselben alsbald zur Bestreitung des Haushaltes wie zur Regulirung der väterlichen Angelegenheiten in der Schwester oder Freundin Hände niederzulegen; für ihre eigne Person beanspruchte und verbrauchte sie nicht viel mehr, als zu der Zeit da sie das Federbarett ihrer seligen Mutter als mangelnde Straßentoilette verwendet hatte.

Die junge Pfarrerin dahingegen zeigte sich bei Ausübung der übernommenen Freundespflichten in ihrem eigentümlichen Element. Es hatte sich bald genug herausgestellt, daß die Kaufgelder des Kettenburgschen Familiengutes die größte Lücke des Deficits decken würden, und so vereinbarte sie sich ohne gerichtliches Einschreiten mit dem Reste der Gläubiger zu allmäligen Abschlagszahlungen aus den Hochbergschen Revenüen, wußte wucherische Forderungen klug und beherzt abzuschneiden und die Verwirrung weit schneller ins Klare zu bringen als man anfänglich hoffen durfte. Herr von Kettenburg hätte keinen scharfblickenderen und thätigeren Advokaten finden können, als den vor kurzem noch so schnöde getadelten, »superklugen« Zögling seiner Schwester.

Aber Herr von Kettenburg merkte wenig von den mühevollen Vorgängen seiner Umgebung; er erhob sich selten von seinem Lager; ein zehrendes Fieber trübte seinen Sinn und nur in einzelnen freieren Stunden wälzte sich wüst und verworren die Last des Elends in in seinem Kopfe hin und her. Sybillens fürsorgende Nähe war ihm zugleich Wohltat und Qual. Entfernte sie sich einen Augenblick von seinem Lager, so schien seine einzige Linderung gewichen; sah er sie dann wieder sanft und freundlich, Ruhe, wie jedes andere Bedürfniß opfernd, um ihn beschäftigt, dann stachelte ihn die Reue, dann wand er sich auf seinem Lager, dann schlug sein Herz zum Zerspringen unter der Anklage, das Schicksal dieses geliebtesten Wesens leichtsinnig verwahrlost, ihm die Aussicht auf Erfüllung seiner Herzenswünsche geöffnet zu haben und nun diesen Wünschen ein machtloser Bettler gegenüber zu stehen.

Sybille hatte auf diese Weise wenig Muße, sich mit ihren eignen zerstörten Lebenshoffnungen zu beschäftigen; des Vaters Pflege nahm alle ihre Kräfte in Anspruch. Levin kam unter den veränderten Verhältnissen seltener und nur zu kurzem Verweilen nach Hochberg. Ohne directe Erörterung wußten ja Beide, daß die ersehnte, so nahe und leicht geglaubte Vereinigung von jetzt ab nur auf seine eigne Kraft gestellt sei, daß er die Geliebte nicht früher als die Seine betrachten dürfe, bis er ihr ein selbstbereitetes Schicksal zu bieten habe. Dieses Schicksal kostete ihm das Opfer seines in friedlichen Zeiten wenig Aussicht bietenden Standes, es forderte lange, mühevolle Vorbereitung für einen neuen Beruf. Schon die Wahl eines solchen fiel schwer, und so kämpften beide Liebende zwischen Entsagung und strengen Entschlüssen.

Wir sehen demnach, seit der Willenseröffnung der reichen Tante anstatt des erhofften Segens einen Geist des Unbehagens, ja des Unglücks auf Schloß Hochberg einziehen. Die Unglücklichste von Allen aber war die begünstigte Laurentia. Ihre Gegenwart fiel dem Kranken unerträglich, ihr Anblick schien die demüthigendsten Vorstellungen, die schneidendsten Gewissensqualen in ihm zu erwecken, und fühlte er sich bei klarer Besinnung nur peinlich durch ihre Nähe beunruhigt, so kamen während seiner fieberhaften Aufregungen die wiederwärtigsten Empfindungen zum Ausbruch. Die arme Renzel erregte ihm Furcht und Entsetzen, er sah in ihr eine Drohgestalt, deren Entfernung er mit leidenschaftlicher Härte heischte, ja einmal, in Folge einer angstvollen Hallucination sprang er aus dem Bette und trieb mit wildem Toben seinen bösen Dämon aus dem Zimmer. Dazu kam, daß sie, in ihrer unbehülflichen Art und an Krankenpflege nicht gewöhnt, Geschick und Takt für dieselbe sich nicht anzueignen vermochte. Patienten lieben heitere, zuversichtliche Wärter; aber Laurentia erstickte fast in ihren Thränen, ihre Blicke hingen in fiebernder Angst an seinem Gesicht, die Hände zitterten; wollte sie einen Trank, ein Arzneimittel reichen, so verschüttete sie die Gabe, ließ den Löffel fallen, stieß in hastiger Ueberstürzung an Tisch und Stuhl, erregte Geräusch, Unruhe, Schreck, Unwillen, und wäre sie auch unter allen Umständen eine unleidliche Krankenwärterin gewesen, so raubte die sorgenvolle Liebe ihr hier den letzten Rest der Besonnenheit. Die beiderseitige Verzweiflung steigerte sich bei jedem erneuten Näherungsversuche und es blieb schließlich keine Wahl, als die trostlose Tochter ganz von dem Kranken fern zu halten.

Da lag sie denn schluchzend vor seiner Zimmerthür auf ihren Knien, lauschte am Schlüsselloche auf jede Bewegung, harrte von Minute zu Minute auf seinen Wink, auf ein liebreiches Wort aus seinem Munde.

»Laß niemand zu mir,« befahl der Vater mit scheuer Angst, »laß – sie – nicht zu mir, Sybille!«

»Laß mich zu ihm!« flehte die Tochter mit Thränen und Händeringen, »laß mich zu ihm, Sybille!«

Das arme Kind wußte keinen Rath, um diesen widersprechenden Anforderungen zu genügen und nach beiden Seiten eine Kränkung abzuwehren. Sophiens Einschreiten blieb immer ihre letzte Zuflucht.

Und in der That war Frau Sophie die Einzige, welche sich unter diesen Mißhelligkeiten durchzufinden und aufrecht zu erhalten verstand. Ihr scharfer Blick erkannte jederzeit das Geeignete und ihre Aufrichtigkeit scheute keine Aussprache. Ja, sie fand in der allseitigen Trüb- und Wirrsal sogar einen persönlichen Anlaß, der ihre muntere Stimmung steigerte, denn da der alte Pfarrer von Hochberg daran dachte, sich in den Ruhestand zu versetzen, so hatte sie gar schnell die Aussicht erfaßt, diese vorteilhafte Stelle ihrem Gatten zuzuwenden und künftig in unmittelbarer Nähe ihrer Freunde zu leben. Sie ließ sich daher gern bestimmen, ihren Aufenthalt in Hochberg zu verlängern, freute sich des Gedeihens ihres Knabens in ländlicher Luft, fühlte sich in angemessener, nützender Thätigkeit und war die einzig Zufriedene in dein ganzen Kreise.

Der Sommer war auf diese Weise vergangen, der October herangekommen; Sybille, von Sorge und Pflege erschöpft, schlich matt einher wie ein Schatten, Laurentia hatte ihren Vater seit Wochen nicht gesehen. Wieder lauschte sie eines Nachmittags in Angst und Sehnsucht an seiner Thür, als Sophie zu ihr trat und zum hundertsten Male vergeblich sie zur Ruhe und Vernunft zu weisen suchte.

»Vernunft, wenn mein Vater stirbt! – Vernunft, wenn mir das Herz bricht!« rief Laurentia händeringend. »Du machst mich wahnwitzig mit Deiner Vernunft! Laß mich zu ihm, nur ein einzig Mal laß mich zu ihm, Sophie!«

»Willst Du muthwillig seinen Zustand verschlimmern?« versetzte Frau Zeise halb gerührt, halb ungeduldig, »Du weißt, wie Deine Nähe ihn aufregt, liebes Kind.«

»Warum regt meine Nähe ihn auf? Warum verschlimmert sich sein Zustand bei meinem Anblick? Bin ich nicht sein Kind wie Sybille? Liebe ich ihn nicht wie sie? Mehr als sie? Ihn allein? Warum stößt er mich von sich, Sophie?«

»Bedenke die peinlichen Vorfälle die seiner Krankheit vorangingen, liebe Laura.«

»Er ist mein Vater; er hatte ein Recht, mich zu schelten, ich hatte ihn beleidigt. Ich hatte ihn beleidigt, ich bin die Ursache seines Elends, o Gott und er hat mir noch nicht vergeben!«

»Er sieht es anders, Laura; er fühlt seine Härte, die Reue quält ihm«

»Er soll Alles vergessen. Er soll mir sagen, daß er alles vergessen. Wenn er mich lieb hätte wie Sybillen –«

»Aber wer rechtet mit einem Fieberkranken, Kind? Laß ihn gesund werden und Alles wird ausgeglichen sein.«

»Er wird nicht gesund werden. Ich werde ihn nicht wieder sehen und ich, ich habe ihn dahin gebracht!« schluchzte die Unglückliche.

Der Arzt trat bei diesen Worten aus dem Krankenzimmer, Sophien einen Wink gebend, daß sie in demselben erwartet werde, Laurentia forschte ängstlich nach seinem Ausspruche.

»Die Krankheit ist gehoben,« antwortete er, »nur daß die Kräfte sich gar nicht wiederfinden wollen. Der Zustand erscheint fast räthselhaft: kein bedenkliches Symptom, aber diese verzehrende Unruhe! Nur die äußerste Schonung kann ihn erhalten.«

Damit entfernte er sich, das arme Mädchen in gesteigerten Qualen zurücklassend. Nur Ruhe konnte sein Leben erhalten. Hieß das nicht so viel, als sie mußte fern von ihm bleiben, die diese Ruhe störte, sie deren, ganze Seele nach seiner Nähe verlangte? Herr von Hohenheim, der Vater, befand sich seit einer Stunde in seinem Zimmer, auch Sophie war zu ihm beschieden worden. Die Fremden! Und sie, sein Kind, blieb verbannt!

Sie rannte in wilder Verzweiflung im Zimmer auf und nieder, ihre Hände waren krampfhaft geballt, sie raufte ihr Haar und stieß oder taumelte mehr als einmal mit dem Kopfe gegen die Wand. »Er liebt mich nicht,« ächzte sie. »Er wird sterben und ich, ich bin seine Mörderin!«

»Er wird nicht sterben, und er liebt Sie, Fräulein Laurentia,« hörte sie jetzt eine sanfte, kindliche Stimme an ihrer Seite sagen und fühlte sich leise und zutraulich bei der Hand gefaßt.

Es war Felix, der mit dem Vater gekommen und, in einer Fensternische des Vorzimmers nicht bemerkt oder vergessen, Zeuge dieses erschütternden Auftritts gewesen war. Thränen perlten in des guten Jünglings Augen; er drückte ihre Hand an sein Herz, streichelte ihre Wangen und tröstete sie mit den liebreichsten Worten: »Er ist krank, Fräulein Laurentia,« sagte er, »aber er liebt Sie, und wenn er wieder gesund wird, wird er es Ihnen sagen. Er hat Sie lieb, er muß sie ja lieb haben, weil sie so gut sind, Fräulein Laurentia.«

Und wirklich gelang es seinem freundlichen Zureden, den Sturm in ihrer Brust zu beschwichtigen, ja endlich, sie hinaus in den Garten zu locken. Ihn fragte sie nicht wie Sophien, warum der Vater sie nicht liebe; sie wußte, daß er ihr keine Antwort darauf hätte geben können. Er verstand selten ein Warum und niemals eine Verneinung des Herzens; er fühlte, daß man liebte, aber er begriff nicht, daß man nicht liebte und darum that seine Nähe der ungeliebten Laurentia so wohl.

So ging sie denn schweigend an seiner Seite und wurde allmälig durch seine kindlichen Plaudereien von ihrem Kummer abgezogen. Auch er klagte; nicht etwa um sie zu zerstreuen, sondern weil sein Herz voll war und er sich Einer gegenüber fühlte, die ihn verstand. Sein Vater hatte die Absicht, ihn einem Landprediger zu übergeben, der ein Pensionat als Vorschule des Gymnasiums unterhielt und, bewährten Rufes, untersuchen und versuchen sollte, welche Laufbahn sich für den ungelehrigen Jüngling schicken möchte.

»Aber was soll ich dort unter den Fremden, Fräulein Laurentia?« fragte er. »Könnte ich lernen wie die Anderen, ich hätte hier gelernt, Papa und Mama zu Liebe, die es wünschen. Ich habe mir auch Mühe gegeben, sehr viel Mühe, Fräulein Laurentia, aber ich kann diese fremden Worte und Zahlen nicht behalten. Der liebe Gott hat mir die Gabe nicht dazu gegeben. Und warum soll ich sie behalten, Fräulein Laurentia? Wem dient es, wenn ich sie behalte? Hat ein Mensch auf der Welt Freude an den Worten und Zahlen?«

»Aber Ihnen selber würde das Lernen dienen, Herr von Hohenheim,« versetzte seine Gönnerin, welche sich diesem Knaben gegenüber zu einer Art Mentorverhältniß zu erheben wußte. »Männer müssen lernen für einen Beruf in der Welt.«

»Ich werde niemals einen Beruf in der Welt haben wie die Anderen, Fräulein Laurentia. Ich bin bald neunzehn Jahr. Die Knaben, mit denen ich lernen soll, sind kaum zwölf und ich werde sie doch nicht erreichen. Meine Brüder waren schon Offiziere in meinem Alter, meine Vettern sind Studenten und Pastors Heinrich ist längst Lehrling bei einem Kaufmann in der Stadt. Aber ich – – –«

»Möchten Sie denn nicht Soldat werden wie Ihre Brüder, Herr von Hohenheim?«

»Soldat, Fräulein Laurentia? Da müßte ich ja schwören, in die Schlacht zu ziehen und alle Feinde todt zu machen, gegen welche man mich führt. Und ich kann nicht einmal einen Hasen schießen, Fräulein Laurentia.«

»Guter Mensch!« murmelte sie gerührt und fügte dann halb zweifelhaft hinzu: »Und studiren wie Ihre Vettern, Herr von Hohenheim?«

»Gesetze aus dicken Büchern studiren, Fräulein Laurentia? Wozu braucht man Gesetze, wenn man gut ist und seinen Heiland liebt?«

»Die Gesetze sind für die Bösen, nicht für die Guten, und es giebt viele böse Menschen, Herr von Hohenheim.«

»Glauben Sie das auch, Fräulein Laurentia? Haben Sie schon einen bösen Menschen gesehen?«

Sie mußte sich besinnen. Eines Bösen konnte sie sich freilich nicht erinnern, aber die Tante fiel ihr unwillkürlich ein, die ihre Wohlthäterin geworden war und deren sie doch nicht mit Liebe und Dankbarkeit zu gedenken vermochte, auch die alte Justine, die Sophie eine böse Sieben gescholten hatte.

»Die Menschen lieben nur die Schönen und Glücklichen,« sagte sie finster, »das macht die Andern neidisch und hart.«

»Ich kann es nicht glauben, Fräulein Laurentia, und wenn es so wäre, so könnte ich es nicht richten. Und gar Kaufmann wie Pastors Heinrich! – Ach, Fräulein Laurentia, ich weiß noch nicht einmal das große Einmaleins!«

»Aber Theologie!« rief seine Freundin plötzlich, über einen glücklichen Einfall erfreut. »Möchten Sie nicht Prediger werden, Herr von Hohenheim?«

»Ja, ich möchte wohl Prediger sein, Fräulein Laurentia, und den armen Leuten verkündigen, wie der gute Heiland im Himmel sie liebt, ich möchte mit ihnen beten und weinen, wenn sie traurig sind. Aber ich kann nicht begreifen, wozu man so viele Gelehrsamkeit braucht, um Gottes Wort zu verstehen und danach zu thun. Und ein Prediger muß ja ein Gelehrter sein und darum kann ich es nicht werden, Fräulein Laurentia.«

»Aber was möchten Sie denn werden, Herr von Hohenheim?«

»Ich möchte gar nichts werden; ich möchte bleiben was ich bin und wo ich bin, bei meiner Mutter, oder bei Ihnen, Fräulein Laurentia; in unserem Garten bei den Blumen, die Sie so gern haben, bei den Bäumen, die so gute Pfirsich und Aepfel geben. Ich möchte Bienen und Vögel ziehen, oder auch junge Hunde und Pferde – –«

»So müssen Sie Landwirth werden, Herr von Hohenheim.«

»Der Vater sagt, ich verstände es nicht. Er hat mich mitgenommen auf's Feld, aber er schalt mich, weit die Arbeiter faul gewesen waren und ich es nicht wahrgenommen hatte. Und wie ich mich freute über die vielen schönen Kornblumen in den Feldern, da lachte er mich aus und sagte, die Blumen wären Unkraut und ich ein Narr. Ach er hat Recht! Ich bin wie ich bin und kann nicht werden wie die Anderen sind. Der liebe Gott hat es nicht gewollt, Fräulein Laurentia.«

Felix hatte sonder Groll noch Scham gesprochen, aber mit einem Ausdruck tiefer Traurigkeit, weil er fort sollte aus dem Hause, fort von Menschen und Gegenständen, welche er liebte. Jetzt war sein Herz erleichtert, und er ging schweigend an seiner Freundin Seite, ohne eine fernere Unterhaltung zu erwarten, oder zu wünschen. Er schob mit den Füßen säubernd jedes herbstliche Blatt aus ihrem Wege, er pflückte Astern und Reseda und fügte sie zierlich zu einem Strauße in seiner Hand.

Laurentia war in stummen Gedanken. »Warum soll er sein wie die Anderen?« fragte sie sich. Warum soll er ein Lastthier sein, da er ein Vogel ist? Warum soll nur der Mensch nicht leben können nach seiner Natur? Hat nicht der, welcher die Liebe war, gesagt: Sorget nicht, aber lebet wie die Sperlinge unter dem Himmel und wie die Lilien auf dem Felde? Warum schätzt man einen Menschen nur nach seinem Geschäft und nicht nach seinem Gemüth? Ist es nicht genug, gut zu sein und Gutes zu thun nach seiner Art? Wozu diese nutzlosen Quälereien des Kopfes? Und wenn sie, Laurentia, ein Mann gewesen wäre, welchen Beruf hätte sie selber denn erwählen können? Hätte sie Menschen morden können aus Gehorsam und Pflicht? Hätte sie Menschen richten können nach gültigen Gesetzen, bei denen das Herz nicht gefragt werden darf? Hätte sie lehren können nach todten Buchstaben, Sterne messen, müde Arbeiter anhetzen und treiben, hätte sie handeln und speculiren können nach Vortheil und Gewinn?

Wenn unsere Heldin erregt war, so trieb die Fluth der Gedanken sie wohl schließlich auf die Fährte, welche andere, nüchterne Menschen niemals aus den Augen verlieren und so würde ihr denn, allen Einwänden des Herzens zum Trotz, auch heute die Erkenntniß gekommen sein, daß Liebe und Gutwilligkeit den Menschen nicht satt machen, daß neben des Heilands Mahnung das strenge Lebensgesetz der Arbeit auf Erden gilt, welches Vater Adam nebst dem Tode durch seinen Ungehorsam heraufbeschworen hat; daß der Mensch nicht wie die Blume des Feldes; eine mühelos nährende Scholle und ein fertiges Kleid bereitet findet, nicht wie der Vogel freie Lüfte zum Flug, grüne Baumwipfel für sein Nest, den Samen der Furche für seine Nahrung, daß er ein Sclave harter Nothwendigkeiten ist, weil ein Mensch, und daß ihr junger sanftmüthiger Freund keine Ausnahme von dieser Regel machen dürfe. Aber Laurentia wurde in ihrem Ideengange unterbrochen, denn Sophie kam ihr entgegen mit der Weisung, ihr zum Vater zu folgen, der sie zu sprechen wünsche.

»Er will mich sprechen, mein Vater, mein lieber Vater!« jubelte sie auf.

»Sagte ich es Ihnen nicht, Fräulein Laurentia?« rief Felix freudig. »Er liebt Sie, er muß Sie ja lieben, Fräulein Laurentia!«

»Er liebt mich, er verzeiht mir, er verlangt nach mir! Mein Vater, mein armer, kranker Vater!«

»Ruhig, Laura!« mahnte Sophie; »sammle Dich erst. Um des Himmelswillen keine Scene! Der Vater ist sehr angegriffen. Höre ihn gelassen an mit heiterem Gesicht und antworte ihm besonnen und mit Vernunft.«

»O über Deine Vernunft!« rief Laurentia, zu beglückt, um ernstlich unwillig zu sein. »Du machst die Menschen zu Stein mit Deiner Vernunft!«

Sie eilte hastig voran, die beiden Anderen vermochten kaum ihr zu folgen. Ihre Brust keuchte, sie stolperte häufig und drohte zu fallen; der Wind und die rasche Bewegung lösten ihr widerstrebendes Haar. Sophie strich es glättend aus ihrem Gesicht, brachte ihren Anzug sorgfältig wieder in Ordnung und mahnte von neuem zu Sammlung und Ruhe.

Unter der Thür trat ihnen Sybille entgegen, sehr blaß und mit schwimmenden Augen. Sie drückte der Schwester beide Hände an ihr Herz und entfernte sich schweigend nach ihrem eignen Zimmer.

Sie traten ein. Man hatte den Kranken in seinem Bette in die Höhe gerichtet. Wie fand die arme Laurentia ihn verändert! Bleich und abgezehrt, die Hände schlaff und welk herniederhängend! Sein Anblick erschütterte sie bis ins Mark; Sophiens klägliche Vorschriften waren vergessen: laut schluchzend stürzte sie vor ihm auf die Knie ungedeckte seine Hand mit Thränen und Küsten.

»Du siehst, wie es um mich steht, Laura,« flüsterte der Vater mit erzwungener Ruhe, sie zum ersten Male im Leben mit dem Namen nennend, den sie gern hörte. »Du wirst meine Sorgen begreifen und meine Bitte entschuldigen.«

»Bitten, Du mich bitten, Vater?« rief sie leidenschaftlich. »Du machst mich glücklich, Vater! O, laß mich bei Dir, niemals, niemals wieder von Dir!«

»Niemals, niemals!« murmelte der Kranke mit eigentümlichem Lächeln. »Ich bin zu Ende mit dem Jemals, meine Zeit ist hin!«

»O, sage das nicht, Vater,« schluchzte sie. »Ich ertrage es nicht, ich kann nicht leben ohne Dich.«

Ueber Herrn von Kettenburgs verfallene Züge lief ein seltsamer Schatten von Pein; er schauderte zusammen und sank kraftlos in die Kisten zurück. Doch raffte er sich wieder auf und begann nach einigen Minuten von neuem, nicht ohne sichtbaren Kampf:

»Ich möchte mein Haus bestellen, Laura – nein, nein, ich habe kein Haus zu bestellen – aber – ich möchte in Ruhe sterben. Ich bin ein Bettler, Laura.«

»Du tödtest mich, Vater!« rief sie außer sich. »Ich habe nichts, ich will nichts haben! Alles, alles ist Dein!«

»Du bist großmütig, Laura – –«

»Großmüthig?« sagte sie schaudernd. »Ach, ich liebe Dich, Vater!«

O, hätte er sie an sein Herz gedrückt, ein erstes, einziges Mal, in dieser Stunde, hätte er gesagt: »Mein liebes Kind!« Ihre Seele schmachtete nach diesem Wort – aber er sprach es nicht. Wohl mag er es empfunden haben in diesen äußersten Minuten; aber auch jetzt war das Bewußtsein seiner Lage, seiner Vergangenheit, stärker als die Stimme der Natur und die Schranke, welche ein unbestimmter Widerwille zwischen ihnen aufgerichtet, sie fiel nicht, selber unter den Wehen des Todes.

Er schwieg eine Weile, dann hob er noch einmal an: »Dank einer Anderen, Deine Lage ist sicher und unabhängig, Laura, ich verlasse die Welt ohne Sorge für Dich. Desto schwerer bangt mein Herz um Sybillen, um meine arme, liebe Sybille, o Gott!«

Die Stimme versagte ihm; er sank erschöpft zurück. Sophie reichte ihm eine Stärkung; er erholte sich noch einmal, richtete den Kopf in die Höhe und flüsterte: »Ich kann nicht – sprechen Sie, Sophie.«

Sophie richtete mit Gewalt die trostlose Tochter vom Boden auf, hieß sie Platz auf einem Stuhle an des Vaters Seite nehmen, setzte sich selber ihr gegenüber und hob nach kurzem Bedenken an:

»Höre mich ruhig an, liebe Laura. Dein Vater wünscht, daß ich Dir mittheile, was ihn sorgenvoll bewegt. Es ist in Deine Hand gelegt, sein Gemüth zu befreien und seine Genesung zu beschleunigen – –«

»Seinen Todeskampf leicht zu machen,« setzte der Kranke mit matter Stimme hinzu, während seiner Tochter Auge in zitternder Spannung an seinen Lippen hing.

»Gott halte diesen Ausgang fern,« fuhr Sophie gelassen fort. »Indessen liegt es einem Kranken nahe, sich denselben zu vergegenwärtigen und so müssen wir zu seiner Beruhigung einen Augenblick auf diese Voraussetzung eingehen.«

»Nein, nein!« rief Laurentia heftig. »Ich will, ich kann das nicht hören!«

»Du mußt, Laura. Merke ruhig auf, es ist Deines Vaters Wille, der zu Dir spricht. »Deine Lage hat sich unerwartet glücklich gestaltet – –«

»Glücklich!« fiel Laurentia mit kurzem, schrillem Lachen ein.

Die Freundin fuhr unerbittlich fort: »Desto zweifelhafter ist die Zukunft der armen Sybille – –«

»Meiner Schwester?« fragte Laurentia zwischen Verwunderung und Bitterkeit getheilt.

»Dein Vater, wir Alle kennen Deine Uneigennützigkeit, liebe Laura,« sagte Sophie; »auch handelt es sich weniger darum, Deine Güte anzusprechen, als ihr die richtige Bahn zu Sybillens Glücke und des Kranken Befriedigung anzuweisen.«

Laurentia blickte finster zu Boden; die junge Frau machte eine Pause, in welcher sie eine Bedenklichkeit zu überwinden schien. Nach einer Weile fuhr sie entschlossen fort: »Du kennst die Herzenswünsche Deiner Schwester, Laura. In der Hoffnung sie eines Tages in Erfüllung bringen zu können, ist Dein Vater ihnen nicht entgegengetreten. Die Verhältnisse haben diese Aussicht vereitelt. Levin – –«

Laurentia zuckte zusammen, Sophie reichte ihr beruhigend die Hand.

»Levin würde als Militär erst in entfernter Zeit die Stellung erlangen, in der er einem unvermögenden Mädchen die Hand bieten dürfte, er ist aber bereit, seinem Stande zu entsagen und sich als Landwirth eine Häuslichkeit zu gründen, sobald sich ihm auf diesem Felde eine fördernde Gelegenheit bietet.«

Der alte Herr von Hohenheim, welcher Zeuge dieser Unterredung war, unterbrach hier die Sprecherin mit den Worten: »Und erlauben Sie mir, Fräulein Laura, bei dieser Gelegenheit einzuschalten, daß in betracht meiner starken Familie, es mir voraussichtlich so wenig möglich sein würde, mein kleines Gut nach meinem Tode auf meinen ältesten Sohn zu vererben, als selber während meines Lebens ihn nachdrücklich auf seiner neuen Bahn zu unterstützen.«

»Zu was das alles?« fragte Laurentia unwillig.

»Zu Deines Vaters Beruhigung und Deiner Schwester Glück,« versetzte Sophie streng. »Ich will es kurz zusammenfassen, Laura. Die Administration von Hochberg geht in einem Jahre zu Ende; der bisherige Verwalter hofft das Gut als Pachtung zu übernehmen; der Wunsch der Deinen aber geht dahin, daß Du die vorteilhaften Vorschläge, welche er Dir, wie mancher Andere außer ihm, machen dürfte, zurückweisest, und die Pachtung, freilich unter weit weniger günstigen Bedingungen und mit dem guten Willen, in Fällen der Noth für ihn einzutreten, dem Verlobten Deiner Schwester überlässest.«

»Ihrem Verlobten!« murmelte erglühend Laurentia, die von dem langen Vortrage nur dieses einzige Wort verstanden zu haben schien.

»Du schwankst, Laura?« fragte der Vater ängstlich; »Du willst die Pachtung nicht an – –«

»Die Pachtung!« rief sie schmerzlich, »was kümmert mich die Pachtung? Nimm das Gut, Vater und gieb es Sybillen.«

»Davon ist nicht die Rede, Kind,« fiel Sophie ein. »Ich bitte Dich, sei vernünftig und bleibe bei der Sache. Willigst Du in unseren Vorschlag, so verläßt Levin augenblicklich den Dienst und lernt unter den Augen des gegenwärtigen Verwalters die Verhältnisse des Gutes kennen, dessen Bewirthschaftung er nach Ablauf des bindenden Termins übernimmt. Du, Laurentia, bist selbständig und mündig, Sybille dahingegen tritt in einem schmerzlichen Falle unter die Vormundschaft des Vaters ihres Bräutigams und siedelt bis zu ihrer Verheirathung nach dessen Hause über.«

Sophie schwieg, eine Antwort erwartend, die Augen der beiden Väter blickten gespannt auf das arme Mädchen, das wie vernichtet in seinem Stuhle saß. Das forderte man von ihr, das und weiter nichts. Darum hatte der Vater ihre Gegenwart gewünscht, um weiter nichts! Keine Sorge, keinen Segen, kein theilnehmendes Wort, keinen Liebesblick für sie – Alles für Sybillen und das Ganze ein Geschäft, ein gleichgültiges Geschäft!

»Hast Du gegen unseren Plan etwas einzuwenden, Laura?« fragte endlich Sophie und wiederholte die eine Frage, welche jene überhört zu haben schien nach Weile.

Auch der Vater fragte: »Hast Du etwas dagegen einzuwenden, Laura?«

»Nein,« antwortete sie fast trotzig, während der Schmerz ihre Brust zusammenschnürte.

»So gestatten Sie mir, Fräulein, Ihnen den kurzen, gemeinschaftlich entworfenen Contract vorzutragen,« sagte Herr von Hohenheim, ein Papier entfaltend, das er bis jetzt in den Händen gehabt hatte.

Aber Laurentia hielt sich nicht länger; sie sprang von ihrem Platze in die Höhe und rief leidenschaftlich: »Kein Wort weiter darüber! Ich will Alles, Alles, aber ich kann nichts mehr hören.«

»So lesen und prüfen Sie die Verhandlung still für sich allein, ehe Sie Ihren Namen darunter setzen.«

»Meinen Namen darunter setzen – jetzt – hier?«

»Jetzt oder später, wie es Ihnen beliebt.«

»Thue es gleich, Laura,« mahnte Sophie mit einem Blich auf den Kranken. »Laß die Sache rasch zum Abschluß kommen. Peinliche Erörterungen soll man nicht nutzlos verzögern und erneuern. Lies und schreib.«

Sie drängte bei diesen Worten eine Feder in ihre Hand, entfaltete das Blatt aus dem Tische, der vor ihr stand und deutete auf die Stelle, an welche sie ihren Namen setzen sollte. Laurentia schauderte. Ein Contract und ihr Vater starb!

»Da!« rief sie das Blatt zu Boden werfend, das sie ungelesen unterzeichnet hatte.

»Ich danke Dir,« flüsterte der Vater, indem er ihr schwach die Hand drückte.

Sie fiel von neuem in tiefster Bewegung an seinem Bette nieder. Es entstand eine peinliche Pause.

»Und weiter hast Du mir nichts zu sagen, gar nichts, Vater?« fragte sie schluchzend.

Er schüttelte matt den Kopf, sein Gesicht färbte sich bleiern.

»Sybille –« hauchte er beklemmt, »wo ist Sybille?«

»Nach ihr verlangt er, an sie denkt er!« jammerte die Unglückliche, »und mir nichts – nichts!«

Der Kranke machte eine abwehrende Handbewegung. Er wurde immer schwächer; Herr von Hohenheim verließ das Zimmer, Sybillen zu rufen.

»Komm hinaus, Laura,« drängte Sybille, »sammle Dich, Du siehst wie er leidet.«

Laurentia schüttelte unwillig den Kopf, aber der Vater rief in jäher Aufregung: »Fort, fort!« und Sophie zog die sich Sträubende, halb Bewußtlose aus dem Zimmer.

Vor der Thür kehrte ihr die Besinnung wieder; sie wollte zu dem Vater zurück, die Freundin vertrat ihr mit Entschiedenheit den Weg. »Ich kann Dich nicht zu ihm lassen,« sagte sie, »Deine Leidenschaft tödtet ihn!«

»Meine Liebe tödtet ihn!« schrie Laurentia außer sich und stürzte in den Garten, während die Schwester bebend an ihr vorüber in des Sterbenden Zimmer schlüpfte.

Die Dämmerung war hereingebrochen; ein feuchter Herbstnebel dunstete über der Gegend, der Wind rauschte in den halbentlaubten Wipfeln der Bäume. Wilde Schmerzenslaute rangen sich aus des unglücklichen Mädchens Brust. Ohne zurück zu blicken, rannte sie durch Garten und Park bis zu der Stelle, wo dieser in den kleinen Dorfkirchhof mündete und das Grab der Mutter, welche vor Jahren während einer Besuchsreise hier einen plötzlichen Tod gefunden hatte, neben dem der Tante, ihrer ungeliebten Wohlthäterin, errichtet worden war. Sie warf sich über den Hügel, den sie noch heute Morgen mit frischen Blumen geschmückt. Ungeliebt, verlassen von Allen, einsam wie nie ein Mensch fühlte sie sich am Rande des Wahnsinns, fand auch hier keine Ruhe, raffte sich auf und eilte nach dem Hause zurück.

Es brannte Licht in des Vaters Zimmer, das sie von der Terrasse überblicken konnte; sie erkannte die bleiche Gestalt regungslos auf ihrem Lager und Sybillen kniend an der Stelle, auf welcher sie vorhin in tödlichem Schmerze gelegen. Seine Hand ruhte auf ihrem schönen, gebeugten Haupt.

»Er segnet sie!« rief sie aus und flog in das Haus. Im Flur trat ihr Sophie entgegen. Thränen in den Augen schloß sie das unglückliche Kind in ihre Arme und sagte leise: »Er ist im Frieden!«

»Er ist todt!« rief Laurentia, stürzte in das Zimmer und mit einem gellenden Schrei über die Leiche des Vaters. »Ich habe ihn getödtet – ich – ich!«

»Nicht doch, liebe Laura,« tröstete Sophie, »Deine Güte hat seine Sterbestunde leicht gemacht. Glaube mir, sein letztes Gefühl war Dank für Dich!«

»Dank, Dank!« rief Laurentia bebend von Kopf zu Fuß. »Ich will keinen Dank, ich will seinen Segen, ich will seine Liebe wie Sybille. Aber Du bist nicht todt, Vater, Du lebst! Erwache, schlage Deine Augen auf, blicke mich gütig an, nur einmal gütig, Vater! Gieb mir Deinen Segen, sage daß Du mich liebst! Wer soll mich lieben, wenn nicht Du? Mein Leben ist Dir ein Aergerniß gewesen, aber Du hast es mir gegeben, Du. Du mußt mich lieben, Du bist mein Vater und mich liebt Keiner, Keiner außer Dir! Ich kann nicht leben ohne Dich! Ich habe Niemand, Niemand!«

So jammerte und raste die Trostlose wirr durch einander, bis Sophie, bemüht sie von dem Todten los zu reißen, in tiefer, mehr peinlicher, als mitleidiger Beklemmung zu ihr sagte: »Fasse Dich, armes Kind, wir bleiben Dir Alle, wir Alle haben Dich lieb.«

Sie antwortete mit einem zornigen, fast verächtlichen Blick und regte sich nicht von dem Todten. Sybille beugte sich über sie und flüsterte unter leisem Weinen: »Ich – ich – meine gute Schwester – –«

»Du?« rief Laurentia, auch sie von sich abwehrend, »Du liebst – Ihn!«

Sybille wendete sich mit schmerzlicher Bewegung zur Seite und Laurentia klammerte sich von neuem an den Todten. Da fühlte sie sich sanft bei der Hand gefaßt und eine kindliche Stimme sagte: »Ihr Vater im Himmel liebt Sie, Fräulein Laurentia, und der gute Heiland zu dem er gegangen ist, und der arme Felix liebt Sie auch.«

Sie blickte auf zu des Jünglings thränendem Auge. Nein, das war kein Wort kalter, ohnmächtiger Beschwichtigung, wie das der Anderen; das war Wahrheit, das war Trost. Sie erwiederte keinen Laut, aber sie duldete es, daß man sie aus dem Sterbezimmer entfernte.

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