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Neuntes Capitel.
Laurentia erlöst.

Es war an der Zwillingsschwestern achtundzwanzigstem Geburtstage, als Levin und Sybille ihr Erstgeborenes taufen ließen. Laurentia, angethan mit dem Staate, den sie an der Schwester Hochzeitstage und seitdem nicht wieder getragen hatte, im weißen Kleide mit lichtblauen Schleifen, nicht eine Copie, sondern das wirkliche mütterliche Federbarett auf dem Haupte und vor der Brust den kunstvollsten Strauß, welchen ihres Intendanten Hand jemals gebunden, hielt das Knäbchen über die Taufe, das ihr zu Dank und Ehre den Namen Lorenz führen sollte.

Seine Geburt war in die Wochen ihres Frühlingsfiebers gefallen und ein neues Leben schien mit derselben auch in ihrer Seele erwacht. Sie liebte das Kind mit der Leidenschaft einer Mutter; Thränen im Auge und in sehnsüchtiger Betrachtung saß sie stundenlang an seiner Wiege, oder trug es vorsichtig auf ihren Armen im wärmenden Sonnenschein; ängstlich aber enthielt sie sich jeder zärtlichen Berührung, jedes verstohlenen Kusses und kein Schmeichelname entschlüpfte ihren leise bebenden Lippen. Sophie bemerkte mit Spannung diese neue bewegende Phase: »Sollte jetzt nicht der Bann zu brechen, die Stunde ihrer Erlösung gekommen sein?« fragte sie sich und Andere. Sie schmiedete Pläne und grübelte über neuen Erregungsmitteln.

Die heiße Juniussonne hatte am Nachmittage dieses mehrfältigen Festes die drei befreundeten Genossenschaften von Hochberg aus dem Hause in den kühlenden Parkschatten getrieben. Sie saßen unfern der Stelle am Weiher, an welcher eine höhere Hand unsere Heldin eines Tages im Augenblicke verwirrender Verzweiflung gnädig geschützt hatte; unter uralten Ulmen bot sich hier der anmuthigste Ruheplatz. Die junge Mutter horchte mit gefälliger Aufmerksamkeit auf einen Vortrag des Predigers über die verschiedenen Erziehungsmethoden der Alten, während sein Sprößling, ein Beleg seiner spartanischen Grundsätze, muthig und muthwillig über Hecken sprang und auf Bäume kletterte. Frau Sophie schritt in ernsten Gedanken auf und nieder, ihre Blicke ruhten forschend auf Laurentia, die, als die Abendluft kühler zu wehen begann, Platz auf der oberen Stufe der vom Ufer nach dem kleinen Nachen im Weiher führenden Treppe genommen hatte, um den auf ihrem Schooße schlummernden Täufling die Strahlen der untergehenden Sonne genießen zu lassen. Tief in sich versunken, achtlos auf Alles, was um sie her geschah, blickte sie unverwendet in des Kindes friedliches Gesicht. Felix saß zu ihren Füßen im Nachen, Schilf und Wasserblumen pflückend und zu einem Kranze zusammenfügend.

So waren sie eine Weile, jeder auf seine Weise, beschäftigt gewesen, als unerwartet früh Levin zurückkehrte, der den Vater vor einigen Stunden auf die Entenjagd begleitet und den die Sehnsucht nach den Seinigen an diesem festlichen Tage heimgetrieben hatte. Er sprang aus dem Wagen, hing Hut, Gewehr und Waidtasche an einen Baum und mischte sich in die pädagogische Unterhaltung des gelehrten Herrn. Der kleine, kecke Rothkopf hatte aber kaum das verführerische Jagdgeräth bemerkt, als er darauf zustürzte und sich des gefährlichen Spielzeugs zu bemächtigen suchte.

»Ist die Büchse geladen, Herr von Hohenheim?« fragte Sophie leise und als dieser es verneinte, da er sie kurz vor dem Einsteigen abgeschossen hatte, überließ sie dieselbe unbesorgt den Händen des Knaben, der sich im Nu in einen Jägersmann verwandelte und weidlich damit unterhielt, die Gesellschaft unter den Bäumen als Räuber zu allarmiren. Als aber endlich, damit nicht zufrieden, der wilde Bursche auf die Gruppe am Wasser losgehen wollte, um auch diese in sein Spiel zu ziehen, vertrat ihm Sybille ängstlich den Weg mit den Worten: »Nein, nein, Freimund, sie könnte erschrecken!«

»Laß ihn, laß ihn!« flüsterte Sophie von einer plötzlichen Idee durchzuckt.

Allein Sybille eilte dessenungeachtet dem Knaben zuvor nach dem Uferplatze und riß in unbestimmter Angst ihr Kind von dem Schooße der Schwester, die, nicht ahnend, was um sie her geschah, bei diesem ungestümen mütterlichen Ueberfalls erschreckt in die Höhe fuhr und zur Seite blickte. Sie sieht die Freunde in unruhiger Bewegung, sieht den aufgeregten Knaben, der mit drohender Geberde den Lauf des Gewehres auf den Freund im Nachen gerichtet hält, es war ein einziger Blick – »Herr, mein Gott!« schreit sie auf – das Gewehr fällt klirrend zu Boden, man hört einen Schuß, ein jähes Aufsprudeln des Wassers – Laurentia und Felix sind in der Tiefe verschwunden.

Alles das war das Werk eines Moments, während dessen Sybille besinnungslos, ihr Kind fest an die Brust gedrückt, in ihres Mannes Arme sank, Sophie starr wie ein Marmorbild am Ufer stand. Keiner vermochte den entsetzlichen Zusammenhang zu übersehen.

Erst später klärte es sich auf, daß Levins Gewehr mit dem unentladenen des Vaters im Wagen verwechselt worden war, und daß es beim Aufprallen auf einen Stein sich selber entladen hatte, als der Knabe, in der Ueberraschung, das stumme Fräulein sprechen zu hören, es zu Boden fallen ließ. Vom Schuß getroffen, ohnmächtig, war Laurentia in das Wasser getaumelt, Felix, ohne sich zu besinnen, ihr aus dem Nachen nachgestürzt. Die wildeste Verwirrung folgte dem ersten Augenblicke starren Entsetzens; Levin sprang in das Wasser, die Verunglückte emporzuziehen, aber schon war es Felix gelungen, sich in die Höhe zu arbeiten, die blutende, leblose Freundin in seinem Arm.

Man zieht sie an das Ufer, man trägt sie in das Haus und auf ihr Ruhebett, man legt einen Verband um das Haupt, Levin sprengt nach der Stadt und kehrt bald mit dem Arzte zurück. Das Fräulein liegt noch immer blutend, ohne Bewußtsein, Felix über ihr, verzweifelnd, fassungslos. Zum ersten Mal im Leben hat auch Sophie Kraft und Ruhe verloren; todtenbleich, ohne Laut und Regung, steht sie ihrem Werke gegenüber. Zum dritten Male hat ihr Einschreiten eine unheilvolle Katastrophe herbeigeführt: erst Mißtrauen und Zweifel, dann einen Wahn, jetzt vielleicht den Tod! Die Ladung war in den Kopf gedrungen und hatte das kranke, für den Gebrauch untaugliche Auge zerstört; das Licht blieb erhalten, wenn das Leben erhalten werden konnte. Eine schmerzvolle Operation versprach zweifelhafte Hülfe.

Wochen unaussprechlicher Angst und Qual vergingen, während welcher die Unglückliche, schwebend zwischen Leben und Tod, auf ihrem Bette lag, anfänglich in rasendem Fieber, dann in tiefster Ermattung. Neidisch auf jeden Dienst, den eine andere Hand ihr erwieß, wich der treue Felix kaum von ihrer Seite, legte den Verband um ihre Stirn, reichte ihr Trank und Arznei, wachte nächtlich an ihrem Lager, ihre kalten Hände in den seinen. Seine Wangen waren bleicher fast als die der Kranken, sein Auge nie ohne Thränen.

Noch immer lag Laurentia regungslos, lautlos; aber –sie hatte gesprochen! Inmitten ihrer quälenden Selbstanklagen kehrte Sophie immer von neuem zu dieser Betrachtung zurück. Sie hatte gesprochen! Hatte der jähe Schreck die gelähmten Kräfte geweckt, oder nur den starren Eigenwillen gebrochen? Würde sie wieder sprechen, wenn sie genesen sollte? Kehrte der alte Wahn mit der erneuten Gesundheit zurück?

Sorge und aufopfernde Pflege hatten nach und nach alle Kräfte ihrer Freunde und Diener aufgerieben, nur Felix beharrte unerschöpft in der Rastlosigkeit seiner fürsorgenden Liebe. Sophie und Sybille hatten sich ruhebedürftig eines Abends zurückgezogen, die alte Justine allein saß wachend neben dem Krankenlager, als er, den man mit Mühe für etliche Stunden entfernt zu haben glaubte, wieder leise in das Zimmer geschlichen kam.

»Auch Sie sind müde, liebe Justine,« flüsterte er; »ich nicht. Legen Sie sich ein wenig, ich bleibe bei Fräulein Laurentia und rufe Sie, wenn sie Ihrer bedarf.

Die Alte schwankte, aber ihre Augen fielen zu und sie wußte, daß sie sich auf diesen Wächter verlassen durfte. Sie ging und Felix blieb zum ersten Male mit seiner kranken Freundin allein.

Er setzte sich an ihr Bett und blickte sie an mit zärtlicher Angst – sie war bleich wie der Tod; er faßte ihre Hand – sie war starr und kalt; er lauschte nach ihrem Athem – er hörte ihn kaum. Er flößte stärkende Tropfen zwischen ihre Lippen, er wärmte ihre Hände mit seinem Hauch, er sank auf seine Knie und betete laut:

»Laß sie nicht sterben, Vater im Himmel, nimm mich für sie; ich habe sie so lieb!«

Er blickte von neuem auf die Schlummernde; sie schien noch bleicher, noch kälter als vorhin. »Sie ist todt!« rief er außer sich. »Nimm mich zu dir, Vater im Himmel,« rief er außer sich, »bringe mich zu ihr, ich kann nicht leben ohne sie!«

Er raffte sich auf und beugte sich über die stille Gestalt, er bedeckte ihre Hände, ihren Mund mit heißen Zähren und Küssen, er rief sie zum Leben mit den innigsten Liebesnamen. »Erwache, liebe Laurentia!« jammerte er, »meine Mutter ist todt, gehe nicht von mir wie sie. Ich habe Niemand als Dich, ich habe Dich so lieb.«

Die heftige Erregung raubte dem Armen die Besinnung; sein Kopf sank erschöpft an der Freundin Herz.

Als seine Sinne wiederkehrten, däuchte es ihm, als fühle er ihre Hand in der seinen leise erwärmt, ihren Puls belebt, als höre er ihr Herz kräftiger schlagen, als sähe er ein mattes Roth über ihre Wangen gehaucht. Er flößte von neuem einige Tropfen in die halbgeöffneten Lippen, er küßte ihr von neuem Hände und Mund.

Da, da sah er plötzlich, wie sie das Auge in die Höhe schlug, da fühlte er wie ihre Arme sich langsam nach ihm hoben und seinen Hals umklammerten, da hörte er deutlich das Flüstern seines Namens: »Felix!« Ein Freudenschrei entrang sich seiner Brust; er richtete sie in die Höhe und rief aus jubelndem Herzen: »Sie leben, Fräulein Laurentia, Sie werden leben?«

»Ich werde leben,« sagte sie leise.

»Und Sie sind nicht mehr still, sie wollen wieder sprechen, Fräulein Laurentia?«

»Ja, ich will wieder sprechen, denn Du, Du liebst mich, Felix« – flüsterte sie.

»Sie lebt!« rief er, auf seine Knie fallend, »sie lebt und will wieder sprechen! O, mein Gott, sie ist gut wie du und ich liebe sie wie dich!«

»Endlich, endlich ein Herz!« sagte Laurentia, die sich sichtlich belebte. »Ja, Du, Du liebst mich, Felix, ich weiß es seit dieser Stunde, was ich seit Jahren hätte wissen können. Du liebst die häßliche Laurentia, die außer ihrer Mutter Niemand auf Erden hat lieben können als Du.«

»Häßlich, Fräulein Laurentia?« fragte Felix unschuldig. »Fräulein Laurentia, Sie sind gut wie ein Engel, und Sie wären nicht schön?«

»Endlich, endlich ein Herz!« sagte Laurentia noch einmal und faltete die Hände.

Beide schwiegen eine Weile, dann richtete sie sich in die Höhe, zog ihn an sich und flüsterte mit geheimnißvoller Miene: »Ich will Dir etwas bekennen, Felix, Dir, Dir ganz allein.«

Wieder machte sie eine Pause, dann fuhr sie fort: »Nach einem Augenblicke der Raserei, da habe ich Gott im Himmel und mir selber das Gelöbniß abgelegt, meine Lippen über einem Frevel zu schließen, bis Er selber mich entsühnen und mir ein Herz offenbaren werde, das mich liebte, als wäre ich schön, und das ich wieder lieben dürfte ohne Sünde. Und in dieses Herz habe ich diese Stunde geschaut!«

Und so schließt denn die wahrhaftige Geschichte meiner Häßlichen wie der allerangenehmste Roman: Heldin und Held werden ein Paar.

Laurentia hat ihr Federbarett abgelegt, ein zierliches Spitzenhäubchen umrahmt das seit ihrer Krankheit ein wenig bläßliche Gesicht; über dem zerstörten Auge ruht deckend das Lid, dessen lange, seidene Wimper erst jetzt bemerkt und bewundert wird. Der Mund hat freilich keine Wellenlinie gewonnen, aber er bewegt sich gelassen zu freundlichem Lächeln und wohlklingender Rede. Ein frischer Blumenstrauß duftet jeden Morgen in ihrem Gürtel; sie führen ihr bisheriges Leben, aber Hand in Hand und Wort um Wort; ein Herz hat das Herz erlöst: Felix und Laurentia sind glücklich!

*


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