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Siebzehntes Kapitel.

Die letzten Vorlesungen.
1868–1870.

Günstiges Wetter verhalf ihm zu einer angenehmen Heimfahrt. Die Seereise hatte ihm sehr wohl gethan, vor Allem vielleicht durch ihre Ruhe, und am 25. Mai schilderte er sich seinen Bostoner Freunden als unglaublich braun und als Gegenstand der größten Enttäuschung an allen Orten, weil er so wohl aussehe. »Mein Arzt war ganz niedergeschlagen, als er mich am vorigen Sonnabend zuerst sah. Guter Gott! Sieben Jahre jünger! sagte er zurückschreckend.« Daß er Alles jenen schönen Tagen auf dem Meere zuschrieb und Nichts der Ruhe von solchen Arbeiten, wie er sie durchgemacht hatte, zeigte der Schluß des Briefes auf nur zu traurige Weise. »Wir stellen schon – denkt Euch nur! – die Details meiner Abschiedsvorlesungen fest.«

Schon während seiner Fahrt nach Amerika wurde dies Unternehmen betrieben. Aus Halifax schrieb er an mich: »Ich sagte den Chappells, daß ich nach meiner Rückkehr nach England eine Reihe von Abschiedsvorlesungen in London und den Provinzen halten und dann nicht mehr lesen werde. Sie machen mir sofort die schriftliche Anerbietung, daß sie alle Kosten tragen, die zehn Procent für die Geschästsführung bezahlen und mir für eine Reihe von 75 Vorlesungen 6000 Pfd. St. bezahlen wollen.« Die Bedingungen wurden gesteigert und festgestellt, ehe die ersten Vorlesungen in Boston ihr Ende erreichten. Die Zahl der Vorlesungen sollte einhundert und die Bezahlung, unabhängig von den Kosten und der Commission, achttausend Pfd. St. betragen. Eine solche Versuchung war unzweifelhaft groß, und obgleich Dickens einen verhängnißvollen Irrthum beging, indem er ihr nachgab, so war es doch kein unedler Irrthum. Er that es nicht in der Aufregung über die amerikanischen Einnahmen, von denen er noch nichts wußte, als er sich zu dem Unternehmen verpflichtete. Keinem Menschen lag im Grunde weniger an bloßem Gelde als ihm. Aber die nothwendigen Ausgaben für viele Söhne waren eine beständige Sorge; er war stolz auf das, was die Vorlesungen gethan hatten, diese Sorge zu verringern und grade die Anstrengung derselben, der, wie jetzt gewiß scheint, seine Gesundheit zuerst erlegen war, und die er sich immer weigerte, besonders mit ihnen zu verknüpfen, hatte auch sein altes Vertrauen, daß er zu allen Zeiten für seinen höhern Beruf tauglich sei, gebrochen. Was nur seine Gesundheit afficirte, wollte er nach keiner Seite als einen Theil der Frage betrachten. Das mußte seiner Meinung nach als das Loos mehr oder weniger aller Menschen ertragen werden, und je gründlicher er durch das was er jetzt vorhatte, sein Gefühl der Unabhängigkeit und der Möglichkeit zu ruhen, machen könnte, um so bessere Aussichten würden vorhanden sein auf eine vollkommene Genesung. Das war der Geist, worin er diese letzte Verpflichtung unternahm. Es war eine ihm gebotene Gelegenheit, eine besondere Arbeit wirklich vollständig zu machen, ehe er sie auf immer aufgab. Etwas hiervon ist sogar in dem Ueberblick über seine vergangenen Errungenschaften erkennbar, den er mir damals mit verzeihlichem Stolz schickte.

»Wir fanden es sehr schwer, unsre amerikanischen Rechnungen, hinsichtlich des Betrages von Dolby's Commission in englischem Gelde, in Ordnung zu bringen. Schließlich mußten wir uns des Beistandes eines Geldwechslers bedienen, um zu bestimmen, was Dolby als seinen Antheil an dem Durchschnittsverluste der Umsetzung in Gold bezahlen solle. Nach diesem Abzug betrug seine Commission, glaube ich (ich habe die Zahlen nicht zur Hand), 2888 Pfd. St.; Ticknor und Fields hatten eine Commission von 1000 Pfd. St., außer 5 Procent von allen Einnahmen in Boston. Die Ausgaben in Amerika bis zum Tage unsrer Abreise betrugen 39,948 Dollars – in runder Summe 39,000 Dollars oder 13,000 Pfd. St. Die vorläufigen Ausgaben waren 614 Pfd. St. Der Durchschnittspreis des Goldes belief sich auf fast 40 Procent, und doch betrug meine Reineinnahme nur etwa 100 Pfd. St. weniger als 20,000 Pfd. St. Angenommen, daß ich das gegenwärtige Engagement in guter Gesundheit durchführe, so werde ich mit den Vorlesungen in zwei Jahren 33,000 Pfd. St. gemacht haben, d. h. 13,000 Pfd. St. von den Chappells und 20,000 in Amerika. Was ich früher damit gemacht habe, könnte ich nur durch eine lange Untersuchung in Coutts' Rechnungsbüchern feststellen. Gewiß aber nicht weniger als 10,000 Pfd. St.; denn ich erinnere mich, daß ich die Hälfte dieser Summe während der ersten Campagne in London und den Provinzen mit dem armen Arthur Smith machte. Diese Zahlen sind natürlich nur unter uns; aber findest Du sie nicht ganz merkwürdig? Der Contrakt mit Chappell fing an mit 50 Pfd. St. für den Abend und Bezahlung aller Auslagen, dann wurde es 60 Pfd. St. und jetzt steigt es zu 80 Pfd. St.«

Die letzten Vorlesungen sollten im Oktober anfangen, und auf die Bitte eines alten Freundes, Chauncy Hare Townshend, der während seiner Abwesenheit in den Vereinigten Staaten starb, hatte Dickens die Aufgabe übernommen, welche ihn einen Theil des Sommers hindurch beschäftigte: ein Vermächtniß einiger Abhandlungen über Gegenstände des religiösen Glaubens, die im folgenden Jahre in einem kleinen Bande erschienen, durchzusehen und zur Veröffentlichung auszuwählen. Dann kam auch im Juni ein Besuch von Longfellow und dessen Töchtern, sowie später im Sommer Besuche von den Eliot Nortons; und bei der Ankunft von Freunden, die er, wie diese, ehrte und liebte, aus dem großen Lande, dem er so viel verdankte, fanden unendliche Festlichkeiten in Gadshill statt. Nichts konnte nach dieser Seite seine heitre Laune schwächen. Aber in den Pausen meiner amtlichen Arbeit sah ich ihn während jenes Sommers oft und nie ohne die Empfindung, daß Amerika ihn stark mitgenommen habe. Die Kraft seiner Natur hatte eine offenbare Abnahme erfahren, die Elasticität seines Wesens war geschwächt und der wunderbare Glanz seiner Augen wurde zu Zeiten getrübt. Eines Tages auch, als er mit Miß Hogarth von seinem Büreau zum Dîner nach meinem Hause ging, konnte er nur die Hälfte der Buchstaben über den Ladenthüren lesen, die rechts von ihm waren, wenn er hinblickte. Er schrieb dies einer Arznei zu die er damals einnahm. Es war ein neues ungünstiges Symptom, daß sein rechter Fuß anfing zu leiden, obgleich bei weitem nicht in demselben Grade, wie sein linker während der Reise von der Grenze von Canada nach Boston gelitten hatte. Aber alles dies verschwand bei jeder besondern Veranlassung zur Anstrengung, und er war nie unvorbereitet, den Rückhalt von Kraft, den er für sich selbst hätte aufbewahren sollen, freigebig zu verschwenden für Andre. Hierin lag in der That die große Gefahr, denn es stumpfte unser Aller Empfindung gegen die Thatsache ab, daß entschiedene und dringende Gefahr wirklich vorhanden war.

Er hatte diese letzten Vorlesungen kaum angefangen, als die Besorgniß ihn ängstete, daß das Unternehmen, um die Freigebigkeit der Chappells hinreichend zu vergüten, einer neuen Aufregung bedürfen werde, die ihn über den alten Schauplatz dahin trüge; und während er zu Anfang Oktober in Manchester und Liverpool beschäftigt war, erreichte mich die folgende Ankündigung. »Ich habe von dem Morde in Oliver Twist eine kurze Vorlesung gemacht; aber ich kann mich noch nicht entschließen, ob ich sie halten soll oder nicht. Ich bezweifle nicht, daß ich eine Zuhörerschaft vollständig versteinern könnte durch die Ausführung des Gedankens, den ich von der Darstellung habe. Ob aber der Eindruck nicht so entsetzlich sein würde, um die Leute ein andres mal fern zu halten, darüber kann ich mit mir selbst noch nicht in's Reine kommen. Was ist Deine Ansicht? Die Vorlesung besteht aus drei kurzen Theilen. 1. Fagin stellt Noah Claypole an, Nancy zu beobachten. 2. Die Scene auf London Bridge. 3. Fagin weckt Claypole vom Schlafe auf, damit er Sikes seinen verdrehten Bericht über Nancy geben soll; und der Mord und das Gefühl des Mörders, daß man ihn verfolgt. Ich habe den Text mit großer Sorgfalt zusammengestellt, und das Ganze macht einen mächtigen Eindruck. Ich habe heute das Buch und die Frage den Chappells vorgelegt, die so beträchtlich dabei interessirt sind.« Ich empfand eine starke Abneigung gegen diesen Vorschlag, weniger vielleicht wegen der wichtigen Frage der körperlichen Anstrengung, welche dabei ins Spiel kam, als weil ein solcher Gegenstand völlig über das Gebiet einer Vorlesung hinauslag; und es wurde beschlossen, vor einer kleinen Privatzuhörerschaft in St. James' Hall einen Versuch zu machen, ehe er sich endgültig darüber entschiede. Der Brief aus Liverpool, welcher dies am 25. Oktober ankündigte, verdient auch noch aus andern Gründen hier mitgetheilt zu werden. »Ich theile Dir so früh als möglich mit, daß die Chappells für den Versuch des Mordes in Oliver Twist den 18. November vorschlagen, wo Alles von der Vorlesung des vorhergehenden Abends zur Hand ist. Ich hoffe, dies paßt Dir. Hier ist es uns gut ergangen, und wie es eingerichtet wurde, weiß Niemand, aber wir nahmen vorigen Dienstag in St. James' Hall 410 Pfd. St. ein, 50 Pfd. St. mehr als das letztemal. Die Ausgaben sind jedoch bei den fürstlichen Anordnungen der Chappells so groß, daß wir nie mit kleineren und oft mit größeren Kosten anfangen als 180 Pfd. Sterl. . . . Ich bin nicht wohl gewesen und habe mich furchtbar angestrengt. Allein ich habe sonst über wenig zu klagen – über Nichts, gar Nichts, obgleich ich, wie Mariana, müde bin. Anspielung auf Tennyson's Gedicht: Mariana im Süden. – D. Uebers. Aber bedenke dies. Wenn Alles gut geht und ich diese Reihe Vorlesungen triumphirend beende, werde ich in anderthalb Jahren 28,000 Pfd. St. damit verdient haben.« Dies versöhnte mich nicht mehr mit dem, was ihm nur zu offenbar durch die vorgebliche Nothwendigkeit einer neuen Aufregung, zum Zweck der Sicherstellung eines triumphirenden Erfolges, aufgedrungen war; und selbst die Privatprobe führte zu einem peinlichen Briefwechsel zwischen uns, aus welchem jetzt nur einige wenige Worte angeführt zu werden brauchen. »Wir hätten,« schrieb er, »sehr gut übereinkommen können, in diesem Punkte verschiedener Meinung zu sein, weil es uns nur daran lag, wo möglich die Wahrheit zu entdecken, und weil es eine ausgemachte Sache war, daß ich die Erinnerung an etwas mit sehr einfachen Mitteln Ausgeführtes, sehr Dramatisches und Leidenschaftliches zu hinterlassen wünschte, wenn die Kunst das Thema rechtfertigte.« Abgesehen von bloß persönlichen Rücksichten, lag die ganze Frage in diesen letzten Worten. Es war mir unmöglich, zuzugeben, daß die angestrebte Wirkung wahrhaft künstlerisch oder so sei, daß man wünschen konnte, sie mit der Erinnerung an seine Vorlesungen zu verknüpfen.

Ich darf nicht unterlassen, zweier schmerzlichen Ereignisse zu gedenken, die ihn um diese Zeit betrafen. Am Ende des Monats, welcher dem Beginn seiner Vorlesungen voranging, verließ sein jüngster Sohn die Heimath, um einem älteren Bruder nach Australien zu folgen. »Dies Abschiednehmen ist hart, hart« (schrieb Dickens am 26. September), »aber es ist unser Aller Loos, und es hätte ohne Mittel und Einfluß stattfinden können und würde dann viel härter gewesen sein.« Kaum einen Monat später starb der letzte seiner überlebenden Brüder, Frederick, der nächste nach ihm selbst, in Darlington. »Einige seiner dortigen Freunde« (schrieb er am 24. Oktober) »hatten ihn mit der größten Sorgfalt und Liebe gepflegt. Es war ein verlorenes Leben; aber Gott verhüte, daß wir darüber, oder über irgend Etwas in dieser Welt, das nicht absichtlich und mit Vorbedacht unrecht ist, hart urtheilen.«

Ehe der Oktober vorüber war, hatte die Wiederaufnahme seiner Arbeit schon ihre Wirkung auf ihn ausgeübt. Er schrieb am 29. seiner Schwägerin von Uebelkeit und schlaflosen Nächten, und daß es nothwendig für ihn geworden sei, wenn er eine Vorlesung halte, den ganzen Tag auf dem Sopha zu liegen. Nach seiner Ankunft in Edinburgh im December hatte er berechnet, daß die Eisenbahnfahrt auf einem so langen Wege etwas mehr als dreißigtausend Erschütterungen der Nerven mit sich bringe; aber er fuhr, mit Vorlesungen an diesen entfernten Orten und regelmäßig dazwischen kommenden Abenden in London abwechselnd, bis Weihnachten fort, ohne viel andre nachtheilige Folgen, als eine Unfähigkeit zu schlafen. Handelsverluste in Glasgow hätten den Erfolg dort beeinträchtigt. Aber Edinburgh bot dafür Entschädigung. »Die liebevolle Achtung der Leute ist ohne Grenzen und zeigt sich auf jede mögliche Weise. Die Zuhörerschaften geben sich ebenso viel Mühe mit den Vorlesungen als ich, und es fehlt nichts, als daß sie mich noch umarmten. Der Kustode der Halle in Edinburgh, ein schöner alter Soldat, beschenkte mich am Freitag Abend mit der prächtigsten rothen Kamelie für mein Knopfloch, die man je sah. Niemand kann sich erklären, wie er sie bekommen hat, da seitens der Damen in den Sperrsitzen eine beträchtliche Anfrage nach dieser Farbe bei den Blumenhändlern stattfand und nichts derartiges zu haben war.«

Der zweite Theil seines Unternehmens fing mit dem neuen Jahre an, und die Scenen von Sikes und Nancy, die überall seinen Hauptgegenstand bildeten, forderten von ihm die furchtbarste physische Anstrengung. Im Januar war er in Clifton, wo er, wie er seiner Schwägerin erzählte, »bei weitem den besten Mord gegeben, der ihm bis dahin gelungen,« während er an demselben Tage an seine Tochter schrieb: »Am Montag Abend in Clifton hatten wir eine Ansteckung von Ohnmachten und doch war die Halle nicht heiß. Ich glaube, von einem Dutzend bis zu zwanzig Damen wurden zu verschiedenen Zeiten steif und starr hinausgetragen. Es wurde ganz lächerlich.« Später war er in Cheltenham. »Macready ist der Ansicht, daß der Mord zwei Macbeth's gleichkommt. Er behauptet, daß er jedes Wort der Vorlesung gehört habe, aber ich bezweifle es. Leider ist er sehr kränklich.« Am 27. Januar schrieb er seiner Tochter aus Torquay: der Raum, den man ihm zum Vorlesen angewiesen, und wo den Abend vorher eine Pantomime gespielt worden sei, sei etwas zwischen einem methodistischen Bethause, einem Theater, einem Circus, einer Reitschule und einem Kuhstall. An demselben Tage schrieb er mir aus Bath: »Landor's Geist wandert hier in den schweigenden Straßen vor mir her . . . Der Ort sieht mir aus wie ein Kirchhof, von dem es den Todten gelungen ist, sich zu erheben und Besitz zu ergreifen. Nachdem sie aus ihren alten Grabsteinen Straßen gebaut haben, wandern sie kläglich umher und versuchen, lebendig auszusehen. Was ihnen vollständig mißlingt.«

In der zweiten Februarwoche war er in London, mit der Verpflichtung, nach der gewöhnlichen wöchentlichen Vorlesung in St. James' Hall, nach Schottland (das er grade verlassen) zurückzukehren, als eine plötzliche Unterbrechung stattfand. »Mein Fuß ist wieder lahm geworden!« lautete seine Ankündigung an mich, am 15., und Tags darauf folgte der nachstehende Brief. »Sir Henry Thomson will mich heute Abend nicht lesen und morgen nicht nach Schottland gehen lassen. Eine gewaltige Zuhörermenge hier und auch in Edinburgh. Hier ist das von ihm aufgesetzte Certificat, das er selbst und Beard unterzeichnet haben. ›Die Endes-Unterzeichneten, bescheinigen hiermit, daß Mr. Charles Dickens an einer durch Ueberanstrengung verursachten Entzündung des Fußes leidet, und daß sie sein Erscheinen auf der Platform heute Abend verboten haben, weil er einige Tage das Zimmer hüten muß.‹ Ich habe in dem Great Western-Hôtel Zimmer bestellen lassen, und werde, wenn ich sie bekommen kann, heute Abend dorthin gehen. Der Himmel weiß, was für Engagements dies im April bedingen wird. Es bringt uns Alle in Rückstand und wird mir mehr als 500 Pfd. St. kosten.«

Einige ruhige Tage brachten wieder so viel Besserung, daß er, gegen die dringenden Bitten seiner Familie und seiner Freunde, am Morgen des 20. Februar, von Mr. Chappell selbst begleitet, in dem Zuge nach Edinburgh saß. »Ich kam,« schrieb er mir am folgenden Tage, »müßig auf einem Sopha liegend hierher und wechselte meine Lage kaum während der ganzen Fahrt. Die Eisenbahnbeamten hatten alle möglichen Vorkehrungen getroffen, und ich fühlte mich behaglicher als auf dem Sopha in dem Hotel. Der Fuß verursachte mir keinerlei Unbequemlichkeit und ist die ganze Nacht ruhig gewesen.« Nichtsdestoweniger war er zwei Tage später genöthigt, Dr. Syme zu consultiren; und er erzählte seiner Tochter, diese große Autorität habe ihn vor Ueberanstrengung bei den Vorlesungen gewarnt und ihm einige leichte Arzneimittel gegeben, übrigens aber erklärt, er befinde sich in »ganz vollkommen glänzendem Zustande«. Wenn er sich in Acht nehme, meinte Dr. Syme, so werde der Schmerz sich beseitigen lassen. »›Weshalb glaubte Thomson, es sei Gicht?‹ sagte er oft und schien diese Ansicht sehr übel zu nehmen.« Ehe Dickens Schottland verließ, consultirte er Syme noch einmal und schrieb mir am 2. März über den Unwillen, womit dieser wieder die Gichtdiagnose behandelt habe, während er selbst das Leiden für eine durch Erkältung hervorgerufene Affection der zarten Nerven und Muskeln erklärte. »Ich sagte ihm, es habe sich in Amerika auch in dem andern Fuße gezeigt. ›Dann will ich schwören,‹ sagte er, ›daß Sie, außer der Ermüdung durch die Vorlesungen, zwei oder drei Tage vorher im Schnee herummarschirt sind.‹ Das war allerdings der Fall. ›Da,‹ sagte er triumphirend, ›wie fing es zuerst an? Im Schnee! Gicht? – Bah!‹ Wofür er zwei Guineen nahm.« Dennoch traf der berühmte Schüler, Sir Henry Thomson, gewiß mehr das Richtige als der berühmte Meister, Dr. Syme, indem er dem Leiden einen mehr als bloß lokalen Charakter anwies.

Während jenes ganzen Märzmonats setzte er die Vorlesung der Scenen aus Oliver Twist fort. »Mit dem Fuße geht es famos,« schrieb er an seine Tochter. »Ich fühle die Ermüdung darin (vier Morde in einer Woche), aber nicht sehr bedeutend. Er schmerzt nur des Nachts, und dann thut auch der andre weh, wahrscheinlich aus Sympathie.« Am 8. hörte er in Hull von dem Tode seines alten lieben Freundes, Sir Emerson Tennent, dem er sein letztes Buch gewidmet hatte, und am Morgen des 12. traf ich ihn bei dem Leichenbegängniß. Er hatte am Abend vorher die Scenen aus Oliver Twist in York gelesen, hatte es grade möglich gemacht, indem er die Pausen seiner Vorlesung abkürzte, den Expreßzug in höchster Eile zu erreichen, und war die Nacht durchgefahren. Er schien mir verwirrt und abgemattet; Niemand sah an jenem traurigen Morgen wohl mehr so aus als er.

Das Ende war nahe. Ein öffentliches Festessen, bei dem Lord Dufferin den Vorsitz führte und dessen später Erwähnung geschehen wird, war ihm am 10. April in Liverpool gegeben worden und eine Vorlesung war für den 22. des Monats in Preston angesagt. Aber Sonntag, den 18., empfingen wir schlechte Nachrichten von ihm aus Chester, und am 21. schrieb er aus Blackpool an seine Schwägerin. »Ich habe dies hübsche Hôtel am Meeresstrande aufgesucht, um einen ganz ruhigen Tag zu verleben. Es geht mir viel besser als am Sonntage, aber große Sorgfalt wird erforderlich sein, wenn ich mit den Vorlesungen durchkommen soll. Meine Schwäche und Taubheit sind ganz auf der linken Seite, und wenn ich Etwas, das ich mit der linken Hand zu berühren suche, nicht ansehe, weiß ich nicht, wo es ist. Ich bin in (geheimer) Berathung mit Frank Beard, der sagt, daß ich ihm unbestreitbare Beweise von Ueberanstrengung geliefert habe, die er sofort unter seine Behandlung nehmen möchte; und so habe ich telegraphirt, daß er kommt. Ich habe heute einen köstlichen Gang am Meere gemacht, und ich schlafe gut und mein Appetit hat sich erstaunlich gebessert. Auch mein Fuß ist viel besser und ich trage meine eignen Stiefel.« Der folgende Tag war für die Vorlesung in Preston festgesetzt und von diesem Orte schrieb er mir, während er auf Beard's Ankunft wartete. »Sage nichts davon, aber diese furchtbar schwere Arbeit erschüttert mich etwas. Vorigen Sonntag in Chester fühlte ich mich äußerst schwindlig und äußerst unsicher in meinem Tastsinn, sowohl im linken Beine, wie in der linken Hand und im linken Arme. Ich hatte eine von Beard verschriebene leichte Arznei genommen und schrieb ihm sofort, wie mir zu Muthe war und fragte ihn, ob diese Empfindungen möglicherweise auf die Arznei zurückzuführen seien? Er erwiederte umgehend: ›Es ist unmöglich, sie nach Ihrem Berichte mißzuverstehen. Die Arznei kann sie nicht verursacht haben. Ich erkenne unbestreitbare Symptome von Ueberarbeitung darin und möchte Sie ohne Zeitverlust in Behandlung nehmen.‹ Seitdem sind jene Symptome bedeutend geringer geworden, aber er kommt heute Nachmittag hierher. Morgen Abend in Warrington werde ich mich nur noch durch fünfundzwanzig Vorlesungen hindurcharbeiten müssen. Wenn er mich dazu tüchtig machen kann, so zweifle ich nicht, daß ich mich wieder ganz erholen werde – wie damals, als ich in Amerika frei wurde. Der Fuß hat mir sehr wenig Unruhe gemacht. Es ist aber merkwürdig, daß es auch der linke Fuß ist und daß ich Sir Henry Thomson (ehe ich seinen alten Lehrer Syme sah) sagte, ich habe eine innere Ueberzeugung, daß, was es auch sein möge, es nicht Gicht sei. Ich sagte Beard auch ein Jahr nach dem Unfalle bei Staplehurst, ich sei überzeugt, daß mein Herz einen Stoß dadurch erlitten habe und etwas Hülfe bedürfe. Dies wurde durch eine Untersuchung mit dem Stethoskop bestätigt, und wenn ich die ungeheure Anstrengung bedenke, die ich auszuhalten habe, und das beständige Rasseln von Schnellzügen, so scheint die Sache mir ganz verständlich. Erwähne nach der Seite von Gadshill nichts darüber, daß ich nicht ganz in Ordnung bin. Ich habe die Sache natürlich berührt, aber sehr obenhin. In der That, es ist kein Grund vorhanden, sie anders zu berühren.«

Noch am Schlusse dieses Briefes schmeichelte er sich mit der Hoffnung, daß er noch für seine Arbeit tüchtig gemacht werden könne und daß die Vorlesungen nicht unterbrochen zu werden brauchten. Aber Beard that ihnen sofort Einhalt und führte seinen Patienten nach London. Am Freitag Morgen, den 23, erhielt ich in demselben Couvert ein Billet von Dickens, worin er bemerkte, er sei ganz wohl, aber ermüdet, vollkommen gutes Muthes, nicht im mindesten beunruhigt und er schreibe dies selbst, damit ich es durch seine eigne Hand erfahre – und einen Brief von seinem ältesten Sohne, worin dieser bemerkte, sein Vater scheine ihm sehr krank zu sein und eine Consultation mit Sir Thomas Watson sei verabredet worden. Der Bericht dieses ausgezeichneten Arztes, der mir selbst im Juni 1872 von ihm mitgetheilt wurde, vervollständigt vorläufig die traurige Erzählung.

»Es war, wie ich glaube, am 23. April 1869, als ich die Aufforderung erhielt, zu Charles Dickens zu kommen, um mit Mr. Carr Beard eine Consultation zu halten. Als ich nach Hause zurückkehrte, schrieb ich, nach dem gemeinsamen Bericht beider, auf, was folgt.

»Nach ungewöhnlicher Reizbarkeit, fühlte Dickens sich vorigen Sonnabend oder Sonntag schwindlig, mit einer Neigung rückwärts zu gehen und sich umzuwenden. Dann, als er etwas auf einen kleinen Tisch legen wollte, schob er dies und den Tisch, ohne es zu wollen, vorwärts. Er hatte ein seltsames Gefühl von Unsicherheit in seinem linken Beine, als ob etwas Unnatürliches an der Ferse wäre, konnte aber das Bein aufheben, und schleppte es nicht hinter sich her. Er sprach auch von einer sonderbaren Empfindung in seiner linken Hand und seinem linken Arm; verfehlte die Stelle, auf die er diese Hand legen wollte, wenn er nicht aufmerksam hinsah, konnte die Hände nur mit Anstrengung nach dem Kopfe erheben, besonders die linke Hand – wenn er zum Beispiel sein Haar bürstete.

»Er hatte Folgendes an Mr. Carr Beard geschrieben.

»›Ist es möglich, daß etwas in meiner Arznei mich äußerst schwindlig, äußerst unsicher auf den Füßen (besonders an der linken Seite) und äußerst abgeneigt, die Hände nach dem Kopfe zu erheben, gemacht haben kann? Diese Symptome beunruhigten mich Sonnabend Nacht und gestern den ganzen Tag sehr.‹

»Der so beschriebene Zustand zeigte deutlich, daß Charles Dickens am Rande eines Lähmungsanfalls auf seiner linken Seite und möglicherweise eines Schlaganfalls, gestanden hatte. Er war ohne Zweifel das Resultat der mit seinen Vorlesungen verknüpften großen Eile, Ueberanstrengung und Aufregung.

»Als Mr. Carr Beard von ihm hörte, war er sofort nach Preston oder Blackburn (ich vergesse, an welchen von beiden Orten) gegangen, hatte seine Vorlesung an demselben Abend untersagt und ihn mit nach London genommen.

»Als ich ihn sah, schien er wohl zu sein. Sein Geist war unbewölkt, sein Puls ruhig. Sein Herz schlug mit etwas mehr als der natürlichen Schnelligkeit. Er sagte mir, er habe seit Kurzem gelegentlich, aber selten, ein Wort vergessen oder falsch angewandt, er vergesse Namen und Zahlen, aber das habe er immer gethan und er versprach unbedingten Gehorsam gegen unsre Verordnungen.

»Wir gaben ihm das folgende Certificat.

»›Die Unterzeichneten bezeugen, daß Mr. Charles Dickens, in Folge der mit seinen öffentlichen Vorlesungen und langen und häufigen Eisenbahnfahrten verbundenen großen Anstrengung und Erschöpfung des Körpers und des Geistes, ernstlich unwohl gewesen ist. Unsrer Ansicht nach wird Mr. Dickens nicht im Stande sein, ohne Gefahr für sich selbst seine Vorlesungen wieder aufzunehmen, ehe mehrere Monate verflossen sind.‹

»Thomas Watson.

»F. Carr Beard.

»Nach mehreren Wochen jedoch drückte er den Wunsch aus, ich möge seinem Versuch, einige der Versprechen von Vorlesungen zu erfüllen, die er vor jenem Anzeichen eines Gehirnunfalls in Nordengland gegeben hatte, meine Genehmigung ertheilen.

»Da er inzwischen vollkommen wohl geschienen und sich vollkommen wohl gefühlt hatte, hielt ich mich nicht für berechtigt, diese Genehmigung zu verweigern und, indem ich ihm schriftlich große Vorsicht bei jenen Versuchen anempfahl, drückte ich zugleich die Besorgniß aus, er möge glauben, daß wir mit unsern Verordnungen geistiger und körperlicher Ruhe im April zu gebieterisch verfahren seien, und führte folgende Bemerkung an, die irgendwo in einer von Capitän Cook's Reisebeschreibungen vorkommt: ›Präventivmaßregeln sind immer gehässig; denn wenn sie am erfolgreichsten sind, wird ihre Nothwendigkeit am wenigsten klar.‹

»Ich erwähne dies, um den beiliegenden Brief zu erklären, Dickens schrieb in diesem Briefe. »Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre große Güte und Theilnahme. Es würde mir wahrhaft schmerzlich sein, zu denken, daß Sie ernstlich an meinem unbedingten Vertrauen auf Ihr professionelles Geschick und Ihren professionellen Rath zweifeln könnten. Ich bin noch ebenso überzeugt wie damals, als Sie bei Gelegenheit meines Zusammenbrechens durch Ueberanstrengung zu mir kamen, daß Ihre Verordnung, mit meinen Vorlesungen aufzuhören, nothwendig und weise war. Und der Entschiedenheit derselben schreibe ich (nach menschlichem Ermessen) meine schnelle Genesung, von jenem Augenblicke an, zu. Ich würde selbst nach der Jahreswende unter keinen Umständen wieder angefangen haben, ohne Ihre Genehmigung. Ihre freundschaftliche Hülfe werde ich nie vergessen, und ich danke Ihnen noch einmal dafür, von ganzem Herzen.« den ich Sie bitte, mir als ein theures Andenken an den Schreiber, mit dem ich lange in sehr freundschaftlichen Beziehungen gestanden, zurückzuschicken. Wenn meine Aufzeichnungen Ihnen irgendwie von Nutzen sein können, so stehen sie vollständig zu Ihrer Verfügung. Ich bedauere nur, daß ich durch meine vielen dringenden Berufsarbeiten zu jener Zeit verhindert wurde, einen ausführlicheren Bericht über einen so interessanten Fall niederzuschreiben.«

Die zwölf Vorlesungen, zu denen Sir Thomas Watson seine Einwilligung gegeben hatte, unter der Bedingung, daß sie nicht mit Eisenbahnreisen verbunden wären, sollten noch weiter aufgeschoben werden, bis in die ersten Monate des Jahres 1870. Sie waren eine Opfergabe von Dickens an die Herren Chappell, zur theilweisen Entschädigung für das Scheitern des Unternehmens, bei dem sie so viel auf's Spiel gesetzt hatten. Aber hier endete thatsächlich seine Laufbahn als öffentlicher Vorleser, und was noch davon übrig blieb, wird zusammenfallen mit dem Ende seiner Lebensgeschichte. Nur eine Anstrengung lag noch dazwischen, durch die er glücklich zu seinem alten Beruf zurückzukehren hoffte; aber auch ihr, wie der ihr vorhergegangenen, trat das strengere Schicksal mit einem Nein entgegen und sein letztes Buch schloß, wie seine letzten Vorlesungen, vorzeitig.

 

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