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Fünftes Kapitel.

Aufenthalt in Paris.
1855–1856.

In Paris brachte Dickens sein Leben unter Künstlern und mit der Ausübung seiner eigenen Kunst hin. Seine Genossen waren Schriftsteller, Maler, Schauspieler und Musiker, und wenn er von der Anspannung der Arbeit Erholung suchte, fand er dieselbe im Theater. Die seit seinem ersten Aufenthalt in der großen Stadt verflossenen Jahre hatten ihn berühmter gemacht und die ihm erwiesenen vermehrten Aufmerksamkeiten gefielen ihm. Er hatte bei der Vorbereitung einer Uebersetzung seiner Bücher in's Französische zu helfen und dies, nebst der fortgesetzten Arbeit an dem Roman, den er in Händen hatte, beschäftigte ihn so lange er in Paris blieb. Alles dies wird am besten erzählt werden durch Auszüge aus seinen Briefen, worin die Leute, mit welchen er in Berührung kam, die Theater, die er besuchte, und die öffentlichen oder privaten Vorgänge, welche ihm bemerkenswerth schienen, mit der alten Kraft und Lebhaftigkeit zur Anschauung kommen.

Und nichts verdient mehr daraus aufbewahrt zu werden als ausgewählte Beschreibungen von Schauspielern oder Dramen; denn nur so viel von diesem vergänglichen Genuß, als in solchen Erinnerungen lebendig bleibt, vermag einem andern Geschlecht sein Dasein zu bezeugen, und was in diesen Briefen über theatralische Gegenstände gesagt wird, wenn der Schreiber durch einen Darsteller oder durch ein Stück besonders angezogen wurde, darf an Feinheit und Zartheit eine ungewöhnlich hohe Stelle beanspruchen. Nie empfing Frédéric Lemaitre einen höheren Zoll der Bewunderung als denjenigen, welchen Dickens ihm während der wenigen Tage seines frühern Aufenthalts in Paris, im Frühling 1855, darbrachte.

»Ohne jeden Vergleich die schönste schauspielerische Leistung, die ich je gesehen, sah ich gestern Abend im Ambigü. Man hat hier das alte Stück, das früher unter dem Titel ›Dreißig Jahre aus dem Leben eines Spielers‹ in London so ungeheuer populär war, von Neuem auf die Bühne gebracht. Der alte Lemaitre spielt seine berühmte Rolle, und nie habe ich in der Kunst etwas so erhaben Schreckliches und Furchtbares gesehen. In den ersten Akten war sein ganzer Aufzug so gelungen, sein Wesen so lebhaft und behende, daß er wirklich jung genug aussah. Aber in den beiden letzten, wo er alt und elend geworden ist, spielte er so schön, wie meiner Ueberzeugung nach überhaupt nur gespielt werden kann. Zwei- oder dreimal ging ein erschütternder Schrei des Entsetzens durch das ganze Haus. Als er in dem Hofe des Gasthauses dem Reisenden begegnete, den er ermordet, und zuerst sein Geld sah, war die Art, wie das Verbrechen ihm in den Kopf kam – und die Augen – eben so wahr als schrecklich. Dieser Reisende ist ein guter Kerl und gibt ihm Wein. Du solltest sehen, wie die dunkle Erinnerung an seine besseren Tage über ihn kommt, indem er das Glas nimmt und auf eine seltsame verworrene Weise thut als wolle er mit dem andern Manne anstoßen oder irgend etwas Leichtes, Lustiges damit machen und dann einhält und den Inhalt seine heiße Kehle hinunterstürzt, als gösse er ihn in eine Kalkgrube. Aber das war Nichts im Vergleich mit dem was folgt, nachdem er den Mord vollführt hat und nach Hause kommt mit einem Korb mit Lebensmitteln, einer zerlumpten Tasche voll Geld und einer schlecht gewaschenen blutigen rechten Hand – die sein kleines Mädchen bemerkt. Sein bei Seite Gehen, sich rund Umdrehen und an seinem ganzen Anzuge nach Flecken Suchen, nachdem das Kind ihn gefragt hat, ob er sich die Hand verletzt habe, war so unaussprechlich furchtbar, daß es Einem wirklich Schrecken einjagte. Er forderte Wein, und der Schauer, der über ihn kam, als er die Farbe erblickte, war eins von den Dingen, welche jenen seltsamen Schrei in der Zuhörerschaft hervorriefen, von dem ich gesprochen habe. Dann versank er in eine Art blutigen Nebel und ging bis an's Ende tappend umher, ohne Verlangen nach irgend Etwas, außer durch Einsetzen seines Geldes sein Glück zu machen und eine matte dumpfe Liebe für das Kind. Es ist ganz unmöglich, sich Genüge zu leisten, so viel man auch von einer so großartigen Darstellung sagt. Ich habe ihn nie in irgend etwas Anderm den schönsten Punkten derselben nahe kommen sehen. Er sagte zwei Sachen auf eine Weise, die ihn allein weit über alle andern Schauspieler erheben würde. Eine zu seiner Frau, nachdem er ihr triumphirend das Geld gezeigt und sie ihn gefragt hat, wie er es bekommen – ›Ich habe es gefunden‹ – und die andre zu seinem alten Genossen und Versucher, wenn dieser ihn beschuldigt, den Reisenden ermordet zu haben und er in plötzlichen Wahnsinn fällt, ihn bei der Kehle packt und heult: ›Nicht ich – das Elend hat ihn gemordet!‹ Und dieser Anzug, dies Gesicht und vor Allem dies wunderbar schuldige böse Ding, das er aus einem knotigen Baumast machte, der ihm als Spazierstock dient, von dem Augenblicke an, wenn der Gedanke des Mordes ihm in den Kopf kommt! Ich könnte ganze Seiten über ihn schreiben. Es ist ein ganz unauslöschlicher Eindruck. Er wurde in Bezug auf jenen Stock halb ruhmredig gegen sich selbst, halb fürchtete er sich davor und wußte nicht, ob er eine grimmige Freude empfinden sollte über sein zackiges Ende, oder ihn hassen und sich davor entsetzen. Er saß, mit dem Reisenden trinkend, an einem kleinen Tisch im Hofe des Gasthauses, und dieser entsetzliche Stock kam wie der Teufel zwischen sie, während er sich an seinen Fingern den mannigfachen Nutzen herzählte, den er von dem Gelde haben werde.«

Dies war zu Ende Februar 1855. Im Oktober fing Dickens' längerer Aufenthalt an. Er begab sich mit seiner Familie, nach zwei erfolglosen Versuchen in der neuen Gegend der Rue Balzac und Rue Lord Byron, in eine Wohnung in der Avenue des Champs Elisées. Neben ihm wohnte ein englischer Junggesell mit einem Haushalt, der aus einem englischen Reitknecht und fünf englischen Pferden bestand. »Der Thürhüter und dessen Frau sagten uns, sein Name sei Six, was mich fast zur Verzweiflung brachte, bis wir entdeckten, daß er Sykes heißt.« Die Lage war gut, sehr angenehm für ihn selbst und unterhaltend für seine Kinder. Es war etwa fünf Minuten oberhalb Franconi's und nur ein oder zwei Häuser vom Jardin d'Hiver. Die Ausstellung war ganz in der Nähe, die Barrière de L'Etoile fünf bis zehn Minuten entfernt, und ganz Paris mit Einschluß des Kaisers und der Kaiserin, wenn sie nach St. Cloud gingen und von dort zurückkehrten, drängte sich den ganzen Tag in offenem Wagen oder zu Pferde an den Fenstern vorbei. Nun fand er auch, daß er eine größere Berühmtheit geworden war, als da er neun Jahre früher in der Stadt überwinterte. »Es ist überraschend, was für eine Veränderung neun Jahre in meinem Bekanntsein hier gemacht haben. So viele von dem heranwachsenden französischen Geschlecht lesen jetzt englisch (und eine Uebersetzung von Chuzzlewit erscheint jetzt täglich im ›Moniteur‹), daß ich in keinen Laden gehen und meine Karte überreichen kann, ohne auf die angenehmste Weise erkannt zu werden. Ein Curiositätenhändler brachte mir einige Kleinigkeiten, die ich neulich Abends bei ihm gekauft hatte, und kannte alle meine Bücher, von Anfang bis zu Ende. Meine Leser hier erweisen mir viel von jener persönlichen Freundlichkeit, die in England so angenehm ist, und ich bin ebenso überrascht als erfreut über diese unerwartete Entdeckung.« Diesen Mittheilungen will ich noch eine Zeile aus einem sechs Jahre später geschriebenen Briefe hinzufügen: »Ich sehe meine Bücher in französischer Sprache an allen Eisenbahnstationen, großen und kleinen.« (13. Okt. 1862.) Das Feuilleton des Moniteur war täglich mit einer Uebersetzung » Chuzzlewit's« angefüllt, und er mußte bald den schon erwähnten Vorschlag einer französischen Ausgabe seiner gesammelten Romane und Erzählungen in Erwägung ziehen. »Ich vergesse« (6. Jan. 1856) »ob ich Dir schon schrieb, daß eine ansehnliche Buchhandlung mir Vorschläge gemacht hat zu einer vollständigen, von mir autorisirten französischen Uebersetzung meiner sämmtlichen Bücher. Die Bedingungen hängen von Fragen des Raumes und der Masse ab – aber nach einem allgemeinen Ueberschlage denke ich etwa 300 Pfd. St. dafür zu bekommen – vielleicht 50 Pfd. St. mehr.« – »Ich bin« (30. Jan.) »mit der französischen Verlagshandlung übereingekommen, daß mir in monatlichen Raten von 40 Pfd. St. die Summe von 440 Pfd. St. für das Uebersetzungsrecht aller meiner Bücher ausgezahlt wird, – d. h. der Bücher, welche sie meine Romane und ich meine Geschichten nenne. Dies schließt die ›Weihnachtsbücher‹, die ›Amerikanischen Noten‹, die ›Reisebilder aus Italien‹ und die ›Skizzen‹ nicht ein; aber sie sollen das Recht haben, dieselben für Extrazahlungen zu übersetzen, wenn sie wollen. In Anbetracht dieses Unternehmens mit meinem unbeschützten Besitz trete ich ihnen das Recht ab, alle meine künftigen Romane für tausend Franken das Stück zu übersetzen. Wenn man bedenkt, daß ich soviel bekomme für Etwas, was sonst nichts werth ist, und meine Bücher vor ein so gescheutes und bedeutendes Volk bringe, so ist dies, wie mir scheint, kein schlechtes Geschäft.« Ich muß noch erwähnen, daß der erste Freund, mit dem er sich darüber berieth, der berühmte Leipziger Verleger Baron Tauchnitz war, auf dessen Urtheil und Ehrenhaftigkeit er unbeschränktes Vertrauen setzte und der die Anerbietung für billig hielt. Am 17. April schrieb er: »Am Montage werde ich mit allen meinen Uebersetzern bei Hachette, dem Buchhändler, welcher den Contrakt für die vollständige Ausgabe mit mir gemacht und diese Woche angefangen hat, seine monatliche Rate von 40 Pfd. St. zu bezahlen, diniren. Es ist meine Absicht, gar nicht mehr in Gesellschaft zu gehen. Stelle Dir mich inmitten meiner französischen Ankleider vor.« Er schrieb einen Prospektus für die Ausgabe, worin er die Freigebigkeit seiner Verleger rühmte und seinen Stolz kund gab, bei dem französischen Volke, das er aufrichtig liebe und ehre, auf solche Weise eingeführt zu werden. Noch ein Wort sei hinzugefügt. »Es ist ganz hübsch, daß die französische Uebersetzung mir meine Hausmiethe für das ganze Jahr, und die Reisekosten obendrein, bezahlen wird.« – 24. Febr. 1856. Ehe er eine Woche in seiner neuen Wohnung gewesen war, hatte Ary Scheffer, ›ein offener und edler Mensch‹, seine Bekanntschaft gemacht, ihn bei mehreren berühmten Franzosen eingeführt und den Wunsch ausgesprochen, ihn zu malen. Scheffer war auch ein Vorzug zu danken, den er den beiden kleinen Töchtern meines Freundes verschaffte und an den sie sich immer mit Stolz erinnern mögen. »Mamey und Katey lernen Italiänisch und ihr Lehrer ist Manin, Venetianischen Ruhmes, der beste und edelste jener unglücklichen Männer. Er kam mit seiner Frau und einer geliebten Tochter hierher, und Beide sind jetzt todt. Scheffer machte mich mit ihm bekannt und ist, wie ich höre, wunderbar großmüthig und gut gegen ihn gewesen.« Auch will ich nicht unterlassen, die Freude zu erwähnen, welche ihm nicht bloß durch die Anwesenheit von Wilkie Collins und Mr. und Mrs. White aus Bonchurch, während des Winters in Paris bereitet wurde, sondern durch die vielen Freunde aus England, welche die Kunstausstellung hinüberführte. Sir Alexander Cockburn war einer von diesen; Edwin Landseer, Charles Robert Leslie und William Boxall waren Andere. Macready verließ seine Zurückgezogenheit in Sherborne, um ihm einen mehrtägigen Besuch zu machen. Thackeray reiste während der ganzen Zeit hin und her zwischen London und dem ebenfalls in den Champs Elisées gelegenen Hause seiner Mutter, wo seine Töchter sich aufhielten. Und Paris war damals die Heimath Robert Lytton's, der bei der englischen Gesandtschaft war, der Sartoris, der Browning und anderer, die Dickens lieb hatte und gerne sah.

Bei dem ersten von ihm besuchten Theaterstück wurde die Aufführung unterbrochen, während der Bericht über das letzte Gefecht in der Krim, der grade in einem Beiblatt des »Moniteur« veröffentlicht war, von der Bühne vorgelesen wurde. »Er machte nicht den mindesten Eindruck auf die Zuhörer und selbst die gemietheten Claqueurs, die während des Stückes abgeschmackt laut gewesen waren, schienen zu denken, daß der Krieg nicht in ihrem Vertrage sei und verhielten sich so ruhig wie Grabenwasser. Das Theater war voll. Es ist unmöglich, eine solche Apathie zu sehen und den Krieg für populär zu halten, was auch über das Gegentheil behauptet werden mag.« Am Tage vorher war Dickens dem Kaiser und dem Könige von Sardinien in den Straßen begegnet »und wie gewöhnlich hatte kein Mensch an den Hut gefaßt und sehr wenige sich auch nur umgesehen.«

Der Erfolg eines sehr hübschen kleinen Stückes von unserm alten Freunde Regnier führte ihn zunächst in's Theatre Français, wo Plessy's Spiel ihn entzückte. »Das Interesse dreht sich natürlich um ein fehlerhaftes Stück lebendigen Porcellans ( das scheint gradezu wesentlich), aber wenn man, wie in den meisten dieser Fälle, die Lage der Leute nimmt wie sie eben ist, so braucht man über nichts weiter moralische Bedenken zu hegen.« Das Theater in der Rue Richelieu war jedoch nicht im Allgemeinen sein Lieblingsvergnügen. Er pflegte in launiger Weise davon zu sprechen, als von einer Art Grab, wohin man gehe, wie die Leute in den orientalischen Erzählungen, um an verschmähte Liebe und todte Verwandte zu denken. »Es herrscht in dieser Anstalt ein öder Klassicismus, der ganz dazu geeignet ist, einem das Mark erfrieren zu machen. Unter uns gesagt, erregen zu Zeiten selbst unsre besten Freunde dort unsern Verdruß. Man wird es müde, durch zahllose Akte hindurch einen Mann zu sehen, der sich an Alles erinnert, indem er sich mit der flachen Hand vor die Stirne schlägt, der Sätze herausstößt, indem er sich schüttelt und sie mit seinem rechten Vorderfinger über seinem Kopfe zu Pyramiden aufhäuft. Und dann haben sie ein charakteristisches kleines Lustspiel, wo man zwei Sofas und drei kleine Tische sieht, zu denen ein Mann mit dem Hute auf dem Kopf hereinkommt, um mit einem andern Manne zu sprechen – und wo man ganz genau weiß, wann er von dem einen Sofa aufstehen wird, um sich auf den andern zu setzen und seinen Hut von dem einen Tisch abnehmen wird, um ihn auf den andern zu stellen – was einen ebenso komischen Eindruck hervorbringt, als eine gute Posse . . . In dem Vaudeville scheint man ein gutes Stück zu geben, nach dem Plane der »Stadt- und Landmaus«. Es ist heute Abend für mich zu respectabel und harmlos, aber ich hoffe es noch zu sehen, ehe ich fortgehe . . . Ich habe den entsetzlichen Gedanken, mich mit Franconi zu befreunden, und wenn ich an der Arbeit bin, in ihr mit Hobelspänen bestreutes Foyer hineinzuschlendern.«

In einem Theater aus noch schwererer Schule als das Français machte er eine noch unerfreulichere Erfahrung. »Am Mittwoch gingen wir in das Odéon, um ein neues Stück in vier Akten und in Versen, Namens Michel Cervantes, zu sehen. Solch' eine höllische Dose von Grabenwasser wurde wohl nie vorher zusammengebraut. Aber einige Stellen, welche die Unterdrückung der öffentlichen Meinung in Madrid schilderten, wurden mit einem Beifallsrufen wilder Anwendung auf Frankreich aufgenommen, das mein Staunen erregte. Und noch einmal, hier wieder, in jeder Pause, fest, geschlossen, regelmäßig wie Trommelwirbel, das » Ça ira!« An einem andern Abend wurde ihm sogar in der Porte St. Martin, wohin er ohne Zweifel von der Anziehungskraft des Widerstrebens geführt worden war, ein Gastmahl voll von den Schrecken des Klassicismus vorgesetzt, in einer von Alexander Dumas versificirten Darstellung des Orest. »Nie habe ich etwas so Feierliches und so Lächerliches gesehen. Hätte ich nicht schon gelernt, bei dem Anblick classischer Draperie an einer menschlichen Gestalt zu zittern, so würde ich in diesem Werke die äußersten Tiefen entsetzter Langeweile ergründet haben. Der Chor kommt auf keine andre Weise zur Geltung, als daß einzelne Stücke daraus durch verschiedene Personen vorgetragen werden. Es ist wirklich so schlecht, daß es beinahe gut ist. Einige der französirten Ausdrücke classischer Leiden machten mir einen so unaussprechlich lächerlichen Eindruck, daß ich unwillkürlich grinse, indem ich davon schreibe.«

In demselben Theater hatte er zu Anfang des Frühlings eine etwas lebhaftere Unterhaltung. »Ich war gestern Abend in der Porte St. Martin, wo ein ganz hübsches Melodrama, mit dem Titel Sang Melé, gespielt wird. Einer der Charaktere ist ein englischer Lord – Lord William Falkland – der durch das ganze Stück hindurch Milor Williams Fack Lore genannt und von Andern sowohl als von sich selbst hundertmal erwähnt wird als Williams. Er wird vortrefflich gespielt; aber zwei reisende Engländerinnen sind über alle Maßen lächerlich und es ist etwas positiv Lasterhaftes in ihrem vollständigen Mangel an Wahrheit. Eine Dekoration, wo die Handlung eines ganzen Aktes auf der großen hölzernen Veranda eines eine Bergschlucht überragenden Schweizer-Hotels stattfindet, ist das gelungenste Stück Theaterzimmerei, das ich in Frankreich gesehen habe. In der nächsten Woche sollen wir im Ambigü Paradise Lost haben, mit dem Morde Abels und der Sündfluth. Die wildesten Gerüchte fliegen umher in Bezug auf die Costümirung unsrer Stammeltern.« Die Erwartung geht in solchen Dingen weit über die Wirklichkeit hinaus und bei der Fieberhöhe, zu welcher jene Gerüchte sie hier gesteigert hatten, hätte Dickens umsonst versuchen mögen, bei der ersten Vorstellung Zutritt zu erlangen, hätte nicht Webster, der englische Theaterdirektor und Schauspieler, ihm ein Billet verschafft. Er ging mit Wilkie Collins hin. »Wir wurden um 8 Uhr aus dem Café unter dem Ambigü hineingeläutet und das Stück war vorüber um halb Zwei; die Zwischenakte waren indeß viel länger als die Akte selbst. Das Theater war überall gedrängt voll und die Galerieen furchtbar von Blousen, welche letzteren wieder während der ganzen Zwischenakte mit der Regelmäßigkeit kriegerischer Trommeln die revolutionäre Melodie berühmten Angedenkens Ça ira anstimmten. – Das Stück ist ein Gemisch aus Milton's Paradise Lost und Byron's » Kain« und einige Streitreden zwischen dem Erzengel und dem Teufel, wo die himmlische Macht in dem gewöhnlichen französischen Conversationstone mit der höllischen disputirt, wie: Eh bien, Satan, crois-tu donc que notre Seigneur t'aurait exposé aux tourments que tu endures à présent, sans aviur prévu &c. sind höchst lächerlich. Alle übernatürlichen Personen sind schreckenerregend natürlich, soweit auf dem Theater von Natur die Rede sein kann, und wandern in der dummsten Weise umher. Was Collins und mich veranlaßt hat, eine Untersuchung anzustellen, ob die Franzosen je einen Begriff von dem Uebernatürlichen gehabt haben, und dies eigentlich verneinend zu entscheiden. Die Leute sind sehr gut gekleidet und Eva sehr anständig. Man hatte ganz Paris und die Provinzen durchsucht nach einer Frau mit braunen Haaren, die bis auf die Waden herabfallen – und man fand sie endlich im Odéon. Es kam nichts Anziehendes vor bis zum vierten Akte, wo eine ganz hübsche Scene hervorgerufen wird, indem die Kinder Kain's hineintanzen und einen Tempel entweihen, während Abel und seine Familie in allen Pausen der Lustbarkeit eifrig an der Arche draußen hämmern. Die Sündfluth im fünften Akte stand ungefähr auf dem Niveau einer Ertrinkungsscene in dem Adelphithater; aber sie hatte eine neue Eigenthümlichkeit. Als der Regen aufhörte und die Arche auf der großen, nun wellenlos daliegenden Wasserfläche heranfuhr, und der Nebel sich aufhellte und die Sonne hervorbrach, trieb eine Menge von Körpern darin auf und nieder. Es waren dies sämmtlich wirkliche Männer und Knaben, ein jeder abgesondert, an einer neuen Art horizontalem Gestell. Sie sahen entsetzlich wirklich aus. Im Ganzen ist es eine höchst langweilige Geschichte; aber trotzdem ist es ganz möglich, daß sie sich lange Zeit hält.«

Eine ehrliche Posse ist eine Erlösung von solchen profanen Albernheiten. »Ein ungemein drolliges Stück mit einer originellen komischen Idee ist hier in Aufführung begriffen. Es heißt Les cheveux de ma Femme. Ein Mann, der seine Frau schwärmerisch liebt und zu wissen wünscht, ob sie vor ihrer Verheirathung mit ihm schon einen Andern geliebt, schneidet ihr heimlich eine Locke ab und geht damit zu einem großen Mesmeristen, der sie einer Hellseherin vorlegt, welche nie unrichtige Aussagen gethan hat. Es ergibt sich, daß die Eigenthümerin dieses Haares den entsetzlichsten Ausschweifungen gefröhnt hat, so daß die Hellseherin nicht die Hälfte derselben erwähnen kann. Der außer sich gerathene Gemahl geht nach Hause, um seiner Frau Vorwürfe zu machen, und sie enthüllt ihm dann, daß sie eine Perrücke trägt und nimmt dieselbe ab.«

Das letzte Stück, in welches Dickens ging, ehe er Paris verließ, war eine französische Bearbeitung von » Wie Ihr wollt«, aber er fand zwei Akte davon mehr als hinreichend. »In Comme il vous plaira hatte Niemand etwas Anderes zu thun, als sich so oft als möglich auf so viele Baumstämme als möglich hinzusetzen. Als ich gesehen hatte, wie Jacques sich auf 17 Baumwurzeln und 25 graue Steine gesetzt hatte, (was am Ende des zweiten Aktes war), ging ich fort.« Nur noch eine Theaterskizze, und vielleicht die beste von allen, will ich aus diesen Briefen mittheilen. Sie erzählt uns einfach, was nöthig ist, um ein besonderes Anhängsel zu einem Stücke zu verstehen, aber die Erzählung ist so hübsch, daß der Gegenstand, den sie feiert, keine angenehmere Wirkung hervorbringen könnte, als diejenige welche durch diesen Bericht darüber hervorgebracht wird. Das in Frage stehende Stück Mémoires du Diable und ein anderes Stück von bezauberndem Interesse, der Médecin des Enfants waren von allen Stücken, die er um diese Zeit sah, seine Lieblingsstücke. »Da ich keine Neuigkeiten habe, kann ich Dir eben sowohl von dem Anhängsel erzählen, das ich bei den Mémoires du Diable so hübsch fand, in welchem Stücke beiläufig gesagt eine höchst bewunderungswürdige Rolle ist, bewunderungswürdig gespielt, worin ein Mann bloß ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagt, das ganze Stück hindurch, bis zur letzten Scene. Ein gewisser M. Robin hat die Papiere eines verstorbenen Advokaten, betreffend ein gewisses Landgut, das seiner rechtmäßigen Besitzerin, der Wittwe eines Barons, zu Gunsten eines Andern abgeschwindelt ist, in seine Hände bekommen. Sie enthüllten so viel Schurkerei, daß er sie in einen Band zusammenbindet, den er Mémoires du Diable betitelt. Die aus diesen Papieren gewonnenen Aufschlüsse setzen ihn nicht bloß in den Stand, die Heuchler in dem ganzen Stück zu entlarven (und zwar auf treffliche Weise), sondern veranlassen ihn, der Baronin den Vorschlag zu machen, daß, wenn er ihr ihr Besitzthum und ihren guten Namen (denn selbst ihre Verheirathung mit dem verstorbenen Baron wird geleugnet) zurückerwirbt, sie ihm die Hand ihrer Tochter geben soll. Die Tochter selbst nimmt, als sie von dem Anerbieten hört, dasselbe an; und ein Theil des Planes ist, daß sie auf einen Maskenball geht, auf den er selbst als Teufel geht, um zu sehen, wie er ihr gefällt (worauf sie natürlich findet, daß er ihr sehr gefällt). Die Landleute in der Nachbarschaft des in Rede stehenden Schlosses halten ihn für den wirklichen Teufel, wegen seiner seltsamen Kenntnisse und seines seltsamen Kommens und Gehens; und er, wenn er zu Anfang des dritten Aktes mit diesem Mädchen in einem alten Zimmer des Schlosses ist, zeigt ihr auf dem Tische einen kleinen Koffer, mit einer darin befindlichen Glocke. ›Man meint,‹ sagt er ihr, ›daß ich, so oft diese Glocke ertönt, erscheine und dem Rufe gehorche. Sehr unwissend, nicht wahr? Aber wenn Du meiner je besonders – ganz besonders – bedarfst, so zieh' die kleine Glocke und versuche es.‹ Die Entwickelung des Stückes schreitet dann weiter fort. Die Uebelthäter werden entlarvt; das verlorene Dokument, welches die Heirath beweist, wird gefunden; Alles wird erledigt, Alle sind auf der Bühne und M. Robin überreicht der Baronin das Papier. ›Sie sind von Neuem in Ihre Rechte eingesetzt, Madame; Sie sind glücklich; ich will Sie nicht bei einem Vertrage festhalten, der gemacht wurde, als Sie mich nicht kannten; ich gebe Sie und Ihre schöne Tochter frei; die Freude gethan zu haben was ich gethan, ist mir eine hinlängliche Belohnung; ich küsse Ihnen die Hand und empfehle mich. Leben Sie wohl!‹ Er zieht sich höflich zurück, das Stück scheint zu Ende, Jedermann ist erstaunt, das Mädchen (die kleine Mlle. Luther) steht bestürzt da, als sie sich plötzlich an die kleine Glocke erinnert. Auf die hübscheste Art, die man sich denken kann, läuft sie nach dem Koffer auf dem Tische, nimmt die kleine Glocke heraus, läutet sie, und er kommt zurückgeeilt und preßt sie an sein Herz. Nie in meinem Leben habe ich etwas Hübscheres gesehen. Ich lachte jenes schönste Lachen, bei dem Einen die Thränen in den Augen stehen, so daß ich es nie vergessen kann und hingehen und es noch einmal sehen muß.«

Aber so viel Vergnügen das Theater ihm bereitete, so verdankte er, in Bezug auf geselligen Verkehr, den ausgezeichneten Männern, welche als Schriftsteller oder Schauspieler mit dem Theater in Verbindung standen, noch mehr. Scribe lud ihn häufig ein und sehr schön und angenehm war sein Bericht über die Dîners und über den ganzen Zubehör des fruchtbaren Dramatikers – ein reizendes Haus in Paris, ein schönes Landgut, einen eleganten Wagen, ein schönes Paar Pferde, »Alles, wie er sagt, durch seine Feder gemacht«. Einer der Gäste des ersten Abends war Auber, »ein uninteressanter ältlicher Mann, etwas naseweis in seinen Manieren«, der Dickens erzählte, er habe einmal in Stock Stornton (Stoke Newington) gewohnt, um Englisch zu studiren, habe es aber Alles vergessen. »Louis Philipp habe ihn eingeladen, um die Königin von England bei ihm zu treffen, und als L. P. ihn vorstellte, habe die Königin gesagt: ›Wie sind so alte Bekannte durch Herrn Auber's Werke, daß eine Vorstellung ganz unnöthig ist.‹« Sie begegneten sich wieder einige Abende später mit dem Verfasser der Histoire des Girondins an dem gastlichen Tische Mr. Pichot's, dem Lamartine seinen lebhaften Wunsch ausgedrückt hatte, Dickens wieder zu sehen, als un des grands amis de son imagination. »Er ist noch grade so wie wir ihn früher kannten, in seinem Aeußeren wie in seinem Wesen, sehr einnehmend und mit einer Art von ruhiger Leidenschaft, die sehr anziehend ist. Wir sprachen über de Foe Ich füge aus einem anderen dieser französischen Briefe von späterem Datum eine Bemerkung über Robinson Crusoe bei. »Du erinnerst Dich wohl, daß ich vor einiger Zeit zu Dir sagte, wie sonderbar es mir scheine, daß Robinson Crusoe das einzige allgemein populäre Buch sei, das Niemanden zum Lachen und Niemanden zum Weinen bringen könne. Ich habe es jetzt, im Verlaufe meiner zahlreichen Erfrischungen an jenen englischen Quellen, wieder einmal gelesen und ich bin kühn genug zu behaupten, daß es in der ganzen Literatur kein erstaunlicheres Beispiel eines vollständigen Mangels an Zartheit und Gefühl gibt, als den Tod Freitags. Er ist auf eine sehr verschiedene und ernsthaftere Art ebenso herzlos wie Gil Blas. Aber der zweite Theil hält vor einer Untersuchung gar nicht Stand. Im zweiten Theile des Don Quixote kommen einige der schönsten Sachen vor. Aber der zweite Theil von Robinson Crusoe ist gradezu verächtlich durch den grellen Mangel, daß er einen Menschen, der dreißig Jahre auf einer wüsten Insel zugebracht hat, darstellt ohne jeden sichtbaren Einfluß dieser Erfahrung auf seinen Charakter. Auch de Foe's Frauen – Robinson Crusoe's Frau zum Beispiel – sind schrecklich langweilige alltägliche Kerle ohne Hosen, und ich bezweifle nicht, daß er selbst ein gewaltig trockner und unangenehmer Gesell war – ich meine de Foe, nicht Robinson. Dem armen lieben Goldsmith (ich erinnere mich daran, indem ich dies schreibe) machte es denselben Eindruck.« und Richardson und über jenes wunderbare Genie für die kleinsten Details einer Erzählung, das ihnen eine so große Berühmtheit in Frankreich verschafft hat. Ich fand ihn offen und natürlich und voll merkwürdiger Kenntniß des französischen Volkscharakters. Er kündete der Gesellschaft beim Dîner an, es sei ihm selten ein Fremder begegnet, der das Französische so gut spreche wie Dein unnachahmlicher Correspondent, worüber Dein Correspondent bescheiden erröthete und unmittelbar darauf so große Gefahr lief, an einem Hühnerknochen (der noch in seiner Kehle sitzt) zu ersticken, daß er zehn Minuten lang voll Qual da saß, mit der lebhaften Besorgniß, er werde den guten Pichot berühmt machen, indem er, wie der kleine Bucklige, an seinem Tische sterbe. Scribe und seine Frau waren unter den Anwesenden, mußten aber zur Eiszeit fortgehen, weil in der Opéra comique die erste Darstellung einer neuen Oper von Auber und ihm selbst stattfand, von der man sehr hohe Erwartungen hegt. Es war sehr merkwürdig, ihn, den Verfasser von 400 Stücken, zu sehen, wie er, als die Zeit heran kam, nervös wurde und jeden Augenblick die Uhr herauszog. Endlich stürzte er hinaus, als wolle er das nehmen, was einer meiner Freunde ein Sturzbad nennt. Worauf auch sie sich erhob und ihm folgte. Sie ist die außerordentlichste Frau, die mir je vorgekommen ist; denn ihr ältester Sohn muß dreißig sein, und sie hat eine Figur von fünfundzwanzig und ist auffallend schön. Dabei so anmuthig, daß ihre Art aufzustehen, zu grüßen, zu lachen und nach ihm hinauszugehen, hübscher war als das Hübscheste was ich je davon auf der Bühne gesehen habe.« Die Oper sah Dickens selbst eine Woche später und beschrieb sie als »allerliebst. Köstliche Musik, ein vortreffliches Buch, ungeheurer Bühnentakt, ausgezeichnete scenische Anordnungen und die entzückendste kleine Primadonna, die man je gesehen oder gehört, in der Person Marie Cabel's. Die Oper heißt Manon Lescaut, nach dem alten Roman, und ist hübsch von Anfang bis zu Ende. Sie singt ein lachendes Lied darin, das mit Begeisterung aufgenommen wird und das einzige wirklich lachende Lied ist, das geschrieben wurde. Auber erzählte mir, bei der ersten Probe habe es auf das Orchester einen großen Eindruck hervorgebracht und man hätte ihm über seine Frische kein besseres Compliment machen können als das, welches der Musikdirektor ihm machte, indem er auf ihn zukam und ihm auf die Schulter klopfte, mit den Worten: Bravo, jeune homme! Cela promet bien!«

Beim Dîner bei Regnier traf er Legouvet, in dessen Tragödie, nachdem dieselbe zur Aufführung angenommen war, Rachel sich geweigert hatte, die Medea zu spielen; eine Laune, welche nicht bloß ihre Verurtheilung zu so und so viel Strafgeld per Abend, bis sie spielen würde, zur Folge hatte, sondern auch eine Art Rivalität zwischen ihr und Ristori hervorrief, welche letztere sich damals auf dem Wege nach Paris befand, um das Stück auf Italiänisch zur Darstellung zu bringen. In diese Aufführung gingen später Dickens und Macready zusammen und erklärten sie für hoffnungslos schlecht. »In den täglichen Unterhaltungen und den kleinen melodramatischen Theatern Italiens habe ich ganz dasselbe fünfzig mal gesehen, nur nicht zugleich so conventionell und so übertrieben. Die Zeitungen haben alle in Krämpfen gelegen über die Erhabenheit der Darstellung und die Echtheit des Beifalls – besonders der Bouquets, die in den unpassendsten Augenblicken, inmitten qualvoller Scenen auf die Bühne geworfen wurden, so daß die Schauspieler sich ihren Weg dazwischen suchen und ein gewisser starker Herr, der den Kleon spielte, den ganzen Abend die Prosceniumslogen vorsichtig im Auge behalten mußte, um den Bouquets auszuweichen, wenn sie hinunterflogen. Scribe, der am folgenden Tage hier dinirte (und der auf Seiten Ristori's steht, weil er, wie Jedermann hier, sich durch Rachels Unverschämtheit beleidigt fühlt), konnte der Versuchung nicht widerstehen, uns zu sagen, daß er, als er am Ende des ersten Aktes herumgegangen, um seine Glückwünsche darzubringen, allen Bouquets begegnet sei, wie sie in den Armen von Männern zurückkamen, um im zweiten Akt noch einmal geworfen zu werden . . . Beiläufig gesagt, finde ich, daß an Scribe ein guter Schauspieler verloren ist. In allen seinen Stücken läßt er Alles auf seine eigne Weise thun und an eben jenem Abend zeigte er das, was Rachel in der letzten Scene von Adrienne Lecouvreur nicht that und thun wollte, mit außerordentlicher Kraft und Energie.«

In dem Hause einer andern großen Künstlerin, Madame Viardot Als Dickens sechs Jahre später in Paris war, sah er diese ausgezeichnete Sängerin in einer Gluck'schen Oper, und der Leser wird es nicht bedauern, wenn ich eine Beschreibung derselben mittheile. »Gestern Abend sah ich Madame Viardot Gluck's Orpheus spielen. Es ist eine außerordentliche Darstellung, pathetisch im höchsten Grade und voll von wahrhaft erhabenem Spiel. Obgleich von Anfang bis zu Ende unvergleichlich schön, ist doch der Anfang, am Grabe der Eurydice, etwas, woran ich noch jetzt, indem ich dies schreibe, nicht ohne Bewegung denken kann. Es ist die schönste Darstellung des Schmerzes, die man sich vorstellen kann. Und nachdem die Götter sie mit Hoffnung erfüllt haben und mit Muth in die andere Welt zu gehen und Eurydice zu suchen, ist die Art, wie Viardot die vergessene Leyer von dem Grabe nimmt und wieder stralend wird, unendlich edel. Auch Eurydice's Berührung, wenn die Hand sich endlich von hinten in die ihrige legt, erkennt sie wie ein großer Genius. Und nachdem sie, dem Flehen Eurydice's nachgebend, sich umgewandt und sie mit einem Blicke getödtet hat, ist ihre Verzweiflung über der Leiche überwältigend großartig. Es zu sehen, ist eine Reise nach Paris werth, denn es gibt sonst keine Kunst wie diese. Ihr Mann traf mich ganz zufällig und führte mich in ihr Ankleidezimmer. Als ächter Tribut für ihr Spiel hätte nichts Besseres sich zutragen können, denn ich war entstellt von Weinen.« – 30. November, 1862., der Schwester Malibran's, dinirte Dickens mit George Sand, nachdem diese Dame Tag und Stunde für dies interessante Fest bestimmt hatte, das am 10. Januar stattfand. »Es scheint mir unmöglich, mir irgend Jemand meinen Erwartungen unähnlicher vorzustellen als die berühmte Sand. In ihrem Aeußeren ganz die Sorte von Frau, wie man sich etwa die Kinderfrau der Königin denkt. Dick, matronenhaft, dunkel, schwarzäugig. Nichts vom Blaustrumpf an ihr, außer einer kleinen endgültigen Art und Weise, alle Deine Ansichten durch die ihrigen zu entscheiden, die sie, wie mir scheint, in dem Lande wo sie wohnt und durch ihre Herrschaft über einen kleinen Kreis erworben hat. Eine auffallend gewöhnliche Frau in Erscheinung und Wesen. Das Dîner war sehr gut und merkwürdig anspruchslos. Wir, Madame und ihr Sohn, die Sartoris und irgend eine Lady (jüngst aus der Krim angekommen), die eine Art Paletot trug und rauchte. Die Viardot's haben ein Haus drüben in dem neuen Theile von Paris, das grade aussieht, als wären sie vorige Woche eingezogen und wollten die nächste wieder ausziehen. Nichtsdestoweniger haben sie acht Jahre darin gewohnt. Die Oper ist das Letzte, was man mit der Familie in Zusammenhang bringen würde. Das Klavier wurde nicht einmal geöffnet. Ihr Mann ist ein herzensguter Mensch und sie ist so natürlich als irgend möglich.«

Dickens war nicht der Mann, Madame Dudevant nach einem solchen Zusammentreffen richtig zu beurtheilen. Er war nicht mit ihren Schriften vertraut und was er davon kannte, hatte ihn nicht besonders angezogen. Aber keine Enttäuschung, nichts als Staunen erwartete ihn bei einem Dîner, welches bald darauf folgte. Emile de Girardin gab ihm zu Ehren ein Festmahl. Seine Beschreibung desselben, die er für streng prosaisch erklärt, klingt etwas orientalisch, aber den Umständen nicht unangemessen. »Niemand, der mit meinem Vorsatz, solche Berichte nie zu verschönern oder auszuschmücken, unbekannt ist, wird die Beschreibung des Dîners bei Emile de Girardin glauben, die ich loslassen werde, wenn wir uns wieder sehen – die drei prachtvollen Salons, mit zehntausend Wachskerzen in goldenen Wandleuchtern, auslaufend in einen Eßsaal von nie dagewesenem Glanze mit zwei ungeheuern transparenten Spiegelglasthüren, durch die man (durch ein mit reinen Tellern angefülltes Vorzimmer) grade in die Küche blickt, wo die Köche in ihren weißen Papiermützen das Dîner anrichten. Von seinem Sitz in der Mitte des Tisches sieht der Wirth (wie ein Riese in einem Märchen) die Küche und die schneeweißen Tische und die dort herrschende tiefe Ordnung und Ruhe. Hervor aus den Spiegelglasthüren kommt das Banquet – das wunderbarste Mahl, das je von Sterblichen gekostet wurde: denn nach dem gegenwärtigen Preise der Trüffeln kostete dieser Artikel allein (für acht Personen ) mindestens 5 Pfd. St. Auf dem Tische stehen eigenthümlich geformte Krüge von geschliffenem Glas, beladen mit dem feinsten Champagner und dem kühlsten Eis. Bei dem dritten Gange wird Portwein geschenkt (ein früher auf diesem Continent in gutem Zustande gar nicht zu habender Wein), der bei jeder Auktion zwei Guineen die Flasche einbringen würde. Nachdem das Dîner vorüber ist, werden orientalische Blumen in Vasen von goldenem Spinnegewebe auf die Tafel gestellt. Zu dem Eis giebt es Cognac, der hundert Jahre vergraben gelegen hat. Hierauf folgt Kaffee, im fernsten Osten von dem Bruder eines der Gäste für eine gleiche Quantität californischen Goldstaubes eingehandelt. Nachdem die Gesellschaft in den Salon zurückgekehrt ist, rollen, durch eine ungesehene Maschinerie bewegt, Tische herein, beladen mit Cigaretten aus dem Harem des Sultans und mit kühlen Getränken, in denen der Duft der gestern aus Algier angekommenen Citrone wollüstig kämpft mit dem der zarten Orange, die heute Morgen aus Lissabon eingetroffen ist. Nachdem diese Periode vorüber ist und während die Gäste auf Divans ruhen, welche mit bunten Blumen durchwirkt sind, rollen große Tische hinein, belastet mit massivem Silbergeschirr, und Weihrauch ausathmend in Gestalt einer kleinen, direkt aus China erhaltenen Gabe Thee – Tisch und Alles, glaube ich, aber ich kann nicht darauf schwören, und bin entschlossen, prosaisch zu sein. Während dieser ganzen Zeit wiederholt der Wirth beständig: Ce petit dîner-ci n'est que pour faire la connaissance de Monsieur Dickens; il ne compte pas; ce n'est rien. Und selbst jetzt habe ich vergessen die Hälfte der Gerichte zu nennen – ganz besonders das Item eines weit größeren Plumpuddings, als solcher je zu Weihnachten in England gesehen wurde, zubereitet mit einer himmlischen Sauce, an Farbe der Orangenblüthe gleich und an Inhalt gleich der pulverisirten und in Thau gebadeten Blüthe und auf der Speisekarte (einer Karte in einem goldenen Rahmen, die wie ein kleines Stück Fisch umhergereicht wird ) genannt Hommage à l'illustre écrivain d'Angleterre. Dieser illüstre Mann taumelte schließlich, sprachlos vor Staunen, aus der letzten Salonthüre hinaus, und auch in diesem Augenblick bemerkte sein Wirth, indem er einen mit kostbaren Steinen besetzten Kelch voll Nektar, (destillirt aus der Luft, welche über Bohnenfelder hingeweht war, die fünfzehn Sommer geblüht hatten,) an die Lippen hielt: Le dîner que nous avons eu, mon cher, n'est rien - il ne compte pas - il a été tout-à-fait en famille - il faut dîner (en vérité, dîner) bientôt. Au plaisir! Au revoir! Au dîner!«

Das zweite Dîner kam, wunderbar wie das erste; unter der Gesellschaft waren Regnier, Jules Sandeau und der neue Direktor des Theatre Français; und sein Wirth spielte wieder den Lucullus in demselben Style, mit noch vollendeterem Erfolg. Der einzige absolut neue Zwischenfall war, daß er mich nach dem Essen fragte, ob ich in ein anderes Zimmer kommen und eine Cigarre rauchen wolle? und als ich Ja sagte, öffnete er gelassen eine Schieblade, die etwa fünftausend unschätzbare Cigarren in gewaltigen Bündeln enthielt – grade wie der Capitän der Räuber in › Ali Baba‹ in eine Ecke der Grotte gehen mochte, um Ballen von Goldbrocat hervorzuholen. Ein kleiner Mann dinirte dort, der noch vor acht Jahren Stiefel wichste und jetzt ungeheuer reich ist, – der reichste Mann in Paris – nachdem er die gewöhnliche Börsenleiter mit Schnelligkeit emporgestiegen. Durch die bloße Bemerkung: er könne vielleicht wieder herunter kommen, bewölkte ich so viele Gesichter, daß es mir sehr klar wurde, daß sämmtliche Anwesende um einen oder den andern Gewinnst dasselbe Spiel spielen.« Er kam in einem einige Tage später geschriebenen Briefe auf diesen Gegenstand zurück. Wenn Du die Stufen der Börse um vier Uhr Nachmittags sähest und den Haufen von Blousen und Flicken unter den dort versammelten Speculanten, alle heulend und hager von Speculation, würdest Du in Gedanken an das, was hier vorgehen muß, erschrocken dastehen. Thürhüter und ähnliches Volk schießen sich beständig todt oder stürzen sich in die Seine › à cause des pertes sur la Bourse‹. Ich nehme selten eine französische Zeitung zur Hand, ohne daß mir ein solcher Paragraph in die Augen fällt. Auf der andern Seite ziehen Vollblutspferde ohne Ende und rothe Sammetwagen, mit Geschirr von weißem Ziegenleder auf kohlschwarzen Pferden, den ganzen Tag hier vorüber und die Fußgänger wenden sich um, um sie zu betrachten und lachen und sagen: C'est la Bourse! Es müssen hier jede Woche Katastrophen abgewandt werden, derengleichen man seit Law's Zeiten nicht gesehen hat.«

Ein anderes Bild schließt sich an dieses an und wirft Licht auf die damals herrschende Speculationswuth. Die mit dem Kriege verbundenen französischen Anlehen, welche in England wegen des Eifers, womit dafür subscribirt wurde, so viele Angreifer und Lobredner fanden, hatten in der That nur dem gewöhnlichsten und gemeinsten Hazardspiel gedient und der Krieg war nie im Mindesten populär gewesen. »Emile Girardin,« schrieb Dickens am 23. März, »war gestern hier und er sagt daß der Frieden morgen, feierlich, unter allgemeiner Gleichgültigkeit, in Paris verkündet werden wird.« Aber die Franzosen sind nie ganz gleichgültig gegen ihre eigenen Thaten; und einige Monate vorher hatte ein Schauspiel mit einem Anfluge von Aufregung stattgefunden, als die aus der Krim zurückkehrenden Truppen ihren Einzug hielten, bei welcher Gelegenheit der Vorbeimarsch der Zuaven Dickens am besten gefiel. »Ein merkwürdiger Truppenkörper,« schrieb er, »wild, gefährlich und malerisch. Kurz abgeschnittenes Haar, rother Fez, griechische Jacke, volle kurze Unterrock-Hosen mit Gelb gefüttert und hohe weiße Gamaschen – das Vernünftigste, Zweckgemäßeste, was ich kenne und was auch bei den Linientruppen in Anwendung kommt. Ein Mensch mit solchen Dingern an den Beinen ist dort immer frei und bereit für einen kothigen Marsch, und könnte durch Wege waten, die zwei Fuß tief mit Schmutz bedeckt sind, und indem er einfach die Gamaschen wechselt (er hat ein andres Paar im Tornister), sofort wieder rein und behaglich und gesund werden. Ein gut Theil Backenbart und Schnurrbart und die Flinte umgekehrt mit dem Kolben über die Schulter getragen, machen den sonnverbrannten Zuaven fertig. Er schreitet dahin wie Bobadil, raucht während er marschirt, und wenn er lacht (sie waren eine halbe Stunde oder so unter meinem Fenster), wirft er sich in der wildesten Weise zurück, als wollte er einen Purzelbaum schlagen. Sie haben einen schwarzen Hund, der zum Regimente gehört, und als sie nun mit ihren Medaillen vorbeimarschirten, marschirte dieser Hund hinter dem einen Unterofficier her, dem er immer folgt, mit dem Ausdruck tiefer Ueberzeugung, daß auch er dekorirt sei. Ich konnte nicht sehen, ob er eine Medaille trug, weil sein Haar so lang war; aber er war vollständig mit der Geschichte seines Regiments vertraut, und ich habe nie etwas so Köstliches gesehen als die Art, wie er das Publikum anblickte. Was das Regiment auch thut, er ist immer an seinem Platze, und es war unmöglich den Ausdruck bescheidenen Triumphes zu verkennen, der bei dieser Gelegenheit auf seinen Zügen lag. Körperlich ist er ein kleiner Hund, aber ein großer Geist.« An jenem Abend fand eine Illumination zu Ehren der Armee statt, wobei »ganz Paris, Nebenstraßen und Gassen und alle möglichen abgelegenen Orte, auf's Glänzendste erleuchtet waren. Es sah im Dunkeln aus wie ein zusammengerolltes Venedig und Genua, in der Mitte durchschnitten von dem römischen Corso zur Carnevalszeit. Das französische Volk versteht es wirklich, seine Landsleute auf wunderbare Weise zu ehren.« Es war die Festzeit des Neuen Jahres und Dickens verlor sich in dem Mysterium des Staunens, woher das Geld komme, das ein Jeder für die Neujahrsgeschenke ausgab, die er jedem Andern machte. Alle berühmten Läden der Boulevards waren seit mehr als einer Woche belagert gewesen. »Es steht jetzt eine Reihe von hölzernen Buden, mehr als eine halbe Meile lang, auf beiden Seiten jener gewaltigen Verkehrsstraße, und überall, wo ein zurückliegendes Haus eine doppelte Reihe zuläßt, befindet sich eine solche. Alle möglichen Dinge, von Stiefeln und Holzschuhen, durch Porcellan und Krystall hindurch, bis zu lebendigen Hühnern und Kaninchen, um die man mit einer Art zwerghaftem Kegelspiel spielt (gar sehr zur Beunruhigung jener Thiere, da der Ball unter sie rollt und sie von ihren Brettern und Stöcken herunterschüttelt, so oft er von einer starken Hand geworfen wird), sind auf diesem großen Markt zu verkaufen. Und was man an Schmucksachen für zwei Pence kaufen kann, ist staunenerregend.« Unglücklicherweise trat dunkles und regnerisches Wetter ein und eine der Verbesserungen des Kaiserreichs endete wie so manche andere, in Koth und Elend. »Es ist schwer,« schrieb er am 26. Januar, »sich die Veränderung vorzustellen, welche an diesem Orte durch die Beseitigung der für Barrikaden zu handlichen Pflastersteine und durch Macadamisation bewirkt worden ist. Dieselbe paßt weder für das Klima noch für den Boden. Wir befinden uns wieder in einem Schlammoceane. Man kann die Straße der Elysäischen Felder hier nicht überschreiten, ohne daß die Stiefel bis zur Hälfte beschmutzt werden.« Einige Tage darauf fand ein willkommener Witterungswechsel statt. »Vor drei Tagen änderte sich das Wetter hier innerhalb einer Stunde, und seitdem haben wir helles Wetter und starken Frost gehabt. Aller Koth verschwand mit wunderbarer Schnelligkeit und der Himmel wurde italiänisch. Mir eine so glückliche Veränderung zu Nutze machend, begann ich gestern Morgen (zum Zwecke körperlicher Bewegung und des Nachdenkens) die Ausführung eines Planes, den ich mir in den Kopf gesetzt habe: einen Spaziergang um die Wälle von Paris. Es ist ein eigenthümlicher Spaziergang und es wird sich eine gute Beschreibung davon machen lassen. Gestern wendete ich mich rechts, als ich aus der Barrière de L'Etoile herauskam, ging um die Wälle herum, bis ich an den Fluß gelangte, und betrat dann Paris wieder jenseits des Bastilleplatzes. Heute beabsichtige ich, mich links zu wenden, wenn ich aus der Barrière hinauskomme, und zu sehen, was daraus wird.«

Einige Skizzen, welche mit der Kunstausstellung vom Winter 1855 und mit der Ausführung von Ary Scheffers Plan, Dickens zu malen, in Zusammenhang stehen, mögen diese Pariser Bilder beschließen. Seiner Meinung nach zeigte sich die englische Kunst neben der französischen nicht zu ihrem Vortheil. Sie schien ihm klein, verschrumpft, unbedeutend, armselig. Die allgemeine Abwesenheit von Ideen schien ihm zu entsetzlich offenbar; »und selbst wenn man zu Mulready kommt, und zwei alte Männer über einem viel zu scharf hervorstechenden Tischtuch reden sieht und die französische Erklärung der Scene liest, La discussion sur les principes du Docteur Whiston, bleibt man unbefriedigt. Aus irgend einem Grunde machen sie keinen Eindruck. Selbst dem Sancho von Leslie fehlt es an Leben und Stanfield ist zuerst wie eine Dekoration. Es nützt nichts, sich die Thatsache zu verhehlen, daß das, was, wie wir wissen, den Menschen fehlt, auch ihren Werken fehlt: Charakter, Feuer, ein Ziel und die Fähigkeit, das Vehikel und das Modell nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Den Meisten, auch den Besten unter ihnen, hängt eine schreckliche Respektabilität an – eine kleine, beschränkte, systematische Routine, die in meinen Augen für den Zustand von England selbst seltsam charakteristisch ist. Thatsache ist, daß Frith, Ward und Egg sich unter den Bildern, die hier sind, am besten ausnehmen und die größte Anziehungskraft ausüben. Der erste in dem Bilde vom Gutmüthigen Menschen; der zweite in der Königlichen Familie im Tempel; der dritte in Peter dem Großen, wie er Katharina zuerst sieht. Dies letztere hielt ich immer für ein gutes Bild, und die Fremden entdecken offenbar einen lebhaften dramatischen Zug darin, der ihnen gefällt. Auch unter den französischen Bildern sind zahllose schlechte, aber o Himmel! – wie vortrefflich sind sie auch, wie furchtlos, wie kühn gezeichnet; welch' kräftige Auffassung, welche Leidenschaft und Handlung! Die belgische Abtheilung ist sehr gut. Sie enthält die beste Landschaft, das beste Porträt und das beste Stück häusliches Stillleben in dem ganzen Gebäude. Halte es nicht für einen Theil meiner Niedergeschlagenheit in Bezug auf die öffentlichen Angelegenheiten und meiner Furcht, daß unser nationaler Ruhm im Abnehmen begriffen ist, wenn ich sage, daß bloße Form und bloßes Herkommen in der englischen Kunst, wie in der englischen Regierung und den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Stelle lebendiger Kraft und Wahrheit usurpiren. Ich versuchte, diesem Eindruck gestern zu widerstehen, und ging zuerst in die englische Galerie und lobte und bewunderte mit großem Fleiße; aber es nützte nichts. Ich konnte zu keinem andern Resultate kommen als dem oben erwähnten. Dies ist natürlich unter uns. Freundschaft ist besser als Kritik und ich werde standhaft den Mund halten. Eine Diskussion ist schlimmer als nutzlos, wenn man sich nicht über das verständigen kann, was man diskutiren will.« Die französische Natur ist grundfalsch, sagten die englischen Künstler, mit denen Dickens redete; aber gewiß doch nicht, weil sie französisch ist, war seine Antwort. Der englische Standpunkt ist nicht der einzige, von dem aus man Männer und Frauen auffassen kann. Die französischen Bilder sind theatralisch, war die Erwiederung. Aber die Franzosen selbst sind ein demonstratives und gestikulirendes Volk, bemerkte Dickens, und was so durch ihre Künstler dargestellt wird, ist für einen großen Theil der Welt Wahrheit. »Nie ist mir etwas so Wunderliches vorgekommen. Sie scheinen es sich fast in den Kopf gesetzt zu haben, daß es kein andres natürliches Benehmen gibt als das englische (das doch an sich so ausnahmsweiser Art ist, daß es in allen Ländern für absonderlich gilt), und daß ein Franzose – der z. B. auf dem Wege zur Guillotine dargestellt wird – wenn er nicht so ruhig ist wie Clapham, oder so respektabel wie der Hügel von Richmond, überhaupt nicht richtig sein kann.«

Die Sitzungen bei Ary Scheffer brachten einige Unbequemlichkeiten und manches Angenehme mit sich und von beiden war in seinen Briefen die Rede. »Du wirst Dir einigermaßen vorstellen können, was ich durch die täglichen Sitzungen bei Scheffer seit meiner Rückkehr gelitten habe. Er ist ein höchst edler Mensch und ich finde das größte Vergnügen an seiner Gesellschaft und habe in seinem Hause alle möglichen Bekanntschaften gemacht. Aber ich kann kaum ausdrücken, wie unruhig und unbehaglich es mich macht, sitzen, sitzen, sitzen zu müssen, während › Klein Dorrit‹ mir auf der Seele liegt und die Weihnachtsarbeit dazu – obgleich diese jetzt glücklicherweise abgethan ist. Am Montag Nachmittag und den ganzen Mittwoch soll ich wieder sitzen. Und das Schönste dabei ist – daß ich nicht die leiseste Aehnlichkeit entdecke, weder in seinem Porträt, noch in dem seines Bruders. Sie malen beide zu gleicher Zeit an mir los.« Die Sitzungen wurden variirt durch eine besondere Unterhaltung, als Scheffer in seinem langen Atelier einige sechzig Leute empfing – »mit Einschluß einer Anzahl Franzosen, die sagen (aber ich glaube es nicht), daß sie englisch verstehen« – denen Dickens, auf besonderen Wunsch, sein Heimchen am Herde vorlas.

Dies war zu Ende November. Der Januar kam und es schien, als nahe das Ende der Sitzungen heran. »Das Nachtstück meines Porträts ist beinahe fertig und Scheffer verspricht, daß eine endlose Sitzung am nächsten Sonnabend, die um 10 Uhr Morgens anfängt, es beenden soll. Es ist ein schöner geistreicher Kopf, in seinem besten Styl gemalt und von sehr leichtem und natürlichem Ausdruck. Aber es sieht mir durchaus nicht ähnlich und ich glaube nicht, daß ich, wenn ich es in einer Galerie sähe, mich selbst für das Original halten würde. Es ist immerhin möglich, daß ich mein eigenes Gesicht nicht kenne. Das Bild soll hier in Kupfer gestochen werden, in zwei Größen und auf zwei Weisen – der bloße Kopf und das Ganze.« Vierzehn Tage später kam die endlose Sitzung. »Stelle Dir gefälligst vor, daß ich, mit Nr. 5 von › Klein Dorrit‹ im Kopf und auf den Händen, gestern vier Stunden bei Scheffer saß. Niemand kann sich denken, wie peinlich dies in dem Stadium, worin die Erzählung sich grade befindet, für mich ist.« Dennoch war dies nicht die letzte Sitzung. Es wurde März ehe das Porträt fertig war. »Scheffer kam gestern zum Abschluß und Collins, der ein gutes Auge für Bilder hat, sagt, kein anderer lebender Maler könne die Stelle um die Augen herum malen, wie Scheffer sie gemalt hat. Als Kunstwerk vereinigt es Geist mit vollkommener Natürlichkeit, und doch erkenne ich mich selbst nicht darin. Ich bin sehr neugierig, was für einen Eindruck es auf Dich machen wird.« Der März hatte damals angefangen und zu Ende des Monats schrieb Dickens, der unterdessen in England gewesen war, wie folgt: »Ich habe Scheffer seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen, aber gegen Katharine hat er vor einigen Tagen geäußert, er sei schließlich doch durch die Aehnlichkeit nicht befriedigt und müsse noch etwas daran thun. Meines eigenen Eindrucks erinnerst Du Dich wohl?« In diesen wenigen Worten anticipirte er den Eindruck, den es auf mich machte. Es genügte mir nicht. Das Bild hatte große Verdienste, aber nicht als Porträt. Grade aus seiner Aehnlichkeit in Augen und Mund gewann man das Gefühl einer allgemeinen Unähnlichkeit. Aber die Arbeit des Bruders des Künstlers, Henri Scheffer, die während derselben Sitzungen gemalt wurde, stand in jeder Hinsicht weit hinter jener zurück.

Ehe Dickens Paris im Mai verließ, schickte er noch zwei Beschreibungen herüber, welche auch der Leser, der am lebhaftesten wünscht, ihm zu neuen Scenen zu folgen, wohl ungern verlieren würde. Es wurde eine Herzogin in den Champs Elysées ermordet. »Der Mord auf der gegenüberliegenden Seite der Straße (das dritte oder vierte Ereigniß dieser Art in den Champs Elysées, seit wir hier gewesen sind ) scheint die seltsamsten Zustände zu enthüllen. Die ermordete Herzogin wohnte allein in einem großen Hause, das immer verschlossen war, und brachte ihr Leben ganz im Dunkeln hin. In einem kleinen außen liegenden Häuschen wohnte ein Kutscher (der Mörder), und es war eine lange Reihe von Kutschern da gewesen, die es dort nicht hatten aushalten können und auf die die Herzogin, so oft sie ihren Lohn forderten, zum Zweck der unmittelbaren Befriedigung ihrer Ansprüche, mit einem gewaltigen Messer losstürzte. Der Kutscher hatte nie etwas zu thun, denn die Kutsche war seit Jahren nicht ausgefahren; auch wollte sie nie erlauben, daß die Pferde ausgefahren würden, um sich Bewegung zu machen. Zwischen der Wohnung des Kutschers und dem Hause liegt ein elendes Stückchen Garten, ganz überwachsen mit langem üppigen Grase, Unkraut und Nesseln; und hier wurden die Pferde in die Schwemme geführt – in einer todten grünen Pflanzenlache, bis an ihre Lenden. An dem Tage des Mordes versammelte sich natürlich eine große Menschenmenge und durch sie hindurch drängt sich auch der Herzog, ihr Gemahl (von dem sie getrennt war), und schellt am Thore. Die Polizei öffnet das Thor. › C'est vrai donc,‹ sagt der Herzog, › que Madame la Duchesse n'est plus?‹ – C'est trop vrai, Monseigneur. – › Tant mieux‹, sagt der Herzog und geht, zur großen Befriedigung der versammelten Menge, langsam davon.«

Die zweite Beschreibung bezieht sich auf einen Vorfall, der sich drei Jahre vorher in England zugetragen hatte, und zu jener wild unwahrscheinlichen Klasse von Realitäten gehörte, welche, nach Dickens' wie nach Fielding's Ansicht, von dem Gebiete der Dichtung ausgeschlossen bleiben sollten. Nur, pflegte er hinzuzufügen, sollten die Kritiker nie so rasch mit der Annahme bereit sein, daß dasjenige was ihnen selbst nie begegnet ist, nicht möglicherweise irgend einem Andern begegnet sein könne. »B. besuchte mich neulich und beschrieb mir, unter andern Dingen, von denen er erzählte, ein außerordentliches Abenteuer, das ihm vor drei Jahren, an einem keine tausend Meilen von meinem ›Besitzthum‹ Gadshill entfernten Orte, zugestoßen war. Er wohnte im Wirthshause und war eines Tages mit einer Skizze beschäftigt, als ein offener Wagen mit einem Herrn und einer Dame vorbeifuhr. Er saß am folgenden Tage an demselben Orte und an derselben Skizze, als der Wagen wieder vorbeifuhr. Und so noch einmal an einem andern Tage, als der Herr ausstieg und sich vorstellte. Er liebe die Kunst, wohne in dem großen Hause drüben, das ihm vielleicht bekannt sei, habe in Oxford studirt und sei ein Gutsbesitzer in Devonshire, wohne aber aus Familiengründen nicht auf seinem Gute, werde sich freuen, ihn morgen zum Dîner bei sich zu sehen. Er ging hin und fand unter Anderm eine sehr schöne Bibliothek dort. ›Steht zu Ihrer Verfügung,‹ sagte der Gutsbesitzer, der inzwischen von sich selbst und seinen Arbeiten erzählt hatte. ›Benutzen Sie sie zum Schreiben und Zeichnen. Niemand sonst benutzt sie.‹ Er blieb sechs Monate in dem Hause. Die Dame war eine Maitresse, fünfundzwanzigjährig und sehr schön, die ihr Leben vertrank. Der Gutsbesitzer war ein Trunkenbold, und von Grund aus verdorben und schlecht; aber ein ausgezeichneter Gelehrter, ein vorzüglicher Sprachkenner und ein großer Theologe. Zwei andere tolle Besucher blieben sechs Monate dort. Einer, ein Mann, der hier in Paris sehr bekannt ist, und in der Welt umhergeht mit einem feuerrothen seidenen Strumpf in der Brusttasche, der eine Zahnbürste und eine gewaltige Menge baares Geld enthält. Der andere, ein jetzt zu Grunde gegangener Universitätsfreund des Gutsbesitzers, mit einem unersättlichen Durst nach Getränken, der immer mitten in der Nacht aufstand, sich in das Eßzimmer hinunterschlich und sämmtliche Weinflaschen leerte . . . B. verlängerte seinen Aufenthalt unter dem Einfluß einer Art von teuflischem Zauber, um zu sehen, was daraus werde. Thee oder Kaffee sah man nie in dem Hause und sehr selten Wasser. Bier, Champagner und Brandy waren die drei Getränke. Frühstück: Hammelkeule, Champagner, Bier und Brandy. Gabelfrühstück: Hammelschulter, Champagner, Bier und Brandy. Dîner: alle erdenkbaren Speisen (das jährliche Einkommen des Gutsbesitzers betrug 7000 Pfd. St.), Champagner, Bier und Brandy. Der Gutsbesitzer hatte ein öffentliches Mädchen geheirathet, von der er damals geschieden war, aber von der er eine Tochter hatte. Die Mutter hatte aus Groll gegen den Vater die Tochter in allen möglichen Lastern erzogen. Die Tochter, damals dreizehn Jahre alt, kam einmal jeden Monat aus der Schule dorthin. Aeußerst roh in ihren Reden und immer betrunken. Wenn sie in zwei offenen Wagen ausfuhren, taumelte die betrunkene Maitresse fortwährend aus dem einen hinaus und die betrunkene Tochter aus dem andern. Endlich trank die betrunkene Maitresse ihren Magen weg und fing an auf dem Sofa zu sterben. Wurde kränker und kränker und phantasirte immer über Jemanden, bei dem sie einmal gewohnt hatte, und schrie beständig, daß sie einem Andern das Herz ausschneiden wolle. Endlich starb sie auf dem Sofa und nach dem Begräbniß trennte sich die Gesellschaft. Vor einigen Monaten traf B. den Mann mit dem feuerrothen seidenen Strumpf in Brighton und hörte von ihm, daß der Gutsbesitzer ›an gebrochenem Herzen‹ gestorben sei, der Universitätsfreund an Delirium tremens und daß die Tochter die Erbin des Vermögens sei. Er erzählte mir dies Alles, was ich für vollständig wahr halte, ohne jede Ausschmückung – ganz auf dieselbe leicht hingeworfene Weise, wie ich es Dir erzählt habe.«

Dickens verließ Paris zu Ende April und brachte, nach dem schon beschriebenen Sommer in Boulogne, den Winter in London zu, wo er seinem theatralischen Unternehmen fast die ganze Zeit widmete, welche Klein Dorrit nicht in Anspruch nahm. Das Buch wurde im folgenden Frühling fertig, wurde Clarkson Stanfield gewidmet und erfordert jetzt einige eingehendere Bemerkungen.

 

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