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Drittes Kapitel.

Neuer Aufenthalt in der Schweiz und in Italien.
1853.

Die erste Nachricht von den drei Reisenden war vom 20. Oktober, aus Chamounix, und enthielt wenig von den Beschwerden und viel von dem Genuß ihrer Schweizerreise. Große Aufmerksamkeit und Reinlichkeit in den Gasthöfen, sehr kleine Fenster und sehr düstre Gänge, Thüren, die sich den Winterstürmen öffnen, überhängende Dächer und äußre Galerieen, eine Menge Milch, Honig, Kühe und Ziegen, viel Singen beim Sonnenuntergang an den Berghängen, Berge, fast zu feierlich zum Anschauen – das war das Bild, das er davon entwarf, während die Natur beim Kommen des Winters überall einen ihrer schönsten Anblicke darbot. Sie waren an dem vorhergehenden Morgen um vier Uhr von Genf aufgebrochen und Dickens hatte auf der Reise wieder das häßliche Aeußre der Leute in den Thälern bemerkt, das ihm schon früher aufgefallen war und das von ihrem rauhen finstern Klima herrührt. »Alle Frauen sahen aus wie abgelebte Männer und alle Männer wie eine Art abgearbeiteter Hunde. Aber die gute, aufrichtige, dankbare schweizer Anerkennung des gewöhnlichsten freundlichen Wortes – was ihnen nicht zu oft von unsern Landsleuten hingeworfen wird – machte sie ganz stralend. Ich ging den größten Theil des Weges zu Fuße, was ungefähr war, wie wenn man die Feuersäule hinaufsteigt.« An dem Tage, an welchem dieser Brief geschrieben wurde, waren sie das Mer de Glace hinauf gewesen, das sie in Bezug auf die Farbe nicht so schön fanden als im Sommer, aber großartiger in seiner Oede, da das grüne Eis sowie der größte Theil des Abhangs mit Schnee bedeckt war. »Wir waren einem entsetzlichen Unfall erschreckend nahe. Wir bewegten uns in einem Zuge von vier Mauleseln und zwei Führern auf einer gewaltigen kaminsimsartigen Höhe hin, einen Abgrund zur Seite, als von oben her mit furchtbarer Schnelligkeit ein Steinblock von ungefähr der Größe einer der Fontainen in Trafalgar-Square heruntergerollt kam, grade als Egg, der letzte in unsrer Gesellschaft, ihm etwa einen Meter vorausgekommen war, über den Vorsprung hinfegte, einen Baum umriß und in das Thal hinunterdonnerte. Er war durch die heftigen Regengüsse, oder durch einige Holzschläger, die, wie wir später hörten, dort oben arbeiteten, losgelöst worden.« Der einzige Ort, welcher Dickens neu war, war Bern, »eine überraschend malerische alte Schweizerstadt mit einer Aussicht auf die Alpen draußen, welche im Morgenlicht eigenthümlich schön ist.« Alles andre war ihm bekannt, obgleich in jener Winterzeit, wo die Gasthöfe geschlossen wurden und Alle die es konnten nach Genf eilten, das Meiste in dem Thale ihm unter einem neuen Gesichtspunkte auffiel. Von den alten Freunden, die er in Lausanne fand, wo ein paar Tage gerastet wurde, empfing er die froheste Begrüßung »und die wunderbare Art, wie sie an dem nassesten Morgen, den man je sah, herauskamen, um mir für die Fahrt den See hinunter glückliche Reise zu wünschen, war wirklich ganz pathetisch.«

Er hatte Zeit gefunden, den taubstummen und blinden jungen Mann in Haldimand's Institut wieder zu sehen, der vor sieben Jahren ein so tiefes Interesse in ihm erweckt hatte, Vgl. Band II S. 209 ff. aber bei seinem damaligen kurzen Besuch wollten die alten Ideenassociationen nicht wieder erwachen. »Hertzel machte ungeheure Anstrengungen, ihm eine Vorstellung von mir und von dem, was zu mir gehörte, beizubringen; aber wie mir schien, mißlang dies vollständig und ich zweifle sehr, ob die geringste Erinnerung an seinen alten Bekannten bei ihm auftauchte. Seiner Gewohnheit gemäß stieß er seltsame Töne hervor, wie Taun und Daun und Maun, aber weiter Nichts. Ich ließ zehn Franken zurück, zum Ankauf von Cigarren für meinen alten Freund. Hätte ich eine bei mir gehabt, so hätte ich, meiner Meinung nach, erfolgreicher als sein Lehrer meine Identität feststellen können.« Das auf ähnliche Weise affizirte Kind, das kleine Mädchen, das er während derselben alten Zeit gesehen, war nach einigen Versuchen als blödsinnig entlassen worden.

Ehe der Oktober zu Ende ging, hatten die Reisenden Genua erreicht, nachdem sie einunddreißig Stunden hintereinander von Mailand her gefahren waren. Sie kamen einigermaßen erschöpft an und nahmen ihr Quartier in den oberen Zimmern des Croce di Malta, »von wo man den Hafen und das Meer angenehm und luftig genug überblickte; aber es war kein Spaß, so hoch hinaufzusteigen, und die Zimmer sind etwas umfänglich und verblichen.« Die Wärme der persönlichen Begrüßung, welche Dickens hier erwartete, erstreckte sich nicht minder auf die ihn begleitenden Freunde, und wenn auch der Leser an vertrauten Mittheilungen, welche die durch sein Wiedererscheinen veranlaßte Aufregung und die unter alten Genossen verlebten heitern Stunden schildern, keinen großen Antheil nimmt, so wird es doch vielleicht von Interesse für ihn sein, zu erfahren, inwiefern die dazwischen liegenden Jahre das Aussehen der Dinge und der Orte, mit denen er durch seine frühern Briefe eine angenehme Bekanntschaft gemacht, verändert hatten. Wie er seiner Schwägerin schrieb, waren die alten Spaziergänge dieselben wie einst, ausgenommen, daß man hinter dem Palazzo Peschiere an dem Hügel von San Bartolomeo hinaus gebaut hatte und die ganze Stadt nach San Pietro d'Arena zu völlig verwandelt war. Der Bisagno sah damals grade so steinig und wasserarm aus wie sonst; die Vicoli hatten denselben alten Duft von »äußerst verfaultem, in äußerst heißen wollenen Decken aufbewahrtem Käse«, und überall sah er den Mezzaro wie ehemals. Das Jesuitenkollegium in der Strada Nuova war unter der veränderten Regierung zum Hotel de Ville geworden und ein prächtiges Café mit einem Terrassengarten war zwischen ihm und dem alten Palast Pallavicini emporgestiegen. »Pallavicini selbst war zum Henker gegangen.« Ein andres neues und schönes Café war auf der Piazza Carlo Felice, zwischen dem alten delle Belle Arti und der Strada Carlo Felice erbaut und das Teatro diurno hatte jetzt steinerne Galerieen und Sitze wie ein antikes Amphitheater. »Das schauderhafte Thor und Wachhaus in der Albaro-Straße befinden sich noch in ihrem lieben alten schauderhaften Zustaude, und die ganze Straße ist wie sie früher war. Der Mann ohne Beine ist noch in der Strada Nuova; aber die Bettler im Allgemeinen sind sämmtlich ausgefegt und unser alter einarmiger Belisario verdunstete plötzlich vor einem oder zwei Jahren. Ich gehe nach dem Palazzo Peschiere.« Mir selbst beschrieb er seinen frühern Lieblingsaufenthalt als in eine Mädchenschule verwandelt, alle Bilder der Götter und Göttinnen mit linnenen Vorhängen bedeckt und der Garten verfallen; »aber o! welch' wunderbarer Ort!« Er bemerkte überall sonst eine außerordentliche Zunahme »von Leben, Wachsthum und Unternehmungsgeist«, seit er zuletzt in der glänzenden Stadt gewesen, und fand seine alte Ueberzeugung bestätigt, daß in Bezug auf malerische Schönheit und Eigenthümlichkeit, mit Ausnahme Venedig's, Nichts in Italien »dem prächtigen alten Genua« nahe komme. Die Beschreibung der Reise von dort nach Neapel ist zu köstlich, als daß sie verloren gehen dürfte. Das Dampfschiff, in dem sie sich einschifften, war »das neue englische Schnellschiff«; aber sie fanden, daß es schon von Marseille her von Passagieren mehr als voll war (unter ihnen ein alter Freund, Sir Emerson Tennent, nebst seiner Familie) und Alles in Confusion. An dem Tische des Capitäns waren keine Plätze mehr zu haben, man mußte auf dem Verdeck speisen; keine Koje oder sonstige Schlafstelle stand zu Gebot und doch mußte der volle Preis für Passagiere erster Klasse gezahlt werden. So machten sie ihren Weg nach Livorno, wo noch Schlimmeres sie erwartete. Es stellte sich heraus, daß die dortigen Behörden dem von Engländern bemannten Schnellschiff (dasselbe war grade für die indische Post in Gang gebracht) nicht freundlich gesinnt waren; und da die Papiere nicht zu rechter Zeit untersucht waren, wurde es zu spät, noch an demselben Tage weiter zu fahren, und das Schiff mußte die ganze Nacht bei dem Leuchtthurm vor Anker liegen. »Die Scene an Bord war unbeschreiblich. Damen auf den Tischen, Herren unter den Tischen, Schlafzimmer-Geräthe, die man für gewöhnlich nicht öffentlich ausstellt, an Orten sichtbar, wo kurz vorher Suppenschalen sich entwickelt hatten, und Damen und Herren durcheinander auf dem offenen Deck umherliegend, wie Löffel auf einem Büffet. Keine Matratzen, keine Decken, Nichts. Gegen Mitternacht wurden Versuche gemacht, eine entfernte Aehnlichkeit zwischen dieser letzteren Scene und einem Australischen Lager hervorzubringen und wir drei (Collins, Egg und ich selbst) lagen zusammen auf den bloßen Planken, mit unsern Röcken bedeckt. Wir waren alle grade im Einschlafen begriffen, als ein vollkommen tropischer Regen fiel und in einem Augenblick das ganze Schiff überschwemmte. Den Rest der Nacht brachten wir inmitten eines entsetzlichen Gewirres von Männern und Frauen auf der Treppe zu. Wenn Jemand zu irgend einem Zwecke hinaufkam, fielen wir Alle nieder, und wenn Jemand hinunter kam, fielen wir Alle wieder hinauf. Dennoch war der gute Humor der englischen Passagiere ganz außerordentlich . . . Es waren vortreffliche Offiziere an Bord, und am Morgen lieh der erste Maat mir seine Cajüte, mich darin zu waschen, – die ich dann an Egg und Collins lieh. Dann machten wir, die Emerson Tennent's, der Capitän, der Doktor und der Lieutenant, uns zu einem Ausflug nach Pisa auf, da das Schiff den ganzen Tag bei Livorno liegen bleiben sollte. Der Capitän war ein famoser Kerl, aber ich machte ihm den Tag über durch meine Scherzreden so viel zu schaffen, daß ich für die Nacht fast alle wünschenswerthen Veränderungen durchsetzte. Emerson Tennent's Sohn bestand mit der größten Liebenswürdigkeit darauf, nur seine Cajüte einzuräumen, und ich bekam dort ein Bett. Die Speisekammer unten im Kielraum wurde für Collins und Egg geöffnet und sie schliefen bei dem Zucker, dem geschnittenen Käse, den Gewürzen, den Platmenagen, den Aepfeln und den Birnen, in einem wahren Krämerladen – in Gesellschaft mit einem alten Herrn, der während der Nacht so entsetzlich durchnäßt war, daß sein Zustand die Behörden mit Schrecken erfüllte, mit einer Katze und dem Proviantmeister, der in einem Armstuhl schlummerte und die ganze Nacht hindurch alle fünf Minuten mit dem Kopfe voran auf Egg fiel, der auf dem Laden- oder Anrichtetisch schlief. Gestern Abend hatte ich des Proviantmeisters eigne Cajüte, die sich nach dem Verdeck zu öffnet, ganz für mich. Sie war vorher im Besitz einer verfallenen alten Dame gewesen, die in Civita Vecchia landete. Glücklicherweise war das Meer während der ganzen Fahrt wenig oder gar nicht bewegt; aber der Regen war heftiger, als ich je welchen gesehen, und das Blitzen anhaltend und lebhaft. Wir beliefen uns, die Bemannung eingeschlossen, auf etwa zwei hundert Leute – und hatten Rettungsböte für allerhöchstens hundert. Ich konnte nicht umhin zu denken, was geschehen würde, wenn uns ein Unfall zustieße. Denn die Mannschaft bestand hauptsächlich aus Maltesern und offenbar Kerlen, die bei der geringsten Gefahr das größte Boot für sich allein in Beschlag genommen haben würden; das Schiff fuhr sehr schnell und dabei ging es durch alle die engen, klippenumgebenen Kanäle. Allein, Gott sei Dank, sind wir hier richtig angelangt.«

Eine launige Nachschrift schloß diese belustigende Erzählung: »Wir nahmen von Civita Vecchia aus, glaube ich, die ganze griechische Flotte in's Schlepptau. Sie bestand aus einer kleinen Brigantine, mit keinen Kanonen, ausgerüstet wie ein Dampfschiff, aber untauglich gemacht durch das Verbrennen des Bodens ihrer Kessel, auf der ersten Fahrt. Sie war grade groß genug, um den Capitän und sechs oder sieben Matrosen aufzunehmen; aber der Capitän war so mit Knöpfen und Gold bedeckt, daß kein Raum an Bord gewesen sein würde, diese Werthsachen zu verwahren, wenn er sie nicht getragen hätte, – was er demnach die ganze Nacht durch that. So oft etwas gethan werden mußte, wie z. B. das Lockern des Tauseils, oder dergleichen, brüllten unsre Offiziere es diesem elenden Potentaten in heftigem Englisch durch das Sprachrohr zu, obgleich er auch unter den günstigsten Umständen kein Wort davon verstanden hätte. So that er denn alles Falsche zuerst und das Rechte immer zuletzt. Die Abwesenheit jeder Kenntniß irgend einer andern Sprache als der englischen, seitens der Offiziere und Kellner, war äußerst lächerlich. Gestern morgen traf ich auf der Cajütentreppe einen italiänischen Herrn, der sich umsonst bemühte zu erklären, daß er für seine kranke Frau eine Tasse Thee haben wolle. Und als wir aus dem Hafen von Genua hinausfuhren und es nöthig war, jenes Musikschiffchen, dessen Du Dich erinnerst, aus dem Wege zu schaffen, richtete der erste Offizier (der zu diesem Zweck nach hinten gerufen wurde, weil er etwas Italiänisch verstand) sich in folgendem deutlichen und klaren Italiänisch an die Hauptmusikantin: ›Nun Signora, wenn Ihr Euch nicht fortschert, werden wir Euch in den Grund fahren, hißt daher lieber Eure Guitarre auf und geht Eures Weges.‹«

In Neapel verlebten sie einige sehr heitre Tage, besuchten den Vesuv und durchwanderten mit Layard, der sich ihnen angeschlossen hatte, und mit den Tennent's die begrabenen Städte. Hier erlebte Dickens speziell ein kleines Abenteuer, äußerst unbedeutend an sich, aber mit köstlichem Humor in einem Briefe an seine Schwägerin von ihm erzählt. Der alte müßige Franzose, dem alle Dinge möglich sind, mit seiner Schnupftabaksdose und seinem bestaubten Regenschirm und die ganze feine und wohlwollende Beobachtung würde Leigh Hunt entzückt und ihren Weg in Charles Lamb's Herz gefunden haben. Nachdem er Mr. Lowther, damaligen englischen Geschäftsträger in Neapel, als einen sehr angenehmen Mann erwähnt, der bei den theatralischen Vorstellungen in Rockingham Vgl. Band II. S. 446. zugegen gewesen, geht er auf eine Zusammenkunft in seinem Hause über. »Wir hatten eine äußerst angenehme Tischgesellschaft von acht Personen, als Einleitung zu welcher mir beinahe das lächerliche Abenteuer zustieß, das Haus nicht finden zu können, und ohne Dîner heimzukehren. Ich fuhr von dem Hotel feierlich in offenem Wagen hin und zu meinem Erstaunen hielt der Kutscher am Ende der Chiaja still. ›Sehen Sie da das Haus,‹ sagt er, ›des Signor Larthoor!‹ – wobei er mit der Peitsche in den siebenten Himmel deutete, wo die frühen Sterne schienen. ›Aber der Signor Larthoor,‹ sage ich, ›wohnt am Posilipp.‹ – ›Das ist wahr,‹ sagt der Kutscher (indem er noch auf den Abendstern hindeutet), ›aber er wohnt hoch an der Salita Sant' Antonio hinauf, wo noch kein Wagen je hinaufgefahren ist, und das ist das Haus‹ (Abendstern wie vorher) ›und man muß zu Fuße hingehen. Sehen Sie da die Salita Sant' Antonio!‹ Ich ging hinauf, etwa eine Viertel-Meile. Ich kam in die seltsamsten Orte, zu den wildesten Neapolitanern, Küchen, Waschplätze, Thorwege, Ställe, Weinberge; wurde von Hunden gehetzt und erhielt in tief unverständlicher Sprache Antworten aus einsamen verschlossenen Thüren heraus, von gebrochenen Frauenstimmen, die vor Furcht zitterten; aber ich konnte von keinem solchen Engländer, noch überhaupt von einem Engländer hören. Allmälig stieß ich auf einen Polentaladen in den Wolken, wo ein alter Franzose mit einem Regenschirm, der wie ein verwittertes tropisches Blatt aussah, (es hatte in Neapel seit sechs Wochen nicht geregnet) in's Blaue starrte, eine Schnupftabaksdose in der Hand. An ihn wendete ich mich, in Bezug auf Signor Larthoor. ›Sir,‹ sagte er mit der größesten Höflichkeit, ›sprechen Sie Französisch?‹ – ›Sir,‹ sagte ich, ›ein wenig.‹ – ›Sir,‹ sagte er, ›ich setze voraus, der Signor Loothere‹ – er veränderte den Namen nach der Gewohnheit seiner Landsleute, wie Du bemerken wirst – ›ist ein Engländer?‹ – Ich gab zu, daß er das Opfer der Verhältnisse sei und dies Unglück habe. ›Sir,‹ sagte er, ›noch ein Wort. Hat er einen Bedienten mit einem hölzernen Beine?‹ – ›Großer Gott, Sir,‹ sagte ich, ›wie kann ich das wissen? Wahrscheinlich ist es nicht, aber es ist möglich.‹ – ›Es ist,‹ sagte der Franzose, ›immer möglich. Fast alle Dinge in der Welt sind immer möglich‹ – ›Sir,‹ sagte ich – Du kannst Dir meinen Zustand und die niederdrückende Empfindung meiner Dummheit in diesem Augenblicke vorstellen – ›das ist wahr.‹ Er nahm dann eine ungeheure Prise Schnupftabak, wischte den Staub von seinem Regenschirm, führte mich an einen Bogen, von wo man eine wunderbare Aussicht über den Golf von Neapel hatte, und deutete tief hinab in die Erde, von wo ich heraufgestiegen war. ›Dort unten findet man einen Engländer mit einem Diener, mit einem hölzernen Bein. Es ist immer möglich, daß es der Signor Loothore ist.‹ Ich war zu sechs Uhr eingeladen, und es ging jetzt auf sieben. Ich ging in einem unbeschreiblichen Zustande von Perspiration und Elend, und ohne die leiseste Hoffnung den Ort zu finden, zurück. Als ich eben weiter hinab auf die Lampe zuging, erblickte ich die seltsamste, eine dunkele Ecke hinaufführende Treppe, und auf der obersten Stufe derselben, einen (offenbar gemietheten) Mann in weißer Weste, der rauchte. Ich stürzte aufs Gerathewohl hinauf, fand, daß es das Haus war, machte so viel als möglich aus der ganzen Geschichte und wurde sehr populär. Das Beste dabei war, daß, da noch Niemand den Ort von selbst gefunden hat, Lowther unten an der Salita einen Diener aufgestellt hatte, mit Befehl, auf einen englischen Herrn zu warten; aber der Diener hatte (wie er sogleich zu seiner Entschuldigung bemerkte), getäuscht durch den Schnurrbart, den englischen Herrn vorbeigehen lassen, ohne ihn anzureden.«

Von Neapel gingen sie nach Rom, wo sie Lockhart fanden, »furchtbar schwach und gebrochen, aber trotzdem hoffnungsvoll in Bezug auf sich selbst« (er starb im folgenden Jahre); rauchten und tranken Punsch mit David Roberts, der damals jeden Tag mit Louis Haghe in der Peterskirche malte, und wanderten die alten Wege. Das Kolosseum, die Via Appia und die Gräberstraße erschienen so großartig wie je, aber im Allgemeinen, fügt Dickens hinzu, »fand ich, daß die römischen Alterthümer kleiner waren als meine Phantasie sie in neun Jahren gemacht hatte. Der elektrische Telegraph geht jetzt wie ein Sonnenstrahl durch das grausame alte Herz des Kolosseums hindurch – ein fruchtbarer Gegenstand des Nachdenkens, wie mir schien. Das Pantheon fand ich schöner sogar als ehemals.« Die öffentlichen Vergnügungen bildeten natürlich Anziehungspunkte und in der Oper belustigte nichts die Gesellschaft von drei Engländern mehr, als eine andre Gesellschaft von vier Amerikanern, die im Parterre hinter ihnen saßen. »Alle Sitze sind numerirte Sperrsitze und man kauft seine Nummer an dem Zahlbüreau und geht hin mit der bequemsten Weisung auf dem Billete selbst. Wir kamen früh und die vier Plätze der Amerikaner waren in der nächsten Reihe hinter uns – alle zusammen. Nachdem sie sich eine Zeitlang umgeschaut und den größten Theil der Sitze leer gesehen hatten (weil die Zuhörerschaft gewöhnlich in einem zum Theater gehörenden Café wartet), sagte Einer von ihnen: ›Wahrhaftig ich weiß nicht – ich vermuthe, wir haben keinen Beruf so nahe an einander zu sitzen – wollen Sie sich zerstreuen, Kernel, Die amerikanische Aussprache von Colonel, i. e. Oberst. – D. Uebers. wollen Sie sich zerstreuen, Sir?‹ Hierauf ›zerstreute‹ Kernel sich einige zwanzig Bänke davon und sie vertheilten sich (wie es schien aus keinem erdenklichen Grunde als um einander los zu werden) über das ganze Parterre. Sobald die Ouvertüre anfing, kamen die Zuhörer in Masse herein. Dann mußten die Leute die Nummern, nach welchen sie sich ›zerstreut‹ hatten, produciren, und da sie Nichts von Allem, was man ihnen sagte, verstanden, und keine andre Antwort geben konnten als Americani, kannst Du Dir vorstellen, was für eine Zahl von dreieckigen Hüten erforderlich war, sie von ihren Sitzen zu vertreiben. Endlich waren sie Alle an ihre richtigen Plätze zurückgebracht, Einen ausgenommen. Etwa eine Stunde nachher, als Moses ( Moses in Aegypten war die Oper) die Finsterniß anrief und in dem ganzen Theater ein Todesschweigen herrschte, brachen unerwartete Klänge der Störung aus einer fernen Ecke des Parterres hervor und hie und da stand ein Bart auf, um hinzusehen. ›Was ist das, Sir?‹ sagte einer der Amerikaner zum andern; – ›es scheint da Jemand gegen den Strom zu schwimmen.‹ – ›O, Sir,‹ antwortete er, ›ich weiß nicht; aber ich denke mir, 's ist Kernel, der auf seinem Rechte besteht.‹ Und so war es. Kernel wurde schimpflicher Weise an seinen rechten Platz zurück eskortirt, nicht im mindesten verwirrt und vollkommen guter Laune.« Die Oper wurde ausgezeichnet aufgeführt, und der Preis der Sperrsitze betrug ein dreiviertel Pence Englisch. In Mailand dagegen war die Scala von ihrer alten Höhe gesunken – schmutzig, düster, öde und die Aufführung schauderhaft.

Ein anderes Theater von den kleinsten Ansprüchen suchte Dickens in Rom mit Eifer auf und empfand dabei das lebhafteste Vergnügen. Er hatte in seiner alten Zeit in Genua sagen hören, dort seien die schönsten Marionetten und jetzt entdeckte er mit großer Mühe die Gesellschaft, in einer Art von Stall, neben einem verfallenen Palaste. »Es war eine regnerische Nacht und keine Zuhörer da, außer einer Gesellschaft französischer Offiziere und uns. Wir saßen Alle zusammen. Ich sah nie etwas Erstaunenswürdigeres als die Aufführung – im Ganzen nur eine Stunde lang, aber von nicht weniger als zehn Leuten geleitet, denn wir sahen sie Alle bei dem Schellen einer Glocke hinter die Scene gehen. Die Errettung einer jungen Dame von den Künsten eines Zauberers durch eine gute Fee, verknüpft mit dem komischen Geschäft ihres Dieners Pulcinella (dem römischen Punch) bildete den Gegenstand des ersten Stückes. Eine zänkische alte Bauerfrau, die sich immer vorwärts neigte, um zu schelten und ihre Hände in ihre Schürzentaschen zu stecken, war unglaublich natürlich. Pulcinella, so luftig, so lustig, so lebendig, so anmuthig, war unwiderstehlich. Ihn zu sehen, wie er bei einem Gewitter über dem Haupte seiner Herrin einen Regenschirm hielt, wie er mit einem ungeheuern Riesen sprach, dem er im Walde begegnete, und wie er mit einem Pony zu Bette ging, waren Dinge, die man nicht wieder vergißt. Und so geschickt sind die Hände der Leute, welche die Marionetten bewegen, daß jede Puppe ein Italiäner war und genau that, was ein Italiäner thut. Wenn er auf Etwas hinwies, wenn er Jemanden grüßte, wenn er lachte, wenn er weinte, that er es wie ein Engländer es nie that, seit Brittannien zuerst auf des Himmels Geheiß aufstieg – aufstieg – aufstieg &c. Nachher kam ein Ballet, in demselben Maaßstabe, und wir gingen wirklich ganz entzückt über die feine Komik des Ganzen fort. Die französischen Offiziere mehr als dito.«

Ueber den großen Feind der Gesundheit der Hauptstadt des gegenwärtigen Königreichs Italien bemerkte Dickens in demselben Briefe: »Ich bin durch die Anwesenheit und den Fortschritt der Malaria in der Umgegend von Rom zu einigen merkwürdigen Betrachtungen veranlaßt worden. Ist es nicht höchst außerordentlich, denken zu müssen, daß diese schlechte Luft sich der ewigen Stadt mehr und mehr bemächtigt, als wäre sie beauftragt, dieselbe zu verschlingen? Dieses Jahr ist sie ganz besonders schlimm gewesen und hat weit über ihre gewöhnliche Zeit gedauert. Rom ist sehr ungesund gewesen und ist noch jetzt nicht frei davon. Wenige Leute mögen zu den bösen Zeiten des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs ausgehen, und Nachts sind die Straßen wie eine Wüste. In einer geringen Entfernung außerhalb der Mauern ist eine Kirche, die vor 16 oder 18 Jahren durch Feuer zerstört wurde und jetzt mit ungeheuern Kosten wieder hergestellt ist. Sie steht in einer Wildniß. Ein menschliches Geschöpf, das ihr nach Sonnenuntergang nahe kommt oder in der Nähe schlafen kann, könnte ebenso gut auf dem Grunde der obersten Katarakte des Nils liegen. In dem ganzen Umfang der Pontinischen Sümpfe (die wir neulich durchfuhren) lebt kein Geschöpf nach Adam's Bilde, mit Ausnahme der fahlen Leute an den einsamen Poststationen. Ich gehe vom Kolosseum durch die Gräberstraße nach den Ruinen an der alten Via Appia hinaus – begegne keinem menschlichen Wesen und sehe keine menschliche Wohnung als zerfallene Häuser, aus denen die Menschen geflohen sind, und wo es Tod ist, zu schlafen; und diese Häuser sind nur etwas mehr als eine halbe Meile von dem entlegensten Thore Rom's entfernt. Rom an der gegenüberliegenden Seite verlassend, fahren wir viele viele Stunden durch die öde Campagna, die von Allen, außer von den elenden Schäfern, geflohen und gemieden wird. Eine Postfahrt von dreizehn Stunden bringt uns nach Bolsena (ich schlief dort früher schon einmal), am Rande eines stagnirenden See's, den die Arbeiter fliehen, sobald die Sonne untergeht – wohin zu gehen gefährlich ist; wo wir aus der Ferne einen Nebel über dem Orte lagern sahen, wo in dem unglaublich schlechten Gasthofe kein Fenster geöffnet werden kann, wo unser Mittagsessen aus dem blassen Gespenst eines Fisches nebst einer öligen Omelette bestand und wir in großen, modrigen, durch zertrümmerte Bögen und Dunghaufen verpesteten Zimmern schliefen – und wo wir, nachdem wir sie verlassen, noch vier oder fünf Meilen weiter keinen Mann, keine Frau, kein Kind mit rothen Backen sahen. Stelle Dir vor, wie dies Gespenst an die Thore Rom's klopft, sie durchschreitet, die Straßen entlang kriecht, um die Schiffe und Säulen der Kirchen spukt, Jahr auf Jahr sein Gebiet erweitert und immer schwerer zu vermeiden ist.«

Von Rom fuhren sie nach Florenz, das sie in viertehalb Tagen, am Morgen des 20sten November, erreichten. Sie waren nun im Ganzen sechs Wochen auf Reisen gewesen und hatten nur drei Tage Regen gehabt. Eine Woche nachher waren sie in Venedig. »Das schöne Wetter hat uns,« schrieb Dickens am 28sten November, »hierher begleitet, an den Ort, wo es vor allen andern nothwendig ist; und die Stadt ist ein Glanz von Sonnenlicht und blauem Himmel (bei einer äußerst klaren kalten Luft) gewesen, so lange wir hier gewesen sind. Könntest Du sie in diesem Augenblicke sehen, Du würdest sie nie vergessen. Wir wohnen in demselben Hause, wo ich vor neun Jahren wohnte und haben dasselbe Wohnzimmer – dicht an der Seufzerbrücke und dem Dogenpalast. Das Zimmer liegt an der Ecke des Hauses, und eine enge Wasserstraße läuft seitwärts herum, so daß wir den Großen Canal vor den zwei Vorderfenstern haben und am Eckfenster diese wilde kleine Straße, nach welcher auch unsere drei Schlafzimmer hinaus liegen. Wir setzten uns gleich nach unsrer Ankunft in Besitz einer Gondel und gleiten zwanzig mal des Tages aus der Halle auf das Wasser hinaus. Die Gondoliere haben wunderliche alte Gewohnheiten, die ihnen als Stand angehören, und einige sind verwirrend genug . . . Es ist ein Ehrenpunkt bei ihnen, so lange sie engagirt sind, immer zu Deiner Verfügung zu stehen. Daher nützt es nichts, wenn man ihnen sagt, daß sie ein paar Stunden nach Hause gehen können – denn sie wollen nicht gehen. Sie hüllen sich ein in zottige Ueberröcke mit Kapuzen und legen sich auf dem Stein- oder Marmorpflaster hin, bis man sie wieder braucht. So daß ich, wenn ich hereinkomme, oder zu Fuß ausgehe, was man von diesem Hause aus über kleine Brücken und enge Gassen auf einige Entfernung thun kann, gewöhnlich dahinschreite über meine Hauptvasallen, deren Gewohnheit es ist, quer über den Eingang hin zu schnarchen. Die Seltsamkeit auch der gewöhnlichsten Dinge an diesem Orte stelle Dir an einem Beispiele vor. Gestern Abend steigen wir um halb neun die Treppe hinab, steigen in eine Gondel, gleiten auf dem schwarzen Wasser fort, plätschern und rauschen etwa eine halbe Stunde dahin, landen an einer breiten Treppe und treten unmittelbar in das glänzendste und schönste Theater, das man sich denken kann – Alles Silber und Blau, mit kostbaren kleinen Frangen von Glasprismen. Da sitzen wir bis halb zwölf, kommen wieder hinaus (der Gondolier schläft außerhalb der Logenthür) und sind in einem Augenblick auf dem schwarzen schweigenden Wasser und fluten dahin, als gäbe es kein trockenes Gebäude in der Welt. Es hält an und in einem Augenblick sind wir wieder draußen auf dem breiten soliden Markusplatz, der glänzend mit Gas erleuchtet ist, sehr ähnlich wie das Palais Royal in Paris, nur viel schöner und stralend von endlosen Café's. Die beiden alten Säulen und der gewaltige Glockenthurm heben sich so schroff und solide gegen den herrlichen Sternenhimmel ab, als wären sie tausend Meilen vom Meere oder irgend welchem aushöhlenden Wasser entfernt, und die mit goldenen Mosaiken und schönen Farben bedeckte Vorderseite der Kathedrale stralt wie tausend Regenbogen auch mitten in der Nacht.«

Seine früheren Ansichten über Kunst und Gemälde in Italien Vgl. Band II. S. 144. wurden durch diesen Besuch bestärkt. »Ich bin mehr als je von der Ueberzeugung durchdrungen, daß ein Hauptnutzen des Reisens darin besteht, daß es uns ermuthigt, für uns selbst zu denken, immer offen herauszusagen, daß man für sich selbst denkt und die schändliche Gemeinheit zu überwinden, die sich zu dem bekennt, wozu andre Leute sich bekannt haben, auch wenn man weiß (wenn man die Fähigkeit besitzt, sich selbst eine Meinung zu bilden), daß dies Bekenntniß unwahr ist. Der unerträgliche Unsinn, gegen welchen wohlgesitteter Geschmack und wohlgesittete Unterwürfigkeit in Bezug auf die Kunst sich fürchten aufzutreten, ist staunenerregend. Egg's ehrliche Verwunderung und Bestürzung, als er einige der am meisten ausposaunten Sachen sah, war, was die Amerikaner ›eine Warnung‹ nennen. In derselben Stunde und Minute fielen Haufen von Leuten in conventionelle Entzückungen über jenen sehr kläglichen Apollo und übergingen die schönsten kleinen Figuren und Köpfe im ganzen Vatikan, weil sie nicht als besonders anbetenswürdig bemerkt waren. Ebenso hier. Es gibt Gemälde von Tintoretto in Venedig, die schöner und meisterhafter sind, als sich in Worten sagen läßt. Seine Versammlung der Seligen halte ich Alles in Allem für das wunderbarste und entzückendste Bild, das je gemalt wurde. Der Verfasser des Fremdenführers, als Vertreter des großen Schwarms der Humbugs, patronisirt Tintoretto als einen Menschen von einigem Verdienst, und (genöthigt, Eustace, Forsyth und allen Andern zu folgen) befiehlt er seinen Lesern, bei Strafe eines Mangels an wohlgesitteter Würdigung, in Ekstase zu gerathen über Dinge, die weder Phantasie, Natur, Verhältniß, Möglichkeit noch irgend etwas Anderes an sich haben. Man gehorcht sofort und gebietet seinem Sohne zu gehorchen. Dieser sagt dasselbe seinem Sohne und dieser wieder seinem und so kommt die Welt zu Dreivierteln ihrer Betrügereien und ihres Elends.«

Der letzte Ort, den er besuchte, war Turin, wo die Reisenden am 5. December ankamen, und das sie bei einer hell scheinenden Sonne äußerst kalt und frostig fanden. »Alle Zimmer haben doppelte Fenster, aber die Alpenluft weht hernieder und macht meine Füße erstarren, während ich (in Mütze und Shawl) sechs Fuß vom Feuer schreibe.« Doch gab es noch etwas Besseres über diese frische Alpenluft zu berichten. Zu Dickens' Bemerkungen über das sardinische Volk und zu dem, was er über die Verbannung der edelsten Italiäner sagt, lieferten die bedeutungsvollen Ereignisse der folgenden Jahre einen merkwürdigen Commentar; auch konnte es keinen besseren Beweis geben für die Schärfe des Urtheils, womit er das, was um ihn her vorging, beobachtete. Sein Brief bot in jeder Beziehung viel Interessantes und Anziehendes. »Dies ist ein merkwürdig angenehmer Ort. Eine schöne Stadt, wohlhabend, blühend, erstaunlich rasch wachsend, wie Genua, voll von geschäftigen Leuten, voll von schönen Straßen und Plätzen. Die Alpen, jetzt tief mit Schnee bedeckt, sind nahe dabei und scheinen hier und dort fast bereit, auf die Häuser herabzufallen. Der Gegensatz dieses Theils von Italien gegen den andern ist wunderbar. Schön gemachte, vortrefflich verwaltete Eisenbahnen, ein heiteres thätiges Volk, Unternehmungsgeist, Energie, Leben, Fortschritt. In Mailand ist in jeder Straße der edle Palast eines Verbannten eine Kaserne, und schmutzige Soldaten glotzen aus den prächtigen Fenstern hervor – es scheint als sollte der ganze Ort allmälig in Soldaten aufgehen. In Neapel etwa hunderttausend Truppen. ›Ich kannte,‹ sagte ich zu einem gewissen neapolitanischen Marchese dort, den ich vorher gekannt hatte, und der mich den Abend nach meiner Ankunft besuchte, ›ich kannte einen sehr merkwürdigen Menschen, als ich zuletzt hier war, der sein Vaterland nie verlassen hatte, aber vollkommen vertraut war mit der englischen Literatur und sich selbst auf so wunderbare Weise Englisch zu sprechen gelehrt hatte, daß Niemand ihn für einen Ausländer gehalten haben würde; ich möchte ihn sehr gern wieder sehen, aber ich vergesse seinen Namen.‹ – Er nannte ihn und ein trauriger Ausdruck verbreitete sich über seine Züge. ›Todt?‹ sagte ich. – ›In der Verbannung.‹ – ›O Himmel!‹ sagte ich; ›ich hatte mich mehr darauf gefreut, ihn wieder zu sehen, als irgend einen Andern, den ich in Italien kannte.‹ – ›Was wollen Sie?‹ sagt der Marchese mit leiser Stimme. ›Er war ein merkwürdiger Mann – voller Kenntnisse, voller Geist, voll hochherziger Gesinnung. Wo sollte er sein als in der Verbannung! Wo könnte er sein!‹ Wir sprachen kein weiteres Wort darüber, aber an die kurze Unterredung werde ich mich immer erinnern.«

Andrerseits gab es Umstände bei der österreichischen Occupation, hinsichtlich deren Dickens die gemeinhin gemachten Bemerkungen für unbillig hielt, und seine Schlußbemerkung über ihre Polizei verdient wohl, aufbewahrt zu werden. »Ich bin entschieden der Ansicht, daß unsre Landsleute in Bezug auf die österreichischen Belästigungen von Reisenden, über die man sich beklagt hat, Tadel verdienen. Ihre Manieren sind so schlecht, sie sind so außerordentlich argwöhnisch, so entschlossen, von Jedermann betrogen zu werden, und machen sich so anstößig. Nun ist allerdings die österreichische Polizei sehr strikt, aber sie versteht ihr Geschäft und sie thut es. Und wenn man sie wie Gentlemen behandelt, vergelten sie immer Gleiches mit Gleichem. Als wir die österreichische Grenze zuerst überschritten und auf das Polizeiamt geführt wurden, nahm ich meinen Hut ab. Der Beamte nahm sofort den seinen ab und war – während er unverrückt seine Pflicht that – so höflich als irgend möglich. Als wir nach Venedig kamen, waren die Anordnungen sehr strenge, aber so geschäftsmäßig, daß sie nicht mehr als die geringste mit Strenge verträgliche Unbequemlichkeit zur Folge hatten. Hier ist die Scene. Ein Soldat ist, ungefähr eine Meile von Venedig, in den Eisenbahnwagen (einen Salon nach amerikanischem Muster) gekommen, hat gegrüßt und mir meinen Paß abgefordert. Ich habe denselben abgegeben. Der Soldat hat wieder gegrüßt und sich von mir entfernt, wie er sich von einem Offizier entfernen würde. Aus dem Waggon ausgestiegen, begeben wir uns an einen Ort wie ein Backhaus, der mit Gas erleuchtet ist. Niemand poltert oder treibt uns dorthin, aber wir müssen hingehen, weil die Straße dort endet. Mehrere soldatische Schreiber. Ein sehr wachsamer Chef. Mein Paß wird aus einem innern Zimmer hereingebracht, mit der Bemerkung, daß er en règle ist. Der sehr wachsame Chef nimmt ihn, besieht ihn (er ist jetzt etwas länger als Hamlet), ruft aus: ›S'gnor Carlo Dickens!‹ – ›Hier bin ich, Sir.‹ ›– Beabsichtigen Sie lange in Venedig zu bleiben, Sir?‹ – ›Vermuthlich vier Tage, Sir.‹ – ›Sie verstehen Italiänisch. Sind Sie schon einmal in Venedig gewesen, Sir.‹ – ›Schon einmal, Sir.‹ – ›Damals waren Sie dann wohl längere Zeit hier, Sir?‹ – ›Nein; ich kam bloß, um es zu sehen, und ging wie ich kam.‹ – ›Wirklich, Sir? Darf ich annehmen, daß Sie über Triest gehen?‹ – ›Nein, ich gehe nach Parma und Turin und über Paris nach Hause.‹ – ›Eine kalte Reise, Sir, ich hoffe, daß sie angenehm ablaufen wird.‹ – ›Danke Ihnen.‹ – Er blickt mich von oben bis unten scharf an und wünscht mir eine gute Nacht. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und Alles ist in Ordnung. Wenn diese Dinge überhaupt gethan werden müssen, könnten sie nicht besser oder höflicher gethan werden – obgleich ich zugebe, daß es, hätte ich die ganze Zeit über an einem Spazierstock gesogen, oder mit meinen Landsleuten Englisch gesprochen, es nicht unnatürlicherweise anders hätte sein können. In Turin und in Genua findet überhaupt kein solches Anhalten statt, aber in jedem andern Theile Italiens will ich lieber mit einem österreichischen Beamten zu thun haben, als mit einem einheimischen. In Neapel geschieht es auf eine bettelhafte, linkische, stümperhafte, träge, gemeine Art; ich bin aber auch in meinem alten Eindruck bestärkt, daß Neapel einer der abscheulichsten Orte auf der Erde ist. Die allgemeine Degradation beklemmt mich wie verpestete Luft.«

 

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