Gorch Fock
Nach dem Sturm
Gorch Fock

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Unser Ewer

Und mitten in dem Leben
wird deines Ernsts Gewalt
mich Einsamen erheben,
so wird mein Herz nicht alt.
Eichendorff.

Etwas Wunderliches ist es: fast immer, wenn ich auf der Elbe bin, begegnet mir ein helgenneues Fahrzeug, eine schwarzglänzende Kuff mit weißem Relingsstreifen, grünem Roof und gelben Masten, in die die Mastbänder und das Wetter noch keine Runen eingeritzt haben, mit hohen, weißen Segeln, die leuchten, als wenn sie noch keinen Südwest geschmeckt hätten – meines Großvaters Schiff, wie es auf dem verblichenen Bild des holländischen Zeichenmeisters zu sehen ist, das bei uns auf dem Neß in der besten Stube, der Dönß, über der Altenländer Bank hängt. Wohl weiß ich – und nicht nur aus dem Seeamtsspruch, – daß jene schwarze Kuff, der »Demant«, vor fünfundsechzig Jahren auf der Höhe von Blaavandshuk mit Mann und Maus untergegangen ist, aber dennoch bricht jedesmal ein heller Strahl aus meinen Träumen hervor, und es spricht vernehmlich zu meiner Seele: das ist Großvater. Und gegen diese tiefe, mächtige Empfindung kommt meine Vernunft einfach nicht auf: sie muß zu Anker gehen. Eigentümlich genug ist es, daß das Fahrzeug gewöhnlich immer so weit entfernt ist, daß ich weder den Namen, noch den Heimatsort lesen und weder den Schiffer, noch den Jungen erkennen kann, so daß das Flugzeug »Einbildungskraft« zu schalten vermag. Wenn ich allein am Ruder stand und die weißen Segel dwars hatte, dann kam mir wohl sogar der wunderliche Einfall, die Hände um den Mund zu legen und halblaut über das Wasser zu rufen: Höh, Grotvadder! Oder ich winkte mit der Hand, wenn ich das Helmholz nicht loslassen wollte.

Aber ich will von gestern erzählen. Da traf ich die Kuff wieder, diesmal bei der Kirche zu Nienstedten. Sie steuerte elbabwärts und kam bei dem raumen Wind mit weitabgefierten Schoten und weitausgebreiteten Segeln langsam heran, weil sie gegen die Flut fuhr. Ich richtete mich auf der Achterducht auf, als ich merkte, daß sie diesmal ganz nahe vorüberkommen mußte und legte das Ruder noch mehr nach Luv. Unverwandt blickte ich sie an, das Bugspriet, den Stampfstock, den starken Steven, die großen Klüsenaugen, deren Ausdruck – denn jedes Schiff hat Ausdruck in diesen Augen, liebes Mitteldeutschland! – mich lebhaft an unser gemaltes Bild erinnerte, die riesenhaften Segel, die wie Sommerwolken über dem Wasser schwebten, die prächtigen Masten, den grünen Roof, das braune Boot und alles. Der Junge saß geruhig auf den Luken und schälte Kartoffeln. Er war ein schlanker, sehniger Mensch mit hellem Haar. So mochte mein Oheim Jan damals ausgesehen haben, als sie in Bremerhaven nach Kopenhagen ausklarierten. Am Ruder aber stand ein grauer, untersetzter Schiffer mit kurzem Kinnbart, der meinem Großvater ähnlicher sah, als ich gemeint hatte. Er mochte gemerkt haben, daß ich ihn anstarrte, denn er blickte mich wieder an, daß ich innerlich zusammenfuhr. Ich war nun so dicht bei ihm, daß ich ihn mühelos hätte anrufen können, aber ich schwieg und rührte mich nicht. Wie eine große, schöne Erscheinung zog das Schiff vorüber, und erst als es kleiner und kleiner geworden war, fiel mir jäh ein, daß ich nicht nach dem Namen und dem Heck gesehen hatte.

Nun war es zu spät dazu. Ich war mittlerweile aus der segelreichen Norderelbe in den minder belebten und minder bewegten Köhlbrand hineingefahren und segelte schon zwischen den Torfewern und Jalken, sah schon die Reethäuser von Neuhof, das weiße Schulschiff von Waltershof und die Jollenmasten von Altenwerder. Danach fuhr ich in die stille, kaum gekräuselte Süderelbe hinein. Segeln konnte ich das Vorwärtsschleichen bei dem flauer gewordenen Winde freilich schon nicht mehr nennen, aber die Flut trug mich ja auf ihren blanken Mädchenarmen.

Der Heben hatte sich mehr und mehr bezogen und war zu einem undurchdringlichen Grau geworden, das nicht einmal eine Bewegung des Gewölks mehr erkennen ließ. Auch auf dem Wasser war es diesig geworden. Die Kimmung war in die Wolken gelaufen. Die Süderelbe hatte wieder an sich selbst genug und ließ nur einige Fischerkähne an ihrer Einsamkeit teilnehmen. Auf beiden Seiten wurde das Ufer durch Wischen und Kneien gebildet. Weit hinter ihnen und den krummen Wicheln stiegen erst die Sommerdeiche auf. Bauerngiebel und Strohdach versteckten sich griesgrämig hinter Linden und Nußbäumen. Auf den Wiesen erhoben einige Schafe die Köpfe, als sie mein Segel sahen, und eine Elster flog schwungwippend nach den fernen Eschen hinüber. Sonst schienen ich und mein Boot allein auf der Welt zu sein. Von den Deichen kam kein Laut und kein Geräusch, wie ich auch die Ohren auftat. Ob es dahinten keine Kinder gab, laute Gören wie bei uns am Elbdeich, wo man Mühe hatte, sein eigenes Wort zu verstehen?

Ich schlich erbärmlich dahin, daß mich ein schwimmender Frosch leicht hätte überholen können. Das Wasser war wie überglast und schien den Steven des Bootes nur widerwillig durchzulassen. Das Glucken hatte schon lange aufgehört, und damit war mir eigentlich recht die herzlichste aller Empfindungen beim Segeln schon genommen worden. Meine kleinen Wellen wurden wie von unsichtbaren Händen schnell wieder ausgelöscht und glattgestrichen. Regungslos saß ich auf der Ducht und ließ die Augen wandern, die diesmal nichts mit der Windrose und sehr wenig mit dem Lappen zu tun hatten. Mitunter knarrten die Blöcke des Halses wie in Traumen.

Ich war still und beklommen geworden und wurde es um so mehr, je weiter der Strom mich schob. Denn ich war auf der Suche nach unserm Ewer, unserm getreuen, guten, alten Ewer, den sie mir verkauft hatten, als ich grübelnd in der Schreiberei am Dovenfleet saß und auf einen Ausweg aus dem griesen Nebel sann, verkauft an einen Ewerführerbaas, der ihn zu einem Schutenprahm und Winschenträger umbauen lassen wollte, weil er zum Abschlachten doch noch zu gut war. Als ich gestern aus Hamburg gekommen war, hatten sie mir nicht einmal genau sagen können, wohin der Ewer geschleppt worden war. Ich hatte aber nicht geruht, bis ich es erfahren hatte. Und dann hatte ich keine Ruhe gehabt, bis ich das Segel vom Boden geholt und das Boot zu einer Suchfahrt klar gemacht hatte. Ich mußte mich von unserm alten Ewer verabschieden, wie die andern auf dem Neß sich von ihm verabschiedet hatten. Nun war ich auf dem Wege zu ihm.

Die graue Luft kam mir gelegen, denn die helle Sonne hätte mir an diesem Tage weh getan, wenn sie mich beschienen hätte.

Starr sah ich nach dem Topp meines Mastes und darüber hinaus in das graue Gewölk, als ich wußte, daß ich ungefähr weit genug sein mußte, daß rechts voraus die Werft dämmerte, neben der unser Ewer liegen sollte. Ich sah den Jammer immer noch früh genug. Und immerhin: ich konnte ja noch umkehren, ohne ihn gesehen zu haben. Ich zögerte eine Weile in Gedanken, dann warf ich das Ruder herum, ließ das Boot sich drehen und sah auf.

Zunächst bemerkte ich nur eine Reihe dicker, kahlgeschlagener Wicheln, die wie Angler am Wasser standen und sich nicht rührten. Dahinter aber tauchte ein Mast auf, zwar nur noch ein abgesägter, halber, aber doch ein Mast, den ich an seiner Sprenkelung und Abscheuerung unter allen hundertzweiundzwanzig Großmasten der Niederelbe erkannt hätte, auch wenn ich den hochgewölbten Steven mit den grünen Klüsenbacken, den schwarzen Klüsenaugen und dem weißen Bug, das Gesicht des Fahrzeugs, nicht gewahrt hätte, das mir vertraut war wie das Gesicht meiner nächsten Verwandten.

Es war der Ewer.

Ja, er war es und warm lief es mir über die Backen, als ich ihn wiedersah, so abgerupft und abgetakelt, abgewrackt und haveriert, so kläglich und erbärmlich wiedersah, meinen Ewer, den ich die Nacht zuvor im Traum noch groß und machtvoll in der unsagbaren Schönheit des Segelfahrzeuges mit allen braunen Lappen auf der weiten Nordsee dümpeln und kreuzen gesehen hatte.

Entmastet und abgeschlachtet lag er im schmalen, seichten Schlickgraben, der sich sonst an den Fischerbrücken von Altona und St. Pauli, an den Kajen von Geestemünde und Bremerhaven, an der Schlachte von Bremen, an der Alten Liebe von Cuxhaven, auf der Reede von Helgoland und auf den Schallen von Finkenwärder gesonnt und wohlgefühlt hatte.

Was da sonst noch herumliegen und umherstehen mochte, durften Bäume oder Schiffe sein. Ich bemerkte sie nicht. Alles verging vor dem Ewer. Ich sah nur ihn und sein trauriges Schicksal.

Es war mir, als recke es sich, und als dränge und stöhne und schluchze es um mich und unter mir, als fühle mein Boot, das kleine Kind, die Nähe seiner großen Mutter, als riefe es nach ihr und als breite es die Arme nach ihr aus.

Auch über den Ewer aber kam es wie ein tiefes, schweres Aufatmen, wie ein müdes Aufwachen und Wachwerden, wie ein langes Dehnen, dann wie ein mühsames Erkennen. Und wie vom Grunde der Elbe her, wie aus einem Grabe heraus rief es: Gorch, sünd ji dat? Und ich antwortete leise, wobei ich nickte: Jo, mien leebe Eber, wi sünd dat!

Ich legte an und es ergriff mich wunderlich, zu sehen, wie dicht das Kind sich an die Mutter schmiegte, und wie fest sie es an sich zog, wie fest. Überwältigt blieb ich auf der Ducht stehen und wanderte das Deck zunächst mit den Augen ab, das kein Fischergerät mehr hatte und auf dem nur wirre Haufen von Sägespänen lagen, Splitter, Bretter, Lukenreste und Eisenteile. Wo die Eisplicht gewesen war, da erhob sich schon eine vierkantige Motorbude, die kein Plattdeutsch mehr verstand. »Zutritt verboten!« stand wirklich und wahrhaft schon an der Bordseite. Ich hätte mich in die Ecke verkriechen mögen und heulen wie ein Hund, als ich das las. Die Schwerter waren ihm von den Seiten gerissen, wie einem Kriegsmann, der nicht tapfer gekämpft hat. Das Bugspriet und der Besanmast fehlten auch.

Dennoch war der Ewer noch nicht tot; ob auch schwerverwundet, lebte er dennoch noch. Ich sah es, wie er mich mit seinen großen Augen verzweifelt und todestraurig anblickte. Dann stieg ein verlorenes Lächeln in seinem Gesicht auf, und er sprach leise auf mich ein, als läge er irgendwo im Krankenhaus, und als säße ich an seinem Bett. Und wie ein Todkranker immer schon wie aus der Ferne spricht, so sickerten seine Worte in meine Ohren.

Dat is got, Gorch, dat du mol kummst un mi besöchst. Du vergittst mi ne, Gorch, un wenn se all ne mihr an mi dinken dot. Ik hebb dat woll weten un hebb all minnichen Dag up di teuft. Gorch, Gorch, wat seggst du nu? Ik kann di seggen, se hebbt mi in de Mook un dot dor wat an. Kinnst mi woll kum noch wedder, wat?

Ich konnte nichts darauf sagen, auch in Gedanken nicht. Ich griff nur wie in einem Einfall nach einem Tau, das vom Setzbord herabhing, und strich darüber hin. Dann schwang ich mich unhörbar aus dem Boot und ließ den Ewer weiter sprechen.

So müssen wir uns wiedersehen, Gorch Fock! Kiek mi man eulich an, mien Jung! Ich bin kein Fischerewer mehr, bin überhaupt kein Fahrzeug mehr, bin nur noch ein totes Schleppzeug, ein wüstes Wrack, ein mürbes Stück Holz und weiter nichts. Sie sind Tag für Tag mit Sägen und Äxten, mit Beilen und Kuhfüßen auf mir und in mir zugange, und ich liege an Ketten und kann mich weder wehren, noch kann ich mich rühren, ich muß alles ohnmächtig über mich ergehen lassen. Die Besan haben sie mir aus dem Leibe gerissen: da hinten im Graben liegt sie im Wasser. Was sie damit machen wollen, weiß ich nicht. Den Großmast haben sie abgesägt. Der schöne, bunte Flögel liegt auf der Helling zwischen den Sägespänen und ist schon gänzlich zerrissen und zertreten, Gorch. Nein, geh nicht hin, such ihn nicht! Ich habe keine Segel mehr und nur noch die zwei Wanten, habe keine Gaffeln und kein Bugspriet mehr, keine Kapp und kein Nachthaus, kein Spill und keine Winsch, keine Kurre und keinen Baum, keinen Block und kein Schwert mehr.

Ich wußte es. Meine Gedanken stellten alles wieder zurecht und gaben allem den alten Platz und die alte Stelle wieder ... Da stand die Besan, der kleine Achtermast, zierlich wie der kleine Finger eines Riesen, so keck und troß wie ein Fischerjunge, der sieben Jahre im Ewer gefahren hat und jetzt Knecht werden kann, wie es in der alten Finkenwärder und Blankeneser Schollenfängerei Brauch war. Die Besan war der kleine Bruder des Großmastes und brauchte längst nicht so viel zu tun wie er, deshalb guckte sie auch meistens gradeaus in den blauen Heben hinein oder nach den weißen Wolken hinauf. Der große Mast aber stand vornübergebeugt da wie ein Atlas und trug Schiff und Schiffer samt Knecht und Jungen von der Elbe nach Helgoland und Terschelling und Fanö, nach Juist und List, nach Weser und Eider, er war es, der das Grundnetz, die schwere Kurre, über den weichen oder steinharten Meeresboden schleppte. Gebeugt von so vieler, großer Arbeit, blickte er über die Fock in das unruhige Wasser hinein. Wenn es aber grau aus dem Westen kam, wenn die Wolken auf der Flucht waren vor dem alten, ungebärdigen Jäger, der unaufhörlich seinen Hunden pfiff, dann stand einer treu beim andern, und beide Brüder trotzten wohlgemut in einem Wetter, schlugen in gleicher Kraft mit den Segeln und donnerten gleich vergnügt mit den Schotenblöcken. An guten Tagen gab's dafür zuzeiten einen kleinen Streit, eine »Streiteratschon,« wie die Frauen am Deich sagen: dann rühmte der Kleine sich als der feinere, weil der Schiffer unter ihm stehe, und weil er in seinem Nachthaus den allwissenden, runden Herrgott trage, den Kompaß: dann wies der große Mann prahlend seinen hansenfarbigen, weißroten Flögel, mit dem der Tümmlerschwanz dahinten in der Tiefe gar nicht antreten könne, und tat sich unglaublich viel auf seine drei Lichter zugute, das gelbe Fischerlicht und die grüne Steuerbord- und rote Backbordlaterne ... Noch letzten Sommer, als wir zwischen Langeoog und Spiekeroog trieben, in stiller, warmer Luft, mit hängender Kurre und hängenden Segeln, hatte ich sie so streiten hören, als ich allein auf den Luken saß und einen Flicken auf meine Fischerhose setzte. ... Da standen die Segel, die zu meiner stillen Genugtuung immer so gut standen. Zuvörderst der große Klüver, die lange Nase des Ewers, der Jäger und Wager. Was für eine Freude hatten wir jedesmal, wenn wir ihn aus der Segelkoje ziehen konnten, sei es in dunkler, lichterreicher Nacht, wenn wir die Elbe hinunterschäumten, die Brust erfüllt von Hoffnung auf Wetter und Schollen, sei es dwars von Amrum, wenn der Bünn voller Schollen saß und es nach Hause gehen sollte. Da stand die Fock, das zweite Stagsegel, das rillend niedersank, wenn wir die Kurre einziehen wollten, und alle Möwen herbeirief, die sich auf der See gewiegt hatten, – die rasselnd wieder am Mast emporstieg, wenn das Netz wieder schleppte und wir Petri Geschäft fortsetzten, die beim Kreuzen immer so ungeduldig an ihrem Tau riß und das laute »Gohn«! von Vater niemals abwarten konnte, wenn der Ewer sich auf den andern Bug gelegt hatte. Da stand das Toppsegel, das höchste von allen, das mit langem Arm in den nächtlichen Heben hineinlangte, als ob es die Sterne pflücken wolle ... Da stand das gewaltige Grotseil mit dem weißen Namen und den drei Reihen der Reffbänder, das wie ein Riesenvogel über der See schwebte und die halbe Welt beschattete ... Da stand das Besansegel, das immer Flicken trug wie ein Junge vom Deich, der gern überall dabei ist, auf seiner Hose ... Da reckten die Wanten sich in die Höhe, die wie Jakobsleitern in den Himmel gingen, uns Kindern das schönste Turngerät, uns Fischern der beste Ausguck, dem Wind die beste Riesenharfe, müden Vögeln der willkommene Ruheast. Dort saß der Rabe, der nicht mehr fliegen konnte und dort die Brieftaube, der der Ostwind über geworden war. Da liefen die Taue herab und an jedem hing eine kleine Geschichte, wie jedes seinen Namen hatte. Da standen das Spill und die Winsch, deren besonderer Klang durch Tag und Traum gleich stark hallte und die immer gute Zeichen gaben, Zeichen des Ankerhievens, des Segelsetzens und des Netzeinziehens. Da spannte sich die Gaffel, die beim Dümpeln auf See so lange knarren konnte, bis sie ein Lied oder eine Weise zusammenbrachte, die den Wachtsmann erfreute und ihn wach hielt. Da reckten sich die weißen Giekbäume, auf denen unsere Schollen und Hemden trockneten. Da lag der Kurrbaum im Zepter. Ich leckte ihn als Kind nach jeder Reise, um die See zu schmecken, ob man mich gleich auslachte. Da hing die Kurre zwischen den Masten, die wir so manches Mal fierten und hievten, die wir so manchen Tag ausheilten, wenn die Steine sie zerrissen hatten. Da das Schwert, unser braver Segelknecht, unsre Flosse. Da das Bugspriet, die Pfeife des Ewers, die er nach Belieben kurz oder lang rauchen konnte, der Wegweiser des Schiffes, wenn es nach Hause gehen sollte, das Horn, mit dem es beim Sturme in die Wogen stieß. Der Flögel droben, der bunte Vogel Wippsteert, der sich beständig mit dem Winde drehte. Das Nachthaus mit der Magnetnadel und dem stillen Schein in den Nächten der Fahrt. Das Ochsenhorn, das bei dicker Luft seine tiefe Stimme erhob. Die deutsche Flagge, die wir grüßend aufholten, wenn ein deutsches oder holländisches Kriegsschiff in Sicht kam. Das Tau, mit dem der Rudersmann sich festband, wenn die Seen zu hoch über den Setzbord fegten und der Ewer zu große Sätze machte, ... ich sah es und hörte und bedachte es, sah und hörte und bedachte noch viel mehr, denn alles Grübeln findet kein Ufer und keinen Grund, ... ich ging meine Jahre durch und sah mich doch immer wieder auf dem Deich stehen, ein Kind, dem alles groß und gewaltig erschien, von den Lindenbäumen vor der Tür bis zu den Giraffen im Zoologischen Garten, die über Häuser und Dächer hinwegguckten, von den großen Händen der Fahrensleute bis zu den Pferden der Bauern und bis zu dem mächtigen Fischerewer mit den ungeheuren Segeln. Als ich größer wurde, führte ich allmählich alles auf das rechte Maß zurück: die Bäume, die Tiere und die Menschen. Nicht aber den Ewer. Bei ihm gelang es nicht und sollte wohl auch nicht gelingen. Unser Ewer blieb groß und gewaltig für mich, auch dann noch, als ich ihn steuern lernte. Ihm konnte die Zeit nichts anhaben: er war und blieb für mich trotz »Vaterland« das größte und schönste Schiff auf der ganzen, weiten Welt. Nicht einmal Störtebekers Koggen und Utrechts Kraffeln konnten mit unserm Ewer in einer Reihe segeln, ohne daß er ihnen allen Wind aus den Lappen genommen hätte ...

Wieder war es mir, als spräche er: Ich wollte, daß ich geblieben wäre in Sturm und Wetter, Gorch, und daß sie mich für verschollen erklärt hätten! Dann säße ich still und dunkel bei so vielen Nachbarn unten zwischen den Muscheln und Steinen und hätte Ruhe! Oder daß ich am Deich, in den Binsen hinter dem Bollwerk geruhig gestorben und verrottet wäre, wie mancher andre mürbe Fischerewer. Aber so auf seine alten Tage und mit seinen alten Knochen in den großen, unruhigen Hamburger Hafen hinein, in die kalte Hölle: davor graut mir, Gorch! Ich wollte, daß ich hinter Helgoland untergegangen wäre!

Und Vater? rief ich heftig.

Es schien, als ob er stiller würde. Ja, Vater, Gorch. Er hat nicht bleiben wollen, darum hat er mich verkauft. Die mühsame Fahrt hat ihn grau und alt gemacht. Es wollte nicht mehr gehen. Ich will ruhig sein. Ist Vater stiller geworden, Gorch, seit ich weg bin?

Ich nickte.

Grüß ihn, Gorch! Grüß ihn von Herzen! Wir beide sind doch die meiste Zeit unseres Lebens beisammen gewesen und haben die guten und die bösen Tage hingenommen. Ich habe ihn aus der Nacht in den Tag und wieder aus dem Tag in die Nacht getragen, und er hat mich aus der Stille in den Wind und aus dem Wind wieder in die Stille gesteuert. Wie es zwischendurch auch sein mag, Gorch, am Ende ist wieder Nacht und Windstille um uns. Wir sehen die See nicht wieder und segeln nicht mehr nach der Weser, wo wir so manches Mal waren. Grüß Vater, Gorch! Ich möchte noch einmal alle Segel stehen haben und Vaters Schritt auf den Luken hören, möchte Mutter auf dem Deich stehen sehen, umgeben von dem Hahn mit all den Hühnern, wie sie nach uns ausguckt und anfängt zu winken! Alle Segel am Mast haben, Gorch, das möchte ich noch einmal!

Da ging es mir durch den Sinn: das sollst du, alter, treuer Ewer, sollst es in meinen Träumen. Da will ich dich fischen und segeln lassen, solange ich lebe, da sollst du jede Nacht mit Vater und mir um Helgoland kreuzen. In meinen Träumen!

Ich sagte es aber nicht, sondern richtete mich nur auf: Wir müssen darauf sinnen, daß wir unser altes, fröhliches Herz behalten und nicht ernst werden. Wehr dich, mein Ewer, wie mein Herz sich wehren soll gegen all den griesen Nebel,der ihm seine Sonne nehmen will!

Das war nicht ganz das Rechte. Ich fühlte es und wollte mich verbessern, als ein Geräusch mich aufsehen hieß. Auf der Werft erschien der Baas, der die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und langsam näher kam. Ich kannte ihn weitläufig.

»Na, Fock, hebben Se den olen Putt mol öberholen wullt? Jä, jä, so süht he nu ut! Is all bannig zeitlich. Mör is he.«

Ich guckte erschreckt den Ewer an und sah, daß er regungslos dalag und daß er gänzlich tot war. Überall klafften Risse, überall hatte der Wurm gefressen. Er sah nun wirklich aus wie ein Wrack.

So schnell es sich machen ließ, erledigte ich mit dem Baas das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Wetter, dann kletterte ich in mein Boot, stieß ab und segelte zurück, ohne mich umzusehen.

Mit der Ebbe, die mittlerweile eingetreten war, trieb ich schnell stromab, dem Alten Lande zu, dessen Ziegelschlote in der Ferne verdämmerten.

Ich hatte aber eine schwere Fracht in meiner Seele mitgenommen und konnte die großen, dunkeln Augen des Ewers nicht versegeln. So erschüttert war ich noch, als ich auf dem Neß ankam, daß ich nicht vermochte, Vater von seinem Ewer zu grüßen.

Ich habe es niemals getan.

* * *

Da steht mein Ewer vor mir, den mein Bruder mir geschnitzt und aufgetakelt hat aus Erinnerung und Freude heraus. Oben auf meinem Bücherbort steht er. Ich könnte darunter schreiben:

Über allen Büchern stehst du –
in deinen Wanten Todesruh.
Dein Schiffer ist müd zum Schlafen,
dein Schiffer steht grau am Hafen
Und blickt in die Ewigkeit ...
O Seefahrt, wie weit, wie weit!


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