Gorch Fock
Nach dem Sturm
Gorch Fock

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»Wedder een bleben.«

Der kleine, hellhaarige Junge, der in der halbdunkeln Koje saß und sich bemühte, das Gleichgewicht zu halten, was bei dem Rollen und Stampfen, bei dem starken Dümpeln und gewaltigen Überholen des Fahrzeuges nicht leicht war, hatte das Herz voll von Angst und Furcht vor dem Sturm, der die Nordsee pflügte, als wäre sie seit den Tagen der Wikinger nicht gerodet worden. Kord stand noch zu dicht bei seiner Mutter und dem letzten Kirchenjahr, um nicht an Gott und Gebet zu denken, – aber in der Bangheit des Augenblicks konnte er keine Worte finden. Es fiel ihm nichts ein als ein Satz aus seinem Lesebuch: »Ach, wär ich geblieben, wo ich gewesen, bescheiden und klein im mehligen Körnlein!« So wimmerte das Hälmchen, als es den kalten Märzschnee zu kosten bekam, – und so klagte nun mit bebendem Munde der Schiffsjunge.

Er war von dem Schiffer heruntergeschickt worden, damit er etwas esse; aber er hatte kein Verlangen nach dem harten Schwarzbrot. Nur durstig war er von dem salzigen Wasser, das ihm ins Gesicht gespritzt war, und er tat einen langen Zug aus der blauen Kaffeekanne. Gleich darauf wäre er umgeschossen, wenn er sich nicht an der Kojentür festgehalten hätte: so schief warf sich das Schiff. Das Ölzeug troff wie eine lecke Dachrinne, und als er daran hinabguckte, lief es doch wie ein Lachen über sein Gesicht, und er freute sich seiner in fünf Reisen allmählich erworbenen Seefestigkeit, brauchte er doch nicht mehr halbtot beim Ofen und auf den Luken zu liegen, wenn die See unruhig wurde; aber über dieses kleine Freudeküken fiel im nächsten Augenblick schon der brüllende Sturm wie ein Habicht her und fraß es. Schwankend tastete der Junge sich die Treppe hinauf, schob die Kapp ein wenig auf und kroch an Deck, in den scharfen Wind und den fliegenden Schaum hinein.

Hundert Seemeilen voraus kein Land ...

Wie von Berserkerwut erfaßt, schlug der schwere, schöne Kutter sich mit der schwer und machtvoll waltenden See herum. Wie mit Hörnern stieß er den Wogen entgegen, drückte die kleinen unter sich, warf die mittleren zornig und klatschend zur Seite und nahm die großen, hohen, weißköpfigen über, zerhieb sie mit dem scharfen Stevenschwert und streute ihre Schaumkämme über Deck und Wanten hinweg in den Wind. So schüttelt der Eber die geifernden Hunde ab, so stürmt ein junger Feuerkopf in das dichte Gewühl der Schlacht, stößt den Troß beiseite, bahnt sich einen Weg zu dem König und reißt ihm die Krone vom Haupte.

Tief drückte die Last der windgestrafften, leckenden, dunkelbraunen Segel den Riesenvogel nieder, der den Sturmflug wagte; zum Zerspringen spannten sich Mastbänder und Schoten. Mitunter schrie die Gaffel von der Höhe des Mastes ihre Not schrill über See, oder die Schoten gaben ihren Zorn durch wildes Schlagen und Zerren kund.

Und dann – im Atemholen des Windes – richtete das Fahrzeug sich manchmal urplötzlich steil und hoch auf wie ein Sieger und sah stolz und herrisch über die graue See und in die grauen Wolken hinein. Das sah schön aus ...

Im nächsten Augenblick aber duckte es sich wieder wie ein Indianer, steckte den Kopf in das gurgelnde, überkochende Wasser und verbiß sich mit den Wölfen der Dünung.

Stand es schlimm?

Wie sollte es schlimm stehen? Flatterte nicht von der Besan noch die deutsche Flagge, stand nicht am Ruder ruhig und aufmerksam der junge Schiffer, hielt nicht der Bestmann unbeirrt seinen Platz fest? Und mochte es von weitem scheinen, als klammerten sie sich wie Katzen an, so waren sie dabei immer noch Herren des Schiffes und des Windes, so toll es auch im Küsel ging.

Mit doppelten Strohtauen hatte der Schiffer das Ruder in der Gewalt, und er achtete wenig auf den bebenden Gesellen von Kompaß, desto mehr aber auf die Segel, die sich über ihm blähten und wölbten, als gehöre ihnen das größte Stück des Hebens, und auf den schwarzen Kutter, der eine halbe Meile in Luv klüste und ebenso schwer arbeitete und schirrwerkte wie seiner.

Sie waren gute Makler, der schwarze und der grüne Kutter, fischten, segelten und ankerten fast immer in Ruf- oder Sichtweite, weil ihre Schiffer es so wollten. Jan und Hinnik waren die besten Kameraden, nicht allein, weil beide neue Schiffe hatten, denen die Flagge am Knopf wehte; sie hatten sich schon viel früher verbündet: beim Schwimmen am Deich, beim Osterfeuer, beim Schreiben und Rechnen und bei vielen anderen Dingen. Und das war ausgemachter Kram von jeher gewesen, daß keiner vor dem anderen etwas voraus haben durfte; so flatterte Jans Flagge so stolz wie Hinniks, so war Hinnik noch kein Baum zu hoch gewesen, den Jan erklettert hatte. Und wie Jan nicht vor Hinnik nach Haus ging, wenn sie zum Tanzen waren, wie Hinnik ebensoviel Bier vertragen zu können meinte wie Jan, so glaubten sie, es auch auf See miteinander aufnehmen zu können; wenn Hinnik das Wetter zum Hinausgehen nicht zu schlecht war, dann kreuzte auch Jan gegen den harten Wind; solange Jan fischte, gab auch Hinnik das Kurren nicht nach, und bevor Hinnik nicht beidrehte, fiel es auch Jan nicht ein, binnen zu laufen. Solange Jan volles Zeug trug, steckte auch Hinnik kein Reff ein, – es war gewissermaßen ein gegenseitiges Herausfordern, ein Auftrotzen, ein Prahlen hüben und drüben, das zu immer gefährlicheren Taten ermunterte.

So etwas verwehte auch diesmal bei dem sturen Wetter nicht. Es war unverständlich, daß sie bei dem flagigen Wind beide noch mit ungerefften Segeln klüsten. Jans sorgender Blick hing manchmal starr an Topp und Gaffel, als befürchte er im nächsten Augenblick ein Bersten und Krachen. Auch war es unklug, so viel Wasser überkommen zu lassen und Boot und Geschirr aufs Spiel zu setzen, – aber solange Hinnik da drüben es mit vollen Lappen tat, mochte er auch kein Tuch verstecken. Hinniks Kutter war nicht so steif; so kam es ihm zu, zuerst zu reffen! Hinnik hinter seinem Kompaß dachte dagegen: du büs de Öllst, Jan; ik mag di nich tovör kommen ... So ging es mit Backbordhalsen weiter ...

Es schien, als wenn der Wind an Ungestüm noch zugenommen hatte. Die Flagge wirbelte wie sonst etwas auf und ab, und das Wasser ergoß sich stromweise über den Setzbord. Der Knecht, ein verwegener rothaariger Gesell, stand neben dem Boot, gleichmütigen Gesichts, denn er hätte um alles in der Welt keine Furcht zeigen mögen, der Junge aber saß wie ein Kaninchen geduckt unter den Wanten und verfolgte See um See mit ängstlichen Blicken.

Jan rückte den Südwester noch mehr in die Stirn.

»Hogel!« rief er durch das Gebrause.

Gleich darauf fegte eine Hagelflage heran. Eine milchgraue Wolke legte sich tief auf das Wasser und umschlug Mast und Segel wie ein ungeheures Leichentuch. Es wurde so unsichtig, daß Jan keine zehn Faden sehen zu können glaubte. Von dem schwarzen Kutter war nichts mehr wahrzunehmen, es blieb auch wenig Zeit, danach zu gucken, denn das Schiff pflügte schwerer als vorher und ging die Sache an wie nichts Gutes. Hinnik wird es ja nicht gewahr, sagte sich Jan und gab in diesen schweren Augenblicken den Befehl zum Reffen. Der Kutter luvte auf, und mit Mühe und Not, in harter Arbeit, brachten die verklamten Finger das schwierige Werk zustande. Während dieser Zeit rasselte der Hagel in schweren Schlossen nieder, und der Wind sauste stärker und stärker, aber dann stand das Schiff vermöge der kleineren Segel doch höher auf, und es war ein besseres Klüsen als vorher. Wie lange die Flage dauerte, hätte keiner zu sagen vermocht. Jan wäre wohl auf eine Stunde verfallen. Er konnte wieder seitwärts lugen.

Seen, große, dunkle, hungrige Seen mit wirbelnden, weißen Köpfen drängten sich dort um die Plätze, schossen aneinander vorbei, stießen zusammen und rissen sich wieder los. Manchmal aber tat sich ein Haufe zusammen und hob den stärksten Genossen auf den Schild, – dann wuchs eine Sturzsee zu ragender Höhe auf und rollte ihren Weg.

Immer noch war der schwarze Kutter nicht wieder zutage gekommen, obgleich die Flage längst vorübergeweht war und es heller und sichtiger wurde. Jan hatte erst nach dem Reff des Kameraden gesucht, – nun aber suchte er das Schiff selbst mit unruhigen Augen, die er in jede Kompaßrichtung wandern ließ. Er langte den Kieker aus dem Nachthaus und suchte mit ihm die See ab, – aber kein Segel und kein Schiff gaben sich in diesem lebendigen Gebirgsland an. Langsam legte er das Glas hin, und die Augen liefen unsicher nach den Segeln hinauf. Da sah er seine Flagge zerfetzt um den Topp flurren und gewahrte, daß sein Großsegel einen großen Riß hatte. Da schoß es ihm warm in die Augen ...

Der Knecht guckte auch nach dem Segel, noch mehr aber über See. Auch er war unruhig geworden, als er den schwarzen Kutter nicht mehr in Sicht kriegen konnte.

»Sulln wi sowiet ut'n een komen wesen?« rief er laut.

Aber Jan schüttelte den Kopf.

»De is weg«, sagte er dumpf und gepreßt.

»Bleben! Wedder een bleben un wat för een!«

Dennoch spähte er wieder scharf nach der Kimmung. Der Knecht mußte das Ruder übernehmen, – sonst gehört das Ruder im Sturm dem Schiffer! – und Jan ging schweren Schrittes nach dem Steven, wenig auf das übersprühende Wasser achtend. Die Augen in die Weite gerichtet, hielt er lange Zeit auf seinem Posten aus.

Dann faßte er das Ruder wieder an und kreuzte auf und ab, in schwerer Not, nach seinem Kameraden suchend, bis die Nacht hereinbrach.

Dann setzte er seine Flagge halbstock, ohne ein Wort zu sagen, legte das Nachtglas müde beiseite, ließ die Lichter anstecken, warf das Ruder herum und steuerte umheult und umbraust nach Helgoland zurück, dessen heller Schein ihn um Mitternacht grüßte.

Mit zerrissenem Segel und zerrissener Seele.


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