Gorch Fock
Nach dem Sturm
Gorch Fock

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Nordostpassat

Nach einundzwanzig Tagen widrigen Windes und mühseligen Halsens war unsere gute Hamburger Bark »Kriemhild« endlich in den Bereich des Nordostpassats gekommen. Die köstlichste Zeit der Reise war angebrochen, das große Aufatmen vor Kap Horn, und eine Weile schien es wirklich, als wenn die Freude sich nicht anders als in Liedern Luft machen könnte. Als wenn sie sich Luft machen müßte, die helle Freude über den starken, förderlichen Wind, der unser Schiff in seine Arme genommen hatte, über die lange Reihe der sonnigen Tage und sternklaren Nächte, die nun vor uns lag, über die glücklichen Wochen, in denen kaum eine Rah gefiert und kaum ein Segel gebraßt zu werden brauchte, in denen kein Brecher über die Reling fössen und kein Elmsfeuer an den Nocken flammen sollte.

Das war in dem Augenblick, als wir von der Steuerbordwache auf der Großbram in den Pferden standen und die alten Passatsegel anschlugen, als wir die weißen Wolken über den Heben wandern sahen und die fliegenden Fische gewahr wurden, die vor dem Bug scharenweise aus dem Wasser schwirrten, und als wir Lord unter uns bemerkten. Ja, unter uns, auf der Back, stand unser Seekalb, wie der Koch ihn nannte, stand unser riesiger Neufundländer Hund weit vorgestreckten Kopfes und sog den frischen Wind mit Behagen ein. Wir guckten einander an und sprachen laut darüber. Was für ein guter Geist mußte mit dem Passat an Bord gekommen sein, wenn Lord, der seit vierzehn Tagen regungslos vor der Kajüte gelegen und Krankenwache gehalten hatte, mit einem Male wieder lebendig geworden war! Hoch auf der Back stand der Hund im wehenden Wind und mit einem Male begann er freudig zu bellen! »He bellt!« ... »Jo, jo, he bellt!« ... »Nu sall de Krankheit sik woll geben!« ... »Jo, nu ward uns lütte Janmoot bald beter!« ... So ging es bei uns auf der Rah durcheinander – dann stimmte der Altenländer an:

Nordostpassoot,
Wi hefft Di foot...

Wir sangen mit und ließen die Segelarbeit sachter angehen.

Das war aber nur ein Blink, das die Wolken jach schlossen – auf dem Achterdeck erschien des Alten undurchdringliches Gesicht! Wir besannen uns auf den todkranken Jungen in der Kajüte, brachen mitten im Gesang ab und griffen wieder in unser Segel. Auch Lord war plötzlich verstummt. Schuldbewußt kletterte er von der Back hinab und schlich hängenden Kopfes nach dem Achterdeck zurück. Dort warf er sich wieder schwer und traurig vor der Kajüte nieder.

* * *

Den andern Morgen mußten wir unsre Flagge halbstock holen. Unser Junge war in der Nacht gestorben. Die Backborder erzählten, daß der Hund mit einem Male ganz laut und ganz furchtbar aufgeheult hätte, wie sie nie einen Hund hätten heulen gehört, und in demselben Augenblick sei der Tod über Deck geschritten.

Wie war uns um unsern Spielvogel zumute! War es nicht jedem, als sei sein eignes Kind gestorben, hatte er nicht jedem zutraulich angehangen, hatte nicht jeder mit ihm spielen und ihm erzählen müssen! Mehr als auf dem Achterdeck bei seinem ernsten Vater – unserm Ollen! – und bei seiner kränklichen, blassen Mutter war der Junge auf der Back heimisch gewesen, ständig hatte er bei uns im Logis gesessen, wenn er nicht an Deck mit uns spielen konnte, so daß der Alte einmal halb lustig, halb ärgerlich gemeint hatte: das sei ja gar kein Kapitänskind, das sei ja ein kleiner Janmaat. Worauf aber der Segelmacher gesagt hatte: »All de Kopteins möt as Janmooten anfangen!«

Der Segelmacher, unser wunderlicher Seilmoker, wie trug er an dem Tod des Jungen? Schwer trug er daran! An ihm hatte der Junge am allermeisten gehangen, immer hatte man die beiden beisammen gesehen: wenn uns lütte Janmaat nicht gerade auf dem Hund um Fock- und Großmast ritt, saß er sicherlich bei dem Segelmacher zwischen Klüver und Besan. Der Alte trug schwer, er sprach kein Wort mit uns, die Segelmacherei ruhte gänzlich. Die Hände auf den Rücken gelegt, ging er in sich gekehrt ruhelos an Deck hin und her. Mitunter stand er still, als besänne er sich auf etwas, dann schüttelte er trübselig den Kopf und nahm seine Wanderung wieder auf.

Lord hätte seit dem Tode des Kleinen kein Futter mehr angerührt, behauptete der Koch, der sich alle erdenkliche Mühe gab, das Tier zum Fressen zu bewegen. Aber Lord ließ alles stehen. Während der Krankheit war er der Kajüte verwiesen worden, weil der Junge stärker fieberte, wenn Lord sich zu ihm drängte: da hatte er draußen getreulich Wache gehalten. Nun ihm die Tür offen stand, war er Totenwächter geworden. Noch regungsloser als draußen lag er zu Füßen der kleinen Koje. Der Steuermann hatte ihn gesehen, als er das erstemal zu dem Toten hineingelassen worden war. Anfangs hatte er zum Erbarmen gewinselt, hatte an dem Holz gescharrt und sich an der Wand aufgerichtet, daß er dem Jungen in das Gesicht sehen konnte, dann hatte er laut gebellt, als wollte er ihn wecken. Als alles still geblieben war, hatte er sich zuletzt traurig hingelegt. Mitunter aber – das wußte ich vom Koch – richtete das treue Tier sich lautlos auf und blickte lange in das weiße Gesicht, lange Zeit, dann winselte es leise und warf sich wieder hin. Sonst bekümmerte es sich um nichts, selbst den Alten beachtete es kaum.

Der Zimmermann hatte sich erboten, einen kleinen, hölzernen Sarg zu machen, wegen der Haie: aber davon wollte der Alte nichts wissen: der kleine Janmaat sollte auch als Janmaat auf dem Meeresgrunde ruhen. Er war zu dem Segelmacher getreten:

»Seilmoker, neiht em man in as 'n Seemann!«

Da mußte der Segelmacher sein irres Laufen aufgeben und sich an die traurigste Arbeit seines Lebens machen, Segeltuch zurechtschneiden und einen Totensack für den Jungen nähen. Er fuhr schon ein Menschenleben auf großen Schiffen, der alte Seilmoker, und hatte schon manchem Kameraden den letzten Rock nähen müssen, aber so lange Zeit hatte er noch niemals gebraucht wie dieses Mal. Immer wieder trennte er die Nähte auf, weil es ihm nicht gut genug schien. Der Zimmermann kam mit einem kleinen, zierlich-schmucken Vollschiff, an dem er seit Dover geschnitzt hatte, und fragte, ob er es dem Jungen in den Sarg mitgeben könnte, aber der Seilmoker schüttelte tiefsinnig den Kopf.

* * *

Der andere Tag, an dem wir den kleinen Janmaaten der See übergeben wollten, war ein Sonntag. Als ich mich für die Trauerfeier anzog, – wir zogen uns alle festtägig an, das hatten wir alle für den Jungen übrig! – war es mir wie ferner, verhaltener Glockenklang in den Ohren. Auch die anderen machten ernste Gesichter, als wenn sie zur Kirche rüsteten. Und war doch rauhes Volk, das über die Erbauungsschriften, die der deutsche Seemannsmissionar zu Kardiff an Bord geschleppt hatte, mit Spott hinwegging und seit der Konfirmation, wie ich, die Kirche nur noch von außen gesehen hatte. Ich besinne mich auf Jan Holms Gesicht, als er sich zu Punta Arenas mit den fünf betrunkenen Italienern angelegt hatte: heute sah es anders aus. Bei Hein Dreyer habe ich gesessen, als er zu Philadelphia bei dem dicken Naucke den Brief las, in dem seine Schwester ihm schrieb, daß seine Mutter gestorben war: er machte ganz dasselbe Gesicht wie damals. Kord Jansen habe ich gesehen, als wir ihn nach halbstündigem Treiben in der Skager Dünung glücklich aus dem Wasser gefischt hatten: damals gefielen mir seine ruhigen Augen nicht besser ...

... Es war etwas geschehen, das stand fest, aber niemand wußte etwas Gewisses, und der Koch wollte nicht mit der Sprache heraus, soviel wir ihn auch fragten. Soviel aber war doch vom Achterdeck hergesickert, daß etwas Seltsames, Grausiges passiert war. Lord, unser ruhiger, unerschütterlicher Hund, sollte den alten Segelmacher angefallen haben, als dieser den toten Jungen in das Segeltuch genäht hatte, er sollte ihn zu Boden gerissen und übel zugerichtet haben. Der alte Mann habe sich nicht wehren können, da seien aber der Alte und der Steuermann dazwischen gekommen und hätten die beiden auseinandergebracht. Lord, der nicht ruhig geworden wäre, sei endlich an die Kette gelegt worden. Wie gesagt, war Gewisses nicht zu erfahren, und es war deshalb kein Wunder, daß das Logis sich in den abenteuerlichsten Vermutungen und Ausbreitungen erging ...

Der Steuermann erschien vor der Back und sagte: wer ihn noch einmal sehen wollte, sollte nach dem Achterdeck kommen. Da schritten wir einzeln nach hinten, um dem Jungen noch ein letztes Mal in das Kindergesicht zu gucken. Ich kam ziemlich zuletzt hinein. Die Kajüte war Halbdunkel: das Scheinleit war mit der Kappe überzogen. Aus der Dunkelheit des schwarzbedeckten Tisches blickte das weiße Wachsgesicht unseres lieben Jungen heraus. Der Hund war nicht da. In der Ecke regte sich etwas: als ich schärfer hinsah, bemerkte ich den Segelmacher, der mit abgewandtem Gesicht auf der Bank saß. Ich berührte die kalte Hand des Toten und sah ihm fest grüßend in die halbgeöffneten Augen, beinahe freudig in dem gewissen Gedanken, daß ich ihn nie vergessen könne, und daß er nun – in meinem Herzen! – vor allen Stürmen und vor aller Krankheit geborgen sei. Dann trat ich in den Sonnenschein zurück.

Nicht lange danach standen wir entblößten Hauptes an Steuerbord im Kreis um die kleine Rolle aus Segeltuch, die auf einer schwarzbedeckten Kiste ruhte, während die Sonne glitzernd auf der See und leuchtend auf den Segeln lag.

Wir sahen uns an, als wir Lord nicht mit dem Alten kommen sahen. Es war etwas Wahres an dem Gerücht.

Der Steuermann las ein Kapitel aus der Bibel vor. Ich weiß nicht mehr, was es war, denn ich sah den alten Seilmoker kommen und bemerkte, daß er ein Tuch um den Hals trug und ganz verstört aussah.

Dann trat der Koch vor und sprach mit bewegter Stimme das ergreifende Totengedicht von Gerok:

Auch das Meer gibt seine Toten wieder,
wenn der große Fürst des Lebens ruft!

In dem Augenblick sah ich einem Mann zum erstenmal tief ins Herz, mit dem ich schon jahrelang bekannt war, ohne zu wissen, daß er etwas anderes war als ein guter Koch und ein großer Spaßmacher. Auch die andern hörten dem Koch mit großer Verwunderung zu: dergleichen hatte ihm niemand zugetraut.

Der Steuermann sprach ein Vaterunser, dann sagte er schlicht: »As Seemann büst du storben, as Seemann sallst du begroben wann. Sloop moi, lütt Jung!«

Die wankende Frau stützend, führte der Alte sie mit tröstendem Gebrumm nach der Kajüte zurück.

Nun aber trat der Seilmoker vor und beugte sich zu dem Segeltuch nieder, um den Jungen nach der Reling zu tragen. »Nu kumm, mien Jung, mien Jung.«

* * *

Eigentümlich genug: ich weiß noch heute nicht, ob ich eher geschrien habe: »De Hund, de Hund!« oder ob ich ihn eher gesehen habe ... In demselben Augenblick fegte es vom Achterdeck heran und warf sich mit gräßlichem Geknurr auf den Alten, daß er zu Boden stürzte und mit dem Hinterkopf schwer auf das Deck schlug. Lord war es, der sich losgerissen haben mußte. Als sei es toll geworden, so biß das Tier auf den Alten ein. Nach dem ersten Schrecken warfen wir uns alle Mann dazwischen und rissen den Hund zurück. Das sonst so treue, gelassene Tier war wie umgewandelt, es schnappte in blinder Wut nun auch nach uns und konnte nur schwer überwältigt werden.

Wir hoben den Seilmoker auf, der stark blutete, und verbanden ihn mit Hilfe des Alten, während der Steuermann das Segeltuch still über Bord gleiten ließ, ohne daß es eigentlich einer merkte.

In der Nacht erschauerten wir bei dem wehen, klagenden Gebell des Hundes, das nicht aufhören wollte. Ich hatte entdeckt, daß der Hund die Kette nicht zerrissen hatte, daß also der Alte ihn losgekettet haben mußte, aber ich sprach darüber zu niemand.

* * *

Acht Tage hatten wir den Passat bereits in den Segeln und waren dabei ein großes Stück südlicher gekommen. Der Gleichmut kehrte in unsere Seelen zurück.

Aber Lord lag noch an der Kette, das stolze, freie Tier war zu einem Kettenhund geworden. Es erfüllte mich mit Traurigkeit und Schmerz, wenn ich die Großwanten hinaufgeklettert war und ihn hinter dem Kreuzmast liegen sah. Er fraß kaum wieder und war erbärmlich mager geworden.

Und der Seilmoker lief noch mit verbundenem Kopfe umher und gebärdete sich, als hätte er seine gesunden Fünf nicht mehr. Es war ein Jammer mit ihm und mit dem Hund.

»Koptein!«

»Seilmoker?«

»Ik will nich, dat de Hund noch an de Keed liggt. Wenn wi in Punta sünd, goh ik af,denn kann he wedder free rümlopen.«

Der Alte sah finster drein, als er antwortete: »Seilmoker, keen Word! Wi sünd all teihn Johr tohop: wi bliest tohop. De Hund sall weg! – Jo, Seilmoker, wat meent Ji? Hefft soveel von den Jungen hollen und sullen nu for all Jon Leef un Godheit so von Bord? Dat ward nix!«

»De Hund hett woll noch mehr von em hollen«, sagte der Segelmacher nachdenklich.

Der Alte ging mit plötzlichem Entschluß nach dem Achterdeck: »Ik will em dat utdriewen«, sagte er düster.

»Och lot dat doch, Koptein, lot dat doch. Dat helpt doch nix. Een Minsch kann vergeben, een Hund kann dat nich. He weet, dat ik den lütten Jungen inneiht un wegdrogen heff, un dat vergitt he sien ganz Leben nich.«

»Seilmoker, dat will ik weten!«

Wir warfen unsre Arbeit hin und sahen auf. Weil der Segelmacher feierte, mußten wir Matrosen nämlich schon seit einiger Zeit sticken und nähen.

Nach einem kurzen Augenblick kam der Alte zurück. Er hatte den Hund am Halsband gefaßt und trug einen Revolver in der rechten Hand.

Es wurde todesernst.

»Lord, kumm her, Ji söllt Jo wedder verdrägen! Goh no den Seilmoker hin un geef em den Foot!«

Er hatte den Hund losgelassen, aber dieser rührte sich nicht, er sah auch nicht nach dem Segelmacher hin.

»Lord, goh hin!«

Der Alte drehte den Kopf des Hundes herum und wies mit der Hand nach dem Segelmacher. Lord rührte sich aber immer noch nicht.

Des Alten Gesicht war blutrot geworden. Er hob den blitzenden Revolver:

»Kennst du düssen, Lord? Goh hin, segg ik di!«

Der Segelmacher sah den Revolver und in seiner Angst um das herrliche Tier, begann er zu locken: »Lord, Lord, kumm hier, kumm hier!«

Aber der Neufundländer ließ nur ein dumpfes, grollendes Knurren hören, und als der Alte ihm mit dem Fuß einen heftigen Tritt versetzte, da fuhr er wütend auf den Segelmacher los.

In derselben Sekunde aber knallte es zweimal scharf und laut über Deck, daß die Backborder, die Freiwache hatten, verstört aus dem Schlafe fuhren.

Lord lag erschossen an der Reling. Das Blut floß durch die Speigatten und vermischte sich mit dem schneeweißen Meeresschaum.

* * *

»Seilmoker, wöllt Ji Lord ok in Seildook neihn?« sagte der Alte, steckte den Revolver rasch in die Rocktasche und ging finstern Gesichts nach dem Achterdeck zurück.

Wir aber holten die Flagge wieder halbstock und trauerten um den treuen Lord.


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