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Kapitel VII.

... Quimper ist zwar das Zentrum der wahren Bretagne, unterscheidet sich aber doch von ihr. Seine Ulmenpromenade am Flusse entlang, der zwischen den Kais fließt und Schiffe trägt, macht es sehr kokett, und der große Präfekturpalast, der allein das kleine westliche Delta verdeckt, gibt ihm ein durchaus französisches und administratives Aussehen. Man merkt, daß man in einer Departementshauptstadt ist, was einen alsbald an die Einteilung in Arrondissements erinnert, mit den großen, mittleren und kleinen Vizinalitäten, den Komitees für Elementarunterricht, den Sparkassen, den Kreisständen und anderen modernen Erfindungen, die den damit begabten Orten für den naiven Wanderer, der von ihr träumt, stets ein wenig von der Lokalfarbe nimmt.

Mögen es mir die Leute nicht übelnehmen, die diesen Namen Quimper-Corentin als den Namen der provinziellen Lächerlichkeit und Verknöcherung selber aussprechen, aber es ist ein reizender, kleiner Ort, der viele andere geachtetere aufwiegt. Freilich findet man die Launen Quimperlés hier nicht, noch auch die Üppigkeit seines Grüns und den Aufruhr seiner Farben; aber ich kenne wenig, was einen so angenehmen Anblick gewährt wie diese Allee, die unabsehbar am Rande des Wassers hinläuft, und auf die der fast senkrechte Abhang eines ganz nahen Berges den dunklen Schatten seines üppigen Grüns herabgießt.

Man braucht nicht lange, um derartige Städte zu durchforschen, um sie bis in ihre tiefsten Falten hinein zu kennen, und man entdeckt in ihnen bisweilen Winkel, die einen anhalten und einem das Herz in Freude versetzen. Die kleinen Städte erscheinen auch, genau wie die kleinen Wohnungen, zuerst wärmer und behaglicher zum Leben. Aber bleibt auf eure Illusion hin. Die zweiten haben mehr Zugluft als ein Palast, und in den ersteren herrscht mehr Langeweile als in der Wüste.

Als wir auf einem jener guten Pfade, wie wir sie lieben, zum Hotel zurückkehrten, einem jener Pfade, die steigen und fallen, sich wenden und wiederkehren, bald an den Mauern entlang, bald über ein Feld, und dann zwischen Gestrüpp und durch Gras hin, die nacheinander Kiesel zeigen, Gänseblümchen und Nesseln, jener schweifenden Pfade, die für Müßiggängergedanken und Arabeskenplaudereien geschaffen sind – als wir also zur Stadt zurückkehrten, hörten wir unter dem Schieferdach eines viereckigen Gebäudes hervor Stöhnen und klagendes Blöken erklingen. Es war das Schlachthaus.

Auf der Schwelle schlabberte ein großer Hund in einem Blutpfuhl, und langsam zog er mit den Zähnen den blauen Strick der Eingeweide eines Ochsen heraus, die man ihm vorgeworfen hatte. Die Tür zu den Kabinen stand offen. Die Schlachter waren mit aufgeschürzten Ärmeln an der Arbeit. Den Kopf nach unten, die Füße mittelst einer Flechse über einen Stock gezogen, der an der Decke befestigt war, hing ein Ochse da, aufgeblasen und geschwollen wie ein Schlauch, und die Haut seines Bauches war in zwei Fetzen gespalten. Mit ihr sah man die Fettschicht leicht auseinanderstehen, die sie fütterte, und dann erschien nacheinander im Innern vor der Schneide des Messers ein Haufe von grünen, roten und schwarzen Dingen, die prachtvolle Farben zeigten. Die Eingeweide dampften; das Leben entwich aus ihnen in einem lauen und ekelhaften Dunst. In der Nähe lag ein Kalb am Boden und heftete seine großen, runden, geängsteten Augen auf die Blutrinne; trotz der Fesseln, die ihm die Beine umschnürten, zitterte es konvulsivisch. Seine Seiten pochten, die Nüstern öffneten sich. Die anderen Ställe waren erfüllt von langgezogenem Röcheln, meckerndem Blöken, heiserem Gebrüll. Man unterschied die Stimme derer, die man tötete, derer, die erstarben, und derer, die sterben sollten. Man hörte sonderbare Schreie, Intonationen von tiefster Not, die man fast hätte verstehen können. In dem Moment habe ich die Vorstellung von einer schrecklichen Stadt gehabt, von einer grausigen und schrankenlosen Stadt, wie es ein Babylon oder Babel von Kannibalen wäre, wo es Menschenschlachthäuser gäbe; und ich habe in diesen rührenden und schluchzenden Würgestimmen etwas von menschlicher Todesqual wiederzufinden gesucht. Ich habe an Sklavenherden gedacht, die, den Strick um den Hals und an Ringe geknüpft, dorthin geführt waren, um die Herren zu ernähren, die sie auf Elfenbeintischen verzehrten, indem sie sich mit Purpurtüchern die Lippen wischten. Hätten sie niedergeschlagenere Haltungen, traurigere Blicke, herzzerreißendere Bitten zeigen können?

. . . . . . . . . . . . .

... Als wir in Quimper waren, zogen wir eines Tages auf einer Seite zur Stadt hinaus und kehrten nach einem Marsch durchs Land von ungefähr acht Stunden auf der andern Seite in sie zurück.

Unter dem Eingange des Hotels erwartete uns unser Führer. Er begann alsbald vor uns herzulaufen, und wir folgten ihm. Es war ein kleiner Biedermann mit weißem Haar, einer Zeugmütze auf, durchlöcherten Schuhen an, und gekleidet in einen alten, braunen, zu weiten Rock, der ihm um die Hüften flatterte. Er stotterte beim Sprechen, stieß sich beim Gehen die Knie und drehte sich um sich selber; trotzdem lief er rasch und mit einer nervösen, fast fiebrischen Hartnäckigkeit vorwärts. Von Zeit zu Zeit nur riß er ein Baumblatt ab und klebte es sich, um sich zu erfrischen, vor den Mund. Sein Beruf ist, die Umgegend abzulaufen, um Briefe zu überbringen oder Besorgungen zu machen. So kommt er nach Douarnenez, nach Quimperlé, nach Brest, sogar nach Rennes, das vierzig Stunden entfernt ist (eine Reise, die er einmal hin und zurück in vier Tagemärschen gemacht hat). »Sein ganzer Ehrgeiz«, sagt er, »ist, noch einmal in seinem Leben nach Rennes zu kommen.« Und das ohne andern Zweck als den, noch einmal hinzukommen, um hinzukommen; um eine lange Reise zu machen und sich dessen nachher rühmen zu können. Er kennt alle Straßen, er kennt alle Gemeinden mit ihren Kirchtürmen; er schlägt die Richtpfade über die Felder ein, öffnet die Hofgatter und wünscht, wenn er vor den Häusern vorübergeht, den Herren einen guten Tag. Dadurch, daß er die Vögel immer singen hört, hat er gelernt, ihre Laute nachzuahmen, und während er unter den Bäumen hingeht, pfeift er wie sie, um seine Einsamkeit zu verschönen.

Halt machten wir zuerst eine Viertelstunde vor der Stadt zu Loc-Maria, einer alten Klosterkirche, die einst von Conan III. der Abtei von Fontevrault geschenkt wurde. Die Kirche ist nicht wie die Abtei des armen Robert von Arbriselle auf unedle Art nutzbar gemacht worden. Sie ist verlassen, aber unbeschmutzt. Ihr gotisches Portal hallt nicht mehr von der Stimme der Sträflingsaufseher wieder, und wenn nur noch ein wenig davon vorhanden ist, so empfindet der Geist wenigstens weder Empörung noch Ekel. Es gibt in dieser kleinen Kapelle einer alten, strengen Romantik an Sehenswürdigkeiten im Detail nur ein großes Taufbecken, das ohne Pfeiler auf dem Boden steht, und dessen flächenförmig geschnittener Granit fast schwarz geworden ist. Weit und tief, stellt es recht das wahre, katholische Taufbecken dar, geschaffen, den ganzen Körper eines Kindes hineinzutauchen, anders als die engen Becken unserer Kirchen, in denen man nur die Fingerspitzen benetzt. Mit seinem klaren Wasser, das durch die grünliche Schicht des Bodens, jene Vegetation, die in der religiösen Stille der Jahrhunderte entstanden ist, noch durchsichtiger wird, mit seinen abgenutzten Kanten, seiner schweren, bronzefarbenen Masse, gleicht es einem jener von selber ausgehöhlten Felsen, in denen man Meerwasser findet.

Als wir ganz herumgegangen waren, stiegen wir wieder zum Fluß hinauf, überfuhren ihn im Boot und drangen in das Land hinein.

Es ist verlassen und seltsam leer. Bäume, Ginster, Tamarisken am Rande der Gräben, sich dehnende Heide, und nirgends Menschen. Der Himmel war blaß; ein feiner Regen, der die Luft feucht machte, legte gleichsam einen glatten Schleier übers Land, der es in einen grauen Ton einhüllte. Wir gingen durch Hohlwege, die sich unter grünen Lauben verloren, deren vereinigte Zweige sich wie ein Gewölbe über unsere Köpfe senkten und uns kaum erlaubten, aufrecht darunter herzugehen. Das vom Laubwerk aufgehaltene Licht war grünlich und schwach wie das eines Winterabends. Ganz hinten aber sah man ein lebhaftes Licht eindringen, das am Rande der Blätter spielte und ihre Ausschnitte erhellte. Dann kam man oben auf irgendeinem trockenen Hang heraus, der sich ganz flach und glatt senkte, ohne daß auch nur ein Grashalm gegen die Einförmigkeit seiner gelben Farbe abstach. Bisweilen dagegen erhob sich eine lange Buchenallee, deren dicke, leuchtende Stämme Moos zu ihren Füßen hatten. Da führten Spuren von Fahrgleisen hin, als müßten sie zu einem Schlosse leiten, das man zu sehen erwartete; aber die Allee hörte plötzlich auf und dahinter dehnte sich das flache Land. In dem Zwischenraum zwischen zwei Tälern entfaltete es seine grüne Fläche, die durch die launischen Linien der Hecken in schwarzen Narben durchfurcht war, gefleckt hier und dort durch das Massiv eines Holzes, aufgehellt durch Ginsterbüschel, oder am Rande der Weiden, die langsam zu den Hügeln emporstiegen und sich im Horizont verloren, von einem bebauten Feld gebleicht. Über den Hügeln, weit in der Ferne, quer durch die Dämmerung, erschien in einem Loch des Himmels ein blauer Mäander: das war das Meer.

Die Vögel schweigen oder fehlen; die Blätter sind dicht, das Gras erstickt das Geräusch der Schritte, und die stumme Gegend blickt einen an wie ein trauriges Gesicht. Sie scheint eigens geschaffen, um die Existenzen in Ruinen aufzunehmen, die resignierten Schmerzen. Sie werden dort zu diesem langsamen Murmeln der Bäume und des Ginsters, um unter diesem weinenden Himmel einsam ihre Bitternisse nähren können. In den Winternächten, wenn der Fuchs über die trockenen Blätter gleitet, wenn die Ziegel von den Taubenschlägen fallen, wenn die Heide ihre Binsen peitscht, wenn die Buchen sich biegen und im Mondschein der Wolf über den Schnee galoppiert, da muß es süß sein, ganz allein am erlöschenden Feuer zu sitzen, dem Winde zu lauschen, der durch die langen, hallenden Gänge heult, und aus dem Grunde des Herzens die gehütetste Verzweiflung hervorzuziehen und die vergessenste Liebe.

Wir haben ein Gemäuer in Trümmern gesehen, in das man durch ein gotisches Portal eintrat; weiterhin erhob sich ein Mauerstück, das von einer Spitzbogentür durchbrochen war; dort wiegte sich eine leergepflückte Brombeerranke im Windhauch. Im Hof ist das ungleichmäßige Erdreich mit Heidekraut, Veilchen und Kieseln bedeckt. Man erkennt undeutlich alte Reste von Gräben; man tritt ein paar Schritte weit in einen vollen Keller hinein, geht darin herum; man blickt und geht fort. Dieser Ort heißt der Tempel der falschen Götter und war nach dem, was man vermutet, eine Komturei der Templer.

Unser Führer ist vor uns aufgebrochen, wir sind ihm weiter gefolgt.

Unter den Bäumen hervor tauchte ein Kirchturm auf; wir sind über ein Brachfeld gegangen und haben einen Grabenrand erklettert; zwei oder drei Häuser erschienen: es war das Dorf Tommelin. Ein Pfad macht die Straße, ein paar Häuser, durch bepflanzte Höfe voneinander getrennt, bilden das Dorf. Welche Ruhe! welche Verlassenheit vielmehr! die Schwellen sind leer, die Höfe öde.

Wo sind die Herren? Man könnte meinen, sie seien alle auf den Anstand gegangen, hätten sich hinter dem Ginster hingekauert, um dem Blauen aufzulauern, der in der Schlucht vorüber muß.

Die Kirche ist arm und von einer Nacktheit ohne gleichen. Keine schönen gemalten Heiligen, keine Tücher auf den Mauern, keine Lampe, die von der Decke herabhängt und am Ende ihrer langen, senkrechten Schnur schaukelt. In einem Winkel des Chors brennt am Boden in einem Glas voll Öl ein Docht. Runde Pfeiler tragen das Holzgewölbe, dessen blaue Farbe wieder aufgefrischt ist. Durch die weißen Glasfenster fällt, von dem Laubwerk rings, das das Dach der Kirche bedeckt, grün gefärbt, das volle Licht der Felder ein. Die Tür (eine kleine Holztür, die man mit einer Klinke schließt) stand offen; eine Vogelschar war eingedrungen, flatterte, zwitscherte, klammerte sich an die Mauern; sie wirbelten im Gewölbe und spielten um den Altar. Zwei oder drei ließen sich auf dem Weihbecken nieder, benetzten dort ihre Schnäbel und dann sind alle, wie sie gekommen waren, zusammen wieder fortgeflogen. Es ist in der Bretagne nicht selten, daß man sie so in den Kirchen sieht; viele wohnen darin und hängen ihr Nest an die Steine des Schiffes; man läßt sie in Frieden. Wenn es regnet, kommen sie herbei: aber sowie auf den Scheiben die Sonne wiedererscheint, und wenn die Traufen abtropfen, sind sie wieder draußen auf den Feldern. So daß oft bei einem Gewitter zwei gebrechliche Geschöpfe zugleich in die heilige Wohnung kommen: der Mensch, um sein Gebet zu verrichten und seine Angst unter Schutz zu bringen, der Vogel, um zu warten, bis der Regen vorüber ist und um die sprossenden Federn seiner starren Kleinen zu erwärmen.

Ein sonderbarer Reiz strömt von diesen armen Kirchen aus. Nicht ihr Elend bewegt, weil man selbst dann, wenn niemand darin ist, sagen würde, sie sind bewohnt. Entzückt nicht vielmehr ihre Schamhaftigkeit? Denn mit ihrem niedrigen Turm, dem Dach, das sich unter Bäumen verbirgt, scheinen sie sich klein zu machen und sich unter Gottes großem Himmel zu demütigen. Es ist ja auch kein Gedanke des Hochmuts, der sie erbaut hat, noch auch die fromme Grille eines Großen der Erde in Not. Man fühlt vielmehr, daß es der einfache Eindruck eines Bedürfnisses ist, der naive Ruf eines Verlangens, und wie das Lager eines Hirten aus trockenen Blättern, die Hütte, die sich die Seele geschaffen hat, um sich in ihren Stunden der Ermüdung behaglich darin hinzustrecken. Mehr als die Kirchen der Städte sehen diese Dorfkirchen aus, als hielten sie am Charakter des Landes fest, das sie trägt, und als nähmen sie am Leben der Familien teil, die vom Vater auf den Sohn zum selben Orte kommen, um die Knie auf denselben Stein zu stützen. Sehen sie nicht jeden Sonntag, jeden Tag, wenn sie kommen und wenn sie gehen, die Gräber ihrer Verwandten wieder, die sie so im Gebet wie an einem erweiterten Herde neben sich haben, von dem sie nicht völlig fortgegangen sind? Diese Kirchen haben also einen harmonischen Sinn, und zwischen Taufkapelle und Kirchhof eingeschlossen erfüllt sich in ihnen das Leben dieser Menschen. Bei uns ist es nicht so; wir verweisen die Ewigkeit aus den Toren und verbannen unsere Toten in die Vorstädte, um sie neben die Kotmagazine in das Viertel der Abdecker und der Sodafabriken zu betten.

Gegen drei Uhr nachmittags kamen wir in der Nähe der Tore von Quimper zu der Kapelle von Kerfeunteun. Darin sieht man ein schönes Kirchenfester aus dem sechzehnten Jahrhundert, das den Stammbaum der Dreieinigkeit darstellt. Jakob bildet den Wurzelstamm und Christi Kreuz den Gipfel, über dem der ewige Vater mit der Tiara auf der Stirne schwebt. Der viereckige Kirchturm zeigt wie eine Laterne auf jeder Seite ein durchbrochenes Viereck. Er ruht nicht unmittelbar auf dem Dach; sondern mit Hilfe einer engeren Basis, deren vier Kanten sich nähern und fast berühren, bildet er gegen den Dachfirst einen stumpfen Winkel. In der Bretagne haben fast alle Dorfkirchen solche Türme.

Ehe wir in die Stadt zurückgingen machten wir einen Umweg, um die Kapelle der Mutter Gottes zu besuchen. Da man sie für gewöhnlich abschließt, nahm unser Führer den Hüter, der den Schlüssel hat, mit auf den Weg. Er kam mit uns und führte seine kleine Nichte an der Hand, die den ganzen Weg hindurch stehen blieb, um Blumen zu pflücken. Er ging auf dem Pfad voraus. Seine schlanke, jugendliche Taille mit biegsamer, ein wenig weicher Krümmung war in eine Jacke aus himmelblauem Zeug gehüllt, und auf seinem Rücken tanzten die drei Samtbänder seines kleinen schwarzen Hutes, der, sorgfältig auf den Hinterkopf gesetzt, sein zu einem Wulst zusammengedrehtes Haar festhielt.

Auf dem Grunde eines kleinen Tals, einer Schlucht vielmehr, verschleiert sich die Kirche der Mutter Gottes unter dem Laub der Buchen. An dieser Stelle, in der Stille dieses hohen Grüns hat sie, ohne Zweifel durch ihr kleines gotisches Portal, das man ins dreizehnte Jahrhundert setzen möchte und das aus dem sechzehnten ist, ich weiß nicht welchen Hauch, der an jene heimlichen Kapellen der alten Romane und Romanzen erinnert, wo man eines Morgens, zum Lied der Lerche, wenn die Sterne erblaßten, den Pagen, der zum Heiligen Lande zog, zum Ritter schlug, und wo durch das Gitter die weiße Hand der Burgherrin griff, die der Abschiedskuß alsbald mit tausend Liebestränen benetzte.

Wir traten ein. Der junge Mann kniete hin, indem er den Hut abnahm, und die dicke Rolle seines blonden Haars rollte aus und entfaltete sich plötzlich, indem sie ihm den Rücken entlang fiel. Einen Moment hing es am rauhen Tuch seiner Jacke fest und bewahrte die Spur der Falten, in die es noch eben gerollt war; dann glitt es herab, spreizte sich, breitete sich aus wie echtes Frauenhaar. In der Mitte durch einen Scheitel geteilt, floß es in gleichmäßigen Wellen über seine beiden Schultern und verhüllte seinen nackten Hals. Diese ganze Fläche zeigte auf ihrem goldenen Ton bei jeder Kopfbewegung, die er im Gebete machte, wechselnde und fliehende Lichtwellungen. An seiner Seite hatte das kleine Mädchen, das wie er kniete, seinen Strauß zu Boden fallen lassen. Erst dort und zum ersten Male habe ich die Schönheit des Menschenhaars begriffen, und welchen Reiz es für nackte Arme haben kann, da hineintauchen. Sonderbarer Fortschritt, der darin besteht, die grandiosen Wucherungen der Natur überall abzustutzen, so daß mir, wenn wir sie einmal in aller jungfräulichen Fülle entdecken, wie über ein offenbartes Wunder staunen! ...

. . . . . . . . . . . . .

... Fünf Uhr abends endlich kamen wir zu Pont l'Abbé an, bedeckt mit einer respektablen Schicht von Staub und Schmutz, der sich von unsern Kleidern mit einer so unseligen Verschwendung im Zimmer der Herberge auf das Parkett verbreitete, daß wir uns von der Schmutzerei, die wir anrichteten, wenn wir uns nur irgendwo hinstellten, fast gedemütigt fühlten.

Pont l'Abbé ist eine kleine, sehr friedliche Stadt, die in ganzer Länge von einer breiten, gepflasterten Straße durchschnitten wird. Die mageren Rentner, die sie bewohnen, können nicht nichtiger, bescheidener und dummer aussehen.

Für die, die überall etwas sehen wollen, sind die unbedeutenden Reste des Schlosses und die Kirche zu sehen; eine Kirche, die sonst passabel wäre, wäre sie nicht mit der stumpfesten Tünche angestrichen, die je ein Kirchenvorstand erträumt hat. Die Kapelle der Jungfrau war voller Blumen: Sträuße von Jonquillen, Levkojen, Stiefmütterchen, Rosen, Geißblatt und Jasmin, die in Vasen aus weißem Porzellan oder in blauen Gläsern standen, spreizten ihre Farben auf dem Altar und stiegen zwischen den großen Kerzen bis zum Gesicht der Jungfrau empor, bis über ihre Silberkrone, von der in langen Falten ein Musselinschleier herabfiel, der am Goldstern des Gips-Bambinos hängen blieb, das in ihren Armen lag. Man roch das Weihwasser und den Duft der Blumen. Es war ein kleiner balsamierter, geheimnisvoller, süßer Winkel, abseits in der Kirche, eine verborgene Zufluchtsstätte, mit Liebe geschmückt und den Ausströmungen des mystischen Verlangens und den langen Ergüssen der tränenreichen Gebete günstig.

Vom Klima komprimiert, vom Elend ertötet, trägt der Mensch die ganze Sinnlichkeit seines Herzens hierher, er legt sie zu Marias Füßen unter dem Blick der himmlischen Frau nieder, und er befriedigt darin, indem er ihn erregt, jenen unverlöschbaren Durst, zu genießen und zu lieben. Mag der Regen durch das Dach eindringen, mag es im Hauptschiff weder Bänke noch Stühle geben, überall wird man darum nicht weniger leuchtend, geputzt und kokett mit frischen Blumen und brennenden Kerzen diese Kapelle der Jungfrau entdecken. Da scheint sich die ganze religiöse Zärtlichkeit der Bretagne zu konzentrieren; das ist die weichste Falte ihres Herzens, das ist ihre Schwäche, ihre Leidenschaft, ihr Schatz. Auf dem Lande hat man keine Blumen, aber in der Kirche sind sie da; man ist arm, aber reich ist die Jungfrau; ewig schön lächelt sie für uns, und die schmerzenden Seelen gehn, sich auf ihren Knien wie an einem Herde, der nie erlischt, zu wärmen. Man erstaunt über die Leidenschaft dieses Volkes für seinen Glauben; aber weiß man, aber kennt man alles, was er ihm an Genüssen und Wollüsten gibt, alles, was er ihm an Freuden entnimmt? Ist nicht der Asketismus ein höherer Epikureismus, das Fasten eine verfeinerte Schlemmerei? Die Religion erlaubt in sich fast fleischliche Empfindungen; das Gebet hat seine Ausschweifungen, die Kasteiungen ihren Rausch, und die Männer, die des Abends kommen und vor dieser bekleideten Statue knien, erfahren vor ihr das Pochen des Herzens und unbestimmte Trunkenheiten, während die Kinder der Städte, wenn sie aus der Klasse kommen, verträumt und verwirrt auf den Straßen stehen bleiben, um die glühende Frau an ihrem Fenster zu betrachten, die ihnen süße Augen macht.

Man muß dem beiwohnen, was es seine Feste nennt, um sich vom düsteren Charakter dieses Volkes zu überzeugen. Es tanzt nicht, es dreht sich; es singt nicht, es pfeift. Noch am Abend gingen wir in ein Dorf in der Umgegend, um die Einweihung einer Dreschtenne zu sehen. Zwei Dudelsackspieler waren auf eine Mauer des Hofes gestiegen und bliesen unaufhörlich den kreischenden Blaston ihrer Instrumente, bei deren Klang zwei lange Reihen von Männern und Frauen, die sich wanden und kreuzten, im Gänsemarsch und leichtem Trabe hintereinanderliefen. Die Reihen kamen auf ihren eigenen Spuren zurück, wendeten sich, durchschnitten sich in ungleichen Abständen und hingen sich wieder zusammen. Die schweren Schritte stampften den Boden ohne Rücksicht auf den Rhythmus, während die scharfen Noten der Musik sich in kreischender Monotonie übereinander stürzten. Diejenigen, die nicht mehr tanzen wollten, gingen davon, ohne daß der Tanz dadurch gestört wurde, und wenn sie Atem geschöpft hatten, traten sie wieder hinein. Fast eine Stunde lang sahen wir dieser seltsamen Leibesübung zu, ohne daß die Menge mehr als einmal stillstand: und da hatten die Musikanten abgesetzt, um ein Glas Zider zu trinken; dann erzitterten die langen Linien von neuem, und sie begannen sich zu wenden. Am Eingange des Hofes verkaufte man an einem Tische Nüsse; daneben stand ein Krug Branntwein, am Boden ein Faß Zider; nicht weit davon entfernt sah man einen Menschen in Ledermütze und grünem Rock; neben ihm einen Mann in Jacke mit einem Säbel, der an einem weißen Gehenk hing; es war der Polizeikommissar aus Pont l'Abbé mit seinem Feldhüter.

Bald zog der Herr Kommissar die Uhr aus der Tasche, gab dem Feldhüter ein Zeichen und ging und sprach mit ein paar Bauern: die Versammlung zerstreute sich.

Wir gingen alle vier zusammen in die Stadt zurück, und wir hatten auf diesem Wege Muße, wieder einmal eine jener harmonischen Kombinationen der Vorsehung zu bewundern, die diesen Polizeikommissar für diesen Feldhüter, und diesen Feldhüter für diesen Polizeikommissar geschaffen hatte. Sie waren ineinander eingeschachtelt, eingezahnt. Dieselbe Tatsache veranlagte bei beiden dieselbe Reflexion, aus derselben Idee zogen sie parallele Schlüsse. Wenn der Kommissar lachte, lächelte der Hüter; wenn er eine ernste Miene annahm, sah der andere finster drein; wenn der Rock sagte: »man muß das und das tun«, antwortete der Mann in der Jacke: »ich hatte auch schon daran gedacht«; wenn er fortfuhr: »es ist notwendig«, fügte der andere hinzu: »es ist unvermeidlich«. Und das Rang- und Autoritätsverhältnis blieb trotz dieses intimen Zusammenhaltes auf beiden Seiten deutlich. So erhob der Feldhüter die Stimme weniger laut als der Kommissar; er war ein wenig kleiner und ging hinter ihm. Der Kommissar war höflich, bedeutsam, ein guter Sprecher; er besann sich, grübelte beiseite, redete allein und ließ die Zunge schnalzen; der Feldhüter war sanft, aufmerksam, nachdenklich; er beobachtete seinerseits, stieß Interjektionen aus und kratzte sich die Nasenspitze. Unterwegs erkundigte er sich nach den Neuigkeiten, fragte ihn um seine Meinung, erbat sich seine Befehle, und der Kommissar verhörte, dachte nach und erteilte Kommandos.

Wir kamen zu den ersten Häusern der Stadt, als wir gellende Schreie aus einem derselben ertönen hörten. Die Straße war von einer aufgeregten Menge erfüllt, und zum Kommissar kamen Leute gelaufen, die zu ihm sagten: »Kommen Sie, kommen Sie, Monsieur, man schlägt sich! Zwei Frauen sind getötet!« – »Von wem?« – »Das weiß man nicht.« – »Wieso?« – »Sie bluten.« – »Aber wie?« – »Mit einer Harke.« – »Wo ist der Mörder?« – »Die eine am Kopf, die andere am Arm. Kommen Sie, man erwartet Sie, sie sind da drinnen.«

Der Kommissar trat also ein, und wir folgten.

Es war ein Lärm von Schluchzen, Schreien, Worten, ein wildes Durcheinander, das sich drängte und erstickte. Man trat sich auf die Füße, man stieß sich mit den Ellbogen, man fluchte, man sah nichts.

Der Kommissar wurde zunächst einmal wütend. Aber da er nicht bretonisch sprach, mußte der Feldhüter für ihn wütend werden, und er jagte das Publikum hinaus, indem er jedermann an den Schultern faßte und zur Tür hinstieß.

Als nur noch etwa ein Dutzend Menschen im Zimmer waren, gelang es uns, in einem Winkel einen Fleischfetzen zu erkennen, der an einem Arm hing, und eine schwarze Haarmaske, auf der Bluttropfen liefen. Das waren die Frau und das junge Mädchen, die in dem Tumult verletzt waren. Die alte, die trocken und groß war und eine nußbraune Haut hatte, die wie Pergament gefältet war, stand, den linken Arm in der rechten Hand, aufrecht, wimmerte kaum und sah nicht aus, als ob sie Schmerzen hatte; aber das junge Mädchen weinte. Es saß mit offenen Lippen, senkte den Kopf, hatte die Hände flach auf den Knien, zitterte konvulsivisch und schluchzte ganz leis. Auf alle Fragen, die man an sie stellte, antworteten sie nur mit Klagen, und da die Aussagen derer, die die Schläge hatten geben sehen, nicht einmal unter sich stimmten, war es unmöglich zu erfahren, sowohl, wer geschlagen hatte, wie, warum man geschlagen hatte. Die einen sagten, ein Mann habe seine Frau überrascht, andere, die Frauen hätten sich gezankt, und der Hausherr habe sie totschlagen wollen, um sie zum Schweigen zu bringen. Man wußte nichts Genaues. Der Herr Kommissar war sehr in Verlegenheit und der Feldhüter völlig sprachlos.

Da der Arzt des Ortes nicht da war oder diese Leute sich seiner nicht bedienen wollten, weil das zu teuer kam, so hatten wir die Stirn, »die Hilfe unserer schwachen Talente« anzubieten, und wir liefen, um unser Reisenecessair, ein Stück Sparadrap, eine Binde und Scharpie zu holen, welche Dinge wir in der Ahnung eines Unfalls unten in unsere Tornister gestopft hatten.

Es wäre, meiner Treu! ein schönes Schauspiel für unsere Freunde gewesen, hätten sie uns sehen können, wie wir auf dem Tische dieser Herberge doktoral unser Ritzmesser, unsere Pinzetten und unsere drei Scheren ausbreiteten, von denen eine Blätter aus vergoldetem Silber hatte. Der Kommissar bewunderte unsere Philantropie, die Gevatterinnen sahen uns schweigend zu, die gelbe Kerze schmolz in dem eisernen Leuchter und streckte ihren Docht lang und der Feldhüter schneuzte sie mit den Fingern. Die gute Frau wurde zuerst verbunden. Der Hieb war gewissenhaft erteilt; der entblößte Arm zeigte den Knochen, und ein Fleischdreieck von etwa vier Zoll Länge hing wie eine Stulpe herab. Wir versuchten, das Stück wieder an seine Stelle zu bringen, indem wir es genau in die Ränder der Wunde einpaßten; dann umwanden wir das Ganze mit einer Binde. Es ist sehr möglich, daß diese heftige Kompression den Brand zur Folge gehabt hat, und daß die Patientin daran gestorben ist.

Man wußte nicht recht, was das junge Mädchen hatte. In ihrem Haar lief Blut, ohne daß man sehen konnte, woher es kam; es gerann darauf in öligen Flecken, und es lief ihr den Nacken entlang. Der Feldhüter, unser Dolmetscher, sagte ihr, sie solle das wollene Band abnehmen, das sie um den Kopf hatte; sie knüpfte es mit einer einzigen Handbewegung los, und ihr ganzes Haar, von einem matten und düsteren Schwarz, rollte mit den Blutfäden, die es rot streiften, in einer Kaskade herab. Als wir ihre schönen, feuchten Haare, die weich, dicht und reichlich waren, vorsichtig auseinandernahmen, sahen wir wirklich auf dem Hinterkopfe eine nußgroße Beule, die ein ovales Loch zeigte. Wir rasierten die Haut ringsherum; dann wuschen und stillten wir die Wunde, ließen Talg auf Scharpie tropfen und hefteten sie mit Hilfe von Saftpflasterstreifen auf die Wunde. Eine Kompresse darüber wurde von dem Bande gehalten, das selber wieder mit der Haube bedeckt wurde.

Inzwischen kam der Friedensrichter herzu. Das erste, was er tat, war, daß er die Harke verlangte, und das einzige, womit er sich beunruhigte, war, daß er sie in jeder Hinsicht ansah und betrachtete. (Er faßte sie am Stiel, er zählte ihre Zähne, er ließ ihr Eisen klingen und das Holz sich biegen.

»Ist das da sicher«, sagte er, »das Werkzeug des Attentats? Jerôme, sind Sie gewiß?«

»Man sagt es, Monsieur.«

»Sie waren nicht dabei, Herr Kommissar?«

»Nein, Herr Friedensrichter.«

»Ich möchte wissen, ob die Schläge mit einer Harke geführt worden sind oder ob es nicht vielmehr ein Schlaginstrument war? Wo ist der Übeltäter? Zunächst, hat diese Harke ihm gehört? oder jemand anders? Hat man diese Frauen wirklich hiermit verwundet? Ist es nicht eher, ich wiederhole es, mit einem Schlaginstrument geschehen? Wollen sie Klage führen? In welchem Sinne soll ich meinen Bericht abfassen? Was meinen Sie dazu, Herr Kommissar?«

Die Unglücklichen antworteten nichts, außer, daß sie immer noch Schmerzen hätten; und ob sie die Rache des Gesetzes anrufen wollten, sich das zu überlegen, ließ man ihnen die Nacht. Das junge Mädchen konnte kaum sprechen, und die Alte hatte gleichfalls sehr konfuse Ideen, zumal sie, wie die Nachbarn behaupteten, betrunken war; was uns die Unempfindsamkeit erklärte, die sie gezeigt hatte, während wir ihr halfen.

Nachdem sie uns, so gut sie nur konnten, mit den Augen durchschaut hatten, um zu erfahren, wer wir wären, wünschten uns die Autoritäten von Pont l'Abbé einen guten Abend, indem sie uns »für die Dienste dankten, die wir dem Orte geleistet hatten«. Wir steckten unser Necessair in die Tasche, und der Kommissar ging mit seinem Feldhüter, der Feldhüter mit seinem Säbel, der Friedensrichter mit der Harke davon ...


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