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Kapitel V.

Das Feld von Carnac ist ein weiter Raum im flachen Lande, wo man elf Reihen schwarzer Steine sieht, die in symmetrischen Intervallen angeordnet sind, und in dem Maße, wie sie sich vom Meer entfernen, kleiner werden. Cambry behauptet, es seien viertausend, und Freminville hat zwölfhundert gezählt. Sicher ist, daß sie zahlreich sind.

Wozu war das gut? War es ein Tempel?

Eines Tages wurde der heilige Cornillus am Ufer von Soldaten verfolgt, und er hätte in den Schlund der Wogen stürzen müssen, als ihm der Gedanke kam, sie in ebensoviel Steine zu verwandeln, und die Soldaten wurden versteinert. Aber diese Erklärung taugt nur für die Tröpfe, die kleinen Kinder und die Dichter. Man suchte andere.

Im sechzehnten Jahrhundert hatte Olaus Magnus, der Erzbischof von Upsala (der in der Verbannung zu Rom über die Altertümer seiner Heimat ein Buch schrieb, das überall sehr geschätzt war, außer in seinem eigenen Lande, in Schweden, wo es keinen Übersetzer fand) entdeckt, »wenn die Steine eine einzige und lange gerade Linie bilden, so liegen Krieger darunter, die im Duelle kämpfend gefallen find; die im Viereck angeordnet sind, sind Helden geweiht, die in einer Schlacht umgekommen sind; die kreisförmig gelegten sind Familiengräber, und keilförmig oder winklig gelegte sind Gräber von Reitern oder sogar Infanteristen, vor allem derer, deren Partei triumphiert hatte.« Das ist klar; aber Olaus Magnus hat uns zu sagen vergessen, wie man es anfangen muß, wenn man zwei Vettern begraben will, die im Duell zu Pferde einen Doppeltreffer getan haben. Das Duell wollte, daß die Steine gerade gelegt werden, das Familiengrab erforderte sie kreisförmig; da es sich aber um Reiter handelte, müßte man sie keilförmig ordnen, eine Vorschrift, die freilich nicht formell wäre, da man dieses System nur für die anwandte, »deren Partei triumphiert hatte«. O, wackerer Olaus Magnus! Ihr hattet also den Monte-Pulciano gar sehr lieb? Und wievieler Gläser hat es bedurft, um euch all diese schönen Dinge zu lehren?

Nach einem gewissen Doktor Borlase, einem Engländer, der in Cornwallis ähnliche Steine beobachtet hatte, »hat man dort Soldaten am Orte selbst begraben, wo sie gefallen sind«. Als ob man sie für gewöhnlich zum Kirchhof karrte! und er stützt seine Hypothese aus diesen Vergleich: ihre Gräber sind in gerader Linie angeordnet, wie die Front eines Heeres in den Ebenen, die der Schauplatz irgendeiner großen Tat gewesen sind.

Dann suchte man bei den Griechen, den Ägyptern und Kochinchinesen! es gibt ein Karnak in Ägypten, hat man sich gesagt, es gibt eins, in der Basse-Bretagne. Nun ist es wahrscheinlich, daß das Carnac von hier von dem Karnak von dort herrührt; es ist sicher! Denn da unten sind Sphinxe, hier Blöcke; auf beiden Seiten also ist Stein. Woraus folgt, daß die Ägypter (ein Volk, das nicht reiste) an diese Küste gekommen sind (deren Existenz ihnen unbekannt war), eine Kolonie dort gegründet haben (denn sie gründeten sonst nirgends welche) und daß sie diese blöden Statuen dort gelassen haben (sie, die deren so schöne machten), ein positives Zeugnis ihrer Reise (von der niemand redet).

Wer die Mythologie liebt, hat dort Herkulessäulen gesehen; wer die Naturgeschichte liebt, hat eine Darstellung der Schlange Pytho darin gesehen, denn nach Pausanias hieß auf der Straße von Theben nach Helisson ein Haufe ähnlicher Steine » der Schlangenkopf«, und »obendrein zeigen die Steine von Carnac Windungen wie eine Schlange«. Wer die Kosmographie liebt, hat einen Zodiakus gesehen. M. de Cambry zum Beispiel, der in diesen elf Steinreihen die zwölf Zeichen des Tierkreises wiedererkannt hat, »denn man muß wissen«, fügt er hinzu, »daß die alten Gallier nur elf Zeichen des Zodiakus hatten«.

Ferner hat ein Mitglied des Instituts vermutet, »dies könne sehr wohl die Begräbnisstätte der Veneter sein«, die Vannes bewohnten, sechs Stunden entfernt, und die, wie jedermann weiß, Venedig gründeten. Ein anderer hat geschrieben, diese guten Veneter, die von Caesar besiegt wurden, errichteten all diese Blöcke einzig im Geist der Demut und um Caesar zu ehren. Aber man war des Kirchhofs, der Schlange und Zodiakus müde; man begab sich auf die Suche und fand einen Druidentempel.

Die wenigen Dokumente, die wir haben, bei Plinius und Dio Cassius zerstreut, sagen einstimmig, die Druiden wählten für ihre Zeremonien düstere Orte, den tiefen Wald »und sein ungeheures Schweigen«. Daher hat auch – denn Carnac liegt am Meeresufer und in einer sterilen Landfläche, wo nie etwas anderes gewachsen ist als die Konjekturen dieser Herren – daher hat der erste Grenadier von Frankreich, der mir nicht sein erster Mann von Geist gewesen zu sein scheint, als Vorgänger Pelloutiers und M. Mahés (Stiftsherren der Kathedrale von Vannes) geschlossen, »es sei ein Tempel der Druiden, in welchen man auch die politischen Versammlungen berufen haben sollte«.

Aber damit war noch nicht alles abgetan, und man mußte dartun, wozu in der Bauflucht die leeren Räume dienten. »Suchen wir den Grund, was zu tun noch niemandem eingefallen ist,« hat M. Mahé ausgerufen; und indem er sich auf einen Satz bei Pomponius Mela stützte: »Die Druiden lehren den Adel viele Dinge, die sie heimlich in Höhlen und in entlegenen Wäldern mitteilen;« und noch auf den folgenden bei Lukan: »Ihr bewohnt die hohen Wälder,« stellte er auf, daß die Druiden nicht nur die Heiligtümer bedienten, sondern auch ihren Wohnsitz dort hatten und Kollegs dort hielten: »Da also das Monument von Carnac ein Heiligtum ist, wie es die gallischen Wälder waren (o Macht der Induktion! wohin treibest du den Vater Mahé, Stiftsherrn von Vannes und Korrespondenten der landwirtschaftlichen Akademie von Poitiers!), so ist anzunehmen, daß die leeren Intervalle, die die Steinreihen durchschneiden, Häuserreihen enthielten, wo die Druiden mit ihren Familien und ihren zahlreichen Schülern wohnten, und wo die Häupter der Nation, die sich am Tage der großen Feier zum Heiligtum begaben, Wohnungen bereitet fanden.« Die guten Druiden! Die ausgezeichneten Geistlichen! Wie man sie verleumdet hat, sie, die dort so ehrlich wohnten, mit ihren Familien und zahlreichen Schülern, und die sogar die Liebenswürdigkeit so weit trieben, daß sie für die Häupter der Nation Wohnungen bereiteten!

Aber schließlich ist ein Mann, ein Mann gekommen, durchdrungen vom Geiste der alten Dinge und voll Verachtung für die ausgetretenen Pfade.

Er, er hat die Reste eines römischen Lagers zu erkennen vermocht, und gerade eines Lagers von Cäsar, der diese Steine nur hatte errichten lassen, um den Zelten seiner Soldaten als Stützpunkte zu dienen, und zu verhindern, daß sie vom Winde fortgetragen wurden. Welche Stürme müssen ehemals an den Küsten von Armorika geherrscht haben!

Der ehrliche Literat, der sehr zum Ruhm des großen Julius diese erhabene Vorsicht wiederfand (und Cäsar so zurückgab, was Cäsar nie gehört hat), war ein ehemaliger Zögling des Polytechnikums, ein Artilleriehauptmann, der Sieur de la Sauvagere.

Der Haufe all dieser witzigen Einfälle bildet, was man die keltische Archäologie nennt, deren Arkana wir sofort enthüllen wollen.

Ein Stein, der auf andere gelegt ist, heißt ein Dolmen, ob er horizontal oder senkrecht stehe. Eine Ansammlung aufrechtstehender Steine, die oben durch aneinanderschließende Platten gedeckt sind und so eine Reihe von Dolmens bilden, ist eine Feengrotte, ein Feenstein, ein Teufelstisch oder Riesenschloß; denn gleich jenen Bürgern, die einem einen und denselben Wein unter verschiedenen Etiketten vorsetzen, haben die Keltomanen, die einem fast nichts anzubieten haben, dieselben Dinge mit mancherlei Namen verziert.

Wenn diese Steine, ohne Hut auf den Ohren, elliptisch angeordnet sind, so muß man sagen: das ist ein Kromlech; wenn man einen Stein horizontal über zwei vertikale gelegt sieht, hat man es mit einem Lischawen oder einem Trilithen zu tun. Bisweilen sind zwei enorme Blöcke so übereinander gelegt, daß sie sich nur an einem einzigen Punkte berühren, und man liest in den Büchern, »sie sind so ausbalanziert, daß der Wind genügt, den oberen Block in merkliche Schwingungen zu versetzen«, eine Behauptung, die ich nicht bestreite, wenn ich auch gegen den keltischen Wind ein wenig Mißtrauen hege, und obgleich diese angeblich zitternden Steine gegen all die wütenden Fußtritte, die ich ihnen zu verabreichen frei genug gewesen bin, unerschütterlich blieben; sie heißen dann rollende oder gerollte Steine, gewendete oder versetzte Steine, Steine, die tanzen, oder tanzende Steine, Steine, die kreisen, oder kreisende Steine. Es bliebe mir noch übrig, bekannt zu machen, was ein Richtstein ist, ein fester Stein, was man unter einem hohem Markstein versteht, einem Lattenstein und einem Milchstein, worin sich ein Schmelzstein von einem Gußstein unterscheidet, und welche Beziehungen zwischen einem Teufelsstuhl und einem geraden Stein existieren; worauf man allein ebensoviel wüßte, wie nur je Pelloutier, Deric, Latour d'Auvergne, Penhoët und andere zusammen gewußt haben, vermehrt noch um Mahé und verstärkt durch Fréminville. Man vernehme also, daß all das einen Pöllwan bezeichnet, sonst auch Men-Hir genannt, und nichts bedeutet als einen mehr oder minder großen Grenzstein, der ganz allein mitten auf den Feldern steht.

Ich hätte fast die Tumuli vergessen! Die, welche zugleich aus Fels und Erde bestehen, heißen im hohen Stil Barrows, und die einfachen Kieselhaufen Galgals.

Man hat behauptet, die Dolmen und die Trilithen seien Altäre, wenn sie keine Gräber seien, die Feensteine seien Versammlungsorte oder Gräber, und die Kirchenvorstände zur Zeit der Druiden traten in den Kromlechs zusammen. M. de Cambry hat in den Zittersteinen Embleme der schwebenden Welt gesehen. Die Barrows und Galgals sind ohne Zweifel Gräber gewesen; und was die Men-Hirs angeht, so hat man den guten Willen so weit getrieben, eine Form an ihnen finden zu wollen, aus der man auf die Herrschaft eines ithyphallischen Kults in der Basse-Bretagne geschlossen hat. O, keusche Schamlosigkeit der Wissenschaft, du achtest nichts, nicht einmal die Pöllwans!

(Eine Träumerei kann uns, und mag sie noch so unbestimmt sein, zu prachtvollen Schöpfungen führen, wenn sie von einem festen Punkt ausgeht. Dann schlägt die Phantasie gleich einem Hippogryphen, der auffliegt, den Boden mit allen Füßen und zieht in gerader Linie zu den unendlichen Räumen. Aber wenn sie sich in einem der Plastik baren und von der Beschichte entblößten Gegenstand verbeißt und versucht, eine Wissenschaft daraus zu ziehen und eine Welt neu zusammenzusetzen, so bleibt sie selber noch unfruchtbarer und ärmer als dieser blöde Stoff, in dem die Eitelkeit der Schwätzer eine Form finden und der sie eine Geschichte geben will.

Um wieder auf die Steine von Carnac zu kommen (oder vielmehr, um sie zu verlassen): wenn man mich nach so vielen Ansichten fragt, welche meine sei, so werde ich eine unwiderlegliche, unabweisbare, unwiderstehliche aussprechen, eine Ansicht, die die Zelte M. de la Sauvagères zum Weichen und den Ägypter Penhoët zum Erbleichen bringen müßte, die Cambrys Zodiakus zerbräche, und die Schlange Pytho in tausend Stücke zerhackte. Und diese Ansicht ist: die Steine von Carnac sind große Steine ...

... Wir kehrten also in das Gasthaus zurück, wo wir, von unserer Wirtin bedient, die große blaue Augen hatte, feine Hände, für die man viel zahlen würde, und ein liebliches Gesicht von klösterlicher Scham, mit gutem Appetite aßen, den unser fünfstündiger Marsch geschaffen hatte. Es war noch nicht Nacht zum Schlafen, man sah nicht mehr genug, um irgend etwas zu tun, und so gingen wir in die Kirche.

Sie ist klein, obgleich sie Haupt- und Seitenschiffe hat wie eine große Dame von einer Stadtkirche. Dicke Steinpfeiler, stämmig und kurz, tragen ihre Wölbung aus blauem Holz, von der kleine Fahrzeuge niederhängen, in den Stürmen versprochene Ex-votos. Die Spinnen laufen auf ihren Segeln, und der Staub bringt ihre Taue in Verwesung.

Man las keine Messe, die Thorlampe brannte einsam in ihrem Napf gelben Öls, und oben im Dunkel der Wölbung ließen die nicht geschlossenen Fenster zugleich mit dem Geräusch des Windes, der die Bäume bog, breite weiße Strahlen einbringen. Ein Mann kam, rückte die Stühle zurecht, steckte zwei Kerzen in die an den Pfeiler genagelten eisernen Armleuchter, und zog eine Art Tragbahre mit Füßen in die Mitte, deren schwarzes Holz große weiße Flecken zeigte. Weitere Leute kamen in die Kirche, ein Priester im Chorhemd schritt vor uns vorüber; man hörte das Geräusch von Glöckchen, die von Zeit zu Zeit inne hielten und wieder begannen, und die Kirchentür wurde weit geöffnet. Der ruckweise Ton der kleinen Glocke mischte sich mit einem andern, der ihm antwortete, und alle beide näherten sich und wurden lauter und ließen ihre trockenen, kupfernen Schläge rascher gehen.

Ein von Ochsen gezogener Karren erschien auf dem Platz und machte vor dem Portal halt. Ein Toter lag darauf. Seine bleichen und schweren Füße staken wie heller Alabaster aus dem weißen Tuch heraus, das ihn in jene unbestimmte Form hüllte, wie sie alle Leichen im Kostüm haben. Die Menge, die sich gesammelt hatte, schwieg. Die Männer blieben barhaupt; der Priester schüttelte seinen Weihwedel und murmelte Gebete, und die zusammengekoppelten Ochsen bewegten langsam den Kopf, so daß ihr schweres ledernes Joch knarrte. Die Kirche, in deren Hintergrund ein Stern erglänzte, öffnete ihren weiten, schwarzen Schatten, den von draußen das grüne Licht der regnichten Dämmerungen zurücktrieb, und das Kind, das auf der Schwelle leuchtete, hielt stets die Hand um seine Kerze, damit der Wind sie nicht verlöschte.

Man zog ihn vom Karren herunter; sein Kopf stieß gegen die Deichsel. Man trug ihn in die Kirche, man legte ihn auf die Bahre. Eine Flut von Männern und Frauen folgte. Man kniete auf dem Pflaster, die Männer nahe bei dem Toten, die Frauen ferner, nach der Tür zu, und der Dienst begann.

Er dauerte nicht lange, wenigstens für uns, denn die leisen Litaneien summten schnell hin, übertönt von Zeit zu Zeit durch ein schwaches Schluchzen, das unten im Hauptschiff unter den schwarzen Kapuzen hervorklang. Mich streifte eine Hand, und ich trat zurück, um eine gebeugte Frau vorbei zu lassen. Die Fäuste auf die Brust gepreßt, das Gesicht gesenkt, ging sie vorwärts, ohne die Füße zu bewegen, versuchte sie zu blicken, zitterte zu sehen und trat zu der Linie von Lichtern, die an der Bahre entlang brannten. Langsam, langsam, und indem sie den Arm hob, als wolle sie sich darunter verbergen, wandte sie den Kopf zur Ecke ihrer Schulter und fiel kraftlos auf einen Stuhl, tot und matt wie ihre Kleider selber.

Beim Licht der Kerzen konnte ich ihre starren Augen in den roten Lidern sehen, rotgestreift wie von einem heftigen Brand, und ihren blöden, zusammengeschrumpften Mund, der vor Verzweiflung klapperte, und ihr ganzes armes Gesicht, das wie ein Gewitterguß weinte.

Es war ihr Mann, der auf dem Meer verloren war, und den man am Strande wiedergefunden hatte und sofort begraben wollte.

Der Kirchhof stieß an die Kirche. Man ging durch eine Seitentür hinüber, und dort nahmen alle ihre Stellung wieder ein, während man den Toten in der Sakristei in seinen Sarg hineinnagelte. Ein feiner Regen befeuchtete die Luft; es ging schwer, und die Gräber, die noch nicht fertig waren, warfen nur mit Mühe die schwere Erde auf, die auf ihren Spaten klebte. Im Hintergrunde hatten die Frauen, die im Grase knieten, ihre Kapuzen abgenommen, und ihre großen weißen Hauben, deren gestärkte Schleifen sich im Winde hoben, sahen von fern aus wie ein großes Leichentuch, das sich von der Erde hebt und wellt.

Der Tote erschien wieder, die Gebete begannen neu, das Schluchzen ertönte wie vorher. Man hörte es durch das Geräusch des fallenden Regens.

Neben uns hörte man in gleichmäßigen Abständen eine Art erstickten Glucksens, das einem Lachen glich. Wenn man es irgendwo sonst gehört hätte, hätte man es für den unterdrückten Ausbruch einer heftigen Freude oder für den bezwungenen Paroxysmus eines Glücksdeliriums gehalten. Es war die weinende Witwe. Dann trat sie an den Rand, tat wie die anderen, und allmählich nahm die Erde ihr Niveau wieder ein, und alle gingen davon.

Als wir auf die Treppe des Kirchhofs traten, sagte ein junger Mensch, der neben uns vorbeiging, französisch zu einem andern: »Zum Henker, stank er! Er war fast ganz verwest! Bei den drei Wochen, die er im Wasser liegt, ist's auch kein Wunder!« ...

. . . . . . . . . . . . .

... Eines Morgens jedoch machten wir uns wie die anderen Morgende auf; wir schlugen denselben Pfad ein, gingen durch die Rüsterhecke und über den Wiesenhang, wo wir am Abend zuvor ein kleines Mädchen seine Rinder hatten zur Schwemme treiben sehen; aber es war vielleicht der letzte Tag und das letzte Mal, daß wir dort vorüberkamen.

Ein sumpfiges Terrain, in dem wir bis zu den Knöcheln einsanken, erstreckt sich von Carnac bis zu dem Dorf Pô. Ein Boot erwartete uns; wir stiegen hinein; man stieß mit dem Ruder ab und man hißte das Segel.

Unser Bootsmann, ein Greis mit lustigem Gesicht, befestigte am Dollenbord eine Angelschnur, um Fische zu fangen und ließ seine Barke ruhig dahinziehn. Es war kaum Wind vorhanden; das ganz blaue Meer zeigte keine Furche und bewahrte die schmale Spur des Steuerruders lange Zeit. Der gute Mann schwätzte; er sprach uns von den Priestern, die er nicht liebt, vom Fleisch, das ein gutes Essen ist, selbst an Fastentagen, von der Mühe, die er im Dienst gehabt, von den Flintenschüssen, die er als Grenzwächter erhalten hatte ... Wir fuhren sachte dahin, die gespannte Angel folgte immer und das Ende des Beisegels schleifte im Wasser.

Die Meile, die uns von Saint-Pierre nach Quiberon zu Fuß zu machen blieb, wurde trotz eines bergigen Weges durch Sand, trotz der Sonne, unter der uns die Riemen unserer Tornister auf den Schultern knarrten und einer Menge von Men-Hirs, die auf den Feldern standen, ohngeachtet, rasch zurückgelegt.

Zu Quiberon frühstückten wir bei dem alten Rohan Belle-Isle, der das Hotel Penthièvre führt. Dieser Edelmann ging in Anbetracht der Hitze in seinen Schuhen barfuß und stieß mit einem Maurer an, was nicht hindert, daß er der Abkömmling einer der ersten Familien Europas ist; ein Adliger aus altem Geschlecht! ein echter Adliger, so wahr Gott lebt! und er hat uns sofort Hummer kochen lassen und uns selber Beefsteaks geschlagen.

Die Vergangenheit Quiberons läßt sich in ein Blutbad zusammenfassen. Seine seltenste Kuriosität ist ein Kirchhof; er ist voll, er läuft über, er sprengt die Mauern und tritt auf die Straße hinaus. Die aufgeschichteten Steine zerstoßen sich an den Kanten, steigen übereinander, bedrängen sich, tauchen sich unter und vermengen sich, als ob es den Toten dort unten zu eng würde und sie ihre Schultern höben, um aus ihren Gräbern herauszukommen. Man könnte von einem versteinerten Ozean reden, dessen Wogen diese Gräber sind und in dem die Kreuze die Masten der verlorenen Schiffe wären.

In der Mitte nimmt ein großes, ganz offenes Beinhaus die Skelette derer auf, die man ausgräbt, um den anderen Platz zu machen. Von wem stammt doch der Gedanke: das Leben ist ein Gasthof, das Grab das Haus? Die hier bleiben nicht in ihrem, sie sind nur seine Mieter, und am Schluß der Pacht verjagt man sie daraus. Um dieses Beinhaus, in dem dieser Knochenhaufe einem Wirrwarr von Reisigbündeln gleicht, ist in Manneshöhe eine Reihe von kleinen schwarzen Schachteln angebracht, jede sechs Zoll im Kubik, bedeckt mit einem Dach, über dem ein Kreuz steht, und an der äußeren Seite mit einem herzförmigen Loch, das drinnen einen Totenkopf sehen läßt. Über dem Herzen liest man: »Dies ist das Haupt des ..., gestorben im Jahre ... am ...« Diese Köpfe haben nur Leuten von einem gewissen Range gehört, und man würde als schlechter Sohn gelten, wenn man dem Schädel seiner Eltern am Schluß von sieben Jahren nicht den Luxus dieses kleinen Sarges gäbe. Den Rest des Körpers wirft man ins Beinhaus; fünfundzwanzig Jahre darauf wirft man auch den Kopf hinein. Vor ein paar Jahren hat man diese Sitte abschaffen wollen. Es gab einen Aufstand, sie blieb.

Es kann übel sein, so mit diesen runden Kugeln zu spielen, die den Gedanken enthalten haben, mit diesen leeren Kreisen, in denen die Liebe schlug. Alle diese Kästen am Beinhaus hin auf den Gräbern, im Gras, an der Mauer, durcheinander, können manchen furchtbar erscheinen, anderen lächerlich; aber dies schwarze Holz, das in dem Maße, wie die Knochen, die es einschließt, bleichen und zerbröckeln, fault; diese Köpfe, die einen mit ihrer zernagten Nase, den hohlen Augenpfannen und ihrer Stirne, die stellenweis vom klebrigen Streif der Schnecken glänzt, ansehen; diese dort wie in den großen Knochenhäusern der Bibel aufgehäuften Schenkel; diese Schädeltrümmer, die voller Erde rollen, und in denen bisweilen wie in einem Porzellantopf eine Blume gewachsen ist, die durch die Augenlöcher heraustritt; ja, selbst die Vulgarität dieser Inschriften, die einander gleich sind wie die Toten, die sie nennen; diese ganze menschliche Verwesung, so angeordnet, ist uns recht schön erschienen und hat uns ein solides und gutes Schauspiel verschafft.

Wenn die Post von Auray dagewesen wäre, wären wir gleich nach Belle-Isle aufgebrochen; aber man wartete auf die Post von Auray. In der Küche der Herberge saßen im Hemd und mit nackten Armen die Schiffer für die Überfahrt und geduldeten sich, indem sie einen Schoppen tranken.

– »Um welche Stunde kommt sie denn, die Post aus Auray?«

– »Das kommt drauf an; gewöhnlich um zehn,« antwortete der Schaluppenführer.

– »Nein, um elf,« sagte ein anderer.

– »Um zwölf,« meinte M. de Rohan.

– »Um eins.«

– »Um halb zwei.«

– »Oft ist sie vor zwei noch nicht da.«

– »Sie kommt nicht so regelmäßig.«

Davon waren wir überzeugt; es war drei.

Vor der Ankunft dieses unseligen Kuriers, der die Depeschen des Festlandes für Belle-Isle bringt, konnte man nicht aufbrechen. Es galt, sich darin zu ergeben. Man trat vor die Tür, man blickte auf die Straße, man ging wieder hinein und trat wieder hinaus. »Ah! er wird heut nicht mehr kommen. – Er wird unterwegs geblieben sein. – Können weggehn. – Nein, laßt uns warten. – Wenn diese Herren sich schließlich zu sehr langweilen ... – Wenn man's überlegt, vielleicht sind keine Briefe da? – Nein, noch eine kleine Viertelstunde. – Ah! da ist er!« Er war nicht da, und das Gespräch begann von neuem.

Schließlich ein müder Pferdetrab, der Feuer schlägt, ein Geklingel von Glöckchen, ein Peitschenknall, ein Mensch, der ruft: »Holla! he! die Post! die Post!«

Das Pferd blieb scharf vor der Tür stehen, drückte den Buckel ein, dehnte den Hals, streckte die Schnauze vor, indem es die Zähne zeigte, stellte die Hinterbeine auseinander und hob sich in den Kniekehlen.

Der Gaul war hoch, krummbeinig, knochig, hatte kein Haar in der Mähne, abgelaufene Hufe, lose Eisen; der Schwanzriemen rieb ihm den Schwanz auf; ein Geschwür sprang ihm auf der Brust. In einem Sattel verloren, der ihn verschlang, hinten von einem Felleisen festgehalten, vorn von der großen Tasche mit den Briefen, die durch den Sattelbogen geschoben war, hielt sich ein Reiter, der darauf hockte, wie ein Affe kauernd. Sein kleines Gesicht mit den wenigen blonden Haaren verschwand, runzlig und zusammengeschrumpft wie ein Reinettenapfel, unter einem filzgefütterten Wachstuchhut; eine Art Paletot aus grauem Zwillich ging ihm bis zu den Hüften hinauf und umgab ihm den Bauch mit einem Kreis aufgenommener Falten, während ihm die Hose ohne Strippe, die heraufrutschte, an den Knien saß und seine von der Reibung der Steigbügelriemen geröteten Waden mit den auf den Rand der Schuhe herabgeglittenen blauen Strümpfen sehen ließ. Bindfäden hielten das Geschirr des Tieres zusammen, das Gewand des Reiters war mit schwarzen oder roten Fadenenden geflickt; Flicken in jeder Farbe, Risse in jeder Form, Tuch in Fetzen, fettiges Leder, getrockneter Kot, frischer Staub, hängende Schnüre, glänzende Lumpen, Schmutz auf dem Menschen, die Krätze auf dem Tier, der eine armselig und schwitzend, das andere hektisch und keuchend, der erste mit seiner Peitsche, das zweite mit seinen Glöckchen; all das ergab nur ein und dasselbe Etwas, zeigte denselben Ton und dieselbe Bewegung, führte fast dieselben Gesten aus, diente demselben Zweck, dessen Gesamtheit sich die Post von Auray nennt.

Nach Verlauf von noch einer Stunde, als man im Ort eine Menge von Paketen und Aufträgen gesammelt hatte, und als man außerdem noch auf mehrere Passagiere gewartet hatte, die Kommen wollten, verließ man schließlich die Herberge und man dachte daran, sich einzuschiffen. Zunächst gab es ein Durcheinander von Gepäck und Leuten, von Rudern, die einem die Beine versperrten, von Segeln, die einem auf die Nase fielen; der eine bedrängte den andern und fand keinen Platz, wohin er sich setzen konnte; dann beruhigte sich alles, jeder nahm seinen Winkel ein, fand seinen Platz, das Gepäck auf dem Boden, die Schiffer auf den Bänken stehend, die Passagiere, wo sie konnten.

Kein Windhauch blies, und die Segel hingen gerade an den Masten herunter. Die schwere Schaluppe hob sich kaum auf dem fast regungslosen Meer, das mit der leisen Bewegung einer eingeschlafenen Brust schwoll und sank.

Gegen eins der Dollborde gestützt, blickten wir aufs Wasser, das blau war wie der Himmel und ruhig wie er, und wir lauschten auf das Geräusch der großen Ruder, die die Flut schlugen und in den Dollen knarrten. Im Schatten der Segel hoben die sechs Ruderer sie langsam im Takt und stießen sie vor sich her; sie fielen und erhoben sich wieder, indem sie am Ende ihrer Blätter Perlen fallen ließen.

Im Stroh auf dem Rücken liegend, auf den Bänken sitzend, mit den Beinen schlenkernd und das Kinn in den Händen, oder gegen die Wände des Bootes gelehnt, zwischen den Rippenpfosten, deren Teer in der Mitte schmolz, senkten die schweigenden Passagiere den Kopf und schlossen die Augen gegen den Glanz der Sonne, die auf das spiegelglatte Meer schlug.

Ein Mann in weißem Haar schlief mir zu Füßen am Boden, ein Gendarm schwitzte unter seinem Dreispitz, zwei Soldaten hatten ihre Tornister abgenommen und sich darauf gelegt. Nah beim Bugspriet blickte der Schiffsjunge in die Fock und pfiff, um den Wind zu rufen; hinten stand der Schaluppenführer und wendete die Ruderpinne.

Der Wind kam nicht. Man nahm die Segel nieder, die ganz glatt heruntersanken, indem sie das Eisen der Bügel klingen ließen und ihre schwere Leinwand auf die Bänke schmiegten; dann zogen all die Schiffer ihre Westen aus, stopften sie in den Bug und begannen von neuem, indem sie mit Brust und Armen schoben, die ungeheuren Ruder zu bewegen, die sich in ihrer Länge bogen ...

. . . . . . . . . . . . .

... Wir waren so spät abgefahren, daß kaum noch Wasser im Hafen war, und nur mit großer Mühe kamen wir hinein. Unser Kiel streifte auf den kleinen Kieseln des Bodens hin, und um an Land zu steigen, mußten wir wie auf dem Drahtseil auf einem Ruder gehen.

Zwischen die Zitadelle und seine Wälle eingeklemmt, und von einem fast leeren Hafen mitten durchschnitten, erschien uns le Palay als eine ziemlich dumme, kleine Stadt, die Garnisonslangeweile ausschwitzt, und ich weiß nicht was von einem gähnenden Unteroffizier hat.

Hier sieht man nicht mehr die niedrigen schwarzen Filzhüte des Morbihan mit ihren ungeheuren Rändern, die die Schultern beschatten. Die Frauen tragen nicht mehr jene großen weißen Hauben, die, wie bei den Nonnen, über ihr Gesicht hinausstehen und hinten bis zur Mitte des Rückens niederfallen und den kleinen Mädchen so den halben Körper bedecken. Ihre Kleider sind der großen Sammetborte auf der Schulter beraubt, die den Umriß des Schulterblatts beschreibt und sich unter den Achselhöhlen verliert. Auch ihre Füße tragen nicht mehr jene offenen Schuhe, mit runder Spitze und mit hohem Absatz, besetzt mit langen schwarzen Bändern, die den Boden streifen. Man sieht, wie überall, Gesichter, die sich gleichen, Kostüme, die nicht hergehören, Ecksteine, Pflaster und sogar ein Trottoir.

Lohnte es sich der Mühe, sich der Seekrankheit ausgesetzt zu haben, die uns übrigens nicht lästig gefallen war, was uns nachsichtig machte, nur, um die Zitadelle betrachten zu können, um die wir uns sehr wenig kümmerten, den Leuchtturm, der uns noch weniger beunruhigte, oder den Wall Baubaus, der uns bereits langweilte? Aber man hatte uns von den Felsen auf Belle-Isle gesprochen. Sofort also zogen wir zu den Toren hinaus, schritten quer über die Felder und wandten uns zur Meeresküste.

Wir sahen nur eine Grotte, eine einzige (der Tag ging zur Neige), aber sie schien uns so schön (sie war mit Seetang und Muscheln verkleidet, und von oben fielen Wassertropfen nieder), daß wir beschlossen, den folgenden Tag auf Belle-Isle zu bleiben, um noch ähnliche zu suchen, wenn es welche gab, und uns die Augen in Muße am Festmahl all dieser Farben zu sättigen.

Am folgenden Morgen also füllten wir, sobald es hell wurde, eine umflochtene Flasche, steckten in einen unserer Tornister ein Stück Brot und eine Schnitte Fleisch, nahmen den Schlüssel zu den Feldern und machten uns ohne Führer noch irgendwelche Auskunft (das ist die rechte Art) auf den Marsch, entschlossen, einerlei wohin zu gehen, wenn es nur weit war, und einerlei, wann nach Hause zu kommen, wenn es nur spät war.

Wir begannen mit einem Pfad im Gras; er folgte dem Rand der Klippe, stieg auf ihre Spitzen, senkte sich in ihre Täler und lief auf ihr fort, indem er wie ein Kreis um die Insel führte.

Als ihn ein Erdrutsch abgeschnitten hatte, stiegen wir weiter ins Land hinein und, indem wir uns nach dem Horizont des Meeres richteten, dessen blauer Streif den Himmel berührte, kehrten wir alsbald zur Höhe des Kammes zurück, den wir unversehens zu unseren Seiten zum Abgrund geöffnet fanden. Der senkrechte Absturz, auf dessen Gipfel wir hingingen, ließ uns nichts von der Seite der Felsen sehen; wir hörten nur unter uns das laute, schlagende Geräusch des Meeres.

Bisweilen öffnete sich die Klippe in ihrer ganzen Größe, zeigte plötzlich ihre beiden fast senkrechten Flächen, die Kieselschichten durchzogen, und an denen kleine gelbe Büschel gewachsen waren. Wenn man einen Stein hinabwarf, schien er eine Zeitlang in der Schwebe zu hängen, dann stieß er an die Wände, sprang aufschlagend weiter, zerbrach in Splitter, brachte Erde ins Rollen, riß Kiesel mit und beendete seine Fahrt, indem er sich im Kies einbohrte; und man hörte die Raben krächzen, die davonflogen.

Oft hatten Gewitterregen und Schneeschmelze in diese Schluchten einen Teil des oberen Erdreichs hinabgejagt, das sich dort stufenweise hingelagert und das Gefälle so weit gemildert hatte, daß man hinunterkommen konnte. Wir wagten uns in eine davon hinein, ließen uns auf dem Hintern gleiten, indem wir mit den Füßen bremsten und uns mit den Händen zurückhielten, und kamen schließlich unten auf dem schönen nassen Sande an.

Das Meer ebbte, aber um entlang zu laufen, mußte man auf das Zurückweichen der Wogen warten. Wir sahen ihnen zu, wenn sie kamen. Sie schäumten in den Felsen zwischen Wind und Wasser, wirbelten in den Hollen, sprangen wie fliegende Bänder, fielen in Kaskaden und Perlen zurück und führten ihre große grüne Fläche in einem langen Wiegen zum Meere zurück. Wenn eine Woge auf dem Sande zurückgewichen war, dann kreuzten sich alsbald die Bächlein, die zu den niedrigeren Stellen flohen. Der Seetang bewegte seine klebrigen Streifen, das Wasser nahm kleine Kiesel mit, wenn es durch die Spalten der Felsen heraustrat, machte tausend plätschernde Geräusche, bildete tausend Strahlen. Der nasse Sand trank seine Welle und bleichte, in der Sonne trocknend, seinen gelben Ton.

Sobald für unsere Füße Platz war, sprangen wir über die Felsen und setzten unseren Weg fort. Bald wurde ihr wirres Geschiebe voller: sie lagen übereinander gerüttelt, gehäuft und geschleudert. Wir klammerten uns mit den abgleitenden Händen an, und mit den Füßen, die sich vergebens an ihre klebrig rauhen Flächen anschmiegten.

Die Klippe war hoch, so hoch, daß man fast Furcht hatte, wenn man den Kopf hob. Sie zermalmte mich mit ihrer furchtbaren Ruhe, und sie entzückte uns dennoch; denn man betrachtete sie unwillkürlich doch, und die Augen ließen nicht von ihr ab.

Es flog eine Schwalbe vorbei; wir blickten ihr nach; sie kam vom Meere; sie stieg sacht, indem sie mit der Schneide ihrer Federn die flüssige und leuchtende Luft durchschnitt, in der ihre Flügel offen schwammen und es zu genießen schienen, daß sie sich ganz frei entfalten konnten. Sie stieg noch immer, strich Über die Klippe hin, stieg weiter und verschwand.

Unterdessen krochen wir über die Felsen weiter, deren jede Wendung in der Küste uns eine neue Perspektive öffnete. Sie waren mitunter auf Momente unterbrochen, und dann gingen wir auf viereckigen, wie Fliesen flachen Steinen, in denen fast symmetrisch sich hinziehende Spalten wie die Gleise der alten Straße einer anderen Welt erschienen.

Von Zeit zu Zeit dehnten sich, regungslos wie ihr grünlicher Grund, große Wasserlachen aus, die ebenso durchsichtig, ebenso ruhig waren und sich nicht mehr bewegten als im tiefen Walde, auf ihrem Kressebett im Schatten der Weiden die reinste Quelle; dann stellten sich die Felsen wieder enger, aufgetürmter entgegen. Auf der einen Seite lag das Meer, dessen Wogen in die untersten Felsen sprangen; auf der andern die senkrechte, jähe, unersteigbare Küste.

Ermüdet, betäubt suchten wir einen Ausgang; aber immer weiter zog sich die Klippe vor uns hin, und die Felsen, die ihre finsteren Massen des Grüns bis ins Unendliche dehnten, ließen von einem zum andern ihre unregelmäßigen Köpfe folgen, die größer wurden, indem sie sich vervielfältigten, schwarzen Phantomen gleich, die von unter der Erde stiegen.

So zogen wir aufs Geratewohl weiter, als wir plötzlich, sich im Zickzack in den Felsen schlängelnd, eine Schlucht erblickten, die uns erlaubte, wie auf einer Leiter in das flache Land hinaufzusteigen ...

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... Einerlei, es ist stets ein Vergnügen, selbst, wenn das Land häßlich ist, zu zweit quer hindurchzuziehen, indem man auf dem Grase geht, durch Hecken kriecht, über Gräben springt, mit seinem Stock die Disteln köpft und mit der Hand Blätter und Ähren abreißt, indem man aufs Geratewohl hinläuft, wie einen der Gedanke treibt, wie einen die Füße tragen, indem man singt, pfeift, plaudert, träumt, ohne ein Ohr, das auf einen hört, ohne das Geräusch von Schritten hinter seinen Schritten, frei wie in der Wüste.

Ah! Luft! Luft! noch mehr Raum! Da unsere ringenden Seelen ersticken und am Rande des Fensters hinsterben, da unsere gefangenen Geister sich wie der Bär in seiner Grube stets um sich selbst drehen und sich an ihren Mauern stoßen, so gebt wenigstens unseren Nasen den Duft aller Winde der Erde, laßt meine Augen in alle Horizonte schweifen!

Kein Kirchturm zeigte in der Ferne sein glänzendes Schieferdach, kein Weiler erschien im Tale einer Erdfalte, wo er seine Strohdächer und seine viereckigen Höfe in eine Gruppe von Bäumen hüllte; man begegnete niemandem, keinem Bauern, der vorüberzog, keinem Schaf, das weidete, keinem Hund, der umherschweifte.

All diese bebauten Felder sahen nicht aus, als würden sie bewohnt; man arbeitet dort, man lebt dort nicht. Man möchte sagen, all die, die sie besitzen, nutzen sie aus, aber lieben sie nicht.

Wir haben einen Pachthof gesehen und sind hineingetreten; eine Frau in Lumpen setzte uns in Steinguttassen Milch vor, die frisch war wie Eis. Es herrschte eine eigentümliche Stille. Sie blickte uns gierig an, und wir sind wieder aufgebrochen.

Wir sind in ein Tal hinabgestiegen, dessen enger Schlund sich bis zum Meere zu dehnen schien. Hohe Kräuter mit gelben Blüten stiegen uns bis zum Bauch. Wir drangen mit großen Schritten vor. Wir hörten neben uns Wasser fließen und sanken in sumpfigen Boden ein. Die beiden Hügel traten auseinander und trugen immerfort ein kurzes Gras auf ihren trockenen Hängen, die von Zeit zu Zeit wie große gelbe Flecken Flechten unterbrachen. Am Fuß des einen floß ein Bach durch die niederen Zweige der verkrüppelten Büsche, die auf seinen Ufern gewachsen waren, und verlor sich weiterhin in einem regungslosen Tümpel, wo Insekten mit langen Beinen auf den Blättern der Wasserrosen gingen.

Die Sonne brannte. Die Mücken summten mit den Flügeln und beugten die Binsen unter dem Gewicht ihrer leichten Körper. Wir beiden waren allein in der Ruhe dieser Einsamkeit.

An dieser Stelle rundete sich das Tal, indem es weiter wurde, und bildete ein Knie. Wir stiegen auf eine Höhe, um dahin zu sehen; aber der Horizont brach, von einem weiteren Hügel eingeschlossen, rasch ab, oder er dehnte neue Ebenen. Wir faßten jedoch Mut und setzten unsern Marsch fort, obgleich wir an jene auf den Inseln zurückgebliebenen Reisenden dachten, die auf die Vorgebirge klettern, um in der Ferne ein Segel zu sehen, das auf sie zukommt.

Das Terrain wurde trockener, die Kräuter weniger hoch; plötzlich zeigte sich das Meer vor uns, eingeengt in eine schmale Bucht, und bald begann ihr Strand aus Madreporen und Muscheltrümmern unter unseren Schritten zu knirschen. Wir ließen uns zu Boden fallen, wir schliefen ein, von Ermüdung erschöpft. Eine Stunde darauf, von der Kälte geweckt, machten wir uns wieder auf den Marsch, diesmal gewiß, uns nicht zu verirren; mir waren auf dem Ufer, das nach Frankreich blickte, und hatten le Palay zu unserer Linken. Auf diesem Ufer hatten wir am Abend vorher die Grotte gesehen, die uns so entzückt hatte. Wir fanden bald mehr davon, höhere und tiefere.

Sie öffneten sich stets mit großen senkrechten oder geneigten Spitzbogen, die ihr kühnes Stabwerk über ungeheure Felsflächen warfen. Schwarz, und violett geädert, feuerrot, braun mit weißen Linien, entfalteten sie für uns, die sie zu sehen kamen, alle Mannigfaltigkeiten ihrer Töne und Formen, ihre Reize und ihre grandiosen Phantasien. Eine war silberfarben und von Blutadern durchzogen; in einer andern waren Blütenbüschel, die Primeln glichen, auf den rötlichen Granitwänden erblüht, und von der Decke fielen auf den seinen Sand langsame Tropfen nieder, die immer von neuem begannen. Im Hintergrunde der einen schien unter einem länglichen Gewölbe ein Bett weißen und blanken Kieses, das die Flut ohne Zweifel jeden Tag wendete und neu machte, da zu sein, um den Leib der Najade aus den Wogen zu empfangen; aber ihr Lager ist leer und hat sie für immer verloren! Nur dieser noch feuchte Seetang bleibt, wo sie die schönen, nackten, vom Schwimmen ermüdeten Glieder ausstreckte, und auf denen sie bis zum Morgen im Mondschein schlief.

Die Sonne ging unter. Die Flut stieg unten auf die Felsen, die im blauen Abendnebel verschwammen, den auf der Fläche des Meers der Schaum der rückprallenden Wogen bleichte; auf der andern Seite des Horizontes sah der von langen Orangelinien gestreifte Himmel aus wie von großen Windstößen gefegt. Sein auf den Wogen reflektiertes Licht vergoldete sie mit schimmernder Wellung es traf den Sand und machte ihn braun und ließ darüber eine Stahlsaat glänzen.

Eine halbe Stunde nach Süden streckte die Küste eine Felsenreihe ins Meer. Um zu ihr zu kommen, mußten wir von neuem einen ähnlichen Marsch beginnen, wie wir ihn morgens gemacht hatten. Wir waren müde, es war weit; aber uns zog eine Versuchung dort unten hin, hinter diesen Horizont. Der Windhauch kam in die Höhlung der Steine; die Wasserlachen furchten sich; die Algen, die an den Flanken der Klippen hingen, erzitterten, und auf der Seite, wo der Mond erscheinen wollte, stieg eine Blässe von unter dem Wasser herauf.

Es war die Stunde, wo die Schatten lang sind. Die Felsen waren größer, die Wellen grüner. Man hätte meinen können, auch der Himmel erweitere sich und die ganze Natur wechsle den Ausdruck.

Wir machten uns also auf, ohne uns um die Flut zu kümmern, noch darum, ob später ein Weg vorhanden sein werde, wieder ans Land zu kommen. Wir fühlten das Bedürfnis, unsere Lust bis auf den Grund auszunutzen und es zu kosten, ohne das geringste zu verlieren. Leichter als am Morgen sprangen wir, liefen wir ohne Ermatten, ohne Hindernis; eine körperliche Begeisterung trug uns unwillkürlich fort, und wir fühlten in den Muskeln eine Art Beben vor robuster und eigenartiger Wollust. Wir schüttelten die Köpfe im Wind, und wir betasteten das Kraut in unseren Händen mit Lust. Wir atmeten den Geruch der Wellen und sogen alles ein und riefen uns alles wach, was es an Farben, Strahlen, Gemurmel gab: die Zeichnung des Seetangs, die Glätte des Sandkorns, die Härte des Felsens, der unter unserm Fuß erklang, die Höhen der Klippe, den Saum der Wogen, die Einschnitte des Ufers, die Stimme des Horizonts; und dann strich der Windhauch wie unsichtbare Küsse hin, die uns über die Wangen liefen, der Himmel, an dem schnell ziehende Wolken standen, rollte einen Goldstaub, der Mond ging auf, die Sterne zeigten sich. Wir wälzten uns den Geist in der Verschwendung dieser Pracht, wir weideten unsere Augen daran; wir weiteten die Nasenflügel, wir öffneten die Ohren; etwas vom Leben der Elemente strömte von ihnen aus und kam, ohne Zweifel gezogen von unseren Blicken, zu uns und paßte sich an und machte, daß mir sie in einem weniger fernen Verhältnis verstanden, daß wir sie dank dieser komplizierteren Vereinigung näher fühlten. Dadurch daß wir uns mit ihr durchdrangen, in sie eingingen, wurden auch wir Natur, lösten wir uns in sie auf, nahm sie uns wieder, fühlten wir, daß sie uns besiegte, und unsere Freude darüber war maßlos; wir hätten uns in ihr verirren mögen, von ihr genommen werden oder sie in uns forttragen. So wie man in den Entzückungen der Liebe mehr Hände zum Tasten wünscht, mehr Lippen zum Küssen, mehr Augen zum Sehen, mehr Seele zum Lieben; so bedauerten wir, indem wir uns mit einem Tollen voll Delirien und Freuden in der Natur ausfalteten, daß unsre Augen nicht bis in den Schoß der Felsen zu dringen vermochten, bis auf den Grund der Meere und bis zur Grenze der Himmel, um zu sehen, wie die Steine wachsen, wie die Wogen werden, wie die Sterne sich entzünden; daß unsere Ohren nicht die Gärung der Granite gravitieren hören konnten, nicht den Saft in den Pflanzen schwellen, noch die Korallen in den Einsamkeiten des Ozeans rollen. Und in der Sympathie dieser kontemplativen Ergüsse hätten wir gewollt, daß unsere Seele überallhin ausstrahlte und in diesem ganzen Leben leben ginge, um alle ihre Formen zu bekleiden, wie sie zu dauern und sich ewig wandelnd, ewig ihre Metamorphosen in die Sonne der Ewigkeit wachsen zu lassen!

Aber der Mensch ist nur geschaffen, um täglich ein wenig an Nahrung, Farben, Tönen, Empfindungen, Ideen zu kosten. Was über das Maß hinausgeht, ermüdet oder berauscht ihn; es ist der Stumpfsinn des Trunkenbolds, es ist die Narrheit des Ekstatikers. Ah! wie klein unser Glas ist, mein Gott! wie groß unser Durst ist! wie schwach unser Kopf ist! ...

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Um nach Quiberon zurückzukommen, mußten wir am Tage darauf vor sieben Uhr aufstehn, was Mut erforderte. Noch steif vor Anstrengung und vor Schlaf fröstelnd, packten wir uns in Gesellschaft eines weißen Pferdes, zweier Handelsreisender, desselben einäugigen Gendarmen und desselben Füsiliers, der diesmal niemandem Moralpredigten hielt, in die Barke hinein. Betrunken wie ein Franziskaner rollte er unter den Bänken und hatte schwer zu tun, um seinen Tschako nicht zu verlieren, der ihm auf dem Kopfe wackelte, und um sich gegen sein Gewehr zu wehren, das ihm zwischen den Beinen tanzte. Ich weiß nicht, wer von beiden, er oder der Gendarm, der dümmste war. Der Gendarm war nicht betrunken, aber er war borniert. Er beklagte die geringe Haltung des Soldaten, zählte die Strafen auf, die er erhalten würde, er entrüstete sich über sein Rülpsen, regte sich über seine Manieren auf. Von der Seite des fehlenden Auges im Dreiviertelsprofil gesehen, war er mit seinem Dreispitz, seinem Säbel und seinen gelben Handschuhen sicherlich eins der traurigsten Schauspiele des menschlichen Lebens. Außerdem ist ein Gendarm etwas wesentlich Komisches, was ich nicht ohne Lachen anzusehn vermag; eine groteske und unerklärliche Wirkung, die diese Basis der öffentlichen Sicherheit mit den königlichen Statthaltern, allen obrigkeitlichen Personen und den Literaturprofessoren auf mich auszuüben den Vorzug hat.

Auf die Seite geneigt, durchschnitt das Boot die Wogen, die am Bordrand entlang liefen und Schaum zogen. Die drei voll geschwellten Segel rundeten ihre feine Kurve. Das Mastwerk knarrte, die Luft pfiff in den Taljen. Im Bug sang ein Schiffsjunge, die Nase im Wind. Wir konnten die Worte nicht hören, aber es war eine langsame, ruhige und monotone Melodie, die sich immer wiederholte, weder lauter noch leiser, und die sich ersterbend mit schleppenden Wallungen hinzog.

Das verklang, verklang süß und traurig über dem Meer, wie eine wirre Erinnerung in einer Seele hinfliegt.

Das Pferd hielt sich, so gut es konnte, auf seinen vier Beinen und knabberte an einem Bündel Heu. Die Schiffer lächelten mit gekreuzten Armen, indem sie in die Segel blickten.

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... Wir fuhren also, so gut es nur ging und ohne ein Wort zu reden, dahin, aber ohne je das Ende der Bucht zu erreichen, wo es aussah, als befinde Plouharnel sich dort. Wir kamen aber doch hin. Nur fielen wir dort ins Meer. Wir hatten die rechte Seite des Ufers gewählt, und man mußte der linken folgen. Es galt umzukehren und einen Teil des Wegs von neuem zu beginnen.

Ein ersticktes Geräusch ließ sich vernehmen. Ein Glöckchen erklang, ein Hut erschien. Es war die Post von Auray. Stets derselbe Mensch, dasselbe Pferd, derselbe Briefsack. Er ritt ruhig nach Quiberon zu, von wo er bald zurückkommen wird, um morgen wieder hin zu reiten. Er ist der Bewohner des Ufers; er durchzieht es am Morgen und er durchzieht es am Abend. Sein Leben besteht darin, es zu durcheilen; er allein belebt es, er allein macht seine Zwischenspiele, fast hätte ich gesagt, seine Anmut aus.

Er hält an; wir reden zwei Minuten mit ihm, er grüßt uns und reitet weiter.

Welch Ensemble das ist! Welch ein Mensch und welch ein Pferd! Welch ein Bild! Ballot hätte es ohne Zweifel gemalt; nur Cervantes hätte es schreiben können.

Nachdem wir über die großen Felspartien gestiegen waren, die man im Meer aneinander zu reihen versucht hat, um den Weg abzukürzen, indem man den Boden der Bucht durchschnitt, kamen wir endlich in Plouharnel an.

Das Dorf war still, die Hennen glucksten auf den Straßen und in den von Mauern aus Steinen ohne Mörtel umschlossenen Gärten sind mitten in Haferbeeten Nesseln gewachsen.

Als wir vor dem Hause unseres Wirtes saßen, um die Luft zu genießen, kam ein alter Bettler vorbei. Er war in Lumpen, wimmelte von Ungeziefer, war rot wie Wein, borstig, in Schweiß gebadet, die Brust nackt, den Mund voll Geifer.

Die Sonne glänzte auf seine Lappen, seine violette und fast schwarze Haut schien Blut auszuschwitzen. Er schrie mit schrecklicher Stimme, als er mit mächtigen Schlägen an die Tür eines Nachbarhauses schlug ...


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