Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

Zehn wunderlich gemischte Menschen umsaßen den von Walter gewissenlos verkerbten, uralten, eichenen Eßtisch des Brollerstübleins. Frau Therese hatte vor der schreienden Mittagsonne die Gardinen herabgezogen, und nun lag auf allen Gesichtern ein grüner Goldkäferglanz. Die Stube mit ihren niedern Diele und engen Wänden bekam von den vielen Leuten und dem Haufen Fleisch und Gemüse auf allen Platten eine so dumpfe, üble Luft, daß Heinz Atembeschwerden fürchtete und unendlich auf den schwarzen Kaffee harrte, der ihm die Not vertriebe.

Es waren Emil und Heinz mit Herrn und Frau Pfarrer geladen. Man begrüßte sich kurz und fing sogleich mit Essen an. Während der Suppe und dem ersten Braten ward kaum ein Wort gesprochen. Man hörte nur das häßliche Gesäbel der Gabeln und das Geschlurf und Geschmatz des starken Brollerschen Appetits. Denn hier zu Land wird das Z'mittag wie eine Arbeit betrieben, so hurtig, zielbewußt und schier gewaltsam.

Oben am Tisch thronte Oberrichter Ernst Broller, der Mann mit dem kleinen Leib und dem großartigen, wunderschön geformten Christuskopf. Man stelle sich vor, ein blutlos bleiches, breites Gesicht mit einer Stirne hell und furchenlos wie ein Schild. Darüber ein mächtiges, dunkles Haar und darunter von Schläfe zu Schläfe ein brauner, dichter Bart. Aber das Schönste sind unter den herrischen Brauen, die sich immer leicht bewegen, die großen, blauen Augen. Darüber vergißt man den verzwergten Unterleib mit dem Buckel im Nacken und den krummen Beinen. Der Kopf ist alles. Seine Lippen sind sinnlich voll und dunkel wie bei Walter. Aber in den Augen neben allem Geflacker von Spaß und Begeisterung stehen die Sterne kalt und klar und still. Heinz kommt nicht von diesem Gesicht los. Der, rechnet er aus, muß ein feiner Gesellschafter sein Aber sicher sitzt er noch lieber als Machthaber auf einem hohen alleinigen Stuhl. Darum hat er wohl nicht die roten, lachseligen Mienen Walters. Darum hat er die Farbe aller Streber: das Weiß und Gelb von altem, kostbarem Elfenbein. – Elfenbein, das ist ein guter Einfall. Gleich nach dem Mahl notier' ich's.

Der Vater reicht seinem Ältesten nicht ans Kinn. Aber so wie er oben am Tisch regiert mit seinem Königshaupt, ist er ein ganz Großer, ein Würdiger, ein Feierlicher. Wer aber unter den Tisch sieht, einmal so ganz verstohlen, – er kann die Serviette fallen lassen, – der sieht die dünnen, krummen Beine sich katzenleis und elastisch rühren. Er weiß nun auf einmal, woher Walter bei aller Ritterlichkeit hie und da seine tückischen Einfälle hat, wenn er mit Kraft oder Schnelligkeit nicht auskommt; und er glaubt, daß der Broller nicht nur die Gewalt, sondern wohl auch die Listigkeit der Löwenkatze übt.

Unten am Tisch sitzt Walter zwischen seinem Brüderchen Ernstli und der achtjährigen Zia. Der Ingenieur zur Rechten des Hausherrn ist froh, so oft er das bekannte, frische Bubensicht von unten herauf lachen sieht. Sonst kann er gleichmütig in der fremdesten Gesellschaft tafeln. Aber hier fühlt er sich einfach unbehaglich. Er benimmt sich kalt und gelassen wie immer, redet und antwortet, wie es ihm beliebt. Aber er hat Mühe. Doch sieht das keiner, und seine Art wirkt auf den Broller wie ein Zepter. Dieser Gewaltsmensch kann den Ingenieur einfach nicht wie einen Angestellten, wenn auch einen noch so hohen, behandeln. Es geht nicht. Er fühlt das mit dem Instinkt des Ebenbürtigen heraus. Dem Bert schlug er seine lange, feine Hand auf die Schulter und sagte: »Sie guter vortrefflicher Mensch!« – Aber sobald er die kühle Hand Emils in seiner warmen gefühlt und die knappen Wörtlein auf seinen gewaltig grüßenden Baß gehört und diese zwei Augen gesehen hat, die sich vor seiner nordischen Bläue nicht senkten, wie alle andern Augen, da sagte er halb unwillig: Das ist kein Bert mehr!

Jedesmal, wenn er sich an Emil wandte, änderte er seinen barschen Ton und redete leiser und sanfter mit ihm als mit allen andern.

Links von Broller saß Therese, eine große, steife Figur mit einem langen Kinn und sehr schönen, falschen Zähnen im verzogenen und verbitterten Mund. Die Vierzigjährige war früh aus den weichen, runden Formen der Jugend in das Eckige des Alters gekommen. Aber ihr Teint leuchtete noch braungolden, und ihre Augen waren noch voll sommerlicher Glut. Wenn sie lachte, waren es Walters Augen. Sobald sie aber in sich gekehrt saß und etwas sann, hatten diese Augen einen stechenden und starren Blick. Es war köstlich zu schauen, wie das Erbe von Vater und Mutter aus Walter heraussah. Er lachte wie Mutter und grollte mit den Brauenbögen wie Vater. Hell wie die Mutter sang er, aber redete tief wie der Vater. Sein Teint war der mütterliche, aber den runden Kopf hatte er vom Vater. »Wem schlägt er nach?« fragte sich Emil. »Der Mutter wohl; denn bedeutend sieht er nicht aus.« – »Und wem schlägt er nach?« fragte sich auch Heinz. »Dem Vater wohl, denn er hat etwas Herrschendes und Siegreiches an sich.«

Neben Frau Therese saßen der Pfarrer Daniel mit den halb zugedeckelten Augen. Ihn ärgerte immer noch das geistreiche Zitat aus Hamlet, das er so hübsch in den Text seiner Predigt geflochten, aber dann auf der Kanzel ganz vergessen hatte. In jedem Fall will er es nun bei Tische anbringen, vielleicht bei der süßen Platte oder noch besser beim schwarzen Kaffee, wo man so gemütlich und geistreich wird.

Nun kam in der Reihe ein totenstiller, dürrer, hagerer, uralter Mann, kindisch im Aussehen, aber unendlich verehrungswürdig wegen seinem Silbergelock und den feinen Greisenzügen. Das war der Großvater Broller, mit dem nur Vater Broller redete, der nichts mehr hörte und wenig von dieser ihm schon fast entflohenen Welt sah.

Ihm zur Seite ißt wie ein Bub so flink und saftig Zia. Sie lacht nicht und hat nicht rote Backen, sondern ist verwachsen und stumm von Kindheit an. Aber dieses Kind trägt ein rührend feines, blasses und gescheites Köpflein, und seine bleichgrauen Augen reden wunderbar. Walter neckt und kost die einzige Schwester mit ausgesuchter Liebe. Er fischt ihr das schönste Stück Kalbsbraten ohne Haut und Fettlappen aus der Brühe, und er wird ihr beim Nachtisch die Hälfte seiner Basler Leckerli verstohlen unter dem Tisch zustecken. Und doch ist er selbst ein arger Schlecker.

An seinem rechten Ellenbogen sitzt der kleine, fünfjährige Ernstli. Drollig lacht das Büblein hie und da zum Pfarrer hinüber und schneidet versuchsweise auch eine Grimasse zu ihm hin. So heillos ernste Leute dünken ihn gräßlich lustig. Daneben schwatzt er immer mit Heinz. Den hat man ja nur seinethalben eingeladen. Der Fant hatte die Sache mit dem Zeppelin erzählt und Heinz seinen alten Gespan genannt. »Wenn die Menschen fliegen«, war das Thema mit Heinz. Das Kind und der Alte phantasierten gleich bunt und ernsthaft, wie man in der Luft einander von Gondel zu Gondel besuche, in drei Minuten schon rufe: Station Miezeler! – und wieder in drei Minuten: Station Absomer! – und wie man Krähen und Habichte fange und auch etwa zwischen ein paar nicht zu dunkeln Wolken wie in einem Wald Versteckens spielen könne. Leicht flogen die zwei Phantasten aus dieser dumpfen, schweren Gesellschaft ins Blaue hinauf.

Zwischen Heinz und Emil saß die Frau Pfarrer. Sie redete leise, beim kleinsten Worte schon die Stirne runzelnd und das Schnäuzchen der Oberlippe kräuselnd. Jedesmal, wenn ihr Emil die Platte bot, sagte sie: »Danke, merci!« Und sowie eine Pause im allgemeinen Gespräch eintrat, spann sie mit Frau Therese gegenüber das Thema von den verschiedenen Waschpulvern für Weißzeug fort. Aber immer mit dem geheimnisvollsten Tone. Die Hauswirtin schrak dann aus dem ihr eigenen dunklen, unguten Hinbrüten auf, währenddem alle Heiligkeit ihres knochenhaft festen und gesunden Bauerngesichts weiß Gott wohin entwichen war. Jetzt lebte sie wieder auf und horchte. Blankin? – Nein, das bräunt nach und nach den Stoff. – Kridolin? – Nun, für dickes Linnen geht das an. Aber feinere Tücher, wie die gestickten Herrenhemden Walters, ertragen es nicht.

Und indem sie Walter nennt, blickt sie den Tisch hinab zu ihrem Liebling. Starr betrachtet sie ihn, ihr eins und alles, wie er so mit Appetit ißt, dazwischen lacht und wie alles schier göttlich an ihm ist. Sie ruht auf ihm aus und sättigt sich an ihm wie auf einer Weide und vergißt darüber alles andere. Dabei blüht sie vor schönem Mutterstolz auf. Aber je länger sie hinstarrt, um so brütender und dumpfer wird schon wieder ihr Blick. Schattige Gedanken kehren zurück, daß der Junge nicht ihr allein gehört, daß er auch andere Menschen liebt, und daß er die Mutter nicht mehr küssen will, dem Vater aufs Wort, aber ihr nur gehorcht, wenn's ihm selber behagt. Und wie grob und roh geht er oft mit ihr um! Und nun wird er älter und noch freier und zieht bald ins Weite. Ach, wie er jetzt ist, sollte er bleiben, immer, so groß, so schön, so jung und so abhängig von ihrem Tisch! O Gott, das wäre lieb! Aber man entzieht ihn ihr. Ja, ja, das merkt sie gut. – Immer unheimlicher und kränker wird ihr Ausdruck. Argwohn, Mißtrauen und das bittere Gefühl, daß sie da nichts machen kann, zerstören den Glanz ihres Teints. Unsagbar verwüstet und unlieb sieht sie jetzt aus.

»Aber das Calzidol?« lispelte die Pfarrerin und legt eine süße Melodie ins Wort, »das Calzidol wird Ihnen blendende Hemden geben und greift sogar Trikotseide nicht an.«

»Sooooo!« macht Therese abwesenden Geistes. – »Aber sagen Sie, ist Walter nicht groß und stattlich?«

»Ein Prachtsbursche!« lobt der Pfarrer für seine Frau und vergißt, wie er dem zerstreuten Tunichtgut noch jüngst im Unterricht sagte: »Da stehst du, lang wie eine Hopfenstange, und weißt wieder nichts.«

»Ja, eine Hopfenstange,« spottete Walter jetzt keck. Er vergißt keinen Schimpf. Er weiß, daß er ein Herrensohn ist. »Nur eine Hopfenstange!« wiederholt er, und jetzt hat auch sein blühendes Auge auf einen Moment den stechenden Blick seiner Mutter angenommen. Aber gleich muß er wieder vor übermütiger Schadenfreude lachen.

Der Pfarrer würgt ein Bündel Salat hinunter. Er will nichts gehört haben.

Es kommt kein tüchtiges Gespräch in Gang bei so zersplitterten Leuten. Von der Bergbahn wird nichts gesagt. Das hat der Oberrichter mit Emil vor dem Essen unter vier Augen aus gemacht. Denn die Therese würde ja alles und zehnmal mehr ausschnattern.

Emil erzählt ein weniges von Afrika, wobei Walter immer wissen will, ob ein Herr dort noch Sklaven haben dürfe, – der Broller plaudert von London, wo er sechs Jahre für die Stickerei tätig war, und die Frau Pfarrer wagt endlich ein neues Thema und fragt Heinzen gar sanft: »Ist es wahr, machen Sie wirklich Gedichte?«

Heinz wurde kirschrot. Aber da schoß ihm plötzlich etwas ins Auge, ein Färblein Schalkhaftigkeit, wie's scheue Menschen etwa gleich einem Rausch überkommt, wo's niemand vermutet.

»Siehst du, das ist ein Schriftstellerchen!« lispelt Walter Zia ins Ohr. Aber Heinz kann es gut verstehen. »Die lügen alle so erschrecklich!«

Dem Mädchen fielen fast die großen Augen aus dem blassen Gesicht vor verwundertem Anschauen.

»Ja, er macht Gedichte, Frau Pfarrer,« neckte Emil, »und sehr feine! Und schnell! Und jederzeit wie mit einer Maschine.«

»So machen Sie mir jetzt sogleich eines,« rief Walter halb lachend, halb befehlend.

»Nein, mir! mir!« drängte Ernstli. Er glaubte, es handle sich um etwas zum Spielen oder zum Essen.

»Das wäre nun zu scharmant,« flötete die Pfarrerin.

Heinz hatte sich inzwischen besonnen. »Gut!« sagte er mit einladender Miene. »Wem soll's gelten?«

»Meiner Maus da unten,« rief Broller. Er meinte seinen Liebling Zia. Aber Heinz verstand darunter das Büblein und begann sogleich:

»Wenn ich zehn Jahre älter bin,
Fahr' ich wie Meister Zeppelin,
Nur zehnmal höher und zehnmal toller.
Denn ich bin nicht umsonst ein Broller.«

Alle klatschten. Ernstli aber forderte, Heinz solle sich niederbeugen, er wolle ihm ein Küßchen geben.

Emil biß sich in die Lippe. Sein Heinz war auf dem besten Wege, böse Witze zu reißen. Aber der Broller lachte in gewaltigem Basse und rief: »So, Sie meinen, ein Broller müsse auch durchaus ein Toller sein!«

»Herr Oberrichter,« entgegnete Heinz und streichelte seinen dünnen, zerfaserten Bart, »denken Sie doch an Walters Kletterei jüngst. War das nicht toll?«

»Ja, da sind wir böse über Sie geworden, Herr Ingenieur,« fiel die Mutter langsam und gesatzlich ein. Ihr Blick ward feindselig. »Wie leicht hätte er –«

»Entschuldigen Sie,« unterbrach Emil sie sofort kühl, »Walter kannte ich ja gar nicht. Der lief uns auf halbem Weg nach. Mang warnte ihn. Aber er bestand darauf, und ich hatte da nichts zu befehlen. Ist's nicht so, Walter?«

»Ach was, ich hab's dir doch schon hundertmal gesagt, –wenn du nur hörtest!« schimpfte der Bub mit der Mutter. »Der Mang ist schon gestern wieder –« Hier schob er erschrocken die Hand vor den voreiligen Mund und schielte nach Emil.

»Und ich hab's auch nicht gern, – das weißt du, – daß du immer mit Mang zusammensteckst. So ein Armenhäusler paßt –«

»Kommst wieder mit der alten Orgel,« fuhr Walter blitzzornig auf. »Das ist mein Freund, fertig – da frag' ich dich noch lange nicht –«

»Pst, pst!« machte der Pfarrer verwundert, daß der Vater den Buben so ehrlos gegen die Mutter losfahren ließ.

Aber dem Manuß stieg eine freudige Röte ins Gesicht, als der Name Mang fiel. Es tat ihm wohl, an diesem langweiligen Tische ein so liebes Wort zu hören und dabei an etwas Gutes denken zu können. Dankbar nickte er zu Walter hinab.

»Du bist ja bei der Cäcilie gewesen,« sagte die Pfarrerin zum Gemahl, »wie geht es ihr?« – Sie wollte den leisen Mißton am Tisch auswischen.

Aber Theresens Augen leuchteten beim Namen jenes Weibes noch düsterer auf. Böse sah sie dem Pfarrer auf die Lippen, als wollte sie jedes Wort abzählen.

»Es ist möglich, daß sie doch davonkommt,« tröstete der Pfarrer. »Sie hat ein gar gesundes, starkes Herz.«

»Und dann wird sie den Knecht heiraten,« mischte sich Therese eilig ein.

»Ich hab' ihm das zur Bedingung gemacht,« sagte der Oberrichter sehr ruhig.

»Und er tut es?« mischte sich Emil mit großer Spannung ein.

»Und wie gern!« sagte der Broller gedehnt und spöttisch den Mund verziehend.

»Ich hörte sagen,« fuhr Emil mit leisem Lippenbeben fort, »er habe sich selber als der Vater der Zwillinge angegeben. Ist dem so?« – Jetzt kam's, das Gefürchtete.

Aber Ernst Broller strich über die Brauen, als belästige ihn nur eine Fliege. Schon ist sie weg, und ruhig erzählt er fort: »Wir Richter alle waren mächtig erstaunt, als er so mutig sich zur Tat bekannte.«

»Respekt vor dem Manne!« rief aufrichtig froh der Pfarrer, »er gehört jetzt wieder zu uns ehrlichen Leuten. – Doch, – da sind ja Kinder!«

In der Tat, Walter horchte auf wie ein Luchs. Aber den Blick hielt er ins Tischblatt geheftet.

»Hängen Sie auch dem Walter ein Verschen an,« bat Frau Therese zu Heinz hinüber.

»Ja, lassen Sie hören,« rief auch Broller mit auffallender Lebhaftigkeit.

»Warum auch nicht?« gab Heinz lustig zu. Er fühlte sich nach dem ersten Anlauf immer sicherer auf seinem Pegasus. Es ging ihm immer so.

»Etwas von den Bergen oder von den Rossen!« forderte Walter, mit den Zähnen blitzend.

Heinz besann sich ein kleines Weilchen und deklamierte dann:

»Wo ist der Knab', dem von drei Dingen
Jedes gleich gut mag gelingen:
Den rappligsten aller Rappen reiten,
Zum gipfligsten aller Gipfel schreiten,
Und das schatzlichste aller Schätzchen erstreiten?«

Therese wollte gegen das Schätzchen protestieren, die Pfarrerin ihr Bedenken wegen des gipflig äußern, aber der Angedichtete überbrüllte sie beide. »Das ist grandig,« sagte er im Absomer Bubenstil mit prächtigem Feuer in den Augen. »Das muß ich gleich abschreiben.« – Damit rannte er nach Papier und Stift in die Schreibstube des Vaters hinüber. Zia und Ernstli ihm nach.

»Nun müssen Sie auch einer Dame etwas bieten. Sie dichten ja des Gottes voll!« meinte der Pfarrer. »Was geben Sie unserer liebenswürdigen Wirtin?«

Frau Therese ward etwas unruhig, noch mehr der Broller. Es lagen unverkennbar Spitzen in diesen Versen. Der Kerl war ein verkappter Bösewicht.

Heinz bedachte sich etwas länger und fuhr dann los: »Aber nicht böse werden, Donna Teresa:

Den Wellen, Winden und schönen Frauen
Kann keiner in die Seele schauen.
Dem Teufel wollt' ich mich lieber vermählen,
Dem sieht man doch durch die schwarze Seelen.«

Die Brollerin lachte, daß ihr fast die Zähne herunterfielen. Sie war stolz auf das Lob der Unergründlichkeit. Auch ihr Mann brach in ein so schallendes Gelächter aus, das Ernstli erschien und neugierig an der Schwelle unwissentlich mitlachte.

»Marsch, hinaus!« rief Broller. Das Bübchen verschwand.

Nun endlich konnte der Pfarrer verstanden werden. Mißbilligend wandte er sich an den Verseleimer: »Jetzt werden Sie locker, Herr Poeta, und zügellos, so ganz wie die Modernen!«

»Sag' ich etwa, die Männer seien besser?« fragte Heinz schelmisch. »Hat nicht ein Mann, von dem Sie heut auf der Kanzel gelobredet haben, das Sprüchlein verübt:

Schöner, reifer Frauenleib
Ist mein süßer Zeitvertreib.
Ich letz' am Weib und zehr' am Weib
Bis – –«

»Nein, das ist zu stark,« fiel der Pfarrer hurtig ein und rückte krachend den Sessel. »Herr Ingenieur, was haben Sie da für einen üppigen Vogel?«

Emil hatte nur noch halb gehört, sonst hätte er sicher Heinzen niedergeblitzt. Er war schon lange nicht mehr bei diesem Geschwätz. Ihm brauste noch immer das Wort des Pfarrers im Ohr: »Respekt vor dem Mann! Er zählt jetzt wieder zu uns ehrlichen Leuten.« – Dieser liebe Spruch war dem Manuß wie das Ausspannen der Arme nach einem verschupften und verschollenen Wesen vorgekommen. Hätte Herr Daniel nur noch ein Sätzlein gesagt, so hätte Emil gemeint, diese liebevollen Arme schließen und den Verstoßenen ans heimische Herz drücken zu sehen. – Und das war doch nur so ein Knecht. Im Viehstall hat er sich solchen Heldenmut erhalten! – Da sagt er: »Das ist mein Weib! – das heirat' ich jetzt gesetzlich. – Und hier ist mein Mädchen, das ernähr' ich.« – Zum Teufel, wie großartig! – Und ich – und ich – bin ein ganz gemeiner Schleicher und Feigling – der nicht zur Sache – steht – aber, wahrhaft jetzt, –«

»Hören Sie doch!« dringt der Pfarrer in Emil. »Ihr Dichter da –«

»Nehmen Sie ihn doch ja nicht ernst!« warf sich Emil jetzt mit raschem Geist in die Rede. »Sie müssen wissen, meine Damen und Herren, er prahlt nur, – genau wie ein Kind fluchen hört und Wort für Wort großartig nachplappert.«

Das ist ein sehr originelles Bild, dachte der Pfarrer, und er merkte es sich zur späteren Notiz, indem er heimlich einen Westenknopf unter dem geschlossenen Frack öffnete. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Nicht bloß zwei, drei offene Knöpfe, die ganze aufgeknöpfte Weste mochte er im Sinne behalten.

Aber Heinz fand es an der Zeit, sich zu verteidigen. »Bitte, bitte,« beteuerte er, »das Sprüchlein ist von Hutten, den Sie in der Predigt als Mann des reinen Wortes gefeiert haben.«

Der Pfarrer war wie vernichtet. Das paßte Emil. »Herr Pfarrer,« spann er an und wollte den Faden nicht mehr loslassen, »Sie sagten, man müsse Respekt vor dem Bastian haben, weil er sich zu den unehelichen Kindern so ehrlich bekenne. Ist denn da wirklich so etwas Großes dabei?«

Der Pfarrer nickte. Aber auch dieses Thema behagte ihm schlecht.

»Könnte er nicht,« fuhr Emil hartnäckig fort, obwohl seine Stimme zitterte, »kann er nicht bestochen sein? So was kommt doch auch vor. Um ein paar tausend Fränklein ist mancher tapfer.«

Der Pfarrer hustete verlegen. Seine Frau blickte in den Teller, aber Therese lauerte plötzlich wie eine Katze, indem sie die Hand ans rechte Ohr hielt.

»Gewiß, das kommt vor,« bemerkte der Broller gelassen lächelnd. »Aber bei Bastian täte Geld nicht not. Er stellt der Jungfer seit Jahren nach. Er liebt sie wie verrückt.«

»Dann braucht es freilich kein Geld. – Aber er ward der Brandstiftung angeklagt, und wir, Heinz und ich, haben ihn mit Handschellen am Bahnhof gesehen. Nun spricht man ihn los. Er ist selig, die große Schuld ist weg. Eine kleine, die niemand strafen kann, nimmt er jetzt leicht auf sich. Sie sagen ja, er liebe das Weib. – Gut, – da gibt er sich sogar gern schuldig. Sie wird gesund, er kann sie heiraten, alles Unebent ist glatt. – Und da mein' ich denn, Herr Pfarrer, gar so respektabel groß sei diese Leistung nicht.«

»Es ward ihm erleichtert durch die Verhältnisse, – zugegeben!« nahm der Pfarrer wieder das Wort; »und belohnt ward er durch die Güte unseres Herrn Gastgebers. – Das ist alles wahr! – Aber Respekt muß man doch vor dem Manne haben, dabei bleib' ich. – Wie viele Kinder gibt es in den Waisenhäusern der ganzen Welt, zu denen sich kein Vater bekennt! – Haben wir nicht an Mang ein Beispiel? – und,« – er sagte es sehr ungern, aber seine echte Liebe für die von der selbstgerechten Welt Verworfenen ließ ihn nicht mehr zurückkrebsen, – »und der Vater ist meist ein reicher und vornehmer Mann, der nur aus Stolz sein Kind für ein ganzes, entehrtes, namenloses Leben totschweigt.«

In Gottes Namen, dachte er, komme was wolle, gesagt ist's!

»Gewiß, mein Knecht verdient Respekt,« sagte Ernst Broller feierlich und mit der Ruhe eines Steins.

Doch Emil meinte aufspringen und sagen zu müssen: Sprecht nur, mich meint ihr! – Aber die andern waren selber erregt und bemerkten nicht, wie ein glühendes Rot das zarte, längliche Gesicht des Manuß überblutete.

Er sammelte sich ein wenig und erklärte dann: »Aber gesetzt, so ein reicher Mensch, wie Sie sagen, Herr Pfarrer, weiß nichts von einem wilden Sprößling. Auf einmal, nach Jahren, erfährt er es durch eine Fügung, und zwar so tüchtig, daß er nicht eine Minute daran zweifeln kann. Und nun soll er in seinen Ämtern und Würden und vielleicht in seiner jetzigen Unbescholtenheit zu einer Dirne gehen und sagen: Dein verlottertes Kind da ist auch mein Kind. Ich zieh' es auf! – Geht das nicht weit über seine Schuld hinaus?«

»Er wird zahlen,« sagte der Broller geringschätzig, »das ist das einfachste.«

»Das ist wohl nicht die edelste Lösung!« meinte Herr Daniel. »Aber das Gesetz steht ihr zu. Und es gibt, glaub' ich, den Kindern den mütterlichen, nicht den väterlichen Namen.«

»Und so kann alles geheim bleiben,« endigte der Broller unverfroren.

»Allein,« stritt Emil entrüstet weiter, »wenn ein solcher vornehmer Vater, wie Ihr immer sagt, nun wirklich den Buben – oder das Mädchen zu sich nähme! Wäre das nicht noch respektabler gehandelt, als wie sogar dieser Bastian getan hat?«

»O so etwas kommt nicht vor!« erklärte der Broller zuversichtlich.

»Aber es wäre heldenhaft,« gab der Pfarrer mit nicht gerade heldenhafter Stimme zu. – Er kannte alle Gerüchte, die sich um den Broller spannen, besonders die wegen der Cäcilie. Und er wußte, daß der Oberrichter sein Wort wie eine Anklage in diesen herumgemunkelten, unsauberen Dingen verstehen und gegen sich auslegen konnte. Und er verdarb es nicht gern mit dem Mächtigsten. Aber das war die helle Seite seines Charakters, der Getretenen und Gedrückten sich anzunehmen, selbst wenn er seine wohlgepflegte Haut dabei ein wenig in Gefahr brachte. – Freilich verwünschte er leise wohl zum zehnten Male diesen Ingenieur, der mit einer so seltsamen Setzköpfigkeit dieses heillose Thema aufrollte. Wenn er so ein Tischgespräch vorausgesehen hätte, wahrhaft, er wäre nicht erschienen, – er hätte Katarrh oder Christenlehre vorgeschützt.

»Gewiß, Herr Oberrichter, das könnte doch wohl einmal vorkommen,« sagte jetzt der Manuß, ohne auf die sorgenvollen Mienen Heinzens zu achten. Immer heftiger redete er, wie man es an ihm nicht gewohnt war, und versprühte dazu ein solches Feuer, daß man ihn immer wieder anblicken und immer wieder wie geblendet sich abwenden mußte. – »Da ist doch dieser Mang von der gleichen Person erzeugt. Niemand weiß mehr, als daß es ein leichtsinniger – schwerer – Studentenstreich – war. – Wenn nun der Vater –« er bleckte die langen Zähne vor Eifer, aber ward immer unsicherer in der Stimme, – »wenn der Vater käme –«

»Hören Sie, so was ist einfach ausgeschlossen,« belehrte der Hausherr.

»Das Leukothyll,« versuchte sich hier mit schüchterner, aber zäher Hausfraulichkeit die Pfarrerin in das ernste Gespräch zu werfen, »das Leukothyll, Frau Oberrichter, ist jetzt –«

»Wascht ihr euere Wäsche untereinander, ihr Männer, – da hilft kein Waschpulver,« – sagte Therese für sich, aber hörbar genug und mit fast irrsinniger Miene.

Man tat, als habe man nicht verstanden. Aber dem Manuß drohte das Herz stille zu stehen.

»Was sagt sie?« keuchte er.

»Ach, sie träumt wieder einmal,« gab der Broller gelassen zurück. »Gebt nichts darauf! – Und du, Therese, stehst jetzt nicht am Waschtrog. Bring uns lieber mal den schwarzen Kaffee!«

Therese ging lachend ab wie ein Kind, das einen bösen Streich gespielt hat und ungestraft und stolz wegkommt.

»Die Sache mit Mang ist mehr als vierzehnjährig,« wandte sich der Broller an Emil zurück. »Da kommt kein Vater mehr. Und käme er, er käme zu spät. Das Waisenamt hat den Knaben, bis er mündig ist, dem Bastian zuerkannt. Gestern abend in der Sitzung. Das ist einstweilen das Natürlichste. Der Ueli wird's ungern haben. In Gottes Namen! – Sie interessieren sich warm für Ihren jungen Gehilfen, das ist schön. – Aber da sind Zigarren! Stecken wir einmal an!«

Heinz beugte sich voller Angst vor. Er sah Emil starr wie eine Statue und blutlos dasitzen, mit zurückgerissenen Mundwinkeln.

Aber von den andern sah das im aufqualmenden Tabakrauch niemand. Eher sah man verstohlen auf Frau Therese. Die klingelte lächelnd mit Tassen und Silberkanne in die Stube.

»Bastian hatte sich bereits mit Ueli geeinigt. Er will auch mit Ihnen noch Fürsprach' nehmen. Sie brauchen ja einstweilen den Jungen noch, nicht?«

»Ja, ich brauch' ihn, – o ja – brauch' ihn – aber vorher – jetzt sogleich – muß ich mit Ihnen reden.«

Und im Satz erhob sich Emil und sah mit so entstelltem, dringendem Gesicht den Oberrichter an, daß dieser den Gast rasch am Arm faßte und in seine Amtsstube hinüberführte.

»Schenkt nur ein!« rief er unter der Türe. »Der Kaffee wird nicht kalt, bis wir kommen.«

»Die Bergbahn,« sagte der Pfarrer bedeutend. Neugierig fragte Therese, was es denn gegeben habe. Diese überlästigen Gäste! Gingen sie doch, daß sie das Ohr an den Türspalt legen und etwas erhaschen könnte! Auch Heinz horchte zur Türe, aber so, wie man etwa vor dem Operationszimmer harrt, wo es um Leben und Sterben eines geliebten Menschen geht.


 << zurück weiter >>