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12

Es gibt viele berühmte und lustige Seiltänze in unsern vaterländischen Bergen, wo einem der Tod mit dem kleinen Finger kalt in den Rücken tupft. Bald ist es eine falsche Gwächte, bald eine verräterische Eisbrücke oder ein Firn, hart und glatt wie Kristall, wo man beim Ausglitschen gleich in die Ewigkeit hinüberglitscht.

Aber das Schlimmste sind doch die Felsen. Da schupft der Tod einen schon mit der ganzen Hand. Ich meine die Felswände mit den spärlichen und spöttischen Handhaben der Natur, einer Wurzel oder einem zermürbten Loch, dann die Steinrippen, die einem die Haut zerfetzen, die Schutthalden, die wie Lawinen beim unvorsichtigen Hüsteln eines Menschen schon in Bewegung geraten, und die Felsbänder von Wand zu Wand, schmal und tausend Meter über dem sichern Erdboden hängend. Keine Katze liefe darüber, auch wenn das Gesimse voll Mäuse wäre. Selbst dein guter Engel macht hier nicht mit; er läßt dich allein gehen.

Ja, diese Felsbänder! – man schwebt zu drei Viertel in der Luft. Oben Himmel und unten Hölle! Aus der Tiefe besehen, klebt man wie eine Fliege an der Wand. Wenn einer falsch greift oder um Zehensbreite rutscht oder den Blick in eine glashelle Tiefe mit kleinen Tännchen, Hüttchen und punktgleichen Kühen unter den Sohlen nicht ertragen kann; wenn einer nicht elastisches, stahlfeines Muskelzeug und Adleraugen für jedes Profitchen mitbringt, zum Beispiel für eine handbreite Rinne, eine vorspringende Steinnase, ein Absätzchen, das schmal wie ein Türsöller aus der Wand schaut; wenn einer das Gewicht seines Leibes nicht beim Klettern wie eine schlaue Katze zu verteilen weiß, so etwa, daß eine Hand immer mit einem Fuß oder einer Hüfte wirkt, ja, daß zuweilen ein Knie oder Ellbogen das Schwergewicht allein übernimmt; – und endlich, wenn einer nicht bei alledem eine gewisse stolze Fröhlichkeit, zu leben und zu sterben, aber dann, wenn's ernstlich an die Knochen geht, einen unverwüstlichen Trotz gegen das Untergehen in sich hat:

dann lasse er das himmlisch freche Spiel da oben und freue sich an festen Stuben, breiten Steigen, hochgeländrigen Treppen und doppelt gefütterten Sofas. – Gigantisch muß sich fühlen, wer sich mit Giganten messen will.

Ja, es gibt viele berühmte Totentänze in unsern Bergen. Köstlich sträubt sich einem das Haar auf der welschen Seite des Matterhorns; man macht sein Testament an der Teufelskante des Piz Roseg, und das Blut will einem stocken vor der höllischen Scharte am ersten Kreuzberg. Man betet um Vogelflügel. Der gelangweilteste englische Knorz bekommt hier sein kurzweiliges Stündchen.

Aber immerhin, das sind Berühmtheiten. Hier ist das Klettern ein Theater, das Stürzen eine Reklame. Du wirst in allen Reisebüchern mit zwei oder drei Sternchen bezeichnet, und der Strick, der ob dir gerissen, kann in einem Museum gegen das Eintrittsgeld von fünfzig Rappen bewundert werden. Auch eifern so viele da hinauf, daß der schwierigste Weg bald bequem für alle ausgetrampelt ist.

Doch viel gefährlichere und heldenhaftere Abenteuer gibt es im Gebirge, das noch abseits von der Bergfexlinie London-Zermatt-Interlaken, nicht im Sonnenschein der Mode und im Orgelton der Agenturdepeschen, für sich still und einsam liegt. Hier gibt es noch keine bekannten Griffe und Stufen, keine gedruckten Anweisungen und keine Überlieferungen, kein klatschendes Parterre und keine Berichterstatter von den Proszeniumslogen Riffelalp oder Mürren aus. So ein Gang ist der Weg zwischen dem fünften und sechsten Silberplattenkopf im Appenzellischen, der Arnigrat im Bernischen und vor allem die Mordfluh im Absomgebiet.

Sie ist lohnend. Auf ihren kleinen, herausfordernden Felsennasen schimmert zauberisches Edelweiß. Nirgends in den Alpen weitum gibt es solche Riesensterne. Sie sind das Ordenszeichen des Überwinders. Keiner kann schwindeln: Ich bin die Mordfluh hinaufgeklettert. Wenn er diese gespitzten, milchigen, scheuen Blumen mit den seidengrauen Herzlein nicht talergroß im Knopfloch heimträgt, so hat er dick gelogen.

Und sie ist gescheit. In einer halben Stunde hat man einen Umweg von zwei witzlosen Stunden wettgemacht. Und kühn ist sie auch. Schräg geht es den senkrechten Wänden entlang auf kitzligen Gesimslein empor. Ein Stück weit fast zu oberst muß man den Rücken katzbuckeln, weil der Fels überhängt. Und wo diese heillose Manier am unbequemsten wird, gerade da bricht das Gesimse stellenweise ab und bietet etwa auf fünfzehn Meter nur noch abgeriffene, kleine Vorsprünge, gerade recht, um mit der ganzen Sohle darauf abzustehen. In seitlichen Sprüngen, den Rücken an der hohlen Wand, muß man sich von einem Absatz zum andern hinüberschwingen. Während des Sprunges klafft eine Tiefe von zehn bis zwanzig schlanken Kirchtürmen unter den Füßen und braust dir der Firnwind in die Hosenbeine. Ein Adlerjäger in blinder Verfolgerwut ging erstmals diese Strecke. Seitdem sind immer etliche Verwegene die Mordfluh gegangen. Aber man kann sie an den Fingern zählen, es waren immer die sechs oder sieben gleichen, unsterblichen. Das Lob dieser Auserlesenen ist in aller Mund. Man wird nicht sagen, Werner Hocher, der am eidgenössischen Schützenfest Revolverkönig geworden ist, – oder Walter Broller, der am Manöver die rote Armee zum Sieg geführt hat, – oder Ernst Eisenhut, dem sechshundert feine, weibliche Hände täglich ganze Ballen Spitzchen ins Haus bringen, nein, das sagt man nicht, obwohl Soldatenspiel, Schießen und Gold drei hohe Trümpfe in Absom sind. Nein, in alle Ewigkeit wird man sagen: der Ernst oder der Walter, der die Mordfluh hinaufkletterte! Das ist mehr als Schützenkönig, Millionär und Armeekommandant; das ist, gleichsam der Sieg über den Tod.

Es ging langsam vorwärts. Die Wand wurde senkrecht. Man meinte über den See hinauszuhängen. Es prickelte einem die Beine herauf, wenn man eine Dohle über sich aus den Felsrinden hinaus in die schwindelige Luft fliegen oder einen Stein unter den Schuhen sich lösen und ins Leere schnellen sah. Wie klein war die Welt da unten und wie erbärmlich das Menschengewimsel! Nicht einen Ton von den Millionen Schreihälsen vernahm man hier. Die Erde konnte so gut wie ausgestorben sein. Denn erloschen war jede Menschenspur.

Nach und nach legten sich blaue Dünste über die Täler. Je mehr man stieg, um so weiter rollte sich das Flachland vorn im Norden gegen den Horizont aus. Die jenseitigen, niedrigem Berge im Westen versanken, und man sah darüber hinaus schon die langen, matten Linien des Jurazuges. Darob braune und violette Nebel und dann gleich die rote Sonne. In einer halben Stunde wird sie zu Bette gehen. Solche Aussichten von der Höhe hatte Bert seinem Kollegen genau geschildert. Er hatte mit keiner Farbe übertrieben.

Aber genießen konnte man diese Herrlichkeiten nicht. Zu nahe lauerte der schwarze Tod. Der schiefe, schlüpfrige Fries, den man jetzt beging, wurde schmäler, die Luft wilder, der Wind lauter, die Wand schroffer. Es nahte die Ecke, wo der Fels sich vorwölbte. Dort, gerade hinter dem Bug, begannen die Luftsprünge.

»Das ist ja eine alpine Teufelei ohnegleichen,« dachte Emil und kämpfte gegen einen leise aufsteigenden Schauder. So hatte er sich den Weg denn doch nicht vorgestellt. Ein Gang für beherzte und kühle Steiger, jawohl, aber dann sicher und ohne Gefährde. Aber die Tour da war eine Tollheit und schien ihm je länger je mehr ein unverantwortliches Unternehmen. Wie er doch nur so kurzsichtig hineinrennen konnte! Und er war doch der Anstifter! Hier konnte er nicht einmal für sich selbst gutstehen. Und nun lag ihm die Verantwortung für zwei junge, prächtige Burschen noch auf dem Buckel. Hätte man ihn doch gewarnt! So, wie man's tat, hat man ihn eher gereizt. – Aber, fällt ihm ein, indem er die behutsamen Tritte vor und hinter sich hört, das sind doch zwei liebe und interessante Kerle, die da den entsetzlichen Weg mitgehen, weil er ihn geht! – Wie würden ihre Leute zittern, wenn sie die Lieblinge da in der Luft sähen!

Eine Bergschwalbe flog von einem Steinerkerchen weg und ließ dabei ein bißchen Schutt herunterrieseln. Gerade zwischen Mang und Emil ging das Staubbächlein in den Abgrund. Mang sah zurück, was das wäre. Da flackerten seine Augen aus dem getüpfelten Gesicht mit einem Stolz und mit einer angespannten Kraft, die ihn wunderschön machten. Aber er war furchtbar blaß.

»Steht einen Augenblick! Kannst du's auch, Walter?« rief Emil.

»Ja!« tönte es ruhig von hinten.

»Und mein Apparat?«

»Ist gut versorgt!«

Wie urweltlich diese Stimmen im großen Bergschweigen erklangen!

»Was meint ihr,« fragte der Manuß und fühlte sich in dieser Einsamkeit und Gefahr fast brüderlich mit den zweien, »sollten wir doch noch zurück? – Oder werden wir's gut bestehen?«

»Habt Ihr Schwindel?« sagte Mang statt einer andern Antwort und beobachtete den Ingenieur scharf.

»Gar nicht!« erwiderte Emil errötend. »Aber die Sache sieht viel schlimmer aus, als ich mir ausgemalt habe.«

Walter lachte hell und leichtsinnig. Mang zuckte nur die Achseln.

»Um mich habe ich nicht Angst. Aber –« Emil staunte selber über sich, daß er so reden konnte, »aber um euch.« Seine Stimme zögerte. »Es kann hier passieren, was will, so bin ich daran schuld. – Ich könnte das nicht aushalten – und –«

»Macht Euch doch keinen Kummer,« fiel Walter von hinter gutartig ein, »ich bin wohlauf!«

»– und ich fiele mit euch – hinunter, – das ist sicher!«

Walter lachte leise zwischen den Zähnen. Aber Mang sah aufmerksam auf Emil, der jetzt sprach: »Ihr seid noch zu jung – und versteht das nicht. Aber, glaubt mir, für meine Ehre gäbe ich keinen Batzen mehr.«

Da er das sagte, ward er rot und schlug die Augen nieder. – Meine Ehre! – Log er nicht? Lag diese Ehre nicht da unten am See oder – ach was!

»Ist Euch das so ernst?« fragte leise Mang, und etwas Freundschaftliches spielte nun zum ersten Male aus seinen Auge zu Emil hinüber.

»Das kannst du mir glauben,« gab Emil fast rauh zurück »daß ich hier nicht spaße. Vorwärts denn!«

Er wollte nicht zeigen, wie wohl ihm die kleine Freundlichkeit getan hatte.

Walter pfiff eine Walzermelodie zwischen den Zähnen. Der sonnige Bursche hatte noch keine Ahnung von Gefahr und Sterben. Emils Ernsthaftigkeit kam ihm beinah' lächerlich vor.

Mang gelangte nun hart an die Ecke, Emil blieb scharf hinter ihm. Jetzt stiegen graue, dünne Nebel auf. Der Wind orgelte um die Felsen, bald mit tiefem Baß, bald mit kleinen, scheltenden, spitzen Pfeifen. Emil fühlte, daß er hier der Schwächste sei. Aber mit der Gefahr wuchsen ihm Mut und Umsicht. Was ihn quälte, waren die Vorwürfe, die man ihm wegen der Burschen machen könnte. Darum hatten alle ungläubig gelacht und Witze gemacht, wenn er von der Mordfluh gesprochen hatte. Im Ernste hatte niemand sein Wort genommen. Aber Mang, der verdammte, wunderliche Kerl, hatte Ernst gemacht. Bestimmt, sollte ein Unglück geschehen, dann lag Emil nichts mehr am Leben. Was er heut' da unten erfahren hatte, nahm ihm schon ordentlich den Appetit. Settens Brief war auch nicht aufmunternd. Käme noch ein Unglück dazu, dann würde es gerade genug sein.

Ängstlich folgte er jeder Sohle Mangs. Dieser Junge nahm in seinem Denken wider Willen einen immer breitern Platz ein. Nichts Drolliges und Flegelhaftes zu seinen Jahren hatte er bisher gezeigt. Ernst, verschlossen, widerhaarig und stolz wie ein König in seinen nach Schafmist riechenden Zwilchhosen – nein, so was hatte Emil noch nie gesehen. Dieser Jüngling war ungewöhnlich. Sein Blick enthielt Unaussprechliches, so klug, tief und düster war er. Auf einen solchen Sohn dürfte man wohl stolz sein, dachte Emil. – Aber was ist das? – Ich werde mich doch nicht in einen Schafhirten vernarren!

Oben an der Ecke kehrte sich Mang halb um und rief: »Ihr! – paßt jetzt auf! –« Dann schwang er sich mit seinen langen, schlenkernden Beinen um den Erker und war verschwunden.

Sobald der Manuß den Buben nicht mehr sah, packte ihn Angst. Geschmeidig rasch schlich er das dünne Gesimse hinauf, mit Händen und Füßen tastend und sich an der Wand verstemmend. Jetzt bog er um die Steinnase. Ein heulender Wind riß ihm die Mütze vom Kopf. Im Ringelreihen tanzte sie durch die glasige Luft hinunter.

»Schaut jetzt nicht hinunter! Kommt flink da weg!«

Gottlob, Mang lebte! Er lehnte mit dem Rücken am Felsen, der sich hier wie das Chor einer Kirche im Halbrund wölbte, und hielt beide Hände flach an die Wand. In drei Sätzen hatte er schon einige Gesimslücken übersprungen und stand jetzt auf dem vierten, etwas bequemern Vorsprung.

»Was sagst du?« rief Emil. Der Wind fraß jedes Wort von der Lippe weg. – »Gebt acht, wie ich's mache, und bleibt erst auf meinem Platz da stehen! – Sagt's dem Walter!«

Emil nickte. Er hatte keine Silbe, nur die gescheiten, redenden Augen des Jungen verstanden. Der preßte Lippe auf Lippe, machte einen strengen Blick gegen den Berg und wiegte sich dann, immer den Rücken am Felsen und das Gesicht in die gähnende Leere hinausgekehrt, elastisch in den Hüften hin und her, einmal, zweimal und schwang sich beim dritten Male auf den nächsten schuhbreiten Absatz hinüber. Aber ohne Verweilen, im gleichen Schwung wiegte er sich auf den sechsten, siebenten, achten Vorsprung, wo er stillestand und mit Befriedigung sah, wie Emil ihm alles genau nachmachte bis zum vierten Absatz.

Nun tauchte auch Walter an der Kante auf, schlank wie eine Schlange, den Mund halb offen und die Augen voll Neugier. Er grüßte lachend in die Rundung hinein, wo die zwei Begleiter starr wie die Heiligen in der Kirche von Mattli, – Sankt Ulrich und Sankt Jakob – hoch auf den Wandsöllern stehen. Das war wirklich zum Lachen. Emil schrie ihm fast zornig hinüber, daß er sogleich die Kante verlasse und es genau wie sie mache. Gleichzeitig setzten er und Mang die fatalen, wiegenden Seitensprünge fort. Einen Augenblick später rasteten alle wieder, jeder auf seinem knappen Kapitäl und sahen wie an die Wand geheftet aus. Jetzt waren es alle drei Heiligen des Chores in Mattli, der schmucke junge Hauptmann Sankt Sebastian war auch zu seinen himmlischen Kollegen gekommen.

Da verging auch dem Walter das Lachen. Bei diesem luftigen Abenteuer hörte doch alle Gemütlichkeit auf. Aber das Pfeifen zwischen den Zähnen konnte er nicht lassen.

So ging es nun ein ewiges Viertelstündchen lang, kaltes Windblasen die Hosen hinauf, Schneeluft in der Nase, jede Zehe und jeder Finger auf Tod und Leben gespannt und die Augen voll Sehnsucht nach dem grünen Ranft oben an den nahen Zinnen der Wand und nach seiner göttlichen Sicherheit gerichtet. Dort winkte die Alpe.

In dieser Viertelstunde lief dem Manuß das ganze Leben durch den Kopf. Tausenderlei sah er, alles schnell und hell wie Blitze: seinen hitzigen, ihn verhätschelnden Vater, den geduldigen Lehrer Heinz, die Jahre des Bierzipfels und der Zigarette, die Tollheiten und Gescheitheiten am Polytechnikum, dann die Zelte am Kongo, Barkenlieder der Neger, das belgische Welschen, die langweiligen Hafenplätze, die Heimkehr, Setten, Berts Mixturen, die Hebamme, den Pfarrer von Absom, den Alten am See, die Cäcilie und vor allem Mang und immer wieder Mang. Das ist dein Sohn! schrie der Wind, rauschte der gottlob magere Wasserfall zwischen dem achten und neunten Absatz, krähten die Dohlen, sang und befahl das laute Blut hinter seiner Stirne: Das ist dein Sohn! Vierzehn Jahre hat er auf seinen Vater gewartet, vierzehn verachtete Jahre neben einer schandbaren Mutter! – Und du hast nie daran gedacht, bist ruhig und stolz gewesen. Und hier oben kommt er dir jetzt in den Weg und führt dich in den Tod. Das ist Rache! – Das ist Strafe! – Hast du's etwa nicht verdient? –

Man rutscht und schwingt sich halsbrecherisch weiter. 's ist einem immer, man stecke mit einem Bein schon in der Ewigkeit. Wie ein Wunder sieht es aus, daß noch keiner in die Tiefe fiel. Bei jedem Sprung hinter und vor ihm nimmt es Emil den Atem, bei jedem Sprung ist ihm dreimal schwerer, als wenn's nur um sein Leben ginge. Ganz naß ist sein Kopf vor Schweiß. Also, es gibt eine Verantwortung, eine, die einem den Schweiß ausdrückt und das Herz schier sprengt!

Verschwindend tief unter ihnen gähnt eine Kluft auf. Darin ist etwas Weißes, Gekrümmtes, wie ein Kreidestrich auf dunklem Schiefer. Wohl ein Wildbach. Wer da stürzte! Bis zum Jüngsten Tag würde er nicht gefunden, so tief und unzugänglich sieht es aus.

Die grauen Nebeltücher steigen an den Wänden immer höher, aber die scharfe Bise Nordwind zerreißt sie immer wieder in Fetzen. Im Westen geht die Sonne bald unter. Es sickert ihr Blut nur noch tropfenweise aus den matten Wolken am Horizont. Entsetzlich lärmt der Wind. Welche Stimmen er hat! Stimmen von Kindern, die winseln wie Hündchen, und von Wahnsinnigen und von Zornigen und von Spöttern. Und alle diese gellenden Stimmen scheinen zu rufen: »Haben wir dich jetzt?« – Dann wieder sind es die Stimmen aller seiner Bekannten, die langsame von Heinz, die hohe von Mang und Cäcilie, die ehrwürdige des Pfarrers, die keifende des Hüttenalten, der Choral von gestern, die kreischende Hebamme, das Gesumm Bergknöpfels, – aber zuletzt wird dann immer das verstörte Geschwätz durch die wilde Jungfer am See überschrien: »Heute abend um acht Uhr! – Heute abend um acht Uhr!«

Ist dieser Abend gemeint? – Der Abend und die Nacht da unten im Abgrund? – Die Hochzeit mit dem Tod? – Herrgott im Himmel!

Es nützt Emil nichts, daß er sich einen Toren schilt und sich zehnmal sagt: »Die Angst macht dich kindisch! du hast Fieber, du phantasierst! Sei doch stramm!« In diesen vom Sturm kahl und nackt gescheuerten Felsen ist ihm, die Winde lüften auch seine tiefste Seele aus und entblößen sie in ihrer ganzen Nacktheit. Scharf wie die Steinzacken und Gründe sieht er seine Kälte und Unbarmherzigkeit, die Ungerechtigkeit und vierzehnjährige Lüge ein, in der er bis heute so brav lebte. – »Du hast Fieber, das Bertsche Fieber,« wiederholt er sich, »schäme dich!« – und im nächsten Augenblick fügt er bei: »Gutmachen, Manuß, gutmachen, ehrlich sein!« –

Er gibt jetzt doppelt acht auf jeden Tritt. Das muß in Ordnung kommen. So elend bin ich nicht. Ich will meine Sachen gerade haben. Nur jetzt leben, nur jetzt! Eine große Arbeit fängt an!

So oft er auf den stolzen und aufrechten Mang vor sich schaut, möchte er rufen: »Mang, ich habe ein Geheimnis für dich! – Droben erzähl' ich's dir! – Aber ich könnte jetzt sterben! – Also, du bist –« Dann brüllt der Wind wieder alles nieder, und es kommt eine neuer Sprung auf Tod und Leben.

Mit den klebrigen Händen klammert er sich am Stein fest. Nur jetzt nicht sterben! – Nie hab' ich's nötiger zu leben! Wichtigeres steht mir bevor, als den Absomer in Schienen zu legen.

Wie weit geht es noch? Bravo, Mang ist bald oben. Aber warum bleibt er jetzt stehen? Auf einem so kleinen, entsetzlichen Absätzchen! Sogleich überspringen sollt' er's! – Hei, er lehnt den Kopf hintenüber an die Wölbung und ist kreideweiß.

»Mang! – Mang!«

»Könnt Ihr eine Minute warten?« fragt der Bub tonlos, ohne den Kopf zu wenden. »Es geht schnell vorüber!« – Er stiert an den ganz nahen Zinnenrand über sich, von dem die Alpgräser wie grüne Strahlen fast zum Greifen in die graue Luft hinausblitzen.

Emil bedeutet Walter, stille zu stehen, sobald er guten Stand fasse. Er selber kann von seinem Vorsprung aus nicht näher zu Mang. Es ist kein Sims dazwischen. Mit der Hand kann er ihn nicht erreichen. Stöcke, Seile, selbst das Sackmesser haben sie als hinderlich unten gelassen. Der Manuß kann nichts tun, als stille stehen und zuschauen, wie dieses stumpfe, wachsweiße Näschen die Nüstern auf- und niederbläht und ein Räuchlein bei jedem Atem hervorstößt. Schroff und herb ist das Gesicht, die Märzenflecken sind verschwunden. Die Augen hat er geschlossen, um den Schwindel nicht zu sehen, der ihm die Füße drehen will. Zwei- bis dreimal kommt ein schwaches Stöhnen aus dem weißen Munde. Das rote Haar ist gesträubt.

»Mang, mein lieber Mang!« schreit Emil. »Halt aus!«

Mang probiert zu reden. Aber er ist jetzt am übelsten daran. Kein Wort bringt er fertig. Er stemmt sich noch fester ins Gefels.

Wie schön ist er! Wie ein kalter, schneeweißer Engel aus einer andern Welt, bis zu den Fingerspitzen schneeweiß. Am langen, schlanken Hals, der wie ein Halm aus dem Hirtenkittel schießt, hängt der runde, rothaarige Kopf hintenüber an den grauen Fels gelehnt. Wie zu Stein geworden, haftet er am Stein, ein junger Held Prometheus. Und jetzt, wo etwas wie halber Tod sein Gesicht unendlich scharf herausmeißelt, jetzt sind seine roten Krausen, seine blauen Lippen, seine Kindernase, seine niedrige Stirne und sein kleines, rundes Kinn und die dunkelroten Brauen und langen, dunkelroten Wimpern, das alles ist jetzt so rührend, unschuldig, märtyrerhaft, heilig anzusehen.

»Mang! Mang!« ruft Emil mit einer Stimme, die er seit Jahren nie mehr so weich gehört hat. »Halt' dich fest! Mut, Mang! – Es geht vorüber!«

An sich oder an den jungen Broller im Rücken denkt Emil nicht. Und doch ist es wahrhaft kein Spaß, ruhig auf diesem schuhbreiten Felsplättlein zu stehen. Aber jetzt gilt nur Mang. Das ist sein Sohn! Von nun an weiß er's sicher. Dieser ernste Augenblick kann nicht lügen. Seine ganze innere Natur fühlt sich dort hinübergezogen, wo sein Fleisch und Blut steht. Er empfindet eine unsagbare Liebe, etwas Neues, noch nie Verspürtes. Es ist nicht Leidenschaft, wie er sie auch schon fühlte, nicht wie Kameradschaft oder Begeisterung für einen jungen, mutigen Burschen, es ist einfach die Liebe eines Vaters zu seinem herrlichen Kind.

»Wenn er nur leise schwankt,« nimmt sich Emil vor, »sich ein bißchen vorneigt, – so spring' ich über, umfass' ihn im Falle, küss' ihm die Lippe und stürze mit ihm. Und im Fallen werd' ich sagen: ›Das ist dein Vater, der mit dir stirbt.«‹ –

Es ging noch keine ganze Minute vorüber. Aber eine solche Minute hat auf keinem Zifferblatt der Welt Platz.

»Lieber Mang,« unterbricht der Manuß die Stille wieder, »wie ist dir?«

Zerquält und erschüttert blickt er auf den Jungen. Es ist nicht an den Himmel zu malen, was er leidet. Eiskalt weht hier die Luft. Aber Emil glänzt übers lange Gesicht von tausend feinen Schweißtröpfchen.

Endlich öffnet Mang die Augen und sagt deutlich: »Es bessert!«

Nie hat Emil ein schöneres Wort gehört. Er redet nicht mehr ein, er horcht – was Gutes wird Mang gleich wieder sagen?

Da bröckelt und klirrt hinter Emil ein Steingeriesel nieder. Er schielt zu Walter. Man kann sich ja nicht richtig umdrehen. Mit purpurroter Verlegenheit sieht der Broller einem fallenden Stein nach.

»Was machst du da? Hast du Angst?« fragte Emil streng.

Walter lacht leise und schüttelt den Kopf. Er lehnt sich auch an die Wand, aber hält die rechte hinter den Rücken.

»Halt' dich doch besser!« befiehlt Emil.

»Ja, ja!« macht Walter ungeduldig.

Wie der Manuß sich gegen Mang kehrt, blickt der schon frischer drein und sagt mit tapferer Stimme: »Jetzt geht's wieder!« – Seine Nasenspitze ist zwar noch weiß wie eine Kerze aber der Bub hat doch wieder Leben. Er biegt sicht wiegt sich und ist in ein paar Sprüngen drüben am letzten Felsband. Ohne zurückzuschauen, schleicht er noch die zehn Schritte am Band hinauf und stürzt sich oben durch die Luke in die grüne Alpe. Von unten meint man, er renne und versinke im blauen Abendhimmel. Denn es ist da nichts als der graue Felsschnitt wie ein Tor und dahinter Himmel zu sehen.

Mang lag, als Emil ihn erreichte, nur drei Schritte vom grauenhaften Rand im kurzen, bronzefarbenen Gras der Alp auf dem Rücken. Seine Brust ging schwer auf und nieder. In seinen Wimpern hingen große Tränen. Er war wie entkräftet und ausgelöst am Boden und weinte leise. Nichts ringsum schien er zu sehen oder zu hören.

Emil kniete neben ihn, nahm den roten Krauselkopf in seine Hände wie in zwei weiche Schalen und drückte ihn an sich.

Aber diese Zärtlichkeit war Mang so fremd, daß er augenblicklich zu sich kam. Mit Augen voll Scham sagte er: »Laßt, laßt! –« und wie er noch Walter nahen sah, stieß er Emil fast hart von sich. Doch sogleich bat er, wieder ganz Kind in der Stimme: »Ich schäme mich heillos, Herr! – Ihr hättet wegen mir verunglücken können. Was denkt Ihr jetzt von mir, – sagt, was?«

Ängstlich sah er Emil und Walter in die Augen. Aber er fühlte sich so blöde, daß er liegen blieb.

»Glaub' schon, daß dir schlecht worden ist,« schimpfte Walter und verbarg etwas hinter dem Rücken. »Wisset, Herr Inschenier, er hat rein nichts gegessen in der Plättlihütte.«

Mang nickte. »Es war mir dort nicht ums Essen.«

»Und nichts getrunken als Wasser. Da muß einem blöd und übel werden.«

»Jaha,« sagte Mang und dankte Walter mit einem schönen Blicke für seine Erklärung.

»Aber was sagt Ihr nun?« drängte Mang aufs neue, als hinge vom Urteil des Ingenieurs seine Ehre ab.

Emil wollte seine Hand ergreifen. Aber Mang entzog sie ihm schnell.

Das kränkte Emil. Trotzdem war er unfähig, sich zurückzuhalten. Mit einer Stimme, die Walter und Mang verwundern machte, einer Stimme schier wie einer Frau, einer Mutter, sprach er: »Ich denke, daß du ein tapferer Mensch bist, ein Alpenheld, – das denk' ich, – – der Walter übrigens auch!«

Jetzt war es Mang, der nach Emils Hand suchte und sie dankbar drückte. Und Manuß dachte, dieser Händedruck sei ein Lohn, so schwer wie alle Angst vorher. Mang lächelte wieder. Seine roten Wangen und seine braunen Flecken kehrten zurück. Er gesundete von Augenblick zu Augenblick.

»Sagt's noch einmal, wenn's Euch ernst ist, auch dem Walter –« bat er gerade wie ein Kind.

»Ja, ein wehrhafter, tapferer Eidgenoß bist du gewesen und dein Freund mit dem Kasten auch!«

»Noch tapferer –! müßt ihr sagen,« verbesserte Mang und setzte sich auf.

»Sie aber auch!« fügte Walter mit seinen lachenden vollen Lippen hinzu.

»Ist das wahr?« fragte Emil Mang.

Der Bub nickte. Zehntausend Könige hätten dem Manuß das sagen können, es hätte ihm nicht soviel wie dieses Nicken gegolten.

Die sanft ansteigende, breite, baumlose Alpe glänzte Emil wie ein Paradies an. Jeder Halm glühte hellauf, und doch war keine Sonne mehr. Er fühlte ganz gut, daß er sein Lebtag noch nie ein so warmes Momentchen gehabt hatte. Und nie hatte er so blankes, fröhliches Gras gesehen.

Zuoberst, fast am Ende der Weide, sah man die drei Absomerhüttlein. Dahinter bald Steinhalden, bald aufrechte Wände. Über sie weg schauten die Felsköpfe der zwei Bergzüge, die sich in einem harten Winkel am Absomer trafen. Der stand wie ein aufrechter Eckensteher mitten im Ost- und Südgebirge, so hoch und so allein für sich, daß man dachte, es gebe hernach nichts mehr, das sei der Dachfirst der Erde. So klar und nah hatte man nun diese gewaltigen Bergmajestäten, daß man sie mit Händen zu greifen oder mit einigen Sprüngen zu ereilen wähnte.

Durchs Gras hörte man ein Bächlein klingeln, ohne es zu sehen. Aus den drei grauen Dächern stieg Rauch auf, nach allen Seiten blau verdunstend. Heimelig tönten einige Kuhschellen, und ein Hund bellte vor dem schwarzen Türloch der mittleren Hütte. Das meiste Vieh stand hinter den Hütten und wurde gerade abgemolken.

»Also wir sind alle drei großmächtige Helden,« spaßte Walter, »aber wo sind die Edelweiß?«

»Ah bah, wer hätte an die denken können!« meinte Emil, immer noch den Jüngling festhaltend.

»Kein Mensch hat uns beim Klettern gesehen. Niemand glaubt, daß wir da heraufkommen.«

»Das ist mir gleich,« sagte Emil.

»Aber mir nicht und dem Mang auch nicht,« schalt Walter laut. »Und drum hab' ich eben doch einige gepflückt. Wißt wo? – dort, wo der Stein herunterfiel und Ihr Augen machtet wie der Mang, wenn er bös' ist. Da sind sie, – gerade drei!«

»Vier!« verbesserte Mang und lächelte die großen, keuschen Blumen an, deren eine Walter zu spät im Ärmel hatte verstecken wollen. Dabei entwand er sich Emils Hand rasch. »Das hat noch keiner geleistet,« lobte er Walter, »so eine heikle Schachtel die Wand da heraufgetragen, Edelweiß gepflückt und dazu immer ein bißchen gepfiffen. Du bist schon ein Kerl!«

»Ganz leicht war's auch nicht, 's ist wahr! ich tät's wohl nicht wieder!« sagte Walter ohne den geringsten Stolz und reichte jedem ein prachtvolles Edelweiß. Aber das kleinste steckte er in sein Knopfloch und das größte von allen behielt er in der Hand.

»Hunderttausendmal Dank!« rief Mang glänzenden Auges.

»Wenn er mir so dankte!« dachte Emil eifersüchtig. Aber ich bin ihm nicht den kleinen Finger von Walter wert.

»Wem ist das vierte Edelweiß?« fragte er Walter.

»Das gibt er einem Mädchen,« fiel Mang ein.

»Weißt du das so sicher?« fragte Walter schon dunkelrot im Gesicht.

»Alle Mädchen mögen den Walter heillos wohl, Inschenier, aber er mag nur eine.«

»Pst!« machte Walter, seine Brauen zückend.

»Und er hat auf dem ganzen Wege nichts anderes gedacht, als das gefährlichste Edelweiß vom ganzen Berg seinem Irmeli zu bringen.«

Emil sah den stolzen Jungen verwundert an. So frühes, ernsthaftes Lieben? Ja, es mußte wahr sein. Wiewohl Walter in großer Verschämtheit zu Boden sah, hatte er doch einer frohen und schalkhaften Ausdruck behalten. Und er war fast wie ein Mann so groß, und schon etwas Reifes lag über ihm.

»Und an was hast denn du gedacht?« fragte der Manuß Mang.

»Ach, das – weiß ich nicht mehr.«

»Aber ich habe zuletzt nur noch an dich gedacht,« sagte Emil so fest und so ernst, daß Mang erschrocken zu ihm hinsah. Dann schritt er schweigend zwischen den zwei jungen Gebirgsmenschen den Hütten zu.


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