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18

Solange es am Kegel hinunterging, hatte Emil Not genug, um einen Fußbreit Platz für sein Leben zu sorgen. Aber durchs stundenweite Getrümmer der Halden schräg ab gab es dann reichlich Zeit, zuerst diesen Buben und dann die ganze Geschichte drum und dran zum Teufel zu wünschen. Alles wollte er jetzt vergessen. Für ihn sollte es keinen Mang und keine Cäcilie gegeben haben. Die Arbeit hurtig fertig machen! Dann fort von diesem heillosen Pack! Wütend schleuderte er die im Wege stehenden Steine mit den Schuhspitzen in die Tiefe.

Als die Felsblöcke weiter unten etwas feiner wurden und in ein Geriesel von Kieseln ausliefen, da milderten sich auch seine Gedanken. Sein mathematisch gerechtes Gefühl rechnete ihm immer wieder vor: Aber er ist halt doch dein Sohn. Da gibt es kein Vertuschen und kein Vergessen. – Und ist es ein Manuß, einen Manuß kannst du doch nicht als Waise und verdingten Knecht hier oben lassen. Mußt ihn doch aus diesen kleinen, niedrigen Anschauungen herausreißen. – Und auch mit der Cäcilie solltest du reden, fügte die gleiche mathematische Gerechtigkeit bei, – das muß alles sauber und genau geschlichtet sein. Du willst doch kein lumpiger Schuldner gegen irgendwen verbleiben. Um keinen Preis!

Gut, ich will auf dem gerichtlichen Weg die Sache ordnen. Mit dem Bub da oben knüpf' ich nicht mehr an. Er will nicht, er muß also!

Emil geriet jetzt ins feuchte, weiche Alpengras. Wie das den Sohlen wohltat nach dem spitzigen Pflaster in der Höhe!

Das ist freilich wahr, kein Fränklein würde er selber an diese Strecke geben. Für keine einzige Aktie will er sich am Sonntag beim Broller verpflichten, und wenn er die zwanzigprozentigen Dividenden schon wie ein goldenes Bächlein daherfließen sähe. Soweit will er dem Mang nachgeben. Der Junge soll sehen, daß ich ein so kühnes Werk leicht fertig bringe, aber daß es mir dabei nicht um schäbiges Geld, sondern um mein Fach und um meine Kunst zu tun ist. Er soll mich achten lernen. So weit bring' ich's hoffentlich noch.

Von der Achtung aber bis zur Liebe ist der Weg beim jungen Volk sicher nicht mehr so lang und mühsam.

»Das Gedicht ist bis auf eine Strophe – doch Ihr blutet am Finger, – und da und da seid Ihr geschürft. Was Teufels habt Ihr angestellt'?« – unterbrach den immer milder sinnenden Manuß an der Schwelle des Hüttleins sein treuer Heinz.

»Ich bin vielleicht zu schnell vom Absomer herabgeklettert. – Fort mit dem Fetzen! Aber einen reinlichen Papierbogen gib und Feder und Tinte!«

Vor den Augen des verblüfften Heinz entstand unter lautem Buchstabieren folgender Brief:

»›Liebe Sette!

Ich mache keine langen und großen Worte, das ist Heinzens Amt –‹«

»Aber Herr Emil!« widersetzte sich der Alte, durchs ganze Herz auflachend.

»›Laß dir einfach sagen, daß ich wünsche und froh wäre,‹« – »nein, das ist zuviel gesagt! –«

»Miggi, lieber, guter, edler Miggi, das mußt du schreiben, das ist tapfer. So schrieben immer die Edelleute der Dame, wenn –«

»Bleib mir mit deiner Phantasterei vom Leibe, Poet! – Also denn: ›Und froh wäre, wenn Du sogleich einpacktest, das Minchen am Arm nähmest und schon am Montag in unsere Absomerberge kämest. Es täte Dir wohl und mir noch viel mehr.‹« –

»Miggi, Miggi! wie schön du das sagst!« rief Heinz immer noch in einem halben Zweifel, ob alles nur ein Zauber sei. »Wie bist du ein Guter! Ich wußte es ja und hab's immer vorausgesagt –« Er stand hinter Emils Stuhl und fuhr dem lieben Herrn, als wäre er noch immer das schmucke, achtjährige Büblein, mit weicher Hand durchs kurze, dichte, braune Haar.

»›Ich hab' Dir viel zu erzählen, – zu eröffnen, sag' ich wohl besser, und bitte Dich schon jetzt, bring' Dein gütigstes und nachgiebigstes Herz mit hierher!‹ – Ist das recht gesagt, Heinz?«

»Frag' mich nicht, es ist einfach wunderbar!«

»Du kannst nur schmeicheln oder grollen, Taugenichts,« hänselte Emil. Dann endigte er:

»›Settchen, Du wirst hier manches Rohe und Bittere finden, aber jedenfalls einen andern, Dir von nun an besser zusagenden

Emil Manuß.‹«

»Ist's dir nun so warm genug, Heinz?« fragt Emil und faltet den Bogen mit geheuchelter Gleichgültigkeit flüchtig zusammen. »So geht's einem, wenn man unter Aufsicht von Poeten schreibt, – Sette wird brav lachen.«

Da Heinz noch immer nichts erwidert, blickt Emil rasch um und sieht in ein vor Freude bleiches, über und über von Tränen betropftes Gesicht hinauf. Heinz drückt umsonst die Fingerknöchel in die Augen, es quillen immer neue, warme Bächlein hervor und gießen ihren Tau in die hundert kleinen Runzeln des Gesichtes und von da in den leise ergrauenden, dünnen Bart. Hilflos in seiner Ergriffenheit steht er vor dem Herrn da. Er versucht zu lächeln, aber das kommt ungeheuer dumm heraus. Da weint er lieber wieder.

»Laß es gut sein!« meint Emil möglichst trocken, aber in Wahrheit von dieser Dienertreue seltsam berührt, und steht auf. »Hast du nichts zu beißen? Wir gehen gleich nach Miezeler hinunter wegen der Unterkunft für Sette und Minchen. Und wenn's langt, können wir noch vor Abend nach Absom marschieren.«

»Da ist noch ein Stückchen Schaffleisch übrig von gestern und –«

»Schaffleisch und immer Schaffleisch,« beschwert sich Emil mit Humor. »Willst du denn durchaus einen Schöpfen aus mir machen?«

»Es ist auch noch Ziegenkäse und ein Teller voll Erbsen da. Wir können ja auch die zwei Thunbüchsen leeren. Soll ich den Bordeaux dazu –« Er sprudelt das hervor und lacht und glänzt in den noch unverwischten Tränen und schneidet eine Küchenfexmiene, gegen die das Wichtigtun der Kollegen im Schweizerhof zu Luzern unterste Demut ist.

»Also Bordeaux und etwas Thunfisch, aber hurtig!« Während Heinz kocht und hie und da mit einer letztlichen Träne die Speise salzt, wirft Emil auf einen Zettel die paar Worte: »Lieber Mang! Ich gehe nach Absom und kehre vor Dienstag nicht zurück. Bei Ueli will ich vorsprechen und sagen, daß ich Dich da oben nun nicht mehr brauche. Warum – muß er nicht präzis erfahren. Eine kleine Aushilfe werde ich mir schon verschaffen. Den Lohn, den ich da beifüge, hätte ich jedem andern auch gegeben. Er ist wohl verdient. – Emil Manuß.«

Er öffnete dann das homerische Buch vom duldenden Mann aus Ithaka, das Mang hier verwahren wollte, da man es ihm in der schmutzigen und neugierigen Hütte drüben, wie er meinte, verunehrt hätte. Die Ilias trug er mit sich. Auf Seite dreihundertdreiunddreißig, wo Telemach gar nicht glauben will, daß Odysseus sein Vater sei, schob Emil Brief und Geld ein, verpackte und verschnürte und versiegelte das Buch und schrieb groß und saftig: »Mang, Absomerhütte« darauf. Dann trug er das Paketchen zu den Hirten hinüber. Mürrisch und schweigsam empfingen sie ihn. Jetzt, da sie den Ingenieur auf dem Gipfel hatten stehen sehen, zweifelten sie nicht mehr, daß die Bahn Wahrheit würde. Vorher war sie ihnen noch immer mehr oder weniger ein altes Fabeltier gewesen. Sie boten den Zweien weder von der frischen Milch noch vom Käse an wie sonst, baten nicht einmal um etwas Tabak und grüßten kaum zum Abschied.

Der alte Melker Hansjürg schaute ihnen von der Hüttenschwelle nach. »Daß ihr Cheiben verfluchte Kerls den Weg da herauf nicht mehr findet,« brummte er; – »he, Mathis, traget den Eimer in die Milchstube!«

Mathis war der noch ältere Käser, ein schweratmiger und engbrüstiger Greis, wie es so viele in der reinen, dünnen Bergluft bei der fetten Milchnahrung werden.

Aber der Meister Kobelkarli saß am fast erloschenen Feuer wild und böse und schnarrte seinen siebzehnjährigen, verwachsenen Buben Moritz an: »Tu dem Mathis die Tür auf, du Maulaff! – Nun habt ihr den Kohli, wißt!«

Mathis wandte sich sorglich mit dem randebenvollen Milchnapf gegen den Alpherrn und murrte und knurrte fast wie ein Hund: »'s ist noch lang nicht Abend.«

»Die Absomer sind falsche Satanen,« wetterte halb zur Hütte hinaus der Melker Hansjürg. »Erst sind's vom Glauben abgefallen und unkatholisch worden. Und jetzt werden sie auch noch unvaterländisch und verhandeln 's Ländli an die Fremden.«

»Pst!« winkte der Meister herein, »müssen sie's drüben in den Hütten hören?«

»Aber alle sind doch nicht so schlecht,« fuhr der Melker fort.

»Nur ist kein Verlaß auf sie. Achtet mal nur am übernächsten Sonntag, wenn in Miezeler unten die gemeinsame Älplerkilbi ist! Wie sie da lachen und fluchen und maulen – und hintendrein kein Wort halten!«

»'s hat auch feste Leut', aber sie sind von den Fabrikanten gebodiget,« sagte der Kobelkarli.

»Regt Euch nicht auf,« ermunterte der Jürg. »Durch die Luft kann kein Dampfwagen fahren, – er muß einfach auch durch Mattliboden hindurch. Aber der ist in unserer Faust.«

»Von Bern können's uns zwingen, die Rät'!«

Da wandte sich Mathis mit dem Napf um und rief: »Alle sieben Bundesrät' nehmen Euch keinen Stein vom Dach, wenn Ihr nur stramm sagt: Nein, nein! ich will's nicht und duld's nicht. – He, paß auf, Moritz 's ist schad um jedes Tröpfchen.«

Moritz war dem zittrigen Alten beim Öffnen der Kellertür an den Ellbogen gestoßen, und zwei, drei fette Milchtropfen fielen zu Boden.

»Da redest du falsch,« entgegnete der Meister. »Nicht bloß einen Stein, das ganze Dach und alles Vieh darunter, wenn es den Hochmögenden so beliebt, und die Alp und schier Luft und Licht unseres Herrgottes dazu markten sie dir mit Geld ab. Es steht doch im Blättli gedruckt, daß der Broller im Nationalrat die Bahn hat erlaubt bekommen. Die Konzessio sei erteilt, wenn's Geld reiche und der Weg gesichert sei, das heißt so gesichert, daß der Ingenieur sagt: die Strecke ist nicht unmöglich. Nicht so, daß man uns etwa lange fragt: Gebt Ihr oder gebt ihr nicht das Land her!« –

Der Käser stand still, und der Atem drohte ihm auszugehen.

»Im Absomer Blättli stand's? – 's ist erlogen!«

»Der Mang hat es uns vorgelesen, Wort für Wort, und die Unterschrift von den Räten. – Und sicher ist's, daß die Absomer schon lang – und unsere Mattler grad so gut, die's angeht, den Boden hinterrücks verkauft haben an die Aktionäre. Der Broller hat genug herumgeweibelt. Und Geld ist Geld, versteht!«

»So verdamm's und verderb's Gott!« keuchte der alt Mathis und schleuderte den Napf voll an die Mauer. Die dicke, süße Milch rann in weißen Bächlein langsam auf der Lehmboden nieder.

»Seid Ihr wieder einmal einer!« schrie der Moritz. »Das könnet jetzt Ihr zahlen.«

»So möcht' ich selber meine Seel' ausleeren an dem Tag, wo die Bahn da zwischen unsern lieben, alten Hütten durchfährt.«

»Aber zahlen müßt Ihr das!« keift der geizige Bub.

»Willst eins aufs Maul, Dreckbub,« fährt da der Kobelkarli auf. »Lock' lieber den Hund her, daß er's aufschleck'! So hat doch der einen Profit von der Bahn.«

Grimmig lachte er und zündete die Pfeife an den Kohlen an. Der gelbe Frischli aber schleckte den Rahm mit Appetit von der Wand und vom Boden auf und konnte bei all seinem kluger Hundehirn doch nicht erraten, wem er dieses Fest zu verdanken habe.

………

Indessen schritten Emil und Heinz von der Hochalpe nieder nach Miezeler.

Es ist etwas eigen Schönes und Herzbequemes, von den Felshöhen wieder talab zu steigen. Man hat das schreckbare Erhabene reichlich genossen und mag jetzt gern wieder dem Trauten und Nestwarmen des Tales sich ergeben. Und es ist wie ein Gang aus einer halben Ewigkeit zurück ins gemütliche Leben. Zuerst kommen die Alpenrosenslauben, die jetzt um die grauweißen Steine und ins Moos eine sanfte Röte werfen und einen sonderbar scharfen Duft, wie aus dem Munde einer schönen, reifenden Jugend verbreiten. Dann kommen die weißen und blauen Vergißmeinnicht, der große Glockenenzian und der kleine Sternenenzian von einer berauschenden Bläue. Darunter mischen sich immer frecher die langen Stengel des gelben, in breiten Radblumen leuchtenden Enzians, aus dessen zähen Wurzeln man einen Schnaps brennt, stark und sengend, daß man damit fast Tote wecken könnte. Knabenkraut, Pfaffenkäpplein, Königskerzen und Windröschen kommen, und schon meldet sich das Gehölze mit kleinen Kieferbüschen, einer verzwergten Föhre, dann aber auf einmal mit einem stattlichen Ahorn oder einer erfahrenen Wettertanne. Nun dunkelt es grünnachtig von dichten, hartversponnenen Tannen. Großes, fettes Kraut wächst dazwischen auf und Halme wie Messer und Nadeln, und das Gezwitscher der Meisen und Finken beginnt. Noch einige Schritte und es surren die Mücken, Bremsen und Hummeln wie ein fliegendes Orchester um dich. Man sieht schon von einem Vorstoß des Abhangs die roten Ziegeldächer und die geraden Wege des Tales in der Tiefe. Und es riecht schon wieder nach Staub und Schwatzhaftigkeit und dem lieben Lirumlarum der Allgewöhnlichkeit bis da herauf. Mit jedem Fußtritt wird einem geselliger und freundnachbarlicher zumute. Halbgemauerte Hütten kommen. Die Atzweid' wird mehr und mehr zur Wiese. Eine Bergkapelle grüßt aus Weißdornhecken und schon funkelt einem ein gedörnter, wilder Kirschbaum seine schwarzen, knallharten Beeren entgegen. Man ist in der Mitte zwischen Gipfel und Tal. Von unten faßt und zieht uns die heiße, runzelige, nervöse Mutterhand des Tales, und von oben hält uns die kühle, reine, schneeweiße Hand des Hochgebirges fest. Man möchte zurück in seine Erhabenheit und doch auch wieder hinab, eilig hinab zu den Menschen.

Hier zwischen dem obern und untern Wald, an aussichtsreicher Halde, liegt Miezeler. Von da schräg weiter durch den Forst geht ein mehrstündiger Weg bis ins End. Ein kürzerer, schroffer Abstieg links an den Wänden hinab führt geradeswegs zum Plättlisee. Da oben im Gras, hinter den Tannenspitzen und Abhängen, sieht und ahnt man nichts von ihm.

Auf dem ganzen Weg bis hierher hat dieser See Verstecken mit den zwei Wanderern gespielt. Einmal sah man ihn am Pfadsaum heraufgähnen, aus schier nicht meßbarer Tiefe. Ein andermal verschwand zwischen Imbeerbüschen und Grasränften jede Spur von einer abgründigen Tiefe.

Emil wollte dem Heinz nun seine Sache mit Mang mitteilen. So oft man das dunkle Wasser wieder aus einem Loch heraufschimmern sah, dachte er: Jetzt tu' ich's. Dann aber geriet man, noch eh' das erste Wort gesprochen war, gleich wieder in eine sehr sanfte, breite, geblumte Weide und Emil konnte sich da einfach nicht offenbaren. Ich warte noch, beschloß er dann.

Während Heinz wie alle Asthmatiker federleicht bergab ging, fuhr es dem Manuß, je tiefer man geriet, immer schwerer in die Füße und aufs Herz. Nicht als fürchte er sich vor Heinz. Tausend Morde wagte er dieser Dienerseele zu beichten. Aber einmal heraus, dann war's Wahrheit: sein Unrecht, die Zerstörung dieses Weibes, das Elend des Dingbuben. Bis jetzt liegt's nur in ihm. Niemand weiß davon. Schweigen und fortgehen, und alles ist wie früher!

Ach, es ist eine unnennbare Erniedrigung, die ihm da bevorsteht!

Und wenn's mir alle Knochen zerbricht, jetzt sag' ichs halt doch, sobald man den See wieder sieht. Der muß helfen. Richtig, da ist er und das Halbinselchen und ein weißer Streifen von einem eben zugefahrenen Schiffe. Jetzt sag' ich's.

Aber auch diesmal geht es nicht. Feig verschiebt er's auf die nächste Gelegenheit. Oder wenn ein Bach käme, der ziemlich laut rauschte, daß man da leichter täte mit der Stimme, so daß man schon ordentlich mit der Beichte im Gange wäre, wenn man aus dem Bereich des Wassers käme, ja dann am liebsten! Aber es kommt jetzt gerade kein Bach, dagegen taucht der See schon wieder auf und diesmal nicht wie's im Fremdenbuch der Krone so häufig steht, »unschuldig wie ein Kindesaug«, sondern eher wie das grüne Auge einer Schlange oder des bösen Gewissens, wie das Auge einer noch nicht eingestandenen, noch nicht gebüßten, schreienden Sünde. Ja so! –

Je tiefer man läuft, um so höher wachsen die Berge und desto schwerer drücken sie auf Emil. Alle ihre Millionen Quadern scheinen jetzt ganz allein auf das kleine Flecklein seiner Brust zu zielen und darauf zu wuchten. Sie dulden einfach keine Falschheit, sie hassen alles Heimliche. In kühner und freimütiger Entblößung, wie sie da aufrecht stehen, so wollen sie auch die Menschen haben. Nicht ausstehen können sie dieses verschmitzte und verdrückte und verlogene Wesen. Wird ihnen einmal das Berglervolk zu listig und verstellt, so sind sie imstande, auf die eigenen Söhne brausende Wasser und tötenden Steinhagel zu schleudern.

Ob sie schön zum Malen und Dichten sind, das geht Emil nichts an. Aber daß sie in diesem Augenblick unbegreiflich auf ihn herabdrücken, etwas furchtbar Belastendes und Richterliches an sich haben, – etwas zum Bekenntnis Zwingendes, das fühlt er deutlich. Sie recken ihre Gipfel: Heraus mit der Sprache, wenn du ein Mann bist!

Es sei. In fünf Minuten ist alles vorüber.

So war's auch. Heinz merkte keinen Deut, was Gewichtiges da kommen wolle. Er horchte und lachte leise. Und dem Manuß ging's im dumpfen Gesumm der Hummeln und im unruhigen Hin- und Herwiegen der Kleeköpfe immer leichter aus den Zähnen. Aber scharf, mit beiden Augen, hielt er Heinzens Miene fest. Er wollte ihn in seiner Gewalt haben. Und da wunderte er sich denn, daß Heinz gar nicht aufschreckte, sondern nur das Lächeln verlor und sein bekanntes, weiches und geduldiges Kaninchengesicht zeigte und womöglich noch kaninchenhafter machte. Es tat ihm wohl weh, was da Emil, der Herr, wieder einmal übel Verübtes erzählte, aber wie einem, der keine Gewalt dagegen hat, als Bitten und Seufzer.

Während Emil bündig und hart erzählte, erinnerte ihn das Gesicht seines alten Freundes, daß er ihm ja in den Studentenjahren oft und nachher auch noch ein paarmal von wilden, verbotenen Nächten berichtet und sich am Entsetzen des harmlosen Zuhörers sogar köstlich geweidet hatte. Bis Heinz sich dieses müde, ergebungsvolle, nur leise protestierende Gesicht angewöhnt hatte, das dem Manuß nach und nach keinen Reiz mehr bot. Warum auch hatte er diesmal solche Mühe gehabt, das Bekenntnis zu beginnen? Die Berge standen in voller Sonne. Sie verloren alles Gewicht.

Aber als er laut sagte: »Mang ist also mein Sohn!« – da fiel dem Heinz der Stock aus der Hand.

Und als er schon nicht mehr so kräftig beifügte: »Und die Cäcilie, die am Sterben liegt, ist seine Mutter,« – stand Heinz wie ein schneebleicher Wachsstock plötzlich still. Und Manuß fühlte wieder: Nein, das ist doch nicht wie die andern Male. Und wieder fielen die Berge wie Zentner auf ihn und hatten schwarze Gesichter.

Ratlos blickte der gute Heinz auf Emil. Also das! Jetzt erst verstand er. Ihm, dem alles sogleich schwer ins Gefühl hinüberspielte, verwirrte sich das Denken. Er sah nichts als Unmögliches und Unüberwindliches und stotterte mit tonlosen Lippen: »Und jetzt? – und jetzt?«

»Heb' erst den Stecken auf und steh nicht wie ein Ölgötz da!«

Mechanisch gehorchte Heinz und trabte neben Emil bergab. Ganz ungeheuerlich ward ihm. Er brachte kein Wort mehr hervor.

So gingen sie längere Zeit schweigend nebeneinander. Die silbergrauen, steinbeschwerten Dächer des Alpdorfes Miezeler mit dem roten Kapelltürmchen winkten schon aus einer Waldlichtung herauf.

»Und darum hast du Sette hergeladen?« unterbrach endlich Heinz die Stille.

»Doch eben darum!«

Das war dem Manne, der an einem achtbändigen Werk über den Menschen und seine Zusammenhänge mit der Natur und dem Unsichtbaren schrieb, etwas geradezu Unfaßliches.

»So bitte ich dich jetzt, telegraphiere, daß sie nicht kommt!« sagte er furchtsam.

»Nein, gerade jetzt brauche ich Sette.«

Wieder Stillschweigen und tödliches Erstaunen bei Heinz.

Aber nach und nach bekam er eine gewisse Ordnung in die Sache. Sein gutes Herz regelte: Emil müsse jedenfalls gutmachen, also zuerst mit dem Weib, dann mit dem Jüngling ins Gerade kommen. Aber nur Setten bis dahin aus dem Spiel lassen, sonst wird alles zweimal schwerer!

Emil blieb fest.

»Du mutest ihr zu, ein Engel zu sein; und du bist nicht einmal immer ein passabler Mensch!« hielt ihm Heinz vor.

»Sie soll nur kommen und mich recht lieb haben. Dann wird sie auch gern diese böse Geschichte schlichten helfen. Ja, mit der Cäcilie wird sie vielleicht besser fertig, als wenn ich auch mittue.«

»Nein, Miggi, so weit treib' es aber nicht! Das geht über eine Frauenkraft.«

»Du kennst die Frauen nicht. Du hast sie immer verhätschelt.«

»Und du hast sie immer auf den Schemel gedrückt.«

»So tief!« – Emil hielt die Handfläche fast zu Boden.

»Haben wir jetzt Zeit zu spotten?« flammte Heinz auf.

»Sette wird in Zukunft neben mir sitzen,« sagte Emil mit ganz anderem Tone. »Ich habe viel gelernt in diesen Wochen und mehr durchgemacht, als du in einem Buche schildert könntest. Dafür muß sie nun auch etwas tun. Das schwierigste Teil Arbeit werde ich doch auf mir haben. Mit Mang wird's harzen.«

»Das glaub' ich nicht! Jubeln wird er, daß er nun endlich einen Vater hat und einen, der es offen sagt. Ganz anders wird er nun gegen dich sein. Herr, du mein Gott, ich begreif's immer noch nicht recht, – du, sein Vater! Du! – Der wird seine grünen Äuglein auftun!«

Aber Emil jubelte nicht mit. Er sah schärfer und finsterer ins Morgen. Als man gleich ins einzige Gäßchen von Miezeler kam, eigentlich mehr ein Kotbächlein mit großen Steinen und Farnbüscheln als Inselchen, da war die Sache für ihn noch nicht im reinen.

Das Häufchen Hütten mit dem schlauen Namen Miezeler ist überhaupt ein Rätsel für den Wanderer. Es stellt seine kurze, einseitige Zeile von Wohnungen gegen Nordost, in die luftige Aussicht gegen das Tal hinab und zum Ländchen hinaus. Trotz des Kotes vor dieser Front und trotz der possierlichen, schwarzen Ferkelchen, die darin lustwandeln, gebärdet sich Miezeler doch als Dörfchen. Ein Dorf ohne Poststempel, aber doch ein Dorf. Hätte es sonst ein Kirchlein mit brandrotem Dach und einem säulenbestandenen Vorhof? – Rechts davon steht ein lose und locker gebautes, rohes Bretterhaus, die Kaplanei. Aber vier Fenster und ebenso viele knallgrün gepinselte Fensterladen sind daran, eine verschließbare Türe und sogar ein Kaminrohr auf dem Dach. Nun, ist das ein Dorf oder nicht? – Die Wirtschaft links mit dem rostigen Säbel über der Stalltüre und den fünf, sechs Wandlöchern bildet weise den baumeisterlichen Übergang zu den andern Häuser, einfachen Sennhütten, deren niedriges Dach hinten in die Halde gebaut ist, aber vorne gegen das Gäßlein dreimannshoch über die Schweinchen emporstrebt. Es riecht in diesen Häuschen genau wie im Stall oder in der Tenne, und den Boden bildet die eine allgemeine, von breiten Holzschuhen festgestampfte Mutter Erde. Dennoch ist Miezeler ein Dorf. Denn neben der Käserei und der Milchkammer und dem Viehstall besitzt jede der neun Hütten den königlichen Luxus einer Menschenkammer. Längs der einen Wand liegen Matratzen mit Laubkissen und hänfenen Decken. An der andern Wand läuft eine Bank hin und hängt das Bild der heiligen Margaret, einer hübsch gekräuselten Jungfer, die mit einem unbeschreiblich niedlichen und koketten Füßlein dem beschuppten Drachen auf den Schweif tritt und dazu so frisch lacht, wie wohl nur Himmlische bei solchem Abenteuer noch lachen können. In den protestantischen Hütten, die den Absomerleuten gehören, sieht man dafür den Konfirmationshelgen und etwa noch eine Landschaft in goldener Sauce. – Aber in allen fünf katholischen Mattlerhütten und in den vier evangelischen steht zumitten ein wackeliger Tisch mit einem Schieferblatt zum Jassen und Trumpfen. In den Ecken hängen die Sonntagskleider und auf dem Schnitztrog stehen Becken voll geronnener Milch oder in Windeln geschlagene junge Käse, die vielleicht bald nach Amerika reisen müssen, aber einstweilen noch duften und stinken dürfen, jeder auf seine Art. Zu den Fensterlöchern herein schaut untertags oft glotzäugiges Vieh und hetzt ganze Schwärme Fliegen in die Kammern, daß es da innen zu Mittag dumpf und doch schrill wie eine Trauermusik tost. Aber man schelte und zucke hochmütig die Achseln, soviel man will, das sind und bleiben Kammern, und Miezeler ist doch ein Dorf.

Natürlich nur im Sommer. Im Oktober vernagelt man die Fenster und Türen und zieht ins Tal, die Katholischen in ihr dunkelhäusiges, laubenreiches und hochgiebeliges Mattli, die Evangelischen in ihr stolzes, weites Absomerdorf. Und in der Traulichkeit der geheizten Winteröfen, der Christbäume und Fastnachtschlitten in Mattli denkt niemand an das schneeverschüttete, leblose Miezeler hoch in den Bergen. Aber im Mai, wenn das Vieh Alpengras wittert und die vielen Bergbäche eisfrei und kristallen ins Tal hinunterjauchzen, dann zieht es die Miezeler wieder in ihre Alpenvilleggiatur hinauf. – Seit die Mattler eine Kaplanei errichtet haben, gibt es auch Fremde droben, vier oder fünf. Die schlafen im Pfrundhaus und essen im ›Degen‹ und lernen ohne Schuhe und Kragen und Hut mit aufgekrempelten Ärmeln und ungekämmtem Haar wieder langsam der uralten, wahren, nach dem Lehm der Schöpfung riechenden Menschenart nahekommen.

Hier wollte Emil seine Frau unterbringen.

Der Kaplan sei im ›Degen‹, hieß es.

Dort in der Gaststube saß wirklich der rotbackige, riesenhafte, beleibte Mann mit dem rabenschwarzen Haar und dem breiten, samstäglich glatt rasierten Kinn. In dem fleischigen Gesicht versteckten sich sozusagen zwei dunkle, kleine, grundgütige Augen. Rote, frische Lippen wie ein Kind und eine ganz faltenlose Stirne hatte der Riese. Vor ihm auf dem Tische stand ein Häfelchen mit Wein, und daneben wiegte sich ein schlankes Bürschchen in den Zwanzigern mit munterem Gesicht und hoher Stimme wie eine Jungfer in den weichen Hüften auf und ab. Dieser junge Mann trug ein Bockbärtchen und glinselte mit zwei großen, braunen Augen wie mit Spiegeln im Gesicht herum. Unter der Kellertüre stand Jochem, der Wirt, ein scharfmauliger, alter, gerader Mann von eckigen und magern Formen. Sein Kopf war kahl, sein Gesicht fein rasiert, aber schwer behaart die offene Brust und die entblößten Arme, mit denen er nicht nur die schwersten Käse allein aus dem Kessel schwang, sondern auch den rostigen Wirtshausdegen wie ein alter Kämpe führte.

»Einen Halben Veltliner!« befahl Emil und suchte im küchenartigen Raum eine Stelle zum Sitzen.

Die drei brachen ihr eifriges Gespräch wie mit einem Messer ab und starrten unverfroren den Ingenieur an. Der Geistliche am längsten. Sie hatten von Emil schon viel gehört und ihn auch etwa vorbeigehen sehen. Aber so nahe von Gesicht zu Gesicht in einer Stube hatten sie ihn noch nie betrachten können. Jochem wischte langsam zwei lehnenlose Stühle ab und winkte die Gäste ans Fenstertischchen. Der Wein war kühl, stark und gut, das Brot schneeweiß, der Käse fett und gelb wie Butter. Die beiden aßen sich tapfer den Hunger weg, den man in dieser zehrend scharfen Bergluft fast gleich nach Tische wieder kriegt. Kein Wort redeten sie.

Als die drei sich die Ankömmlinge satt angesehen hatten und nichts mehr bei ihnen zu holen war, verfielen sie wieder in ihr abgebrochenes Gespräch.

»Den Staffelsepp muß ich haben,« bestimmte Jochem. »Einunddreißig Jahr' bin ich hier und er hat immer vorgegeigt. Ohn' ihn ist's nicht wie Kilbi!«

»Sind gut vier Wochen, daß der Vater keinen Ton mehr spielt,« wehrte der junge, schlanke Mann ab. »Er ist halt zu krank. Das Zeug ist ihm in den Kopf gegangen.«

»Krank ist er nicht, hintersinnen tut er sich allein wegen dem Ältesten. Ah bah, nehm er d' Geig' und streich er sich den Ärger vom Holz!«

»Hast leicht sagen, Jochem. So was sitzt tiefer innen.«

»Du sagst doch, das Gericht habe den Bastian freigesprochen und auf ledigen Fuß gestellt. Gut also!«

»Mangels rechtskräftiger Beweise,« brummte der Kaplan.

»Man kann's ihm nicht beweisen, daß er gefeuerlet hat. Aber eineweg, wer's gern glaubt, darf's doch glauben.«

Emil wurde jetzt aufmerksam. Da sprach man von einem Bekannten. Aber im nächsten Augenblick sollte ihn das Gerede noch viel enger berühren. Denn der Degenwirt entgegnete fest: »Das macht alles nichts. Dein Bruder hat sich als Vater von Cäciliens Zwillingen bekannt, selber, ohne Not, ganz offenherzig. Das schafft ihm Freund'. Denn er hätte nichts bekennen müssen, wenn er nicht wollte. Das Weib im Armenhaus schwieg wie ein Stein, und alles Gerede, der Bastian habe ein Verhältnis mit ihr, war nur Vermutung. Aber Vermutung gilt nichts vor Gericht.«

»Wahrhaftig, so ist's,« bestätigte der Kaplan.

»Aber nun ist ein kräftiger Unschuldsbeweis da: der Broller hat den Knecht wieder in Dienst genommen, sogar zum Oberknecht gemacht! Versteht ihr das? – Den Brandstifter nimmt man doch nicht ins eigene Haus auf.«

Bastians Bruder schüttelte den schwarzen Flatterkopf.

»,Also das sind deine Zwillinge?‹ hat der Bezirksrichter vor Broller und zwei Zeugen gefragt. – ›Ja,‹ sagte Bastian munter. – ›Könnt Ihr's mit einem Eid beschwören?‹ wundert's den Richter. – ›Herzhaft!' meint der Bastian. – Darauf der Broller: ›Das offene Wort sollst du nicht umsonst gesagt haben. Du kannst von heut ab mein Oberknecht sein.‹ – So geht's im Land um. Wie ein Märchen! Aber es ist so, der Bastian ist freigesprochen, Brollers Oberknecht, und geht als Vater im Waisenhaus aus und ein. Ja, so ist's!«

Respektlos trotz all dem Bewiesenen lachte der Schwarze. »Oberknecht bei Broller! Hahaha!«

»Hansbartel, du darfst nicht lachen. Das ist eine Ehrenrettung, für die man Gott danken muß,« redete der Kaplan auf ihn ein. »Und die Cäcilie wird er nun heiraten, dann ist alles gut auf gehoben.«

»Im Sarg!«

»Jaaaaa – wär's so weit?« machte Jochem ungläubig.

»Das ist eine Krankheit, wo man siebenmal stirbt und siebenmal aufsteht. Die gar! 's ist ein Wunder, wenn sie nicht heraufkommt und mitkilbenet.«

»Nein doch, das wär' ein Ärgernis ohnegleichen!« wehrte der Kaplan.

»Kurz und gut, mein Vater kommt nicht. Extra hat er mich zu Euch geschickt. Sag' nur, ich sei schwersinnig worden –«

»Das war er immer, so ein bodenloser, bedenklicher Grübler,« beruhigte der Geistliche.

»Sei schwersinnig worden, trug er mir auf zu sagen und würd' euch Walzer streichen, daß ihr die Ohren verhieltet.«

»Dann schau' ich selber nach und hol' ihn, fertig!« entschied Jochem. »Aber die andern kommen sicher?«

»Die wohl! – Der Baßgeiger, der Pfeifer, der Trompeterpauli und Balz mit dem Hackbrett.«

»Zeitig sollen sie kommen. Um zwei Uhr fangen wir schon an, wenn's Wetter recht tut.«

»Aber um einen Vorgeiger –«

»Laßt mich machen! Und hockt morgen über acht Tag' dein Vater nicht dahier mit seiner feinen Geige, so will ich an der ganzen Kilbi Kröten essen.«

Staffelsepphannes trat, seine üppigen schwarzen Locken verschüttelnd, an den Fremden vorbei in die Sonne hinaus vors Türlein. Große, ungläubige Augen machte er. Es war ein kleiner, aber geschmeidiger und schöner Kerl, er glich mit seiner südlichen Augenpracht und seinem Haar und gelben Gesicht eher einem Italiener. Ganz so hatte der Bastian ausgesehen, nur länger im Aufbau und unfrei an Händen und Füßen.

Heinz war umsonst besorgt gewesen, Emil würde vor Aufregung sich in das Gespräch mengen und es ins Ungute kehren. Nein, Emil wunderte sich gar nicht über diese Berichte, so neu sie waren, und so innig sie mit seinen eigenen Schicksalen zusammenhingen. Wenn er doch Tag und Nacht an diesem einen Faden spann, der von ihm um Mang und Cäcilie lief, so war es ihm nach und nach ganz natürlich geworden, daß er auf Schritt und Tritt andern begegnete, die auch ein kleines Fädlein aus diesem Hauptfaden zogen. Er kümmerte sich im übrigen so wenig um das Gehaben der Umgebung, als ob sein Leiden und sein Wohlbefinden allein in der Welt stehe. Da begriff er denn wohl, wenn er einmal aus dem Fensterlein seiner Eigenliebe herausguckte, daß die andern auch so oder so in sein Leiden oder Frohsein ein bißchen verwickelt wären. Von einem Verhältnis des Knechtes mit der Cäcilie hatte er mehrmals ein Geflüster und Gewisper gehört, – ebenso wie man dem Broller die Zwillinge hatte in die Schuhe schieben wollen. Auf all das gab er, der Verächter aller Klatschmäuler, rein nichts. Aber verwunderlich war es nun doch, wie dieser erste Mensch, den er im Ländchen gesehen hatte, ihm so nahe und verwandt tat, der gleiche Sünder ist er worden. – Und nun war er gerade auch beim Broller, dem Oberrichter und Hauptaktionär der Bahn angestellt. Es war schon heillos merkwürdig, wie sie alle unter einem Schicksal standen: er und Mang und der Bastian und die Cäcilie und der Broller. Wie klein ist so ein Ländchen! Eine Schaufel Erde, und so wenig Leute haben da Platz, daß sie alle fast miteinander verwandt sind, und wenn sie etwas Liebes oder Übles tun wollen, gleich mit den Ellbogen aneinanderstoßen.

Eine große Überraschung hatte es für ihn gegeben in der Plättlihütte. Die hatte ihn fast umgebracht. Nach ihr spürte er die kleinen Überrumpelungen des Zufalls so arg nicht mehr. Wie dumm sah doch Heinz eben mit seinen aufgesperrten, grauen Augen aus! Wie der nach jedem Wort des Jochem schnappte und dabei fast Asthma kriegte und dann Emil zunickte, weich, tiefsinnig, glänzendfeuchten Blicks, wie ein Prophet! Aech, dieser feierliche Lappi!

»Gelt, Mirakel auf Mirakel!« spottete Emil. »Notiere doch!«

Strafend blickte Heinz von Emil weg.

Kaplan und Alpwirt sahen den unbetrübten Staffelsepphannes noch ein bißchen in der Sonne stehen und mit den magern Fingern in dem blauschwarzen Schopf wühlen. – Er bedachte sich noch ein wenig. Sollte er wieder hinein? – Der Vater spielt ganz sicher an der Kilbi nicht auf. – Nicht wegen dem Zuchthausschatten auf dem Bastian, – das schon auch! – und nicht wegen der Cäcilie, – sondern wegen etwas viel Stärkerem. – Hannes ist sonst leichtblütig und hat nur Wein und Walzer in den Füßen. Und so sind auch die Mattler zumeist. Aber bei solchen Sachen wie denen zu Hause hört denn doch einmal das Spaßen auf.

Mit zu Boden gesenkten Augen geht der Staffelsepphansi links in die Weid' hinunter gegen den Plättlisee, um von da noch vor Mitternacht beim trübseligen Alten anzukehren und zu sagen: »Sie glauben es dir nicht. Mußt einfach geigen!« – Dann wird der Greis in der verlotterten, nur von Mannsbildern bewohnten Stube irgendein Gerümpel auflesen, am End' gar die alte, staubige Geige, die sonst so wohl singt, und ihm mit verstörten Augen das Instrument an den Kopf werfen.

Jochem und der allgroße Geistliche ließen den jungen Mann mit ihren Augen nicht los, bis er unten an den Ränften verschwand. Zu unterst hatten sie ihn wieder pfeifen hören. Dann blickten sie sich vielwissend an, wie zwei, die das gleiche denken, aber nicht verlautbaren mögen.

»Dem Springinsfeld wär' so ein Streich eher zuzutrauen gewesen,« murmelte endlich leis und vorsichtig der Älpler.

»Der Bastian ist ernst und schwerblütig wie der Vater,« entgegnete der Kaplan. »Er war bei mir christenlehrpflichtig und konnt' sein' Sach' gut aufsagen. Weiß noch wohl, wie ihm der Judas Makkabäer gefiel, da er den Syrerkönig zusammenschlug. Aber auffahren und wütend konnt' er werden wie ein Muni Stier. Dann war er wieder treu und stet wie kein zweiter.«

»Ein Feuer konnt' er schon im Zorn anzünden, ja!«

»Aber die Cäcilie hat er ganz offenbar geliebt, ohne Hehl'.«

Da gab es nichts zu verschweigen, als daß die eitle Schachtel über ihn weg auf Höhere sah.«

»Genug, Hochwürdiger, gut Tag!«

»Gut Tag!«

Jochem ging in die Küche, und der Kaplan erhob sich und ging oder tappte vielmehr wie ein Bär mit gewaltigen Schritten zur Gäßleintüre. Jetzt erst ward einem der stämmige, breitklaftrige Mann in seiner ganzen Größe und Schwere offenbar, als er gebückt mit drei einzigen Schritten zur Schwelle lief. Da rief ihn Emil an: »Herr Kaplan, ich möchte Sie um einen großen Dienst bitten.«

Der Geistliche lüpfte die kleinen Wölklein seiner Brauen, die im hellen Himmel seiner runden, weißen Stirne so possierlich hingen, ein wenig in die Höhe und etwas Unfreundliches und Verdrießliches verdunkelte leicht das heitere Äpfelbackengesicht. – Dienst! Dieses Wort ist ihm in der Seele zuwider. Da kommen sie immer: Herr Kaplan, einen Dienst! – Herr Kollega, einen Dienst! – Und er soll in der Nachbarskirche predigen und amten am einzigen freien Sonntag, den er im langen Jahr hatte erlisten können. Einen Dienst! – Herr Kaplan! – Der Verleger des Samstagsboten von Mattli und oft auch der Redakteur vom Absomerblättli ersuchen ehrerbietigst um einen Artikel über die Einweihung der neuen Schützenfahne mit nachherigem Preisschwinget – oder über den Besuch des Bischofs mit Ansprache und Gedicht der Väter Kapuziner im Kloster – oder über die letzten Ausgrabungen in der Blaubärenhöhle mit den kolossalen Urmenschenknochen oder was Kuckucks. Und zahlen natürlich nicht einmal das Porto! Und wieder: Herr Kaplan, einen kleinen Dienst! – Und da betteln sie ihm das wenige Geld ab, das er selber so hart braucht. Und selbst in den paar Wochen hier oben verfolgt ihn das unverschämte Wort. Einen kleinen Dienst: und da soll er stundenweit ein Steinhüttchen besegnen, weil der Schafhirt meint, die Geister gehen darin um, – oder er soll einen Touristen unterhalten und ihm den Weg zu den Edelweiß zeigen, aber wie auf einem Pantoffelgang! – Oder jetzt soll er die Sprüche der Absomerpfarrer dichten, die das Wildweib dann deklamiert. Einen Dienst, einen Dienst, und immer das, was er von Amts wegen gar nicht müßte, wollen die Leute von ihm. Und gar wenn so vornehme Herrlein und Fräulein kommen und so süßliche Augen machen und mit zuckeriger Stimme sagen: »Hochwürden, einen kleinen Dienst! – Ich bin so unruhig, so, so, so ganz in geistlicher Verlassenheit – so, so, so, ach, wissen Sie, so im innern Zwiespalt, – so wie von brausenden Geistern umstritten – ach, ach!« – Du gewaltiger Herrgott der Berge, – da könnte er fast die Zunge über den Boden ausspucken vor Ekel über all dieses dienernde und Dienste heischende Geschmeiß aus der Stadt.

Aber seine Brauenwölklein verloren ihre Gewitterstimmung und legten sich wieder bequem auf den fetten Augenwulsten nieder, als Emil sehr ruhig erklärte, ob in der Kaplanei noch eine leeres Zimmer wäre. Er möchte es mieten. Verköstigen könnte man sich ja wohl hier in der Hütte.

»Wirtschaft,« verbesserte der eben eingetretene und mithorchende Jochem.

»Ein Zimmer für Sie?« fragte der Kaplan und zog aus dem grünschimmeligen Frack eine Schildpattdose.

»Nein, ich bin meist auf der Alpe oben.«

»Für wen denn?« fragte der andere barsch.

»Für ein Frauenzimmer.«

Unwirsch verneinte der Kaplan. Ewig und unzerstörlich diese Frauenzimmer! – Nein, für die hatte er keinen Platz übrig.

»Es sind nur vier Zimmer,« sagte er und stopfte die Nase mit Schnupf voll, »im ersten schlafen Herr und Frau Fehr, im zweiten der Maler Hitz, im dritten hustet die ganze Nacht der kranke deutsche Redakteur Gabriel Josephy, und im vierten wohnt meine Wenigkeit.«

Eine schöne Wenigkeit! dachte Heinz belustigt.

Aber der Geistliche war wieder in drei gleichen Schritten zum Tischchen getreten und hatte sich gegenüber Emil gesetzt, als müsse sich doch immer noch über die Möglichkeit der Miete reden lassen.

»Dann freilich darf ich keinen Platz für meine Frau beanspruchen, entschuldigen Sie!«

»Ihre Frau?« rumpelte der Kaplan hervor, und eine angenehme Enttäuschung malte sich in seinen klugen, kleinen, fast ins Fett verschlüpften Äuglein.

»Aber vielleicht ließe sich etwas herrichten zur Not,« wandte sich Emil an den Alpwirt, »nur etwas ganz Einfaches. Arbeiter brächte ich schon herauf. Vielleicht hier in der Wirtschaft.«

Die zwei staunten. Wie leicht der Mann da so eine Sache nahm! An dieses alte Bild der Wirtschaft oder Kaplanei so im Vorbeigehen, für ein paar Tage, etwas Neues anzimmern. Donnerwetter! Wo wir glauben, es sei alles hier so gewesen und müsse so bleiben, die Berge, die Steindächer, die Pfützen und die rauchigen Kammern.

»Pressiert es denn?« fragte der Kaplan.

»Am Dienstag abend muß alles in Ordnung sein.«

Was ist das für ein bestimmter Mensch! Wie der aufs Ziel geht! Unglaublich.

»Nun also,« fährt Emil fort, »heut nacht kommen noch die Bretter und Balken und Zimmerleute herauf und gleich können sie –«

»Am Sonntag wird nicht gearbeitet, Herr Ingenieur!« betonte der Kaplan. »Wir sind hier nicht unter Heiden.«

Aber Emil sprach kaltblütig weiter, und das wirkte wie ein kühler Guß auf den Priester und den Wirt: »Am Montag also wird rüstig gezimmert, und ich schicke ein paar Möbel herauf – bis Dienstag abend wird doch eine Baracke mit Bett und Stuhl an eine Euerer Wände genagelt sein!«

Vor einem Manne, der so sicher redet, als nähm' er's gerade vorab aus dem Ärmel, kriegen die zwei Alpleute immer schwerere Hochachtung.

»Aber den alleinigen Frauen,« wirft nun der Kaplan ein, »wird es hier immer langweilig. Der Maler und der Redakteur und die andern zwei sind keine passende Gesellschaft für Ihr Weib. Das geb' ich Ihnen zu bedenken.«

»So ganz allein ist sie nicht. Ich komme oft da herab, und sie bringt das Töchterchen mit. Und,« etwas Lustiges huscht einen Moment über das harte Gesicht, zuletzt noch auf den braunen Schnauzzipfelchen verleuchtend, – »und sie selber behilft sich schon den Tag hindurch. Sie ist ja an Langeweile gewöhnt.«

Dazu fragte er Heinz mit den Augen: »Ist's wahr oder nicht?« – Der errötete vor Verlegenheit.

»Ein Töchterlein!« rief der Kaplan.

»Neunjährig.«

»Dann freilich muß es Platz geben,« versprach der Kaplan, und ein breites, fettes, herzgutes Lächeln blieb auf seinem Gesichte stecken, als hätte es eigentlich schon lange dahin gehört.

»Seine Dame und sein Kind, ja, ja, kann mir's denken, mag so ein Stadtherr bei uns rauhen Menschen und Bergen nicht lang entbehren. Ein paar Tage wohl. Aber wenn's in die Wochen geht und nie heißt: Papa! oder mein Fraueli und Schatzli! – verfriert so ein Mannsbild da oben. Jawohl!« – Er lachte so verschmitzt und unschuldig, wie ehelose Leute lachen, wenn sie Witze über Verehelichte verbrechen.

Dem Manuß war bei diesen Worten, wiewohl er ein Lächeln hervorzwang, recht bitter zumute.

»Ja, Herr Ingenieur, Ihre Frau und Ihr Mägdlein sollen Sie da oben haben. Wißt ihr alle mitsammen, was? – Nichts einfacher: ich tret' mein Zimmer ab und lieg' hier im Tenn'.«

»Welch ein guter Mensch ist jetzt der wieder,« dachte Heinz warm, »sicher, es gibt viel mehr gute als böse Menschen auf Erden.«

Emil war über das Anerbieten beschämt. Das könne er doch nicht annehmen, nein. Er danke, aber – Nichts da, er hab's so wollen, jetzt müss' er's eben so nehmen, versetzte der Kaplan. Ein Bett und ein kleines Kanapee sei schon da. Nur den Schreibtisch und ein paar Bücher wolle er herübernehmen. Geh es dann im Degen zu kriegerisch zu, so trag' er das Möbel in die Kapelle hinüber und studier' und schreib' dort seine Predigt. Der liebe Gott werd' nichts dawider haben.

»Aber zahlt Ihr mir auch einen schönen Batzen?« spaßte er, unter dem Türrahmen sich bückend, und zeigte die weiße, flache Hand wie ein Empfänger. Zwischen den Schweinchen und Ziegen wandelte er dann hoch und schwerschultrig, den gemähnten Kopf zu den Gipfeln gereckt, wie ein Riese an dem Kapellchen vorbei zu seinem Pfrundhaus. Aber vor dem Pförtlein der Kapelle lüpfte er das Samtkäpplein vom Scheitel und bog den massigen Rücken ein bißchen. Denn Patronin Margret, die Heilige, war noch eine ganz andere Riesin gewesen.

»Ist er aufs Geld versessen?« fragte Emil den Wirt.

»Seid Ihr's etwa nicht?« gab der rasch und bissig zurück. »Meßt Ihr umsonst da oben? – Und auch ich wollt' mich verwahren, wenn Ihr meinen guten Veltliner nur mit einem Vergelt's Gott! zahlen wolltet.«

»Ihr habt ein scharfes Maul,« sagte Emil halb ernst, halb scherzend. »Was kostet der Imbiß?«

»Pressieren müßt Ihr nicht. Ich hab's nicht darum gesagt, versteht! – Der Wein sechzig, zweimal Brot und Käse macht noch sechzig, und eine Landjägerwurst dreißig – gradaus fünfzehn Batzen,« – rechnete der Wirt und wollte auf den Zweifränkler herausgeben.

»'s ist schon gut,« erklärte der Manuß.

Darauf strich der Jochem das blanke Silber in den weißledernen Beutel, zog die Schnüre fest zusammen und schlang einen doppelten Knopf. Dann versenkte er das Säcklein so behutsam in die tiefste Tiefe seiner Hosentasche, als ob er Zeit seines Lebens hart am eigenen Leibe erfahren habe, wie man nichts ist und nichts gilt und nichts vermag und keine schöne Stunde und keinen Mut und kein sicheres Herz hat ohne diese runden, kleinen weißen und gelben Teufelchen im Sack. So ein Herr hat gut über Geiz losziehen. Aber wenn er um ein Fränklein durch haushohen Schnee waten müßte, wie er als junger Küherbub, oder wenn er für fünf Rappen per Liter ein Faß Wein da herauf spedieren sollte, oder –

Doch Emil unterbrach ihn jäh. Er wollte auf den Rappen wissen, was er für die Verköstigung seiner Frau und des Kindes per Tag zahlen müsse, und was wohl dem Kaplan für die Zimmermiete zu leisten wäre.

»Mir gebt Ihr fünf Franken für beide zusammen,« forderte Jochem nach langem Überlegen. »Fleisch hab' ich freilich nur Sonntags auf dem Tisch. – Und dem Hochwürdigen erböt' ich einen Franken per Tag für die Kammer. Dann ist er wohlauf zufrieden.«

»Macht Ihr das gleich in Ordnung für die nächsten Wochen! Derweil schau' ich mir das Zimmer an.« – Der Ingenieur warf Heinzen seine Brieftasche vor die Nase und murmelte: »Nur nicht knausern!« – »Hat er Euch so ins Vertrauen geschlossen?« staunte der Degenwirt, sobald sie allein waren und Heinz prahlerisch die grünen und blauen Banknoten aus dem Büchlein blätterte.

»Was ist da viel Rühmens?« entgegnete Heinz großartig; »machen wir's ab! Ihr gebt Frau Setten und ihrem herzigen Mäuschen immer die frischeste Milch, den dicksten Rahm und Brot und Käse nie vom alten Anschnitt. Auch ungetauften Wein und frische Eier –«

»Hoio! – da ist – halt! – Ihr könnt mir gestohlen werden –«

»Dafür zahlt Euch mein Herr alle zehn Tage voraus, – zehn Franken pro Tag – da,« – er schob einen blauen Schein in Jochems behaarte Hand. »Geht alles gut, so soll's an einem schweren Trinkgeld nicht fehlen.«

Der Wirt zum Degen verstummte. Jawohl, gern die frischeste Milch und so weiter und so weiter – für ein so herrschaftlich zahlendes Frauchen. – Und dem ersten Jäger, der da herabkommt, will er das Wildbret abkaufen und seine alte Mutter, die Elselore, wird's dieser Frau Se – Se – Sette oder wie, so fein wie keine Stadtköchin braten.

Heinzens Kinderherz weidete sich an dem Behagen des Wirtes. Er reichte ihm nun auch noch ein grünes Papier und sagte unendlich gleichgültig: »Dem Kaplan wollt Ihr den andern Fetzen geben, – auch für zehn Tage!«

»Wir danken,« brachte endlich der Wirt am Türsöller mit lebhaftem Respekt hervor. »Sagt's Euerem Herrn! – Aber,« – ermannte er sich dann und suchte die zwei Papiere zu vergessen, »aber sagt ihm auch, daß unser Kaplan siebenhundert Franken Jahresgehalt und kein Kupferstück mehr bekommt drunten in Mattli, und daß er hier oben fürs Amtieren bloß Kost und Logis hat. – Und daß er nie Geld in der Schublade hat, weil er alles an die Armen und Bücher wirft. Den Kragen hat er schon oft vom Hemd gegeben, und wären die Knöpf' am Brusttuch Halbfränkler, längst hätt' er sie alle abgerissen und liefe wie unsereiner mit offener Brust herum –«

»Was, so einer?« fragte Heinz tief ergriffen.

»Ja, so einer! Sagt's nur Euerem Meister, wie er's Geld liebe und warum er's liebe!«

»Das muß er wissen, sicher, das ist ja ein großartiger Mensch. – Aber nun sagt mir noch ein Wort. Was ist's eigentlich mit dem Knecht? Hat er die Scheuer angezündet oder nicht?«

»Pst!« machte der Wirt und blickte besorgt ringsum.

»Und ist er der Vater des überlebenden Mädchens oder ist der Bro –«

»So schweigt doch!« tuschelte der andere. »Es könnte Euch vors Gericht bringen. Hier zu Lande macht man nicht viel Federlesens.«

»Hört, lieber Mann! Wenn Ihr mir's nicht sagen wollt, so glaub' ich von nun an das Gegenteil von allem, was man hier schwatzt.«

»Hört auf! – Was geht denn Euch das alles an!« wollte der Mann beschwichtigen.

»Mehr als Ihr meint. Ich bin ein Zäher und bring's schon noch heraus.«

»Mich lasset aus dem Spiel! Ich hab' Euch keine Silbe gesagt, – nicht wahr?«

»Nein, Ihr habt nichts gesagt, das bezeug' ich!«

Binnen einer Viertelstunde setzten die zwei Wanderer den Weg ins Tal fort. Sobald sie den letzten Abhang gegen die Wirtschaft ›Zum End‹ abstiegen, lief ihnen Seppli mit einem Zettel entgegen.

»Von Mang,« sagte er heiß schnaufend. »Aber dem Vater nichts sagen!«

»Von Mang?« – Emil schüttelte ungläubig den Kopf.

»Doch doch, er ist Euch vorgelaufen, den Hosendreckler herab! Ich soll Euch aufpassen und den Zettel geben.«

– »Ich hab' Euren Brief gelesen. Aber ich bleib' bei Euch. Ihr sollt mich nicht fortschicken. Ich kann nichts dafür, wenn ich Euch nicht verstehe. Ihr werdet wohl noch böse sein. Aber müßt denken, ich sei halt ein wilder Küherbub. Wenn ich's könnt, wollt' ich Euch schon gern haben. M.« –

Emil las das halblaut. Dieses eigentümlich bubenhafte, naive, aus Kindesnot hingeworfene Geschreibsel ergriff ihn wie eine wunderbare Melodie. Ganz entzückt war er besonders über den letzten Satz im Zettelchen. Er lachte und hastete und klob dem Seppli ein großes Silberstück aus dem Beutel und trug ihm ungestüm dreimal und dann noch einmal auf, dem Mang zu sagen: Er möge nur wieder kommen! Es sei ganz recht! – Immer wieder auf dem Weg gegen Absomdorf überlas er den Fetzen und fand in den trockenen Sätzchen und aus der steifen und groben Schreibweise etwas Warmes und Blühendes heraus, wo Heinz nur Steine wahrnahm. Da war ja, meinte Heinz, nichts bereut, nichts zurückgenommen, nicht um Verzeihung gebeten. Es war der alte Trotzkopf, der sicher nur aus steckköpfigem Ehrgefühl diese Zeilen schrieb. Aber Emil fühlte anders und feiner als Heinz. Wie ein Vater fühlt! – Er hörte aus diesem Papier schon die ersten Schritte des Kindes ihm entgegengehen, schon das Aufwachen der Sohnesliebe, schon das schüchterne Probieren, Vater zu sagen. Er küßte den Zettel, diesen ersten Brief des Sohnes an den Vater, voll Innigkeit. O, den will er behalten, der gilt ihm zehnmal mehr als sein prachtvolles Diplom in Goldrahmen!

Heinz mußte nichts mehr zu sagen. Er stand neben Emil wie aus dem Mond gefallen. Oder wie einer blöd dasteht, der aus hundert erklügelten, gescheiten Sächelchen und Büchern herausgerissen und plötzlich in ein lebendiges, göttliches Ereignis gestellt wird. Und es summte ihm in den Ohren: Siehst du, so was studiert oder schnüffelt oder strapaziert man nicht heraus. Das kommt wie eine ungerufene Amsel geflogen, sitzt einem auf die Hand und singt: Da bin ich! –

Und Heinz wiegte, ach, zum wieviel tausendsten Male! seinen ergrauenden, schweren Kopf und dachte: »Warum ist doch das Leben, das wir in die Finger bekommen, und das Leben, das wir aus den Büchern schöpfen, ein so ungleiches und widersetzliches!« –


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