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Auf Urlaub

Es traf sich gut, daß Peter eine Verabredung hatte mit einigen seiner Kameraden – eine Wanderung, von der er gewiß erst bei Anbruch der Dunkelheit zurück sein würde. So brauchte man ihm nichts zu erzählen und zu erklären – er war immer so schrecklich neugierig, und er konnte mit seinen boshaften Randbemerkungen Sybille oft aus der Fassung bringen. Und in diesem Augenblick war seine Anwesenheit hier aus vielerlei Gründen unerwünscht.

Die beiden, Frau Beise und Sybille, waren lange vor Ankunft des Zuges bereits auf dem Bahnsteig. Unaufhörlich gingen sie auf und ab, und nur zuweilen wechselten sie ein paar kurze Worte. Sie waren eben beide nicht in einer Stimmung, die ihnen das Plaudern leicht machte.

Ab und an streifte Frau Beise ihre Tochter mit einem flüchtigen Seitenblick. Etwas besorgt, etwas unruhig. Aber Sybille hielt sich tapfer, und wenn sie wirklich unruhig war und ihr Herzchen etwas ungebärdiger schlug als gewöhnlich, so ließ sie davon nichts merken.

»Vielleicht ist es ein richtiger Urlaubszug, das wäre schlimm«, sagte Sybille einmal leise, und ihre Stimme zitterte ein bißchen. »Wie soll ich ihn da herausfinden, meinen Soldaten unter all den vielen andern Soldaten?«

»Ach«, beruhigte Frau Beise sie mit einem mütterlichen Lächeln. »Ich glaube nicht, daß es ein Urlauberzug ist – er steht ja als gewöhnlicher Zug im Fahrplan. Und selbst wenn es so wäre – ich habe da gar keine Sorge. Wir finden uns schon.«

Ihr Lächeln vertiefte sich.

»Schließlich hat er ja auch dein Bild«, sagte sie noch. »Da wird er dich doch erkennen.«

Daß auch sie ein Bild des Soldaten besaß, und daß sich dieses Bild ihrem Herzen ganz unverlierbar eingegraben hatte, das hatte sie Sybille nicht verraten, bisher. Und sie nahm sich fest vor, es auch in Zukunft nicht zu tun.

Sybille machte ein vergrübeltes Gesicht.

»Wenn er etwa Spaß mit mir machen will, wenn er gar lacht oder, was noch schlimmer wäre, wenn er mich trösten will, dann ... nun, dann braucht er überhaupt gar nicht erst mitzukommen«, dachte sie, und eine herbe, trotzige Falte grub sich in ihre Mundwinkel.

Der Bahnsteig füllte sich zusehends. Es war schon ein ganzer Haufen Menschen da, und es wurden immer mehr. Aber nur die wenigsten hatten Gepäck bei sich, die meisten warteten also wohl gleich ihnen beiden auf irgend jemanden, der mit dem Zuge mitkommen sollte, den man also gleich bei seiner Ankunft herzlich und fröhlich begrüßen wollte. Es schien, daß die Menschen die Aufforderung, in dieser Zeit nicht unnötigerweise zu verreisen, sich zu Herzen genommen hatten und sie befolgten.

Eine Welle von nervöser Unruhe ging plötzlich durch all die Wartenden. Draußen an dem Stellwerk mit der über alle Gleiskörper sich hinziehenden hochbeinigen Brücke aus eisernen Trägern und Streben war ein Einfahrtssignal hochgegangen. Und da wurde auch schon der Mann mit der roten Mütze, der Fahrdienstleiter, sichtbar.

Irgendwo schrillte ein Läutewerk. Wenn man dicht an die Kante des Bahnsteiges trat, wenn man den Hals genügend weit vorreckte, so konnte man ganz weit hinten ein silberweißes Rauchwölkchen entdecken. Das war sicher der Zug, auf den sie alle warteten.

»Zurücktreten!« schrie plötzlich der Fahrdienstleiter.

Und wenige Sekunden später rollte der D-Zug donnernd und brausend in die überdachte Bahnhofshalle.

Sybille stand plötzlich starr und steif. Sie hatte das Gefühl, daß sie mit der Erde, mit dem Boden unter ihr verwachsen und verwurzelt sei, und daß sie nicht einen Schritt würde gehen können, eben, und gelte es ihr Leben. Aber ihre dunklen Augen waren groß und weit geöffnet und richteten sich brennend auf das Gewimmel ringsum.

Viele, viele Menschen quollen aus dem Zug hervor. Menschen in bürgerlichen Kleidern und auch Soldaten, eine ganze Menge Soldaten. Aber ein richtiger Urlauberzug war es nun doch nicht, und Sybilles Mutter hatte wieder einmal recht behalten.

Viele Soldaten gingen an den beiden vorbei. Einige hatten bereits Gesellschaft gefunden, Verwandte, Bekannte; Wiedersehensfreude strahlte aus allen Gesichtern. »Daß du mir nur erhalten geblieben bist, Jürgen«, hörte Sybille ein altes Frauchen zu einem jungen, lang aufgeschossenen Pionier sagen. Und dieses einfache, schlichte Wort rührte sie sehr und trieb ihr fast die Tränen in die Augen. – Andere wieder gingen müde, etwas enttäuscht und sehr allein dahin, sicher hatten sie sich verpaßt, oder der, der sie hier hätte erwarten sollen, konnte aus irgendeinem Grunde nicht. War irgendwie verhindert oder gar krank.

Und dann sah Sybille einen – ruhig, aufrecht, langsam schritt er einher, ab und an einen suchenden Blick um sich werfend. Auf seinem Waffenrock leuchtete ein Ordensband in klaren, schimmernden Farben.

»Der – wenn der es wäre«, dachte Sybille und ihr Herz schlug heftiger. Sie verlor sich an dieses ernste, gütige, wissende Gesicht, an dieses braungebrannte Männergesicht.

Da stand er auch schon vor ihr.

»Sybille«, sagte er, und ihr war es im selben Augenblick, sie habe noch nie eine so gute, warme, schöne Stimme gehört.

»Das ist schön, daß du mich abholst, Sybille«, sagte der Soldat. Und er beugte sich zu ihr, die doch gewiß nicht klein war für ihr Alter, hernieder und küßte sie behutsam.

Sybille wurde gar nicht rot und verlegen. Daß dieser fremde Soldat sie küßte, schien ihr das Natürlichste und Selbstverständlichste von der Welt zu sein. Und es war ja auch schließlich »ihr Soldat«, der es tat.

Er reckte sich hoch, er begrüßte nun Frau Beise. Sie reichte ihm ihre Hand und er ließ sie lange nicht los. »Es war ein gutes Bild«, dachte Frau Beise. »Er sieht genau so aus, wie ich es erhoffte.«

»Ich habe nicht viel Gepäck mit«, sagte der Soldat dann, während sie sich durch die Sperre wanden. »Ich habe eigentlich nur mich mitgebracht.«

»Das ist genug, das ist das Beste, was Sie mitbringen konnten«, lächelte Frau Beise, und Sybille nickte heftig.

Draußen, auf der Straße, konnten sie nebeneinander her gehen. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel herab und die Welt sah schön und heiter aus. Sybille ging an der linken Seite des Soldaten. Und während sie so dahinwanderten und gemächlich plauderten, schob sie plötzlich ihre Hand unter den Arm des Soldaten. Es wunderte ihn nicht, er hatte es wohl beinahe erwartet. Er faßte nach dieser kleinen Mädchen-Hand und streichelte sie sanft.

Frau Beise sah es und sie war froh und fühlte sich von einem wunderbaren Glücksgefühl durchströmt.

»Wir müßten immer so nebeneinander her schreiten, in alle Zukunft hinein, so ... in gleichem Schritt und Tritt«, dachte Sybille. Und sie empfand sich geborgen wie seit langem nicht. »Aber Peter – Peter gehört natürlich dazu ...«

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