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Schokolade für Marion

Dann, wenig später, kam doch wieder ein Lebenszeichen von Sybilles Soldaten.

Diesmal war es ein Nachmittag, als es klingelte, und Sybille war sehr froh, daß sie wieder selbst in Empfang nehmen konnte, was doch so ganz für sie bestimmt war.

Es war nicht der ihnen allen seit langem vertraute Briefbote. Es war eine Frau, eine etwas müde und ein bißchen abgearbeitete Frau, der es gewiß schwer fiel, tagaus, tagein die vielen, vielen Treppen steigen zu müssen, und die es dennoch tat, klaglos, unermüdlich, mit einem stillen und guten Lächeln auf den Lippen, »Gott«, hatte sie einmal, als Frau Beise sich teilnehmend erkundigte, ob ihr das nicht doch zuviel würde, wo sie doch noch zwei kleine Kinder zu Hause habe, geantwortet: »Einfach – einfach ist das natürlich nicht. Aber was soll man tun? Wenn ich manchmal ganz verzagt bin und fast bereit bin, die Flinte ins Korn zu schmeißen, dann denke ich bloß immer an meinen Mann, der draußen ist im Westen, und dann ist alles wieder leicht. Dann denke ich: ihm, dem Heinz, dem Kerle, wie ich ihn immer nenne, dem ist Schwereres aufgebürdet, und er ist auch nicht einer der stärksten, und ganz jung doch auch nicht mehr. Und er wird fertig und muß fertig werden, und wenn er und seine Kameraden alle, wenn die nun ihrerseits die Flinte ins Korn würfen und einfach sagten: ick schmiet mich hin, ick kann nich mehr ... ja, wo kämen wir denn hin. Aber er tut's nicht, keiner tut es, und da werden wir hier in der Heimat, denen es doch immerhin besser geht, da werden wir ja wohl nicht schwach werden! Nicht wahr? Nein, so ein Schweinehund ist doch keiner heutzutage, das kommt ja nicht in Frage!«

Diese Frau also stand jetzt vor der Tür, und sie lächelte mütterlich, als Sybille öffnete, und dann kramte sie umständlich in ihrer großen, dicken Tasche, in dieser Ledertasche, in der so viel stak an Briefen und Zeitschriften, an Rechnungen und sogar an Päckchen und derlei, daß Sybille sich wunderte, wie eine kleine, schmale und dürftige Frau das alles wegschleppen konnte. Sie fand auch den Brief, und Sybille erkannte sofort die Handschrift – sie hätte sie unter hundert anderen erkannt, so sehr war sie ihr nun schon vertraut. Sie sah auch ihren Namen wieder, und den der Stadt, in der sie wohnte, und sogar den der Straße auch, darin ihr Haus lag. Sie streckte die Hand aus und wurde blaß vor Glück und lächelte hell in das dunkle Lächeln der Postfrau hinein.

Frau Beise hatte das alles aus der Küche mit einem halben Blick gesehen und gleich ganz erfaßt und richtig gedeutet. Aber sie kam nicht hervor und fragte nicht, weil sie wußte: Sybille, die kommt schon zu mir, zur rechten Stunde. Und Sybille war ihr sehr dankbar dafür.

Sybille hatte den Brief lange genug und fast gierig ersehnt. Jetzt, da sie ihn in ihren braungebrannten, ein bißchen zitternden Händen hielt, war er ihr mit einem Male gar nicht mehr so eilig. Sie hatte ihn mit wachsender Ungeduld erwartet – da er nun endlich da war und niemand ihn ihr nehmen konnte, da meinte sie, das wundervolle Gefühl der Vorfreude erst einmal richtig auskosten zu müssen. Der Brief, der war nun für sie wie ein Kuchen, in dem die Rosinen ungleich verteilt sind – wenn sie solch ein Stück bekam, dann ließ sie die Ecke mit den meisten Rosinen auch immer bis zu allerletzt und kostete das Vorgefühl dieses Schlußgenusses restlos aus.

»Er lebt! Er lebt!« das war das erste, was sie dachte. Und sie ertappte sich dabei, daß sie doch manchmal von einer dunklen Angst überschattet gewesen war, er könne vielleicht nicht mehr leben, eine Kugel könne ihn getroffen haben oder ein Granatsplitter, und der Tod hätte ihr ihren Soldaten genommen, ehe sie dieses Besitzes noch richtig froh geworden wäre. Aber das war ja unverkennbar seine Handschrift, und sein Name stand als Absender auf der Rückseite, es war nun nichts mehr zu fürchten.

Eine tiefe Dankbarkeit für das Schicksal erfüllte Sybille ganz. Und mit diesem Gefühl kam ganz überraschend ein anderes. Kam der Wunsch, der Mutter nun viel mehr zu helfen, als sie es bisher getan hatte, ihr noch mehr von den kleinen Lasten des Alltags abzunehmen, um sich dieses Geschenks, dieser Gnade des Schicksals würdig zu erweisen.

»Lieber Brief – guter Brief«, dachte Sybille beglückt.

Dann endlich öffnete sie den Umschlag.

Das Papier war grau und rauh. Sybille fiel es nicht auf, es war ihr gar nicht wichtig. Und es war nun auch nicht ein Brief, geschrieben in der verhältnismäßigen Ruhe während des langen Wartens in den Bunkern des Westwalls. Es war ein Brief, geschrieben, nein, hastig niedergekritzelt während einer kurzen Rast, nach langem, schwerem Marsch, irgendwo in einem französischen Walde. Sybille hielt ihn dicht vor ihr junges Gesicht, sie schnupperte daran wie ein Hündchen, und sie atmete einen fernen, leisen Duft von Erde und Gras und Moos. Und in der Falte des Bogens, da lag eine kleine, eine winzige Tannennadel.

Sybille nahm die Nadel behutsam zwischen die Fingerspitzen. Sie betrachtete sie lange und ernsthaft und so nachdenklich, wie sie nie vorher eine solche grüne, schon ein bißchen gebräunte Nadel betrachtet hatte.

»Es ist viel geschehen, meine kleine Sybille«, schrieb der Soldat Ludwig Zelter aus dem Herzen Frankreichs, »sehr viel geschehen, seit Du meinen ersten Brief bekamst. Ich brauche Dir das im großen nicht zu erzählen, Du hast es in der Zeitung gelesen, Du hast es sicher, abends mit Deiner Mutter und Deinem Bruder am Rundfunk sitzend – Peter heißt er, nicht wahr? ja, Peter, so schriebst Du –, also da hast Du es auch gehört. Wir Soldaten hier, wir sehen ja und erleben ja immer nur einen kleinen, einen winzigen Ausschnitt aus dem großen, gewaltigen Geschehen. Das kann nicht anders sein. Aber man ist darum nicht weniger wichtig, weil man nur so ein kleines Rädchen in dem ungeheuren Werk ist. Auch das kleinste Rädchen hat seinen Platz, es hat seinen Zweck und seine Aufgabe, wenn es gewiß auch zu ersetzen ist, wenn auch das Ganze nicht gleich kaputt geht, wenn dieses winzige Rädchen zerbricht. Oder wenn es – was viel schlimmer wäre – die Aufgabe nicht mehr erfüllen mag, für die es bestimmt ist.

Daran müssen wir alle denken, immerzu. Daran müßt auch Ihr denken, Ihr in der Heimat. Auch so ein kleines Mädchen, wie Du es doch noch bist in meinen Augen. Trotz Deiner stolzen vierzehn Jahre. Es hat jeder seinen Platz, es hat jeder seine Aufgabe. Und es hat alles seinen Zweck. Auch das, von dem man zunächst gar nicht einsieht, welchen Zweck es haben könnte. Wir Soldaten, wir haben dies inzwischen sehr, sehr gründlich gelernt. Lieber Gott, so vieles mußten wir tun, so vieles wurde von uns verlangt in der Zeit unserer Ausbildung, von dem wir dachten: wozu? Das uns nicht eingehen wollte, das wir fast als Bosheit und Schikane unserer Vorgesetzten anzusehen geneigt waren. Aber dann wurde es ernst, und jetzt wissen wir es alle, daß wir nichts gelernt, daß wir keinen Handgriff geübt, daß wir nichts getan haben, was uns nicht jetzt, heute oder morgen oder gestern von Nutzen werden kann oder gewesen ist.

Und, nicht wahr, was von uns hier draußen gilt, das gilt natürlich auch von Euch. Das gilt sogar von Deinem Latein. Ich bin gar nicht froh über die Sechs, die Du bekommen hast, und auf die Du scheinbar sogar stolz bist. Du wirst nun vielleicht denken: Ach, der ... das ist gewiß auch ein Lehrer in seinem eigentlichen Leben. Aber das stimmt nicht, und ich kann sogar gar nicht Latein, um es ganz ehrlich zu sagen, und wenn Du da von den unregelmäßigen Zeitwörtern schreibst, dann packt mich ein Gruseln. Sicher würde ich sie auch nur schwer begreifen. Aber ich würde mein Letztes hergeben, um das alles mir zu eigen zu machen, einfach nur, weil es von mir verlangt wird. Weil ich jetzt weiß – besser als je zuvor –, daß uns nichts geschenkt wird. Dem einzelnen nicht und dem Volk als Ganzes natürlich erst recht nicht.

Du denkst: Pah, ich werde heiraten, und dann brauche ich das alles nicht. Du denkst: Und überhaupt Latein, das ist vielleicht was für Jungens, und auch nicht einmal für alle. Und vielleicht ist es wirklich so, später – daß Du heiratest, daß Du das alles nicht benötigst. Aber wissen, nicht wahr, liebe Sybille, kann man das nie vorher, wie das Leben mit einem spielt. Und was man in diesem Leben später einmal braucht. Das weißt Du nicht, und Dein Bruder Peter, der große Bastler, weiß es auch nicht. Der vielleicht auch denkt, alles Lernen ist unnütz, und was man später benötigt, das fällt einem gleichsam von allein zu.

Aber nun bist Du mir böse, daß ich von so langweiligen Dingen schreibe wie von Schule und Sechsen und derlei. Ich bin mir selber böse deswegen, doch fiel es mir gerade ein, und ich schrieb, wie es mir ums Herz war, als ich an Dich dachte.

Es ist nämlich so, Sybille, daß ich immer an Dich denke, immer an Dich gedacht habe in den vergangenen Wochen, während dieser langen, dieser endlosen Märsche durch dieses Frankreich, durch dieses fremde Land, Feindesland, jawohl. Jeder von uns Kameraden dachte all die Zeit an eine Sybille, an seine Sybille. Sie hieß nicht immer so wie Du, und dem einen war sie die Frau, dem andern die Mutter, die Schwester einem dritten und die Braut dem vierten. Oder auch nur ein schon alternder, verarbeiteter Mann, zu dem man aufschauen, zu dem man Vater sagen durfte, oder ein kleiner Junge, ein Bruder, den man zurückgelassen hat und an dem man hängt mit der ganzen Kraft seines Herzens. Und ich selbst, nun, ich dachte eben an eine Sybille, an ein vierzehnjähriges Schulmädel, das ich nie gesehen habe, dessen Bild ich in der Brusttasche trage und das einem fremden, unbekannten Soldaten geschrieben hat, in einem Augenblick gerade, als er sich sehr einsam und sehr verlassen fühlte.

Wir marschierten durch brennende Städte und zerschossene Dörfer, durch zerstörte Straßen und über gesprengte, notdürftig instand gesetzte Brücken hinweg. Und immer marschierte unsichtbar, aber zum Greifen nahe, eine solche Sybille mit uns, mit jedem in unserem Zuge, und hinter ihr, da sahen wir die Heimat, da sahen wir Deutschland, eine selige Landschaft des Friedens. Da wurde dann auch das schwerste leicht. Es gab vieles Schwere für jeden von uns, das mußt du mir glauben. Und mehr als einmal war unser Leben nicht einen Schuß Pulver mehr wert. Doch hatten wir keine Angst um dieses, unser Leben. Denn wenn wir wirklich Angst gehabt hätten, dann hätte es doch gleich etwas gegeben, was stärker war als jede Lebensangst, was sie besiegt hätte, sie knock out geschlagen hätte, wie die Tommies sich ausdrücken würden. Es ist so schön zu denken, daß, während wir hier marschieren und kämpfen, während wir vielleicht noch lange werden kämpfen müssen, weil doch hinter Frankreich noch England steht und kein bleibender Friede sein wird in Europa, ehe wir nicht auch England geschlagen haben, daß also inzwischen daheim eine Sybille friedlich und ungestört ihre Schularbeiten machen, ihrer Mutter helfen kann, mit ihrem Bruder spielen darf. Ja, auch spielen – denn auch das gehört ja zu Deinem Leben, heute noch, nicht wahr?

Die halbe Nacht ist rum, Sybille, und nun muß ich wohl schließen. Ich schreibe auf ›erobertem‹ Briefpapier, und das ist gut – ich hätte sonst kaum so viel berichten können. Aber etwas fällt mir noch ein, und das muß ich Dir erzählen, es wird Dir manches klarmachen. Da kam also heute mit den vielen zurückkehrenden Flüchtlingen, die dieses kaum zerschossene Dorf in der Champagne aufsuchten, das ihre Heimat gewesen war und wieder ihre Heimat werden soll, da kam auch ein Mädchen zur Ortskommandantur, wo ich wegen meiner französischen Sprachkenntnisse dem Feldwebel aushilfsweise als Dolmetscher beisprang. Das Mädchen war etwa fünfzehn Jahre alt, also ungefähr so alt wie Du es bist, nicht wahr. Aber sie hieß natürlich nicht Sybille, sie hieß auch nicht Gisela oder Ingrid oder Bärbel, sondern Marion, denn sie war ja ein französisches Mädchen. Sie war vier oder fünf Monate von ihrer Heimat fern gewesen, fern von ihrem Elternhaus hier in diesem Dörfchen, und sie hatte schließlich in dem Wirrwarr dieses ungeheuren, elenden Flüchtlingszuges, wie ihn die Welt vordem noch nie gesehen hatte, ihre Eltern verloren. Ganz allein kam sie nun zurück, mager war sie und ausgehungert, ihre langen, dünnen Beine waren nackt, und ihre Schühchen, die sicher einmal nett und bunt und zierlich gewesen waren, die waren jetzt nichts anderes als ein paar schmutzige, zerrissene, zerlöcherte Fetzen. Mit ihrem leichten Sommerkleidchen sah es nicht viel anders aus. In ihren großen, veilchenblauen Augen standen Angst und Schrecken, sie glitzerten feucht, diese Augen, die Tränen standen darin, und das ganze armselige Bündlein Mensch zitterte heftig. Vielleicht hatte man ihr allzuviel eingeredet von den Boches, den Barbaren, nun dauerte es einige Zeit, ehe sie zu glauben wagte, daß das wohl alles Lügen waren und Schlechtigkeiten, die man über uns verbreitet hatte, und daß sie nichts zu fürchten hatte.

Nun, ich sprach mit ihr und ich beriet sie, so gut ich konnte, und ich sagte ihr, daß wir ihr helfen würden, wieder zu den Ihrigen zu kommen, und daß wir auch ihr Haus vielleicht ein bißchen in Ordnung bringen würden – denn es sah schlimm aus in diesem Haus, jawohl. Anfangs sah sie mich fast ungläubig an, aber schließlich ging es ihr wohl auf, daß das alles ehrlich und richtig gemeint war, und ein erstes, dünnes, zaghaftes Lächeln glitt über ihre Lippen.

Sie konnte nicht viel sprechen. Sie war sehr schwach, ich merkte das wohl. Und mit einem Male fiel mir ein, daß ich in meiner Tasche noch eine Tafel Schokolade hatte, eine Tafel von der guten Schweizer Schokolade, Galapeter heißt sie, die man hier und dort zu kaufen bekommt. Die hatte ich für Dich gekauft, denn mit Schokolade ist es nicht wild bei Euch, das ist mir ja bekannt, und ich dachte: auch Sybille ißt gern mal etwas Besonderes. Aber nun, wie mir das einfiel, und daß ich Dir eigentlich diese Schokolade am nächsten Tag als Feldpostpäckchen hatte schicken wollen, da besann ich mich gar nicht lange. Ich holte sie heraus und gab sie der Marion, und sie machte einen richtigen Knicks und wurde ganz furchtbar rot dabei, aber dann brach sie sie gleich auf und begann zu essen, und nach zehn Minuten war auch nicht ein Krümchen mehr da von der ganzen großen Tafel.

Ja, das wollte ich Dir schreiben, damit Du doch weißt, wie es kommt, daß Du keine Tafel Schokolade von mir erhältst. Wo doch alle meine Kameraden etwas Süßes nach Hause geschickt haben inzwischen. Diese Tafel Schokolade hat also Marion gegessen, das französische Mädchen Marion. Und nun: bist Du mir böse deswegen? ...«

»Ach«, dachte Sybille und schluckte ein bißchen vor Mitleid. Sie sah das alles so deutlich vor sich.

Und dann nahm sie eine Karte. »Lieber Ludwig«, schrieb sie. »Morgen bekommst Du einen dicken, langen Brief. Eben will ich Dir nur sagen, daß ich mich sehr bemühen werde, keine Sechs mehr zu bekommen. Und was den Professor Müller anbelangt, so ist das alles inzwischen in Ordnung gebracht. Du brauchst also gar nicht mehr zu raunzen. Denke Dir nur – er hat jetzt seinen dritten und letzten Sohn im Felde verloren! Davon schreibe ich Dir noch – es tat uns so furchtbar leid. Daß Du Marion die Schokolade gegeben hast, ist sehr fein. Nun kann ich denken, ich hätte sie ihr selbst gegeben, da sie doch für mich bestimmt war. Aber wenn Du es nicht getan hättest, dann ... ja, dann hättest Du mir gar nicht mehr zu schreiben brauchen! ...«


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