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Das Kreuz in Cambrai

»Nein«, sagte die Postbotin bedauernd und blickte auf die drei Menschlein, die vor ihr standen, ihr durch die geöffnete Wohnungstür erwartungsvoll entgegenblickten. Sybille vorneweg, natürlich, und dann Peter, der es sich nie nehmen ließ, sofern er gerade zu Hause war, die feierliche Zeremonie der Aushändigung eines Briefes an Sybille von ihrem Soldaten mit seinem boshaften Jungensgrinsen zu begleiten. Und ganz hinten stand, mit einem leisen, gütigen Lächeln auf den Lippen, Frau Beise selbst.

Die Postbotin sah von Tag zu Tag mehr aus, als könne sie der leiseste Windhauch umblasen. Sie war gewiß nie die Stärkste gewesen, und das Amt, das sie nun übernommen hatte, zehrte an ihren Kräften. Es war kein Kinderspiel, und sie würde froh sein, wenn alles vorüber war und sie das Zeichen ihrer Würde, die dicke Tasche mit der großen überhängenden Lederklappe, an den Mann abgeben konnte, der es gewöhnt war, das schwere Gewicht tagaus, tagein die vielen, vielen Treppen hinauf und hinunter zu tragen.

»Nein«, wiederholte die Postbotin, »diesmal leider nur für die Mama.«

»Och«, meinte Sybille, und sie konnte die tiefe Enttäuschung, die sie erfüllte, gar nicht recht verbergen. Ja, sie schaute die Postbotin an, als wäre die selbst daran schuld, daß kein Brief für Sybille da war. Aber die Frau war das gewöhnt, daß man sie irgendwie persönlich haftbar machte für das, was sie brachte oder eben auch nicht brachte. Und sie nahm es nicht weiter krumm.

Sie gab also den Brief an Frau Beise ab, einen dicken, schweren Brief, während Sybille sich bereits abwendete und nach ihrem Regenmantel griff. Sie hatte sich mit einer ihrer Freundinnen verabredet zu einem Spaziergang, und natürlich brauchte sie da den Regenmantel. Er war ja leider fast das wichtigste Kleidungsstück in diesem Sommer, wo man sich wirklich wundern mußte über das viele Wasser, das immer vom Himmel herunterkam und offenbar völlig unerschöpflich war.

Freilich: hätte es Sybille nicht so eilig gehabt mit ihrer Verabredung und wäre sie neugieriger gewesen, als es in ihrer Art lag, dann hätte sie sehen müssen, daß der Brief, den ihre Mutter nun zaudernd in der Hand wog, die ihr schon so wohlvertrauten Schriftzüge des Soldaten Ludwig Zelter trug. Aber das sah sie nicht, sie ging fort und ließ die Mutter allein mit dem Brief, den Frau Beise erst lange verwundert und in leiser Unruhe in der Hand wog, ehe sie damit in ihr Zimmer flüchtete, um ihn in Ruhe zu lesen.

Zwei Bilder fielen ihr entgegen und dann ein Brief. Ein langer, ein sehr langer Brief, mit mehreren eng beschriebenen Seiten.

Frau Beise nahm das erste der Bilder in die Hand, betrachtete es lange, und ihr Herz schlug hart. Ihre Lippen zuckten, und sie war sehr froh, daß sie allein im Zimmer war, daß niemand ihre Erregung sehen konnte, niemand von all den Menschen, die sie liebten, die sie kannten und die sie bisher immer nur heiter und beherrscht gesehen hatten.

Das Bild war offenbar eine Vergrößerung, und es zeigte, herausgehoben aus zahlreichen anderen es rings umgebenden Sinnbildern des Todes, ein einfaches, schlichtes Holzkreuz, um das ein Kranz blühender Rosen gehängt war. Auf der Mitte des Kreuzes standen ein paar Worte, von schwerer, ungeschickter Hand hineingegraben, wenn man das Bild sorgfältig genug ansah, konnte man sie deutlich lesen. »Hermann Vierhuff« stand da, und »Gefallen am 27. November 1916«. Und dann nichts weiter.

Aber diese wenigen Worte waren genug. »Hermann«, dachte Frau Beise, »liebes Hermännle.« Und eine süße Rührung überwallte sie ganz. Fast ein Vierteljahrhundert war vergangen, seit man ihn, ihren nie vergessenen Bruder, hier in Frankreichs Erde gebettet hatte. Aber nun wurde alles auf wunderbare Art nah und lebendig, ja, die ganze, so lange schon entflohene glückliche und unbeschwerte Jugend stand wieder auf vor dieser Frau und sah sie mit lockenden Mädchenaugen an.

Frau Beise erinnerte sich endlich auch an das andere Bild. Es war die Photographie eines Soldaten, eines Unteroffiziers aus dem heutigen, dem gegenwärtigen Kriege, und es trug die Unterschrift des Mannes. Ludwig Zelter stand darunter, in den festen, männlichen Schriftzügen, die nun auch Frau Beise seit langem bekannt und vertraut waren.

Bekannt und vertraut erschien ihr – und das war das Seltsame und fast Geheimnisvolle an dem allen – auch das Gesicht dieses Soldaten. Sie wußte genau, daß sie den Menschen, dem es angehörte, noch nie mit lebenden Augen gesehen hatte, ganz genau wußte sie es, da konnte gar kein Irrtum bestehen. Doch kam er ihr nicht vor wie ein Fremder, und sie dachte: »Dieser Mann – man muß ihn gern haben. Er hat einen so klaren, zuversichtlichen Blick, ernst schaut er aus, das ist wahr, aber auf gute Art ernst, er ist einer, der viel gesehen und erlebt und sich doch den Glauben an die Menschen, an sein Volk, an die Zukunft erhalten hat. Wer an seiner Seite gehen darf, der kann wohl nicht straucheln, dem kann in Wahrheit wohl nichts passieren.«

Mit einem Male dachte sie, mit einem Anflug von Trauer, wie schade es sei, daß ihre Kinder, daß Peter und Sybille, nach dem frühen Tod des Vaters einer solchen gütigen, wissenden, führenden Hand so ganz entraten mußten. Sie hatten beide noch die Mutter, gewiß, aber Frau Beise erschien es mit einem Male, als könne die beste, die wundervollste Mutter einem Kinde den fehlenden Vater nie völlig ersetzen.

Wieder blieb ihr Auge an dem Bild haften. »Dieser Mann hier«, fiel es ihr ein, »der ist keiner von den jungen, der steht schon in der Mitte der Vierzig, er ist vielleicht älter als ich. Nicht viel, glaube ich, aber immerhin ein paar Jahre. Älter wohl auch als Hermann es jetzt wäre, wenn ihm das Schicksal vergönnt hätte, heil und lebendig aus dem Weltkrieg herauszukommen.«

Dann, dies ernsthaft und lange überdenkend, bekam sie plötzlich einen kleinen Schreck. »Sybille«, überlegte sie und wog den Kopf grübelnd hin und her, »Sybille wird ihn sich anders vorgestellt haben. Sybille wird gedacht haben, sie schreibe ihre Briefe an einen jungen Menschen, an einen Achtzehnjährigen vielleicht oder doch an einen aus dieser ungefähren Altersstufe. Und nun? Nun ist der Soldat, ist ihr Soldat ein Mann, alt wie ich, Sybilles Mutter, oder noch einige Jährchen älter. Einer, der ihr Vater hätte sein können, den Jahren nach ...«

Sie entschloß sich endlich, den Brief zu lesen. Er mußte vieles aufklären, was eben noch geheimnisvoll und beinahe rätselhaft erschien. Er mußte vor allem Aufklärung darüber bringen, wie es kam, daß dieser fremde, dieser unbekannte Soldat das Bild mit dem Grabkreuz des vor mehr als zwei Jahrzehnten gefallenen Bruders schickte.

So klar wie sein Gesicht war auch der Brief des Soldaten. Er erzählte, was Sybille ihm geschrieben hatte und worum sie ihn gebeten hatte. Von der Überraschung, die sich Sybille für ihre Mutter ausgedacht hatte.

»Sybilles Brief kam zu spät und kam doch noch zur Zeit«, erzählte der Soldat. »Als er mich erreichte, da war ich schon längst nicht mehr in Cambrai, da waren wir schon in Paris gewesen, und jetzt stehen wir noch weiter südlich, wir sind gar nicht mehr weit von Bordeaux. Und trotzdem habe ich Sybilles Bitte erfüllen können, und das ist eine der seltsamen, wunderlichen Fügungen, an denen unsere Zeit so reich ist. Ich hatte nämlich jenen Soldatenfriedhof bei Cambrai schon längst vorher, als wir noch dort oben lagen und einen Tag Ruhe eingeschaltet hatten, aufgesucht, und ich hatte jenes Kreuz gesucht und gefunden, dessen Bild ich Ihnen nun beilege. Ich hatte es photographiert, ohne zu wissen, daß der, der darunter dem letzten großen Wecken entgegenschlief, Ihr Bruder sei – und warum ich es gesucht und photographiert hatte, das freilich muß ich Ihnen jetzt erklären.«

Frau Beise las weiter. Ihre Augen brannten, während ab und an eine große Träne auf das Papier, das rauhe, graue Papier in ihren Händen fiel.

Sie erfuhr jetzt, nach so vielen Jahren, was sie vordem nie gewußt hatte. Daß dieser Soldat Ludwig Zelter und ihr Bruder, ihr Hermännle, wie sie ihn in kindlicher Zärtlichkeit noch immer nannte, daß die beiden in derselben Kompanie, im selben Zug sogar gestanden hatten.

»Er war noch so jung, so blutjung«, schrieb der Soldat, »als er zu uns kam. Achtzehn doch höchstens, nicht wahr? Und ich war einundzwanzig. Das sind nur drei Jahre mehr, natürlich, aber in diesem Alter zählen drei Jahre viel. Sie wiegen schwer, ja sie wiegen doppelt und dreifach, wenn man schon zwei Jahre draußen gelegen hat, wenn man schon zwei lange Jahre nichts gewesen ist als Soldat, als Krieger, und die Heimat hinter einem liegt wie ein Traum, wie ein Wunschbild, dem nie mehr holde Wirklichkeit zukommen kann. Wir nahmen ihn auf in unsern Reihen, Ihren Bruder, wir alten, abgerissenen und abgebrühten Landser, und er war uns wie ein Gruß aus dem Frieden, wir haben ihn alle, Mann für Mann, lieb gehabt vom ersten Tage an. Wir hätten ihm so gern all das Schwere, was das Kriegsleben mit sich bringt, im Rahmen des Möglichen erleichtert. Aber er ließ das nicht zu. Er duldete das nicht. Er war, ein halbes Kind doch noch, ein ganzer Soldat und ein ganzer Held. Er hat es sehr bald bewiesen, und an mir bewiesen, und deshalb habe ich ihn nie vergessen. Er hat, als ich bei einem Vorstoß durch ein Sprengstück verwundet worden war und viele Stunden lang draußen vor unserm Stacheldrahtverhau lag, in mondheller Nacht mit einem andern Kameraden mich in den Graben zurückgetragen, obgleich die Franzosen keinen Augenblick Ruhe gaben mit ihrem Schießen und jeder, der sich außerhalb des Grabens bewegte, eine wundervolle Zielscheibe bot. Ich wäre verblutet, wenn Ihr Bruder mich nicht hereingeholt hätte. Aber ich habe ihm nie danken können, denn als ich aus dem Lazarett herauskam, sehr viel später, da war er schon tot, war er schon gefallen. Ich kam zu einem andern Frontabschnitt, und ich habe also auch seinen Angehörigen niemals schreiben können – daß es unser Kompanieführer getan hat, ist allerdings wohl gewiß. Nun, als in diesem neuen Krieg unser Regiment wieder durch Cambrai kam, war es mein erstes, das Grab dieses guten Kameraden aufzusuchen, der mir damals mein Leben rettete. Und ich bin sehr glücklich darüber, daß ich es tat, daß sich mir diese Gelegenheit bot, glücklich auch um Ihretwillen. Und um Sybilles willen. Daß ich ihr etwas Gutes tun kann, wo ich ihr doch sehr bald vielleicht etwas Trauriges antun muß. Dann nämlich, wenn sie erfährt, daß ihr Soldat kein junger Mensch ist, keiner, wie sie ihn sich gedacht hat. Sondern ein Mann, der gut und gern ihr Vater sein könnte. Ein Kamerad auch so noch, aber immerhin, dem Alter nach, ein ganz anderer, als sie es bislang wohl vermutet.«

Frau Beise ließ den Kopf sinken. Nun kam dieser Gedanke zum zweitenmal, den sie vorher selbst gehabt hatte. Aber jetzt wurde er ihr von dem Soldaten selbst zugetragen.

»Es wird nicht einfach sein für Sybille anfangs«, überlegte sie. »Es wird sein, als zerbreche man ihr einen Traum, ein Wunschbild.«

Aber dann fiel ihr etwas anderes ein, etwas Tröstliches. »Sie hat diesen Soldaten«, bedachte sie, »gern gewonnen, lieb gewonnen, ohne ihn je gesehen zu haben, nur wegen seiner Briefe, nur wegen der Art, wie er ihr schrieb. Sie fühlte sich verstanden, und sie fühlte sich wohl auch in einer schönen und gütigen Art gelenkt und belehrt. Wenn sie ihn sehen, wenn sie ihn kennenlernen könnte, dann ... nun, eigentlich muß man annehmen, daß sie ihn dann erst recht gern haben wird. Auf andere Art vielleicht, aber bestimmt nicht weniger gern.«

Wieder nahm sie den Brief vor. Jetzt waren nur noch ein paar Zeilen da, die sie lesen mußte.

»Ihre Tochter Sybille«, schrieb der Soldat noch, »wollte Sie gern mit dem Bild überraschen. Aber sie hat mit ihrer Bitte mir etwas verraten, was ich nicht wußte, und mich dadurch gezwungen, Ihnen vorweg zu schreiben und Ihnen das Bild zu schicken, das Sie sonst aus Sybilles Hand erhalten hätten. So bitte ich Sie nur, Ihrer Tochter von diesem meinen Brief einstweilen nichts zu verraten – die Umstände rechtfertigen gewiß diesen frommen Betrug. Sybille wird morgen einen anderen Brief von mir erhalten und eine andere Aufnahme der Grabstelle – lassen Sie sich dann mit dieser überraschen, später werden Sie Sybille einmal alles erzählen dürfen. Und verzeihen Sie, wenn ich als zweites mein eigenes Bild diesem Brief Sie beilege – Sybille hat mich darum gebeten, und wenn ich diese Bitte überging, dann wissen Sie jetzt, warum ich es tat. Aber Sie sollen auch wissen, wie der Mann ausschaut, mit dem Ihr Töchterchen Briefe wechselt, und Sie sollen wissen, wie der ausschaut, dem Ihr Bruder damals, vor so vielen, vielen Jahren das Leben gerettet hat.«

»Ja«, dachte Frau Beise, »das weiß ich nun. Sehr genau weiß ich es. Und ich bin von Herzen froh darüber.«


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