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Mucius Scaevola und Herr Professor Müller

Auf diesen Brief, obwohl sie darin doch so furchtbar viel, und auch Wichtiges und nicht Alltägliches, erzählt hatte, bekam Sybille lange keine Antwort. Denn wenige Tage, nachdem sie ihn abgeschickt hatte, begann der Krieg ein anderes und unerhörtes Gesicht zu zeigen.

Polen, Dänemark, Norwegen – das war schon allerhand gewesen. Aber nun ging die Sache im Westen los, plötzlich und für alle so gänzlich unerwartet. Der Mai kam, nach dem langen, kalten Winter, dem späten Frühjahr, mit Sonne und Wärme und linden Lüften, und er legte einen bunten Teppich von Blüten und Gräsern und Blumen über die Erde. Aber eigentlich nahm man ihn nicht recht wahr. Weil da etwas geschah in dieser großen Auseinandersetzung der Völker, das den üblichen Ablauf der Jahreszeiten, so schön, so neu er immer war, in den Schatten stellte.

Luxemburg wurde überrannt, und die Festung Holland, Lüttich war gefallen, Rotterdam brannte, schon deutete sich die große Schlacht in Flandern an.

Sybille verstand von den Einzelheiten nicht viel, dazu war sie wohl doch noch zu jung, und sie war ja auch ein Mädchen, hier aber ging es um Krieg und also um eine Männersache. Sie brauchte sich dessen auch nicht zu schämen, es gab ja so viele Erwachsene, die begeistert und verständnislos die Waffentaten der Soldaten verfolgten. Die sich nicht zu erklären vermochten, daß Städte, daß Festungen, daß ganze Provinzen, um die man im Weltkrieg Monate und Jahre zäh, erbittert und so oft erfolglos gerungen hatte, nun sozusagen über Nacht in die Hände der Deutschen fielen.

Aber sie blieb jedesmal, wenn sie aus der Schule kam, vor der großen Landkarte in dem Schaufenster der Zeitung stehen. Auf dieser Karte waren die Stellungen der Deutschen, der Franzosen und Engländer mit bunten Stecknadeln kenntlich gemacht, und jeden Tag rückten die roten Köpfe, die die deutschen Truppen markierten, weiter nach Westen vor, umschlossen sie enger und enger die Nadeln, welche die Franzosen kennzeichneten und die Engländer und die Belgier. Das war herzerhebend anzusehen, und Sybille konnte sich oft nicht losreißen von diesem Bild. Dann kam sie zu spät zum Mittagessen, und sie hätte nun wohl Vorwürfe von der Mutter erwarten dürfen, sie hatte diese Vorwürfe natürlich auch verdient. Doch, seltsam: Frau Beise empfing ihre Tochter, so spät sie auch kommen mochte, immer mit der gleichen Freundlichkeit und gütigen Nachsicht, so daß Sybille sich zuweilen schon schämte, weil sie die Langmut ihrer Mutter so schmählich mißbrauchte. Einmal, an einem Abend – Peter schlief schon, mit frischen, heißen Wangen lag er in seinen Kissen und sicher träumte er von dem He 111, den er morgen mit seinem großen Freund Artur bauen wollte – ja, an diesem stillen und friedlichen Abend sprach Sybille selbst davon, und daß sie sich mühen wolle, fortan pünktlicher zu sein und ihrer guten, goldenen Mutti nun aber wirklich nur noch Freude zu bereiten.

»Ein löblicher Vorsatz, Sybille, mein Kind«, erwiderte die Mutter mit einem stillen und etwas ungläubigen Lächeln. »Ein ausgezeichneter Vorsatz. Und wenn du ihn in die Tat umsetzt, soll es mich freuen. Aber was das Zuspätkommen anbelangt – nun, deswegen bin ich dir nicht so arg böse. Ich weiß ja, wo du steckst, und ich kann es verstehen. Ich würde auch hängen bleiben an der Karte in der Zeitung, das ist nun mal sicher. Und ich lasse das als ausreichende Entschuldigung gelten. Ja, ich freue mich sogar darüber. Du lebst in einer Zeit, von der du später einmal, wenn du Frau und Mutter bist ... und du willst das doch mal sein, nicht wahr? ...«

»Spaß«, sagte Sybille strahlend. »Mindestens sechs Kinder will ich haben, immer abwechselnd, einen Jungen und ein Mädchen!«

»Das ist recht«, nickte die Mutter. »Und ich habe das natürlich gewußt. Jedenfalls: die werden dich ausfragen, bis aufs Blut werden sie dich ausfragen, wie es gewesen ist in diesem großen Krieg mit England, und da mußt du ihnen natürlich Rede und Antwort stehen können. Dazu ist so eine Karte sehr fein, das prägt sich ein, das vergißt man nicht so bald. Und wenn man dann noch die Bilder in den Wochenschauen angesehen hat, dann ist es fast, als wäre man selbst dabei gewesen, gelt?«

»Ja«, meinte Sybille mit Überzeugung. Aber dann sah sie starr vor sich hin, und in ihre Augen trat ein feuchter Glanz. »Es ist nur so schlimm, Mutti, daß mir mein Soldat nicht mehr schreibt. Vielleicht hat er meinen Brief gar nicht erhalten. Oder vielleicht ist er auch schon ...«

»Unsinn – Unsinn!« Frau Beise legte ihre Hand beschwichtigend auf Sybilles Lippen. »Das mußt du gar nicht erst denken. Er wird uns schon erhalten bleiben, dein Soldat. Und wenn er nicht schreibt – ja, lieber Gott, sieh mal, wenn man in solchem Tempo vormarschiert, immer weiter, immer voran, dann – ja, dann kommt man eben gar nicht zum Schreiben. Beim besten, beim allerbesten Willen nicht. Denk doch nur, die Soldaten, unsere ganzen Truppen dort im Westen, die müssen doch oft dreißig oder vielleicht vierzig oder fünfzig Kilometer marschieren, tagaus, tagein, um den Franzosen auf den Fersen zu bleiben. Wenn dann mal für ein paar Stunden Ruhe ist, weil doch kein Mensch auf die Dauer leben kann, ohne auch mal ein bißchen zu schlafen, ohne sich durch etwas Schlummer Ersatz zu verschaffen für all die verbrauchten Kräfte, dann ... nun, dann fällt so ein Soldat einfach, wie er geht und steht, auf die Erde, und ans Schreiben denkt er nicht und kann er gar nicht denken. Du mußt deshalb nicht in Sorge und du mußt auch nicht böse sein. Du mußt dir immer denken: jeden Schritt weiter ins Feindesland hinein, den tut dieser Soldat auch für dich. Er tut ihn für sein ganzes Volk, für sein geliebtes großes Vaterland, aber eben deshalb tut er ihn auch für dich, ganz für dich allein. Er marschiert und er kämpft und er schlägt sich, damit keines Feindes Fuß deutschen Boden betrete, damit eine kleine Sybille Beise, die er nie mit leiblichen Augen gesehen hat, irgendwo im Herzen Deutschlands mit ihrem kleinen Bruder und mit ihrer Mutti ruhig schlafen können, damit die nicht mitten in der Nacht oder im grauenden Morgen aufgeweckt werden von dem Donner der Kanonen, von dem Heulen der Granaten, damit nicht der Feuerschein brennender Häuser und der Qualm ganzer in Flammen lodernder Straßenzüge durch das Fenster in ihr Zimmer dringen. Für diese Menschen verliert ein ungeschriebener Brief alle Wichtigkeit, da denkt man bloß: daß ich hier stehe und wache, mit dem Schwert in der Hand, daß ich hier kämpfe und das Meine tue, die Pflicht und noch etwas mehr als die bloße Pflicht, daß ich tue, was in meinen Kräften steht, das wissen die ja, die da hinten, in der Heimat. Der Rundfunk sagt es ihnen, jede Zeitung meldet es ihnen, jeder neue Name im Heeresbericht kündet es. Was gilt da schon ein Brief? ...«

»Wie schön du das sagst, Mutti«, meinte Sybille und sah mit einem fast ehrfürchtigen Blick zu ihrer Mutter empor, die sich sanft und zärtlich über die Liegende beugte. »Viel schöner, als ich es je ausdrücken könnte. Und dabei hast du dich immer geweigert, meine Aufsätze zu machen, mir wenigstens ein bißchen dabei zu helfen, und immer hast du behauptet, du könntest nicht so schreiben, wie es in der Schule erwartet wird.«

»Vielleicht kann ich es wirklich nicht«, entgegnete die Mutter. »Aber selbst wenn es anders wäre, würde ich dich deine Hausaufsätze allein schreiben lassen, jawohl, wenn du auch noch so brummig die Stirn kraus ziehst.«

»Und warum?« bockte Sybille. »Ich finde das gar nicht nett von dir.«

»Heute nicht, natürlich«, lächelte die Mutter. »Später wirft du gewiß über das alles gänzlich anderer Meinung sein. Besonders, wenn du erst selbst das halbe Dutzend Kinder hast, das du dir in den Kopf gesetzt hast. Dann wirst du verstehen, daß nur das etwas gilt, daß nur das etwas wert ist, was man sich selbst aus eigener Kraft erobert. Wissen, Kraft, Größe – nichts davon wird einem geschenkt. Dem einzelnen nicht und dem Volke erst recht nicht. Das siehst du ja an diesem Krieg, den wir nicht gewollt haben. Den wir führen müssen, um unsern Anspruch durchzusetzen, um uns den Platz an der Sonne zu verschaffen, auf den wir ein Anrecht haben, und den uns freiwillig keines der anderen Völker einräumen will.«

»Ich werde dich nicht mehr bitten wegen der Aufsätze«, versprach Sybille. »Und ich will auch nicht mehr ungeduldig werden, wenn der Brief von meinem Soldaten noch länger ausbleiben sollte ...«

Sie mußte sich sehr in Geduld fassen, die arme Sybille. Denn der Brief kam am nächsten Tag nicht und am übernächsten auch nicht. Die ganze lange Woche verging ohne Post.

Statt dessen kam dann freilich etwas anderes. Statt dessen kam die Nachricht, daß sich Paris ergeben habe, und die andere von dem feierlichen Einmarsch der deutschen Truppen in die französische Hauptstadt. Es gab wieder einmal schulfrei, alle Menschen liefen begeistert und mit strahlenden Gesichtern herum, vor den Rundfunkgeschäften, aus denen die Lautsprecher dröhnten, bildeten sich große Knäuel von Menschen, richtige Menschentrauben, denn man wollte natürlich alle Einzelheiten hören und nicht eine einzige Nachricht versäumen. Die Freude über diesen neuen gewaltigen Erfolg war so groß, daß man darüber sogar vergessen konnte, daß tags drauf der Unterricht ausgerechnet mit Latein beginnen würde, eine äußerst unangenehme Morgenbeschäftigung nach Sybilles Ansicht. Eine Ansicht übrigens, die von vielen ihrer Klassenkameradinnen voll und ganz geteilt wurde.

Dieser Morgen kam, wie schon so viele vorangehende, mit leuchtendblauem, wolkenlosem Himmel und mit lachendem Sonnenschein herauf. Die Mädels der fünften Klasse summten voller Tatendrang und aufgeregt wie ein Bienenschwarm herum ... eigentlich war wieder einmal ein kleiner Streich fällig, allzulange hatte der Professor sich unbehelligt seines Lebens freuen dürfen, ihrer Ansicht nach.

Aber es fiel merkwürdigerweise schwer, sich etwas Richtiges auszudenken, etwas, das Spaß machte und sie trotzdem nicht erneut mit der Schulordnung in Widerspruch bringen konnte, wie es leider allzuoft geschehen war in letzter Zeit. Man kam zu keiner Einigung, und ehe man einen Beschluß hatte fassen können, läutete es zum zweitenmal, und eine halbe Sekunde später stand der Professor Müller mitten unter den Mädchen.

»Man könnte vielleicht mit einem Spiegel ...« kicherte die rothaarige Lotte Gebauer, der ein breiter Sonnenstrahl aufreizend und verlockend auf die Schulbank fiel. Aber ehe sie noch mit ihrem Satz zu Ende kommen konnte, begann der Professor schon zu sprechen.

»Er sieht anders aus als gewöhnlich«, dachte Sybille erstaunt. Sie mußte das Gesicht ihres Lehrers immer ansehen, sie konnte sich gar nicht davon lösen. Es war so erschreckend blaß, daß man annehmen konnte, der Professor sei krank. Und auch die Augen brannten, ja, sie glänzten richtig fiebrig.

»Bestimmt ist er krank«, überlegte sich Sybille. Aber dann sah sie auf seinen Lippen ein kleines, ein bißchen trauriges, verlorenes Lächeln, und sie wurde wieder stutzig. Kranke Menschen pflegen nicht zu lächeln.

»Ich will Ihnen heute einmal«, begann der Professor leise, »aus Anlaß der besonderen Ereignisse, die wir miterleben dürfen, eine Geschichte aus der römischen Sagenwelt vorlesen. Eine Geschichte, die Ihnen oder doch einigen von Ihnen bekannt sein wird – aber das macht nichts. Ich lese sie Ihnen lateinisch vor, Sie sind jetzt, auch die Schwächste von Ihnen, wohl schon alle so weit, daß Sie sie verstehen können.«

Und dann machte er eine kleine Pause, sah all die Mädchen an, sehr ernsthaft, sehr nachdenklich. Doch schwand das stille, abwesende Lächeln nicht aus seinem Antlitz.

Darauf begann er zu lesen. Langsam las er, mit Betonung, und selbst Sybille, die doch die ollen Römer, wie sie ihrem Soldaten geschrieben hatte, gar nicht mochte, lauschte hingerissen. Zum erstenmal wehte sie ein Ahnen von dem Wohlklang und der Schönheit dieser Sprache an, und daß man vielleicht unrecht tat, sie eine tote Sprache zu nennen.

Der Professor las die Geschichte von dem Römer Mucius Scaevola, der seine rechte Hand, ohne mit der Wimper zu zucken, in die lodernde Flamme hielt, bis das Feuer sie gefressen hatte.

»Dieser Mucius Scaevola war ein Held«, sagte der Professor dann, als er zu Ende gelesen hatte. »Held sein bedeutet, mehr tun als seine Pflicht. Wir haben im Weltkrieg viele, viele Helden unter unserer Millionenarmee gehabt, und wir hatten auch einen, dessen Tat fast der des Mucius Scaevola glich. Er gehörte zu der Bemannung eines deutschen Kriegsschiffes, und er zögerte nicht, als dieses Schiff von einer englischen Granate getroffen worden war und die Gefahr bestand, daß die Munitionskammern von den Flammen ergriffen wurden und das ganze Schiff in die Luft jagten, hinunterzustürzen und mit nackten Fäusten den schon rot glühenden Eisenring zu fassen und zu drehen, durch den die Schottentüren geöffnet werden. Da schoß das rettende Wasser in den Raum hinein, und Schiff und Mannschaft wurden gerettet. Von den beiden Händen jenes deutschen Mannes ist freilich nicht viel übriggeblieben ...«

Die Mädchen saßen ganz still in ihren Bänken. In ihren Gesichtern malte sich Entsetzen und grenzenlose Bewunderung.

»Solche und ähnliche Taten sind uns aus jenem großen Kriege und auch aus dem gegenwärtigen vielfach übermittelt«, fuhr der Professor fort. »Und tausende sind geschehen, die niemals bekannt wurden, tausende deutscher Helden haben ihr Werk unerkannt und ohne äußeren Ruhm, ohne sichtbare Anerkennung und Auszeichnung vollbracht. Vielleicht sind, genau genommen, alle unsere tapferen Soldaten, von denen so oft wahrhaft Übermenschliches verlangt und geleistet wird, Helden. Auch mein Sohn, der, wie man mir gestern schrieb, vor acht Tagen gefallen ist. Er war mein Jüngster und mein Letzter, die andern mußte ich schon im vorigen Krieg hergeben.«

Er schwieg ganz plötzlich, und dann drehte er sich zum Fenster, und die Mädchen sahen, wie er mit einem Taschentuch die Augen betupfte. Es war eine große und feierliche Stille in der Klasse.

Aber dann schellte es, und der Professor Müller wandte sich wieder den Mädchen zu. Sein Gesicht war ganz friedlich, und auch das seltsame, verlorene Lächeln lag wieder auf seinen Lippen. Doch sah er trotz des Lächelns todtraurig aus, und es schien, als ob er ein wenig zitterte.

Der Professor grüßte leicht und strebte zur Tür.

Da jedoch sprang Sybille auf. Es hatte ihr niemand einen Auftrag gegeben, und sie spielte in der Klasse nicht eine solche Rolle, daß sie als Führerin der anderen hätte auftreten können. Aber sie hatte das Gefühl, daß man den Professor nicht auf diese Art gehen lassen dürfte, nicht so, wie er es an jedem anderen, gewöhnlichen Tag, nach einer gewöhnlichen Stunde zu tun pflegte. Und sie war auch überzeugt, daß alle mit dem einverstanden sein würden, was sie jetzt tat.

Sie erreichte den Professor, gerade als er im Begriff stand, die Tür zu öffnen, und sie stellte sich rasch zwischen ihn und die Tür, so daß er nicht heraus konnte.

»Es tut uns allen so furchtbar leid«, sagte sie hastig, und es fiel ihr schwer zu sprechen, arg schwer, weil es ihr war, als stecke ihr ein großer, ein ungeheurer Kloß im Halse, der sich nicht herunterwürgen ließ. »Furchtbar leid tut es uns, Herr Professor, was Sie da erzählten von Ihrem Sohn, auch weil es nun doch der letzte ist, den Sie hergeben mußten.«

Sie konnte nicht weiterreden. Mit einem Male schossen ihr die Tränen aus den Augen, wie ein Sturzbach überfluteten sie heiß ihre Wangen, ja sie war richtig blind vor Tränen, als sie nach der Hand des alten Professors tastete.

»Ich muß ihm noch mehr sagen«, dachte sie. »Noch irgend etwas, was ihm Freude macht.« Und sie glaubte auch schon, daß ihr das Richtige eingefallen sei. »Und was Latein anbelangt«, setzte sie hinzu, holpernd und schluckend, »so ist das wirklich eine sehr schöne Sprache. Wir haben das alle nicht gewußt und nicht richtig begriffen bisher. Aber jetzt, nachdem Sie uns die Geschichte vorgelesen haben, die von Mucius Scaevola, jetzt wissen wir es. Und wir wollen uns wirklich Mühe geben, sie zu lernen ...«

»Das ist aber fein«, sagte Professor Müller. Er hatte seine Hand auf Sybilles Scheitel gelegt, und Sybille kam das gar nicht komisch oder gar lästig vor. »Sehr fein ist das – nun, dann wird es doch fortan wohl nur noch Einser geben, gelt?« In seinen Augen blitzte es beinahe schalkhaft, aber gleich wurde er wieder ernst. »Ich danke euch allen«, meinte er. »Dies eben – es hat mir sehr wohlgetan.«

Im nächsten Augenblick war die Klasse allein, war der Professor aus ihrer Mitte verschwunden.

Die Mädels sprangen aus ihren Bänken und umringten Sybille.

»Das hast du großartig gemacht«, riefen sie begeistert und lobten sie sehr.

»Wenn man bedenkt«, meinte Ursel ganz erschüttert, »drei Söhne, alle seine Söhne hat er verloren. Und er wird nicht krank, es schmeißt ihn nicht um, er kommt zur Schule wie immer, er hält seinen Unterricht ab wie immer, man hat ihm doch vorher überhaupt nichts anmerken können. Er vermochte sogar zu lächeln. So einer ist doch auch ein Held ...«

»Natürlich!« Die andern gaben ihr recht.

»Aber er liest doch auch dauernd von den antiken Helden«, warf eine ein, »das färbt vielleicht ab, es wirkt irgendwie beispielhaft.«

Sybille schnitt jede weitere Unterhaltung über diese Frage ab. Sie meinte, daß mit dem vorhin noch nicht genug geschehen sei.

»Wir müssen nun natürlich zum Direx gehen«, sagte sie mit Nachdruck, »und ihm das erzählen, wie es sich zugetragen hat, als unsere ganze Klasse plötzlich verschwunden war. Das ist wohl das mindeste, denke ich, was wir zu tun haben, um uns des Professors als würdig zu erweisen. Schließlich sind wir doch daran schuld, daß der Direktor glaubt, der Professor sei schon so alt, daß er gelegentlichen Sinnestäuschungen zum Opfer fällt. Und wenn wir das nicht aufklären, dann kann es geschehen, daß man den Professor wieder in Pension schickt. Das wäre sehr schlimm für ihn, denke ich, und gerade jetzt. Wo er dann gewiß nichts anderes tun würde, als tagaus, tagein an seinen letzten gefallenen Sohn zu denken. Ich bin jedenfalls der Meinung, daß er gern Unterricht gibt, daß es ihm Spaß macht, wenn auch die meisten von uns nur immer schlechte Noten bekommen. Was meint ihr dazu!«

»Natürlich – natürlich«, schrien alle, und so sehr waren sie bereit, sich nun ihrerseits als Helden zu erweisen, daß sich sofort vier oder fünf meldeten, die Sybille begleiten wollten. Und an ihrer Spitze trat Sybille, mit stolz in den Nacken geworfenem Kopf, den Büßergang nach dem Zimmer des Schulleiters an.


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