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Dies seltsame Geschehnis: daß ein Großer im Geiste das Werk seines Lebens in die Hände gelegt bekommt in einem Augenblick, da dieses Leben – soweit Leben Bewußtsein voraussetzt – praktisch schon beendet ist, war nur eine Phase, und keineswegs die letzte, auf dem seltsamen Weg, den das Buch von Kopernikus nahm.
Langsam gereift, in Jahrzehnten herangewachsen, war dieses Werk nicht etwa – wir sahen das schon – von seinem Schöpfer aus Angst vor dem Scheiterhaufen so lange zurückgehalten worden. Und Kopernikus mußte, in dem Augenblick, da er es den getreuen Händen seines Jüngers und Freundes Joachim Rheticus übergab, annehmen, daß nun alles Erforderliche getan worden war, um ihm den üblichen Weg in die breitere Öffentlichkeit zu sichern.
Aber ein böser Stern schien über dem Sternenbuch des großen Astronomen zu leuchten. Rheticus, beamtet, Professor in Wittenberg, hatte sein Lehramt opferwillig aufgegeben, um sich ganz der Überwachung des Druckes zu widmen, der bei dem bekannten Drucker Petrejus in Nürnberg erfolgen sollte. Besondere, unvorhergesehene Umstände brachten es jedoch mit sich, daß Rheticus der freiwillig und mit so glühender Begeisterung übernommenen Aufgabe sich nicht voll widmen konnte. So beauftragte er mit der Überwachung des Druckes den ihm nahestehenden und vielfach verbundenen evangelischen Theologen Andreas Osiander.
Osiander war gewiß weder ein großer Mathematiker noch ein bedeutender Astronom. Diese beiden Forschungs- und Wissenschaftsgebiete lagen abseits seines eigenen Tätigkeitsfeldes, der Gottesgelahrtheit. Aber er war, wie wir annehmen dürfen, ein kluger, wissender, wohl unterrichteter und auch im Leben stehender Mann, der im Laufe seines Daseins mancherlei Erfahrungen gesammelt hatte. Und wenn es sich hier auch, wie gesagt, um Dinge handelte, denen er bislang vielleicht nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt hatte – so viel verstand er doch bei sorgfältiger und gewissenhafter Durchsicht des Manuskripts, daß hier Ideen verkündet wurden, die unter Umständen das ganze bisherige Denken umwälzen und vielleicht einen Rausch der Begeisterung, aber vielleicht auch Zerstörung und Entfesselung hervorrufen konnten. Noch wirkte die Inquisition in allen Ländern Europas, noch flammten bald da, bald dort die Scheiterhaufen empor, auf denen man die Ketzer verbrannte. Es gab der warnenden Beispiele mehr als genug. Und noch lebte fern im hohen Nordosten, in Frauenburg, jener Domherr, der als der Verfasser dieses umstürzenden Werkes zeichnete. Er war schon sehr alt, Osiander wußte es wohl, er war müde und krank, und die besten, die glühendsten seiner Kräfte waren verzehrt. Aber noch nie – auch das wußte Osiander – hatte Alter und Krankheit und Siechtum einen Menschen zu schützen vermocht, auf den die Inquisition erst einmal ein Auge geworfen hatte. Die alleinseligmachende Kirche kannte da kein Erbarmen, wo es um die Sicherung ihrer Lehre, um die Unversehrtheit ihres Dogmas ging.
Darum aber schien es, nach Osianders Meinung, hier doch zu gehen, wenn auch nur von Sternen und Weltkörpern und von den Bewegungen der Erde und des Mondes und der Planeten im Raum die Rede war. Und so hatte man wohl die Pflicht, das Haupt des Verehrungswürdigen – auch Osiander, der Protestant, verehrte den katholischen Domherrn, durch dessen Werk ein so großer, mächtiger und freier Atem wehte – zu schützen.
Und nicht nur den Schöpfer, sondern auch das Werk selbst! Denn wie sollte es seine Wirkung ausüben können, wenn es etwa von der Kirche geprüft und sofort verworfen wurde? Auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde? Gewiß: Kopernikus hatte es durch eine Vorrede an den Papst Paul den Dritten diesem gleichsam gewidmet. Aber wer konnte wissen, ob der Heilige Vater in Rom diese Widmung annehmen würde? Und selbst wenn das geschah, bedeutete es keine ausreichende Sicherung gegen spätere Angriffe und Verfolgungen.
Da nun kam Osiander auf eine besondere Idee. Ohne sich vorher mit dem schwerkranken Kopernikus oder doch mindestens mit Rheticus in Verbindung zu setzen, gab er dem Werk eine weitere Vorrede bei, in der er die von Kopernikus entwickelten Gesetze als bloße Thesen hinstellte, die nur den einen Zweck hätten, die Berechnung der Bewegungen zu erleichtern. Einen Wahrheitsanspruch aber hätten sie nicht.
Es war, wie gesagt, gut gemeint. Und dennoch war diese Vorrede ein tödlicher Schlag für das Werk von Kopernikus, hätte das mindestens werden können. Kopernikus hatte sein System hingestellt als eine neue und begründete Erkenntnis, als eine Wahrheit, die bisher den Blicken der Menschen verschleiert gewesen war. Nur wenn man seine Lebensarbeit so hinnahm und auffaßte, wurde man ihr und ihrer Aufgabe gerecht. Nahm man ihr diesen Charakter, bezeichnete man sie als eine Hypothese, dann wurde sie in ihrem eigentlichen Kern völlig entwertet. Dann war sie weiter nichts als ein wissenschaftliches Hilfsmittel.
Rheticus erkannte das sofort, und auch des verstorbenen Domherrn Kopernikus langjähriger und treuer Freund, der Bischof Tiedemann Giese, sah sogleich, welche Gefahr hier drohte und worum es ging. Beide schoben zunächst alle Schuld auf den Drucker Petrejus, zweifellos zu Unrecht.
Tiedemann Giese sprach sogar in einem an Rheticus gerichteten Brief aus dem Juli des gleichen Jahres von des Petrejus »Treulosigkeit« und »Gottlosigkeit«, die ihn, Giese, mit tiefer Empörung und bitterer Trauer erfüllt hätten. Im gleichen Atemzuge aber nahm er auch den Drucker wieder halbwegs in Schutz und meinte, vielleicht habe ein Neider die Einfältigkeit des Petrejus benutzt und mißbraucht. Irgendein Mensch, dem es unangenehm war, von seiner bislang vertretenen Anschauung abgehen zu müssen, falls des Kopernikus Buch etwa Berühmtheit erlangen sollte und die Ansichten des Domherrn sich in der wissenschaftlichen Welt durchsetzen würden. Das war vielleicht ein deutlicher Hieb gegen Osiander, vielleicht aber auch nur eine ganz allgemein gefaßte Vermutung.
Jedenfalls kamen die beiden Freunde des Verstorbenen zu der Überzeugung, hier müsse sofort etwas geschehen, um das Werk des Kopernikus in all seiner Bedeutung und seinem ganzen Gewicht herauszustellen und zugleich Kopernikus selbst von dem Verdacht zu reinigen, er habe, um seiner eigenen Sicherheit willen und um sich allen etwaigen Angriffen zu entziehen, durch diese Vorrede sein Buch abschwächen wollen.
Der Bischof wandte sich also an den Rat der Stadt Nürnberg, »um das Vertrauen in den Verfasser wieder herzustellen«, und bat, gegen den Schuldigen von dort aus vorzugehen. Rheticus selbst aber sollte, »als Chorführer der hier gespielten Tragödie«, wie der Bischof sich ausdrückte, nicht nur die Interessen des geliebten und verehrten Toten vor dem Nürnberger Rat wahrnehmen, sondern gleichzeitig auch den noch nicht ausgedruckten Exemplaren des Buches eine weitere Vorrede beigeben, die den wahren Sachverhalt darstellte und das Ganze von jeder Entstellung reinigte.
Dies geschah. Und man hätte annehmen müssen, daß die Wirkung des so in seiner ursprünglichen Form der Öffentlichkeit übergebenen Werkes »De revolutionibus« eine sofortige und ungeheure hätte werden müssen. Aber immer wieder ergibt es sich, daß neue Wahrheiten sich sehr langsam durchsetzen, in der Regel wenigstens, und daß ihr größter Widersacher die Trägheit ist, die Trägheit des Geistes und die Trägheit des Herzens, die sich sträuben, liebgewordene, zur Gewohnheit gewordene Anschauungen und Vorstellungen preiszugeben.
Trotzdem war freilich die erste Wirkung der Veröffentlichung bedeutend. Sie war aber auch widerspruchsvoll und entsprach fast genau dem Gegenteil dessen, was man hätte erwarten müssen. Erwarten mußte man eigentlich, daß die katholische Kirche, seit jeher eifersüchtig darauf bedacht, ja nicht ein Tüpfelchen ihres starren dogmatischen Gebäudes preiszugeben, gegen diese neue Weltschau in erster Linie Front machte. Aber der Papst Paul III., dem Kopernikus, wie wir wissen, sein Werk gewidmet hatte, nahm die Widmung ohne weiteres an, und sein Nachfolger Gregor XIII. erhoffte sich von ihm sogar die seit langem von der ganzen christlichen Welt so innig ersehnte, die so sehr notwendige Kalenderreform. Auch der überwiegende Teil des katholischen Klerus stand, fürs erste wenigstens, der neuen Lehre durchaus freundlich gesinnt gegenüber. Das mochte freilich in gewissem Umfange auch darauf zurückzuführen sein, daß doch eine verhältnismäßig große Anzahl von Exemplaren des Werkes, wohl beinahe die ganze erste Auflage, mit dem verfälschenden Geleitwort von Osiander in die Hände der Interessierten gelangt war.
Genau umgekehrt war die Wirkung des Buches auf die Anhänger der protestantischen Lehre, vor allem auf deren Schöpfer, Martin Luther, selbst. Als erster erklärte Melanchthon, der doch Kopernikus bei Lebzeiten durch Freundschaft verbunden gewesen war, ja die Drucklegung des Werkes sogar empfohlen hatte, die Autorität der Heiligen Schrift spreche gegen die Annahme der »Theorie der Erdbewegung«.
Sehr viel drastischer in seiner Ablehnung, ja Verachtung des Kopernikus äußerte sich Luther selbst. »Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren«, urteilte er. »Aber wie die Heilige Schrift anzeigt, so hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht das Erdreich!«. Das war jener Einwurf, den einsichtige Freunde und Verehrer von Kopernikus von jeher erwartet hatten und der sie seit eh und je mit Besorgnis erfüllt hatte. Immerhin: auch die protestantischen Theologen, denen Luthers Wort beinahe so viel galt wie Gottes Wort, nahmen wohl von Anbeginn eine ausgesprochen feindliche Stellung ein, aber sie traten doch der weiteren Verbreitung der Lehre des Kopernikus nicht direkt hindernd gegenüber. Das änderte sich erst allmählich. Luther, Melanchthon und die ganze theologische protestantische Gefolgschaft der großen Reformatoren mochten noch der Ansicht sein, dieser vermeintliche Irrtum des Kopernikus sei so offensichtlich, daß sich seine »närrische« Auffassung bei weiterem Bekanntwerden seines Werkes gleichsam von selbst widerlegen werde. Als aber im Laufe der Zeit genau das Gegenteil davon eintrat, bezog die Kirche beider Konfessionen, und nun vor allem die katholische, eine neue Stellung.
Das war, genau betrachtet, nur logisch. Dadurch nämlich, daß die kopernikanische Lehre die Erde ihrer bevorzugten Stelle im Weltenraum entkleidete und sie zu einem ewigen Lauf um die Sonne verurteilte, machte sie, nach dem treffenden Urteil eines Kulturhistorikers, soweit es sich um die auf ihr sich abspielenden historischen Begebenheiten handelte, aus dem bisherigen Hoftheater ersten Ranges eine Provinzbühne minderer Ordnung und Wichtigkeit. Gerade darin aber lag neben der kulturhistorischen Bedeutung des Vorgangs eben jener Punkt, der für die kirchliche Macht sich am gefährlichsten auswirken würde. Oder doch mindestens auswirken könnte.
Es dauerte allerdings, wie gesagt, lange, ehe sich dieser Umschwung innerhalb der katholischen Theologie deutlicher bemerkbar machte. Dann aber – und zwar gegen den Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, also mehr als fünfzig Jahre nach dem Tode von Kopernikus – setzte auch sogleich ein wahrhaft stürmischer Kampf gegen seine Lehre ein. Sie wurde als eine äußerst gefährliche und an den Fundamenten des christlichen Glaubens rüttelnde Ansicht gezeichnet und gebrandmarkt. Die Inquisition, deren Zugriff der Domherr aus Frauenburg sich durch seinen Tod entzogen hatte, forderte nun wenigstens sein Werk vor ihr hohes und grausames Tribunal. Am 24. Februar 1616 gab die Inquisition das Gutachten ab: »Behaupten zu wollen, die Sonne stehe unbeweglich im Zentrum der Welt, ist absurd, philosophisch falsch und vor allem ketzerisch, denn das steht im ausdrücklichen Widerspruch zur Heiligen Schrift. Zu behaupten, die Erde stehe nicht im Zentrum der Welt, sei nicht unbeweglich, sondern habe sogar eine tägliche Rotationsbewegung, ist absurd, philosophisch falsch und zu mindesten ein irriger Glaube.«
Dieses Urteil hatte die selbstverständliche Folge, daß das Werk des Kopernikus auf den Index librorum prohibitorum, auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Sein Schicksal teilten die »Anmerkungen zur kopernikanischen Astronomie« von Johannes Kepler, der sich von Anfang auf den Boden der kopernikanischen Lehre gestellt hatte, und die »Dialoge über die zwei großen Weltsysteme« von Galileus Galilei, in dem Kopernikus und seiner Lehre ein ebenso leidenschaftlicher und begeisterter wie auch entschiedener Befürworter und Vorkämpfer erstanden war. Alle drei Schriften blieben auf diesem Index bis zum Jahre 1835; d. h. fast drei Jahrhunderte dauerte es, ehe die katholische Kirche ihren Standpunkt, das Werk des Kopernikus sei ketzerisch und unvereinbar mit der Heiligen Schrift und den Heilslehren der Kirche, aufgab.
Das alles darf niemanden in Verwunderung versetzen. Seit jeher hat die Menschheit, hat die Geschichte jene beseitigt, jene bekämpft und getötet oder auf irgendeine Art zu vernichten gesucht, die durch allzu vieles Fragen einer Welt, welche die Beharrung liebte, gefährlich zu werden drohten. Denn wer fragt, der will Antwort, eine Antwort, die nur die Wahrheit zu geben vermag, und die Wahrheit erforschen wollen, mehr noch die Wahrheit verkünden wollen, ist eine Bedrohung. Deshalb mußte Sokrates den Giftbecher trinken, deshalb wurde der Dominikaner Giordano Bruno, der die Kopernikanische Lehre verkündete, anno 1600 nach dem Urteil des Ketzergerichts auf dem Marktplatz in Venedig öffentlich verbrannt. Vor der Geschichte sind eben alle Fragenden Ketzer. Und erst die Nachwelt umwindet die Stirn der Toten mit jenem nie verwelkenden Lorbeer, mit jenem Sinnbild ewigen Ruhmes, den ihnen die Mitwelt seit jeher versagt hat. Gerechtigkeit des Urteils gibt es immer erst dann, wenn sich aus dem Gedankengut eines Genies ein System und eine Nachfolge entwickelt hat.
Den Siegeslauf des Werkes von Nikolaus Kopernikus vermochte der Urteilsspruch der elf Qualifikatoren des Heiligen Officiums in Rom aus dem Jahre 1616 freilich nur mehr zu verzögern und zu hemmen – ihn zu vernichten, dazu war es zu spät geworden. Dazu hatte sich das neue Weltbild bereits allzu sehr in den Kreisen der Wissenden, der Fachgelehrten, ja der Menschheit schlechthin verbreitet.
Es hatten, während der mittlerweile verflossenen sieben Jahrzehnte, natürlich auch vielzuviele Druckstücke des Buches über die Umdrehungen der Himmelskörper ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden, als daß sich nun, gleichsam nachträglich, die darin zum Ausdruck gebrachten Gedanken hätten unterdrücken lassen. Dazu fehlte auch der doch an sich so mächtigen und mit so weitreichenden Mitteln ausgestatteten Kirche die Kraft. Auch machte das Werk, rein technisch gesehen, ja keineswegs an den Landesgrenzen halt. Schon die zweite Ausgabe erschien 1566 in Basel, also in der Schweiz, die dritte sogar ein Jahr nach dem Verbot, 1617, in Amsterdam. Der Weg in die abendländische Geisteswelt war also von vornherein gesichert. Als dann, in verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen, bald da, bald dort Neudrucke herausgebracht wurden, teilweise sogar mit Abbildungen, die der Erläuterung der Gedankenwelt von Kopernikus dienen sollten, erwies es sich, daß der Spruch des Heiligen Officiums in Rom im Letzten doch ein Schlag ins Wasser gewesen war. Die Wahrheit feierte ihr Siegesfest!
Nur jenem bereits erwähnten Kommentar, den Kopernikus selbst noch zu dem eigentlichen Werk geschrieben hatte, lange vor dessen Veröffentlichung, und das lediglich in wenigen handschriftlichen Exemplaren verbreitet worden war, erging es anders. Es blieb mehr als dreihundert Jahre hindurch völlig verschollen und ist erst 1878 in einem einzigen Exemplar wieder aufgefunden worden.