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Der einstmals seinen Namen an die Sterne heften sollte – an eben jene Sterne, denen er den besten Teil seiner Kräfte, die längsten Jahre seines Lebens gewidmet hatte, – dieser Nikolaus Coppernigk, wie die deutsche Schreibweise lautete, Kopernikus, wie er sich als Wissenschaftler nannte, wurde am 19. Februar 1473 in Thorn geboren. Dorthin war sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, aus dem im fünfzehnten Jahrhundert noch fast völlig deutschen Krakau übergesiedelt. Ursprünglich stammte die väterliche Familie aus einem schlesischen Dorf Köppernitz bei Neiße.
Über die Vorfahren des Kopernikus väterlicherseits ist nur wenig überliefert. Und von dem Wenigen ist das meiste längst dem müdegewordenen Gedächtnis der Deutschen entglitten. Besser, genauer sind wir über die Familie der Mutter unterrichtet. Sie hieß Barbara Watzelrode und war die Tochter des Schöppenmeisters beim Altstädtischen Gericht Thorns, Lukas Watzelrode, entstammte also einer der angesehensten Familien der Hansestadt an der Weichsel. Kopernikus' Vater heiratete sie bald nach seinem Zuzug und seiner Einbürgerung in Thorn und verband sich durch diese Heirat einer Sippe, die in der Geschichte Thorns schon seit langem eine bedeutende Rolle spielte. War doch eine Schwester Barbaras mit dem Ratsherrn Tilman von Allen verheiratet, der mehrere Male das hohe Amt eines regierenden Bürgermeisters von Thorn bekleidete. Ihr Bruder aber, gleich dem Vater Lukas genannt, der Oheim des Astronomen also, wurde zum Bischof von Ermland gewählt, als Nikolaus Kopernikus gerade fünfzehn Jahre alt geworden war. Er war vom Schicksal dazu berufen, tief in die Erziehung und in das spätere Leben seines Neffen einzugreifen.
Viele glückliche Umstände schienen sich zu vereinigen, um Kopernikus seinen künftigen Lebensweg schon von der Wiege an zu ebnen. Als jüngstes von vier Geschwistern in einer Familie aufwachsend, die man wohlhabend, ja reich nennen durfte, fielen seine Kindheit und frühe Jugend in eine Zeit höchster politischer und wirtschaftlicher Blüte seiner Vaterstadt. Enge verwandtschaftliche Beziehungen verbanden ihn und die Seinen mit dem Patriziat der angesehenen Stadt. Und so läßt sich annehmen, daß er eine glückliche, behütete, mindestens aller materiellen Sorgen ledige Kindheit und Jugend hatte. Aber wenn auch viel dafür spricht, daß es so gewesen ist, es bleibt eine Annahme, eine Vermutung. Tatsächlich wissen wir über seine Jugend nichts. Absolut nichts. Keine Briefe, keine Notizen, keine Berichte Dritter sind uns überkommen, die in das hier herrschende Dunkel Licht bringen könnten. Der erste große Naturforscher an der Wende zu einer neuen Zeit, an einer Wende, die er in sehr wesentlichen Punkten mitgestaltet hat, derselbe Mann, der auf wissenschaftlichem Gebiet mindestens so umstürzend wirkte wie Luther, sein Zeitgenosse, auf kirchlich-religiösem, tritt aus einem erstaunlichen Dunkel in ein nicht minder erstaunliches, strahlend-helles Licht.
Alles also, was je in irgendeinem Buch über die Kindheit von Kopernikus berichtet wird, ist entweder reine Dichtung, mit dem Ziel, aus ihr heraus diese Gestalt uns Heutigen menschlich näherzubringen, oder es ist ein Versuch, diese Kindheit aus der Kenntnis um den Mann Kopernikus rückschauend zu deuten. Gewiß: eine Persönlichkeit, ein Charakter entwickelt sich erst mählich inmitten des Stromes der Zeit. Aber auch was sich entwickelt, muß zunächst einmal dagewesen sein, muß schon als Keim im Kinde geruht haben. Und wenn wir nun, aus dem späteren Leben von Kopernikus, wissen, daß er eine gütige und weise, eine unermüdlich tätige und bienenemsige, immer auf das Große und Umfassende gerichtete Persönlichkeit gewesen ist, so gehen wir gewiß nicht fehl, wenn wir auch dem Kinde Kopernikus schon einen grüblerischen, forschenden Sinn, Wißbegier und Wahrheitsdrang, Fleiß und Hingabe an die ihm gesetzten Aufgaben unterstellen. Dies aber ist auch alles, was sich sagen läßt, bis zum Jahre 1491, als der eben erst Achtzehnjährige nach Krakau ging, um dort mit dem Studium an einer der bedeutendsten und angesehensten Universitäten jener Zeit zu beginnen.
Achtzehn Jahre? Uns Heutigen mag das als jung erscheinen, muß es so erscheinen. Aber die Menschen jener Zeit, meist so viel früher sterbend, reiften auch früher, und der Thorner Bürger- und Kaufmannssohn, der da als Scholar nach Krakau ging, jener anderen Weichselstadt, war beinahe schon so etwas wie ein bemoostes Haupt. Gab es doch an Deutschlands hohen Schulen und auch an jenen des Auslandes Studierende von fünfzehn, sechzehn Jahren die Fülle, waren doch Doktoren, ja selbst Professoren der Philosophie, der schönen Künste, der Jurisprudenz, die eben erst das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten, keineswegs selten.
Und dann: jeder Mensch ist ja auch in mehr als einer Beziehung das Produkt seiner Zeit. Das kann gar nicht anders sein. Und was war das doch für eine seltsame, merkwürdige, verworrene, bis in alle Tiefen hinein aufgespaltene Zeit, in die sich der junge Kopernikus hineingestellt sah! Überall begannen sich neue Kräfte, neue Gedanken, neue Vorstellungen zu regen. Gedanken und Kräfte, die auf der einen Seite vernichteten und zerstörten, auf der anderen die Fundamente für eine ganz neue geistige und wirtschaftliche, ja auch räumliche Welt zu legen bemüht waren. Vorsichtig bald und bald ungebärdig rüttelte man an überkommenen Ordnungen und Anschauungen, überall gärte und wühlte es, überall begann sich kritisches Denken, begannen sich Zweifel und damit zugleich neuer Glaube zu regen. Die Trennung, die wir zu machen pflegen, dieser Teilstrich, den wir dort ziehen, wo das sterbende fünfzehnte in das erwachende sechzehnte Jahrhundert überging, sie ist ja keineswegs eine willkürliche. Es begann wirklich eine neue Zeit, es begann die Neuzeit, jene geschichtliche Epoche, der alles Geschehen bis in unsere eigene blutende Gegenwart zuzurechnen ist. Die, wenn auch nicht plötzlich und übergangslos, wenn auch mit mancherlei Rückschlägen und Verzögerungen, dem Mittelalter ein Ende setzte.
Gleich allen anderen trug auch Kopernikus jene Zeit in seinem Blut. Unbewußt gewiß, aber völlig eindeutig. Im Blut trug er auch das persönliche Erleben, sein privates Schicksal. Des Vaters früher Tod – zwölf Jahre war Nikolaus Kopernikus damals alt –, der erst ein Jahr zurückliegende Tod der Mutter konnten auf die seelische Haltung des Verwaisten nicht ohne Einfluß bleiben. Der Bruder der Mutter, Lukas Watzelrode, gerade ein Jahr vorher zum Bischof von Ermland gewählt, ist gewiß dem jungen Studierenden ein verantwortungsbewußter Mentor gewesen und es durch lange Jahre geblieben, und viel hatte der Neffe ihm zu verdanken. Aber er war doch ein herber, starrköpfiger, in manchem Sinne auch enger Charakter, dem alles Weiche, Schmiegsame, Sanfte abging, der wohl dem Verstand, nicht aber dem Herzen des Neffen zu geben, zu schenken vermochte.
Aber was immer Kopernikus an menschlicher Wärme in seiner Umgebung fehlen mochte, er fand dafür hinreichenden Ersatz in dem leidenschaftlichen Drang nach Wissen, der ihn früh erfüllt haben muß. Wie Goethes Doktor Faust wollte er Weisheit aus allen Quellen saugen, die sich ihm öffneten. Er war eingeschrieben in die sogenannte Artistenfakultät, d. h., in unserer heutigen Ausdrucksweise, er studierte Philosophie. Aber er studierte natürlich auch Theologie; denn da war, oben in Ermland, in Frauenburg, der strenge Ohm, der die geistliche Laufbahn für ihn vorgesehen hatte, eine Laufbahn, die bei solcher Fürsprache zu den größten Hoffnungen und Erwartungen berechtigte. Und er studierte neben Medizin vor allem Mathematik und im Zusammenhang damit auch Astronomie. Hier folgte er einer früh in ihm zum Durchbruch gekommenen Neigung, die mählich immer mehr den Charakter einer Art geistiger Leidenschaft annahm.
Nicht durch den Theologen und Mediziner oder den Magister der Schönen Künste, falls ihm ein solcher Grad jemals zugefallen wäre, ist der Name Kopernikus berühmt und unsterblich geworden, sondern einzig und allein durch die neuen Erkenntnisse seines Trägers auf astronomischem Gebiet. Und da hätte Kopernikus kaum einen glücklicheren Griff tun können als eben den Beginn seiner Studien in Krakau. Denn gerade auf diesem Gebiet verfügte die Universität über hervorragende Lehrer, deren Ruf ihnen Zuspruch aus dem gesamten Abendland und vor allem auch aus Deutschland verschaffte. An ihrer Spitze stand Albert Brudzewski, in dem wir zweifellos jenen Mann zu sehen haben, der den jungen Famulus in die Geheimnisse und in den Zauber, in die Schwierigkeiten und in die noch immer ungelösten Rätsel der Sternkunde einführte.
So etwa müssen wir uns Nikolaus Kopernikus in Krakau vorstellen: jung, glühend, von leidenschaftlichem Erkenntnis- und Wissensdrang beseelt, gleichzeitig aber, bei aller demütig-frommen Bewunderung vor der im Sternenhimmel und seiner Unendlichkeit sich offenbarenden Allmacht und Größe Gottes, kühl, zäh, mit unendlichem Fleiß bemüht, das zu durchdringen, was noch immer Geheimnis war und selbst den Wissenden, den Fachgelehrten, Schwierigkeiten bereitete und stets neue Rätsel aufgab. Dieses Streben beherrschte ihn fast ganz. So sehr nahm es alle seine Kraft in Anspruch, daß er sich nur gleichsam am Rande an den Streitigkeiten beteiligte, die immer wieder zwischen den Scholasten und Humanisten ausbrachen; daß selbst die Auseinandersetzungen auf nationalem Gebiet, hauptsächlich zwischen den Ungarn und den Deutschen, ihn nur flüchtig, nur vorübergehend berührten. Da er der eifrigste Hörer Brudzewskis war, der als Prokurator der Universität für die Deutschen und zugleich für die Humanisten eintrat, so befand er sich in guter Hut und brauchte nie in einen Gegensatz irgendwelcher Art zu seinem wissenschaftlichen Mentor zu treten.
In einer solchen geistigen und seelischen Verfassung also kam Kopernikus erstmalig inniger mit dem astronomischen Grundwerk, mit der Bibel der Astronomie, wie wir es nannten, dem großen Almagest des Ptolemäus, in Berührung. Er, der Wissensdurstige, nahm es in sich auf, fraß es in sich hinein wie ein hungerndes Tier die ihm vorgeworfene Nahrung. Aber eben doch nicht vorbehaltlos, eben doch nicht als ein Gegebenes, das man hinnehmen mußte wie eine Selbstverständlichkeit. Schon damals müssen sich erste Zweifel in ihm geregt haben, Zweifel, die vielleicht sogar sein berühmter Lehrer behutsam nährte. Der Ruhm, der dieses Werk und seinen Schöpfer umwitterte, dieser nun schon mehr als tausend Jahre währende, niemals ernsthaft erschütterte, ernsthaft gefährdete Ruhm, vermochte den Blick des jungen Baccalaureus nicht zu trüben. Zu selbständigem Denken geboren, las und lernte er kritisch. Und er tat es umsomehr, als er ja ganz ein Kind dieser Zeit war, die an sich zu Kritik am Überkommenen neigte. Fiel doch auch in das zweite Jahr seiner Krakauer Studienzeit die kühne Entdeckertat von Kolumbus, durch die der Welt eine neue Welt geschenkt wurde, durch die eines großen Gedankens Wahrheit auf unwiderlegliche Art bewiesen wurde. Was selbst die Naiven, ja sogar die Stumpfen und Gleichgültigen aufhorchen ließ und nachdenklich machte, wie konnte das ohne tiefgreifende, ungeheure Wirkung an einem Menschen vorübergehen, der wie Kopernikus bohrend und grübelnd um die letzte Erkenntnis auf einem zwar anderen, aber dennoch verwandten Gebiet rang?
War das System des Ptolemäus eine solche letzte Erkenntnis? Es erklärte vieles, was dem Unwissenden als rätselhaft, ja als geheimnisvoll erscheinen mochte an den Bewegungen am Himmelsdom. Vieles, gewiß. Aber eben doch nicht alles. Je sorgfältiger man diese Bewegungen beobachtete, je genauer man dank der besseren Meßinstrumente die Orte der Wandelsterne zu errechnen vermochte, desto mehr zeigten sich die Ungenauigkeiten in den Angaben des Ptolemäus. Um ihrer Herr zu werden, hatte erst die arabische, dann die gesamte abendländische Astronomie immer neue Hilfskonstruktionen ausführen, den gegebenen immer weitere Epizykel und Deferenten zufügen müssen, gedachte Linien im Raum, auf denen sich die Planeten angeblich bewegten. Die geometrische Darstellung selbst der einfachsten Bahn eines Planeten wurde so mählich zu einer immer verwirrenderen Zeichnung. Wohl: da stand die Erde, der angebliche Mittelpunkt und Angelpunkt des Alls, an dem ihr von Gott zugewiesenen Platz, ehern und unbeweglich. Und auf ihren fiktiven Kugelschalen, auf den ptolemäischen Sphären, liefen die Planeten auf Kreisen, deren Mittelpunkt sich wieder auf einem exzentrischen Kreis um die Erde bewegte. Das waren die Epizyklen, das waren die Deferenten. Wirklich, Gott mußte bei der Erschaffung der Welt sich ganz besondere Mühe gegeben haben, etwas möglichst kompliziert zu gestalten, was sich doch, nach jener Meinung des spanischen Königs, eigentlich sehr viel einfacher hätte machen lassen. Und dann: so kompliziert das System war, hundertmal stimmte es, wundervoll stimmte es. Nur, leider, beim hundertundersten oder hundertundzweiten Mal stimmte es nicht. Und da es doch ausgeschlossen war, daß irgendetwas im göttlichen Werk nicht stimmte, daß da eine Lücke blieb, so mußte durch Hinzufügen neuer Kreise, neuer Epizykel, auch das noch nicht Stimmende stimmend gemacht werden.
Alle sahen das, die sich mit der astronomischen Wissenschaft beschäftigten. Brudzewski sah es auch, hatte es längst gesehen, und vielleicht bedurfte es gar nicht seines vorsichtigen Hinweises, um einen Kopernikus stutzig zu machen. Schon ein anderer vor ihm war nachdenklich geworden, ein Mann mit dem bürgerlich schlichten Namen Johannes Müller, der sich nach seiner Vaterstadt Königsberg in Franken als Gelehrter wohlklingender Regiomontanus genannt hatte. Vor noch nicht zwanzig Jahren war er gestorben, zu Rom, der ewigen Stadt, die so vielen Deutschen zum Schicksal geworden war. Und nur vierzig Jahre war er alt geworden. Aber was hatte er in diese knappe Lebensspanne alles hineinzudrängen gewußt an Arbeit, an Forschung, an Erkenntnis! In diese vierzig Jahre eines doch auch an äußeren Abenteuern und Schicksalen so ungewöhnlich bewegten Lebens. Er hatte, sehr jung noch, die »Epitome« herausgebracht, einen brauchbaren Auszug, einen handlichen Auszug aus dem etwas unhandlichen Werk des Ptolemäus. Er hatte mit seiner Dreieckslehre und seinen Rechentafeln sich einen Namen gemacht, er hatte in Nürnberg eine eigene Druckerei, eine eigene Sternwarte errichtet, hatte viele überkommene Irrtümer und Fehler berichtigt, hatte den großen Plan genährt, alle bis zu seiner Zeit vorhandenen Werke über die Astronomie herauszubringen, und erst der jähe Tod hatte dem Nimmermüden die Arbeit aus der Hand gewunden. Er war auch schon unter die Zweifler gegangen, er hatte auch schon da und dort ein großes Fragezeichen gemacht, wo andere sich mit billiger und zu nichts verpflichtender Hinnahme des Überlieferten begnügt hatten. Er hätte vielleicht noch große und kühne Gedankengebäude errichten können – wer mochte das sagen. Er starb zu früh. Aber vielleicht war dies sein Schicksal: ein Vorläufer zu sein für einen anderen, Größeren, der kommen sollte. Möglich, ja wahrscheinlich, daß Regiomontanus der sorgfältigere Beobachter, der bessere und gewissenhaftere Rechner war. Die Zukunft aber sollte erweisen, daß Kopernikus der kühnere Denker war.
All diese Zweifel und Fragen und Rätsel, auf die Kopernikus stieß, die ihn schon in jungen Jahren nächtelang wachhielten und beschäftigten, durften ihn jedoch nicht hindern, seinen theologischen Studien, wenn vielleicht auch mit minderem Eifer, nachzugehen. Ohne sie richtig abzuschließen, verließ er im Jahre 1494 Krakau und erhielt durch die Fürsprache und Vermittelung seines Onkels, des Bischofs von Ermland, ein Kanonikat am Frauenburger Dom.
Damit wurde Kopernikus, erst einundzwanzig Jahre alt, Mitglied einer der bedeutendsten, angesehensten und auch reichsten geistlichen Körperschaften des Ordenslandes Preußen. Er wurde, äußerlich gesehen, weit mehr und anderes, als sein bescheidener geistlicher Titel auf den ersten Blick vermuten läßt. Das Domkapitel sicherte seinen Mitgliedern vermöge seiner großen Einkünfte nicht nur ein wirtschaftlich fast völlig unabhängiges Leben – ein Leben zudem, das sich durchaus in weltlichen Formen bewegte und sich von jenem der adligen Grundherren kaum unterschied –, sondern es gestattete ihnen auch, Waffen zu tragen und sich Pferde und Diener zu halten. Auch die meisten anderen Herren des Kapitels hatten nur die niederen kirchlichen Weihen empfangen. Aber es bestand das ungeschriebene Gesetz, daß alle eine höhere wissenschaftliche Bildung allgemeiner Art sich aneigneten und einen akademischen Grad erwarben.
Das aber war gerade das Richtige für einen Kopernikus, der in Krakau seinen Lern- und Wissenseifer noch längst nicht hatte befriedigen können. Er gewann durch seine Stellung als Kanonikus die wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlage für die Fortsetzung seiner Studien und die Rechtfertigung für die angestrebte allseitige Ausbildung seines Wissens und für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit. Zudem wurde er wenigstens fürs erste den heftigen politischen Kämpfen, in die der Orden um jene Zeit in besonders starkem Umfange verwickelt war, enthoben. Kaum zwei Jahre brauchte er sein Amt praktisch und an Ort und Stelle auszuüben. Dann ging er, 1496, mit Zustimmung mindestens, wahrscheinlich sogar auf Veranlassung seines bischöflichen Onkels, nach Italien, um dort seine wissenschaftliche Ausbildung fortzusetzen.
Als Nikolaus Kopernikus erstmalig die Alpen überstieg, um zunächst in Bologna kanonisches Recht zu studieren, ahnte er gewiß selbst noch nicht, daß er ein ganzes rundes Jahrzehnt unter der heißeren Sonne Italiens leben würde, daß er, mit Ausnahme einer kurzen Urlaubsunterbrechung, volle zehn Jahre, die für seine künftige Entwicklung wichtigsten Jahre seines Lebens, an den Hohen Schulen Italiens verbringen würde.
Schon in Bologna hatte Kopernikus wieder Glück, was seine leidenschaftliche Hinneigung zur Astronomie anbelangt. Es war selbstverständlich für ihn, daß er in die deutsche Landsmannschaft, die Natio Germanorum, eintrat, die nur solche Studierende zuließ, deren Muttersprache die deutsche war; aber an den häufigen Raufereien zwischen den einzelnen Nationen, die an dieser alten und weltberühmten Universität vertreten waren, hat er sich kaum beteiligt, seine Studien nahmen ihn allzu stark in Anspruch. Statt dessen aber fand er – wie in Krakau in Brudzewski – hier in Dominicus Mario di Novara einen hervorragenden Lehrer, der sich sofort, mit scharfem Blick für die in Kopernikus schlummernden Gaben und Kräfte, des jungen Studenten und Kanonikus annahm. Dominicus Mario dachte ebenfalls über die Richtigkeit und unbedingte Zuverlässigkeit des Ptolemäischen Systems bereits sehr frei, wenn er natürlich auch gehalten war, dieses System zur Grundlage seiner vom Katheder aus verbreiteten Lehren zu nehmen.
Aber Novara lehrte nicht nur vom Katheder. Er hatte einen Jünger gefunden, einen Menschen, der jung war und gläubig zu ihm aufschaute, der glühend war und besessen von dem Drang nach Erkenntnis. Ihm gegenüber konnte man, in vertrautem, engem Umgang, gefahrlos widerrufen, was man im Hörsaal zu verkünden verpflichtet war.
Novara liebte ihn, und er vertraute diesem jungen Deutschen.
»Kennst du Cusanus?«, fragte er ihn. »Hast du je etwas von dem Kardinal Cusanus gehört?«
Nein. Kopernikus kannte ihn nicht. Bedauernd schüttelte er den Kopf.
»Er ist eigentlich dein Landsmann«, lächelte der Gelehrte. »Und du solltest ihn kennen. Er hieß Nikolaus, wie du, und sein Familienname war Krebs. Aber, nicht wahr, mein Sohn, welcher fortschrittliche Geist möchte schon Krebs heißen? Nicht einmal ein Kardinal möchte das, obwohl doch die Kardinäle meist alles andere als fortschrittlich sind. Dieser Kardinal war es. Und als solcher nannte er sich, auch als Wissenschaftler, als Gelehrter, nach seinem Geburtsstädtchen Cues bei Trier Cusanus. Du solltest lesen, du solltest wirklich lesen, was er geschrieben hat. Ich werde es dir geben. Er vertritt die Auffassung, daß es im Weltenraum nichts Unbewegtes gebe …«
In die Stille, die entstand, tropften, zögernd, Kopernikus' fragende Worte: »Aber die Erde?«.
»Daß es im Weltenraum nichts Unbewegtes geben könne …« wiederholte Novara mit einem leisen, bedeutsamen Lächeln.
»Ihr meint? …« sagte Kopernikus, und eine Art Erschrecken glitt über sein noch ungeprägtes, junges, glattes Gesicht.
»Man müßte der Sache nachgehen«, erwiderte der Gelehrte. »Es gibt keine Wahrheit, die nicht des Beweises bedarf. Sonst bleibt sie nur eine Behauptung. Bewiesen hat Cusanus noch nichts. Das hat er anderen überlassen. Und dann ist da noch Leonardo da Vinci …«
»Der Maler«, sagte Kopernikus. »Der große, begnadete Künstler. Sein Abendmahl …«
Cusanus … nein, von ihm hatte er nie vordem gehört. Aber Leonardo da Vinci? Wer konnte wohl in dieser Zeit leben, ohne diesen Namen zu kennen, ohne ihn mit Andacht und Verehrung zu nennen? Diese Frage seines Lehrers verletzte ihn fast.
»Er ist nicht nur Maler, nicht nur Künstler!«, erwiderte Novara. »Er ist auch ein Mathematiker, ein Physiker, ein Techniker von Rang. Die Dominikaner in der Santa Maria delle Grazie in Mailand, die andächtig zu dem Abendmahl emporschauen, das er gerade vollendet hat, würden ihn vielleicht als einen Ketzer ansehen, wüßten sie mehr von seinen Schriften als von seinen Bildern. Er wird vielleicht einmal als das letzte universale Genie bezeichnet werden, das die Welt hervorgebracht hat.«
»Wir sprachen von den Sternen«, erinnerte Kopernikus.
»Leonardo da Vinci meint, die Erde sei nur ein Stern unter anderen«, sagte Novara und blickte den Jungen prüfend und unauffällig an. Kopernikus wurde blaß.
»Hat er es bewiesen?«, fragte er.
»Auch er hat nichts bewiesen, was diese Frage angeht«, räumte der Gelehrte ein. »Man kann auch zu Überzeugungen kommen, ohne sie bewiesen zu haben. Das ist nicht anders, unter uns Menschen. Immerhin: das ist so einer seiner Gedanken. Aber man muß beobachten, immer wieder beobachten, mit größter, nie endender Gewissenhaftigkeit. Und man muß mißtrauisch sein gegenüber seinen Sinnen. Ihnen gegenüber vor allem. Sie täuschen uns, sie betrügen uns. Die Augen auch, ja die Augen vor allem. Sie sehen nur den Schein – die Wahrheit sehen sie nicht. Nicht ohne weiteres jedenfalls …«
Es gibt nichts Unbewegtes im Weltenraum! Ein Stern unter anderen! Beobachten, prüfen, mißtrauisch sein und dennoch glauben können an eine Wahrheit, die jenseits aller Täuschung, alles Irrtums und aller Überlieferung steht. Und die darauf wartet, gefunden zu werden.
Tief senkte sich der Zweifel in die Brust des jungen Studenten. Jener Zweifel, der die Quelle aller großen Taten und Entdeckungen im Bereich des Geistes ist.
Beobachten! Man hatte es noch längst nicht genug getan. Nun nahm ihn Novara mit in sein bescheidenes Laboratorium. Gemeinsam mit ihm führte Kopernikus, unter der behutsam lenkenden, leitenden Hand des Gelehrten, eine erste Gestirnbeobachtung durch, die viele Jahre später einmal in einem ganz anderen, größeren Zusammenhang verwertet werden sollte.
Und prüfen! Studieren! Zurückgehen bis zu den Quellen – auf die Quellen kam es an. Dort entschied es sich, wo der Irrtum, wo die Wahrheit entsprang.
Tief wühlte sich Kopernikus in die astronomische Literatur der Griechen, in die klassischen Werke der Astronomie hinein, wie ein Maulwurf sich in die Erde gräbt. Und er stieß auf die Namen von Männern, von denen er bislang nie etwas gehört hatte. Da war Ekphantus, ein Zeitgenosse Platos. Er lehrte schon, daß die Erde sich um ihre Achse drehe und also die tägliche Bewegung der Sonne und der Sterne um die Erde nur eine scheinbare sei. Auch er hatte also schon seinen Sinneswahrnehmungen mißtraut.
Und da war Aristarch von Samos – ein Name, den man sich würde merken müssen. Er starb schon ein Vierteljahrtausend vor Christi Geburt. Er hatte eine Hypothese aufgestellt, eine unglaublich kühne Hypothese: daß die Sonne im Mittelpunkt des Weltalls stünde und Erde, Mond und die fünf Planeten sich um sie drehten. Auch die Erde? Ja, da stand es, schwarz auf weiß: auch die Erde!
Dem jungen Forscher wurde der Kopf heiß vom Denken und Grübeln. Warum hatte man von diesen Männern nie etwas gewußt? Warum wurde über sie nichts gelehrt? Ach, es war nicht allzu schwer, dieses Rätsels Lösung zu finden. Da war Aristoteles, auf den das Ptolemäische Weltbild zurück ging. Ein Ehrfurcht erweckender Name, heute noch, damals schon. Name eines Mannes, dessen Ansehen, dessen Ruhm schon im Altertum so groß waren, daß keine anders gerichtete Lehre gegen ihn aufkommen konnte. Gegen seine Behauptung, daß die Erde im Mittelpunkt des Weltraums stünde – ganz wie es später ja auch die christliche Kirche als selbstverständlich behauptete.
Vier Jahre lang studierte Kopernikus in Bologna, zusammen mit seinem Bruder Andreas, diesem schon in jungen Jahren so herben, heftigen Menschen, der die Starrköpfigkeit seines Oheims Lukas Watzelrode geerbt zu haben schien. Vier lange Jahre hindurch durchackerte er die griechische astronomische Literatur, erweiterte gleichzeitig seine Kenntnisse der griechischen Sprache überhaupt, der Dichtung der Hellenen und ihrer Philosophie.
»Und das kanonische Recht?« erinnerte ihn Novara zuweilen mit heimlichem Lächeln.
Ach ja – das kanonische Recht. Auch das wollte studiert sein, das vor allem, man sollte ja, man wollte ja nicht zeitlebens schlichter Kanonikus bleiben.
Es war nicht viel Zeit, neben all dieser Arbeit, diesem unermüdlichen Studium, auch noch an ein privates Leben, an ein heiteres, jugendlich-stürmisches Dasein unter dem blauen Himmel Italiens zu denken. Aber genug doch, um gelegentlich zu pokulieren, vielleicht auch einmal, trotz des geistlichen Standes, dem man sich verschrieben hatte, mit einer braunen Schönen zu scharmuzieren. Das kostete Geld, alles Genießen und Feiern und Fröhlichsein kostete Geld, und so mancher Brief der Brüder flatterte von Italien hinauf in den rauhen Norden und berichtete von Schulden und von Geldnot und bat um Hilfe.
Wie bunt, wie farbig, wie glühend das Leben war! Noch war die Zeit der großen Päpste Alexander VI. und Julius II., die Zeit der Hochblüte der Renaissance, noch lehrte im nahen Florenz Savonarola, der bald auf dem Scheiterhaufen brennen sollte. Und noch war Kopernikus in Ferrara Zeuge der letzten Glanztage von Lukrezia Borgia.
Aber es nahte die Jahrhundertwende, es kam das Jubeljahr der Kirche, das Jahr 1500. Und weiter im Süden, da lockte, mit seinem reichen, vielfältigen Leben, mit den Zeugen einer großen Vergangenheit, mit dem Prunk des päpstlichen Hofes, Rom, die ewige Stadt. Hierher zog es Kopernikus mit unwiderstehlicher Gewalt, hier erlebte er, zur letzten Weihnacht des sterbenden Jahrhunderts, wie der Papst feierlich mit seinem silbernen Hammer gegen die Eingangspforte von Sankt Peter pochte und so der Christenheit das Tor öffnete zum neuen Jahrhundert.
Sicher fiel der etwas schwerfällige, ungefüge Norddeutsche mit dem verschlossenen, schmalen und knochigen Gesicht, der starken, mächtigen Nase, den dunkeln, brennenden Augen unter dichten Brauen auf, zwischen den leichtfüßigeren, eleganteren Römern, den Italienern und Franzosen und Südländern, die die Straßen Roms durchwogten. Er, der Fremde, war trotzdem nicht allen fremd. Beinahe verwundert mußte er feststellen, daß er schon so etwas wie einen Namen besaß, daß ihm dieser Name vorangegangen war. Ob wohl sein Lehrer, dieser weise und gütige und verständnisvolle Novara, ihm, seinem Jünger, den Weg geebnet hatte? Fast mußte es so erscheinen. Und es wurde Kopernikus zur Gewißheit, als man an ihn mit der Aufforderung herantrat, einige Vorträge zu halten. Vorträge nicht etwa des Kanonikus über kanonisches Recht und ähnliches, sondern Vorträge des Novara-Schülers über Mathematik und Astronomie.
Mathematik? Eine gefahrlose Angelegenheit. Mit Pythagoras und mit der Geometrie des Euklid konnte man, auch als Angehöriger des geistlichen Standes, kaum mit den Mächten, die die Welt regierten, kaum mit der Kirche in Konflikt geraten.
Kopernikus hielt seine Vorträge. Selbst noch ein Lernender, wußte er doch schon genug, um gleichzeitig auch ein Lehrender zu sein. Aber mit anderem hatte er auch von Novara gelernt, wie weit er gehen durfte, und es ist gewiß, daß er weise Zurückhaltung übte. Daß er sich noch nicht mit jenen Gedanken hervorwagte, die eben schon in ihm wühlten und brannten. Er konnte das gut tun, ohne dadurch in Widerspruch mit seinem Gewissen zu geraten. Wohl hatten sich schon seit langem wachsende Zweifel an der Wahrheit des ptolemäischen Systems geregt. Aber diese Zweifel hatten sich noch nicht zu einer festen, in Gegensatz zu Ptolemäus und Aristoteles stehenden Überzeugung auskristallisiert. Es war einstweilen noch ein erstes, fast zaghaftes Tasten.
»Wenn wahr sein sollte«, so überlegte er oft und oft, »was Novara, der Dominikaner, andeutete, was schon ein Ekphantus und ein Aristarch als möglich, vielleicht gar als wahrscheinlich vermuteten … dann wird die Weltanschauung eines ganzen Jahrtausends, nein, zweier Jahrtausende aus den Angeln gehoben.«
Dieser Gedanke war zugleich schön und erschreckend. Er barg in sich, Kopernikus erkannte das klar, eine ungeheure Gefahr. Die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems, die Erde nur ein Stern unter anderen Sternen – damit stieß man die ganze Menschheit, die sich als die Krone der Schöpfung anzusehen gewohnt war, von ihrem angemaßten Thron. Man demütigte den Menschen, man demütigte sogar die Erde selbst. Und was würde, was könnte die Kirche dazu sagen? Würde es möglich sein, eine solche Lehre und ein solches astronomisches Weltbild, das ja tief eingriff in die religiösen Überzeugungen der Christenheit, mit all dem zu versöhnen, was in der Bibel über die Stellung von Mensch und Erde im All zu lesen war, was das unabdingbare Dogma der Kirche seit Christi Tod geworden war?
Die wenigen Vorträge des noch immer jungen, noch längst nicht dreißigjährigen Studenten schlugen keine weiteren Wellen. Ein Savonarola, der gegen den Papst und den Mißbrauch der Tiara aufzustehen gewagt hatte, würde brennen müssen, sehr, sehr bald. Und noch hundert Jahre nach diesen in Rom verbrachten Monden würde man einen Anhänger von Kopernikus dem Ketzergericht und der Flamme überantworten. Für ihn, Nikolaus Kopernikus aus Thorn, stand noch kein Scheiterhaufen bereit. Würde er ihn je besteigen müssen?
An all das dachte Kopernikus nicht. Das schlummerte noch tief, tief im Schoße der Zukunft. Er genoß die kargen Monde in Rom, er genoß das bewegte und bewegende Leben in diesem Brennpunkt der christlichen, abendländischen Welt. Ein kurzer Urlaub entführte ihn in seine Heimat oben, nach Preußen, ins Ordensland. Aber noch hatte er nicht jenen akademischen Grad erlangt, den man bei der von ihm eingeschlagenen Laufbahn als selbstverständlich voraussetzte, ja verlangte. Also noch einmal südwärts, nach Italien. Diesmal aber nicht nach Bologna, der schon vertrauten alma mater, mit der ihn so herzliche Empfindungen verbanden, sondern nach Padua.
Drei Jahre Studium in Padua, einer Universität, die an Rang und Ansehen Bologna kaum nachstand. Drei Jahre hindurch unermüdliche Arbeit, gebeugt bald über die komplizierten Zeichnungen und geometrischen Figuren, mit denen die Astronomen die verwickelte Bewegung der Planeten, der Sonne und des Mondes einzufangen bemüht waren, bald über die Kirchenväter, über Pandekten, über kanonisches Recht, das zu vertreten einmal Kopernikus' Lebensaufgabe sein sollte, nach dem Willen seines bischöflichen Ohms. »Niemand kann zwon Herrn dienen«, hieß es nicht so in der Bibel? Kopernikus konnte es, er teilte seine Kraft, seine Aufnahmefähigkeit zwischen diesen beiden, einander eigentlich so entgegengesetzten Gebieten. Aber vielleicht brannte er sein Lebenslicht auf beiden Seiten ab. Mochte es so sein. Mit siebenundzwanzig, noch mit dreißig Jahren dachte ein gesunder Mensch nicht an seinen Tod.
Endlich kam er, wenigstens auf dem einen Gebiet, zum Abschluß. Er hätte nun wohl in Padua seine Kenntnisse unter Beweis stellen können, vor einer gestrengen Prüfungskommission. Irgendetwas hielt ihn davon ab, veranlaßte ihn, nach Ferrara zu gehen, nach Ferrara, das für alle Zeit mit dem schönen, mit dem bösen Namen der Lukrezia Borgia verbunden bleiben würde.
Und wieder, mit dem Doktorhut geschmückt, zurück nach Padua. Die Voraussetzungen für seine weitere Lebensbahn in dem gesicherten Geleise eines weltlichen Geistlichen waren geschaffen, aber Kopernikus war nicht danach geartet, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Die Jurisprudenz durfte er nun an den Nagel hängen, aber da war, außer seinem astronomischen Steckenpferd, noch ein anderes Wissensgebiet, das den Unersättlichen lockte. Das ihn schon in Krakau magnetisch angezogen hatte. Er, der sich dereinst völlig dem Makrokosmos, dem weiten Weltenraum und den durch ihn kreisenden Sternen verschreiben sollte, wollte auch alles vom Menschen wissen. Von diesem Menschen, dessen Hirn im Laufe der Jahrtausende so Erstaunliches geleistet hatte und immer weiter leisten würde.
Wie es um den Menschen bestellt war, der doch, trotz seiner besonderen Stellung innerhalb der Natur auch wieder ein Teil der Natur war, das lehrte die Medizin. Und so sah man Kopernikus bald in der Anatomie, mit dem Seziermesser Muskeln sauber bloßlegend, Herz, Niere, Leber untersuchend, fand ihn unter den künftigen Ärzten und Wundärzten, die wissen wollten, welche Heilkräfte den Kräutern und Mineralien innewohnten, welche Ursachen die Krankheiten hatten, die immer wieder wie eine Geißel des Schicksals die Menschen schlugen.
Drei volle, runde Jahre noch widmete er diesem Studium. Dann, endlich, wähnte er seine Lehrzeit beendet, glaubte er, mit dem Aufnehmen abschließen zu können. Dreiunddreißig Jahre war er jetzt alt – viele Männer, auch solche mit wissenschaftlichem Beruf, standen mit solchem Alter bereits auf dem Gipfel ihrer Leistung. Es war endlich an der Zeit, die Lehre abzuschließen. Gewiß: kein Meister fiel vom Himmel, aber man durfte auch nicht ewig Lehrling bleiben, wollte man je Meister werden.
Ein ganzes Jahrzehnt in Italien. In stillen Stunden gedachte Kopernikus immer wieder dankbar Jenes, der alle Sterne lenkt, der hinter all den Sternen stand, denen sich der Thorner verschrieben hatte. Hatte Gott es nicht gut mit ihm gemeint? Ach, wohl … sehr gut. Es war ein seltenes Glück, zehn Jahre hindurch, fast ungehemmt von äußeren, geldlichen Sorgen, seinen Studien an Italiens Hohen Schulen nachgehen zu dürfen. Diese Zeit hatte Kopernikus nicht nur vom Jüngling zum Manne reifen lassen, sondern sie hatte ihm auch jene allseitige geistige Bildung, jene reiche Wissensfracht verschafft, ohne die er späterhin nie sein Werk, zu dem er berufen war, hätte vollenden können.
Und auch dem Oheim, dem Bischof oben im Ermland, war er zu tiefstem Dank verpflichtet. Der mochte ein harter, harscher Charakter sein, ein Mann, den wenige liebten, den viele fürchteten oder gar haßten. Ihm selbst, Nikolaus Kopernikus, hatte Lukas Watzelrode nur Gutes getan. »Ihm muß ich die Erzeugnisse meines Geistes zuschreiben«, gestand Kopernikus späterhin offen in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Episteln des Theophylactus Simocatta.
Nun also sollte die Saat Frucht tragen. Es geschah sehr bald, und es geschah in doppeltem Sinne. Nach diesem glühenden, blühenden Jahrzehnt endlich wieder – und nun für dauernd – in seine Heimat zurückgekehrt, wurde aus dem bisherigen Kanonikus der Domherr zu Frauenburg, als welcher Nikolaus Kopernikus in die Geistesgeschichte der Menschheit eingegangen ist. Noch lebte sein Oheim Lukas Watzelrode; ja, mehr als je zuvor stand der dem Greisenalter Nahe im Mittelpunkt der heftigen politischen Kämpfe Preußens. Sie hatten ihn müde und verbittert und wohl auch menschenfeindlich gemacht, und er sehnte sich nach einem Menschen jungen Blutes, seines Blutes, dem er sich anvertrauen konnte, der ihm eine Stütze und Hilfe war.
Nur kurze Zeit ließ Watzelrode, der Bischof, seinen Neffen in Frauenburg. Sehr bald berief er ihn als seinen ständigen Begleiter nach Heilsberg, dem Sitz des Bischofs. Er wurde sein Vertrauter, ihn weihte der Bischof in all jene politischen Schwierigkeiten und Verwicklungen ein, denen das Bistum Ermland und, in weiterem Rahmen, der Ordensstaat sich gegenübergestellt sahen. Auch das medizinische Studium kam Nikolaus Kopernikus in seinem neuen Amt gut zustatten, denn auch als Arzt wurde er von dem Watzelrode in Anspruch genommen. Nun begann eine rege und völlig neue Tätigkeit für Kopernikus. Aus weltabgewandtem Studium und rein geistiger Arbeit sah er sich plötzlich mitten in die weitverzweigten, schwer übersichtlichen politischen, wirtschaftlichen und Verwaltungsgeschäfte seines Oheims hineingerissen. Ungefähr sechs Jahre hindurch hatte Kopernikus dieses Amt inne, das ihn dauernd in Bewegung hielt, das ihn zu häufigen, langen und anstrengenden Reisen zwang. Eine dieser Reisen führte ihn sogar bis nach Krakau, und so durfte der Mann, der Domherr, ein wehmütig-heiteres Wiedersehen mit jener Stadt feiern, in der der einstige Scholar die frühen Grundlagen seines Wissens gesucht und gefunden hatte.
Die schönsten, die kräftigsten Jahre seines Manneslebens verbrachte Kopernikus an der Seite seines schon vom Tode gezeichneten Oheims. Aber wie stark auch die Anforderungen, die das ihm übertragene Amt an ihn stellte, seine Kräfte, seine ständige Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen mochten, immer noch fand er Zeit, nahm er sich die Zeit, jenen Gedanken nachzuhängen, die seit seiner Jugend in ihm lebten und ihn bewegten.
Niemand kann sagen, in welcher einsamen, durchwachten Nacht plötzlich der letzte Zweifel in dem Herzen von Nikolaus Kopernikus dahinschmolz und endgültig eine andere, die Welt aus ihren Angeln hebende Überzeugung von seiner Seele Besitz ergriff. Niemand vermag darzustellen, was in jener Nacht in dieser einsamen Menschenseele vor sich ging, als plötzlich die lodernde Flamme einer neuen Wahrheit sich vor seinem geistigen Auge entzündete.
Eine Nacht muß es wohl gewesen sein, denn alles Große, alles Unvergängliche wird aus der Nacht und aus der Einsamkeit geboren. Eine Nacht muß es gewesen sein, denn wie anders als in einer Nacht konnte sich Kopernikus den ewigen Sternen so nahe und so verschwistert fühlen, daß er ihnen das Geheimnis ihres Wandels abrang? Und in einer Nacht muß es geschehen sein, in der die durch des Raums Unendlichkeit kreisenden Weltenkörper dem Domherrn Kopernikus oben in Heilsberg, wo sich die Wölfe Gute Nacht sagten, ihre neue Sphärenmusik sangen.
Wir kennen jene Nacht nicht, wir werden sie nie genau nach Tag und Monat festlegen können; denn darüber gibt es keine schriftlichen Quellen irgendwelcher Art. Wir wissen nur, daß es irgendwann im Jahre 1510 war. In einer der dreihundertfünfundsechzig Nächte dieses Jahres geschah es, daß ein Nikolaus Kopernikus, aus Thorn, jetzt Domherr und Adlatus des Bischofs von Ermland, in seinem schmalen Stübchen in Heilsberg mit zitternder Hand, mit bebendem Herzen nach dem Gänsekiel griff und jene ersten Aufzeichnungen machte, aus denen mählich ein Werk zusammenwuchs, mit dem endgültig das Mittelalter zu Grabe getragen wurde. Mit dem endgültig die Neue Zeit eingeläutet wurde, in einem viel tieferen Sinne als durch die Entdeckertat eines Kolumbus. Jenes Werk, dessen Titel: De revolutionibus orbium coelestium – Über die Umdrehungen der Himmelskörper – die Menschheit nie mehr vergessen wird.