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Fünftes Kapitel

Wohl auf manchen Wegen mögen die Geister der Lebenden und Toten sich unbewußt begegnen, auf manchen auch nur bewußt von einer Seite. Wer kann diesen ganzen Verkehr verfolgen und ergründen. Sagen wir nur kurz: sie begegnen sich, wenn sie sich mit Bewußtsein begegnen, und die Verstorbenen sind da, wo sie mit Bewußtsein da sind.

Ein Mittel gibts bewußtester Begegnung zwischen den Lebenden und Verstorbenen; es ist das Andenken der Lebenden an die Verstorbenen. Unsere Aufmerksamkeit auf die Verstorbenen richten, heißt ihre Aufmerksamkeit für uns wecken, wie ein Reiz, der einen Lebendigen trifft, seine Aufmerksamkeit gleichsam dahin lockt, wo er ihn trifft.

Ist doch unser Andenken an die Verstorbenen nur eine in uns bewußt gewordene, sich auf sie zurückwendende Folge ihres diesseitigen bewußten Lebens, das jenseitige aber wird infolge des diesseitigen geführt.

Auch wenn ein Lebender an einen Lebenden denkt, mags einen Zug auf dessen Bewußtsein geben; doch er wirkt nichts, weil dessen Bewußtsein noch ganz in den Banden seines engen Leibes gefesselt liegt. Das durch den Tod entfesselte Bewußtsein aber sucht seine Stätte und folgt dem Zuge, der darauf geäußert wird, so leichter und so stärker, je öfter und je stärker er zuvor darauf geäußert ward.

Wie nun ein und derselbe körperliche Schlag stets zweiseitig vom Schlagenden und vom Geschlagenen zugleich gefühlt wird, ist es nur ein Bewußtseinsschlag, der in der Erinnerung an einen Verstorbenen zweiseitig gefühlt wird. Wir irren, nur die diesseitige Bewußtseinsseite für da haltend, weil wir die jenseitige nicht spüren; und dieser Irrtum hat Folgen des Irrtums und der Versäumnis.

Einer Geliebten ist der Geliebte, einer Gattin der Gatte, einer Mutter das Kind entrissen worden. Umsonst suchen sie in einem fernen Himmel das von ihnen abgerissene Stück Lebens, strecken umsonst Blick und Hand ins Leere nach dem, was gar nicht wahrhaft von ihnen abgerissen worden ist, nur der Faden äußeren Verständnisses ist abgerissen, weil aus dem durch äußere Sinne vermittelten Verkehr, in dem beide sich verstanden, ein innerer unmittelbarer durch den inneren Sinn geworden ist, in dem sie sich noch nicht verstehen gelernt.

Einst sah ich eine Mutter ihr noch lebendiges Kind mit Ängsten in Haus und Garten suchen, das sie auf dem Arme trug. Größer noch der Irrtum jener, die das verstorbene in einer fernen Leere sucht, wonach sie nur ins Innere zu blicken hätte, um es bei sich zu finden. Und findet sie es da nicht ganz, hatte sie es denn ganz, da sie es äußerlich auf dem Arme trug? Die Vorteile des äußeren Verkehrs, das äußere Wort, den äußeren Blick, die äußere Wege kann sie nicht mehr haben und geben; die Vorteile des inneren erst jetzt haben und geben; sie muß nur wissen, daß es einen innern Verkehr und Vorteile eines solchen gibt. Man spricht mit dem nicht, reicht die Hand nicht dem, von dem man meint, er sei nicht da. Wißt ihr aber alles recht, so wird ein neues Leben der Lebendigen mit den Toten beginnen, und mit den Lebendigen die Toten zugleich dabei gewinnen.

Denkt eines Verstorbenen nur recht – und nicht bloß der Gedanke an den Verstorbenen, der Verstorbene selbst ist im Momente da. Ihr könnt ihn innerlich beschwören, er muß kommen, ihn festhalten, er muß bleiben, haltet nur Sinn und Gedanken auf ihm fest. Denkt seiner mit Liebe oder Haß, er wird es spüren; – mit stärkerer Liebe, stärkerm Haß, er wird es stärker spüren. Sonst hattet ihr wohl Erinnerung an die Toten; nun wißt ihr sie zu brauchen, könnt einen Verstorbenen noch wissentlich mit eurem Andenken beglücken oder plagen, euch mit ihm versöhnen oder unversöhnlich streiten, nicht euch bloß wissentlich, auch ihm. Tuts stets im besten Sinne; und sorgt nun aber auch, daß das Andenken, was ihr selber hinterlaßt, euch künftig selber fromme.

Wohl dem, der einen Schatz von Liebe, Achtung, Verehrung, Bewunderung im Andenken der Menschen hinter sich gelassen. Was er fürs diesseitige Leben hinter sich gelassen, gewinnt er mit dem Tode, indem er das zusammenfassende Bewußtsein für alles gewinnt, was die Nachgelassenen von ihm denken; hebt damit den Scheffel, von dem er im Leben bloß einzelne Körner zählte. Das gehört zu den Schätzen, die wir für den Himmel sammeln sollen.

Weh dem, welchem Verwünschungen, Fluch, ein Andenken voll Schrecken folgen. Die ihm im Diesseits folgten, holen ihn im Tode ein; das gehört zu der Hölle, die seiner wartet. Jedes Wehe, das ihm nachgerufen wird, ist ein ihm nachgesandter Pfeil, der in sein Inneres eindringt.

Nur in der Gesamtheit der Folgen aber, die das Gute und Schlechte aus sich selbst gebiert, vollendet sich die Gerechtigkeit. Wohl müssen die Gerechten, die hier verkannt werden, davon noch im Jenseits wie von einem äußern Übel leiden, und den Ungerechten wird ein ungerechter Nachruhm als wie ein äußeres Gut zustatten kommen; also halte deinen Ruf hienieden möglichst rein, und stelle dein Licht nicht unter den Scheffel. Aber unter den Geistern des Jenseits selbst hört das Verkennen auf; was unten falsch gewogen wird, wird oben recht gewogen, und durch eine Zulage auf der anderen Seite überwogen. Die himmlische Gerechtigkeit überbietet endlich alle irdische Ungerechtigkeit.

Was immer das Andenken an die Toten weckt, ist ein Mittel, sie herbeizurufen.

An jedem Feste, was wir den Toten geben, steigen sie herauf; um jede Statue schweben sie, die wir ihnen setzen; bei jedem Liede, das ihre Taten singt, hören sie mit zu. Ein Lebenskeim für eine neue Kunst! wie war sie schon gealtert, wie müde, die alten Schauspiele den alten Zuschauern immer von neuem vorzuführen. Nun öffnet sich auf einmal gleichsam über dem Parterre mit der untern Schicht der alten Zuschauer ein Kreis von Logen, aus dem sie eine höhere Gesellschaft niederschauen sieht; und nicht, wie die unten, sondern wie die oben es haben möchten, zu schaffen, ist fortan ihr höchstes Ziel; die unten aber sollen es haben wollen, wie die es oben möchten.

Die Spötter spotten, und die Kirchen streiten. Es gilt ein Geheimnis, widervernünftig für die einen, übervernünftig für die andern, beides, weil den einen wie den andern ein größeres Geheimnis ganz verborgen blieb, aus dessen Offenbarung endlich einfach und klar fließt, woran der Verstand der Spötter und die Einigkeit der Kirchen gescheitert. Denn nur ein größtes Beispiel einer allgemeinsten Regel ists, worin sie eine Ausnahme von aller Regel oder über aller Regel sehen.

Nicht bloß mit einem Leib aus Mehl und Wasser geht Christus bei seinem Gedächtnismahle in die Gläubigen ein; genieß es recht mit dem Gedanken seiner, und er wird mit seinem Gedanken nicht bloß bei dir, sondern in dir sein; – je mehr du an ihn denkst, so mehr; je stärker, mit so stärkerer Kraft wird er dich stärken; doch denkst du seiner nicht, so bleibt es Mehl und Wasser und gemeiner Wein.


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