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Der Fall Petersen

Lauda matris ecclesiae dulcissimam clementiam,
Quae Septem purgat vitia per septiformam gratiam.

Hlge. Odo von Cluny.

 

Seine Ehren, der Richter Henry Taft Mc Guff rührte diesen Fall Petersen auf und gab ihm breiteste Öffentlichkeit, weil er von ihm einen starken Einfluß auf die im Senate schwebende Einwanderungsbill erhoffte. Er war sehr für diesen Entwurf – der dann ja Gesetz wurde – wonach die Zahl der Einwanderer in die Staaten auf nur drei Prozent des Durchschnitts beschränkt wurde, der – vor dem Kriege – sich alljährlich in das Land ergoß. Diese Haltung Seiner Ehren war begreiflich – vor seinem Richterstuhl im untern Neuyork erschien kaum je ein geborener Amerikaner. Es kam Richter Mc Guff so vor, als ob in dieser Riesenstadt für Amerikaner überhaupt kein Platz mehr sei, als ob nur Juden, Iren, Deutsche, Italiener in ihr wohnten; dazu Dutzende von andern Rassen, von denen er nie gehört hatte, und deren Namen er ebensowenig aussprechen konnte, wie die Namen seiner Angeklagten und Zeugen. Und es schien ihm dazu, daß all dies Gemisch der Abschaum der Nationen sei, daß Neuyork nur noch ein mächtiger Mülleimer sei, bis zum Rande vollgestopft mit dem faulenden Auswurf, den die ganze Welt ausspie. Er hielt sich für berufen, dies dem ganzen Lande zu beweisen. Richter Mc Guff war allen Zeitungen bekannt durch sein ausgiebiges Strafmaß, das die ohnehin schon ungeheuer drakonischen Maße aller andern Gerichte des Landes noch bei weitem übertraf. Er kam, da er durch so viele Jahre nur verbrecherische Ausländer aburteilte, schließlich zu der festen Ansicht, daß eigentlich jeder Ausländer vom Dampfer weg verhaftet und zunächst mal auf einige zwanzig Jahre einem amerikanischen Zuchthaus zur Besserung übergeben werden sollte. Zur Zeit der Deutschenhetze arbeitete kein Gerichtshof mit solchem Hochdruck, wie der des Richters Mc Guff – die Tatsache allein, daß ein Angeklagter in Berlin oder Köln geboren war, genügte, ihn völlig davon zu überzeugen, daß er ein gefährlicher Spion, ein Verschwörer des Kaisers sei, der Brücken und Fabriken in die Luft sprenge.

»The Kaiser-Canner« hieß er damals: der Mann, der den Kaiser einpökelt!

Zwei Jahre später arbeitete Seine Ehren Mc Guff mit demselben Eifer gegen den Bolschewismus. Er wußte freilich nicht genau, was das war – and he didn't care either! Doch wußte er, daß ein tüchtiger Richter zugleich ein tüchtiger Politiker sein muß, der immer riechen muß, woher der Wind weht. Und der wehte im Lande gegen den Bolschewismus und gegen alles, was drum und dran hing. Er hielt wenig von Haarspaltereien, so machte er – wie alle Richter und wie alle Zeitungsleute und alle Politiker – scharfe Front gegen Kommunisten und Syndikalisten und Sozialisten und Radikale und Liberale – und den ganzen Plunder! Das war alles derselbe Dreck, und man hatte keine Zeit, da große Unterschiede zu machen. Da man nun diesen teuflischen Kerlen ihre Gesinnung nicht an der Nasenspitze absehn konnte, so war es gut, daß man dennoch äußere Anhaltspunkte hatte. Für Richter Mc Guff – wie für viele tausend andere – genügte es völlig, wenn jemand ein Russe war: dann war er auch Bolschewist. Sehr bald begriff er dann, daß auch andere Leute solche verbrecherische Tendenzen haben können, Ungarn, Italiener und besonders Juden. Jeder also von diesen Unglücklichen stand bei Richter Mc Guff in dem schweren Verdacht, ein »Roter« zu sein und es gelang kaum einem von hundert, sich davon zu reinigen. Daß ein Ire, wie etwa der Arbeiterführer Jim Larkins, auch ein ›Roter‹ sein könne, leuchtete ihm dagegen gar nicht ein; und alle Deutschen waren bei ihm nun einmal als wilde Kaiserfreunde so fest angeschrieben, daß er sich schwer einen als ›Roten‹ vorstellen konnte. Richter Mc Guff hatte Dutzende von harmlosen Deutschen auf zwanzig bis fünfzig Jahre ins Zuchthaus geschickt, weil sie ›gegen die Herrschaft des Volkes‹ wären, und er verurteilte dreimal soviel ebenso harmloser Russen, Juden und Italiener, weil sie ›für die Volksherrschaft‹ wären. Es dämmerte ihm nie, daß er sich da in einen gewissen Gegensatz zu sich selbst setzte; er fühlte nur, daß er für Amerika arbeitete, wenn er es nach Möglichkeit von dieser Pest der Ausländer befreite. So empfand er bei jedem seiner Urteile eine tiefe innere Befriedigung.

Als echter Yankee lebte er der festen Überzeugung, daß sein Land das einzige Land sei, in dem Menschen wirklich leben könnten – England vielleicht ausgenommen. Jedes andere Land aber war ihm ein schmutziger stinkender Saustall. Die Gefängnisse, in denen seine Untersuchungsgefangenen saßen, hielt er für viel zu gut für diese elenden Hurensöhne – so tat er sein Möglichstes, ihre Haft so streng wie nur möglich zu machen. Darum erregte seine Haltung im Fall Petersen ein berechtigtes Aufsehen. Richter Mc Guff gab nämlich den Befehl, dem Musiklehrer Lars Petersen jede nur mögliche Erleichterung zu gewähren. Der Professor wurde nicht ein einziges Mal im Gefängnisse durchgepeitscht; er bekam die beste Zelle (die freilich von Wanzen, Flöhen und Kakerlaken genau so wimmelte, wie alle übrigen) und für seine Pritsche eine Decke, die hie und da noch einen reinen Fleck hatte. Er durfte sich zuweilen für sein Geld etwas zu essen kaufen und wurde, auf ärztliche Anordnung, sogar im Besitze seiner Zahnbürste gelassen. Der Richter hatte eben kein Interesse daran, diesen Verbrecher durch freundliches Zureden mit Polizeiknüppeln zu einem Geständnis zu bewegen – da er von Anbeginn alles zugegeben hatte. Dagegen war es ihm äußerst wichtig, den alten Mann, der nicht allzu kräftig schien, möglichst gesund beim Verhandlungstermin vorstellen zu können.

Lars Petersen stammte aus Jütland – und das klang Seiner Ehren verdächtig deutsch. Er behauptete zwar, ein Däne zu sein, aber er gab zu, daß es sehr gut möglich sei, daß er von irgendeiner Seite her auch deutsches Blut habe. Zudem erinnerte sich Richter Mc Guff, daß er schon zweimal Deutsche, die Petersen hießen, verurteilt hatte. Aus alter Gewohnheit fragte er den Angeklagten, ob er mit dem Kaiser oder dem Kronprinzen persönlich gut befreundet sei, drang aber bei dem Verneinen dieser Frage nicht weiter in ihn, weil der politische Deutschenfang ja schon seit zwei Jahren aus der Mode war. Er war völlig zufrieden, daß der Beschuldigte zugab, während dreier Jahre in Deutschland Musik studiert zu haben. Es war dem Richter sehr lieb, diesen Fall gerade jetzt bei der Jagd gegen alles jüdisch-russisch-italienisch-Rote in der Hand zu haben. Denn hier konnte er der weitesten Öffentlichkeit zeigen, auf welch unendlich tiefem moralischen Niveau auch die deutsche Einwanderung stehe – an dem Beispiel dieses Deutschen (oder doch Quasideutschen), der als einer der angesehensten und begehrtesten Musikprofessoren der Weltstadt mit der höchsten Bildung zugleich die verruchteste Seele vereinigte.

Freilich wurde Lars Petersen zu ›einem der angesehensten und begehrtesten Musikprofessoren‹ erst, seitdem er in Untersuchungshaft saß – dank der ausgezeichneten Reklame, die Richter Mc Guff durch die Zeitungsreporter für ihn machte. Bis dahin war er ein ganz kleiner Musiklehrer gewesen, der in einem einzigen Zimmer in der elften Straße im Osten hauste und äußerst einfach von den wenigen Stunden lebte, die ihm je fünfzig Cents einbrachten. Daß freilich seine Bildung, durchaus bescheiden in europäischem Sinne, weit über die Durchschnittsbildung eines Amerikaners – und damit über die, die nach Richter Mc Guffs Meinung allein einem anständigen Menschen zustand – herausging, war ganz gewiß. Während der Voruntersuchung hatte der Musiklehrer gelegentlich Äußerungen über Lebensphilosophie, über Ethik, Ästhetik und Moral gemacht, von denen der Richter kein Wort begriff, und die ihm infolgedessen sehr verdächtig erschienen.

Der Prozeß war nach jeder Richtung gründlich vorbereitet worden. Der Beschuldigte hatte sich lange Zeit standhaft geweigert, einen Verteidiger zu nehmen, mit der einfachen Begründung, daß ihm die Mittel dazu fehlten. Da hatte Richter Mc Guff, dem ein Prozeß ohne Anwalt nur eine halbe Sache schien, schließlich einen Rechtsanwalt veranlaßt, sich des Beschuldigten unentgeltlich anzunehmen. Es war ihm leicht, einen dazu zu bewegen, da dieser Fall bestimmt Aufsehen erregen und somit den Namen des Verteidigers breiten Massen bekannt machen mußte. Er hatte es einzurichten gewußt, daß dies ein kleiner jüdischer Anwalt der Ostseite war, Sam Hirschbein, den er von seinem Richtertisch her kannte. Dieser Sam Hirschbein war ein Anwalt, wie er nicht sein sollte – wenigstens nicht vor einem Gericht dieses Landes – aber gerade darum erschien er dem Richter für diesen Fall besonders geeignet. Hirschbein war diskreditiert beim Publikum, weil er in einer Reihe von Fällen sowohl Deutsche wie auch Russen und Juden verteidigt hatte; er stand sogar selbst in dem Rufe, radikal oder wenigstens liberal zu denken. Mc Guff hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Klienten besonders scharf anzufassen – schon weil er sich über die Art, wie Sam Hirschbein redete, ärgerte. Der versuchte stets psychische Momente in die Verhandlung hineinzubringen, etwas, wofür Richter Mc Guff auch nicht das allergeringste Verständnis hatte. Sam Hirschbein ereiferte sich dazu, setzte sich mit seiner ganzen Person für seine Klienten ein, regte sich auf, verlor die Ruhe und gab so dem Richter willkommene Gelegenheit, die Autorität seines hohen Stuhles dem Publikum zu zeigen – Mc Guff hatte schon zu verschiedenen Malen ihn in einer Art zurechtgewiesen, über die das Publikum vor Lachen gewiehert hatte. Denn das war Richter Mc Guffs große Stärke, bei passender Gelegenheit aus seinem großen Vorrat altbekannter Spässe den geeigneten loszulassen.

Es war kein Zweifel: Sam Hirschbein würde bei dem Spektakelstück Petersen seine Rolle sicher gut spielen.

Der Prozeß war auf einen Mittwoch, zehn Uhr früh angesetzt. Der Tisch der Presse war vollzählig besetzt – und was das Publikum anging, so war Seine Ehren außerordentlich zufrieden. Er hatte Karten auf den Namen ausgeben lassen, und um diese Karten hatten, dank der prächtigen Vorreklame in allen Blättern, sich die Leute sehr eifrig bemüht. Richter Mc Guff hatte, als er die Liste durchlas, um sie den Reportern zu geben, die Genugtuung, wenigstens dreißig Namen festzustellen, die bestimmt als ›anwesend‹ in den Zeitungen genannt würden – von einigen besonders interessierten Blättern vielleicht gar die doppelte Anzahl. Es waren viele Namen von Damen der ersten Gesellschaft, dazu einige Politiker erster Ordnung. Nicht weniger wie fünf der bekanntesten Prediger zählte er; auch die Theaterwelt stellte eine ganze Anzahl von Zuhörern, die gewiß erwähnt werden würden.

Richter Mc Guff eröffnete die Sitzung mit einer kleinen würdevollen Rede, wie bei einem großen Mordprozeß vor den Geschworenen. Er appellierte an das Publikum – dem er ein paar Komplimente für sein reges Interesse an der Rechtspflege und an der öffentlichen Moral sagte – sich jeder Kundgebung zu enthalten; sprach dann ein paar Worte über den stinkenden Pfuhl der Großstadt, den die Ausländerpest vergifte. Er schloß mit einem Hinweis auf die dem Kongreß und dem Senate in Washington vorliegende Bill und sprach seine Hoffnung aus, daß sie bald durchgehn möge. Er erzählte die Geschichte von König Augias und seinem Stall, die er sich zu dem Zweck am Abend vorher durchgelesen hatte, und meinte, daß selbst ein Herkules den berühmten Stall nicht habe reinfegen können, wenn immer neue Säue hineingelaufen wären. Das müsse die Regierung verhindern – dann würde er, ein moderner Herkules, schon für das Übrige sorgen! Er stellte mit Genugtuung fest, daß die Reporter eifrig stenographierten: jedes Wort seiner Ansprache würde am Abend in der Presse stehn.

Gleich beim Zeugenaufruf dagegen hatte er eine kleine Enttäuschung. Die Hauptzeugin, das Opfer des alten Lüstlings Lars Petersen, die zwölfjährige Justine van Straaten, war nicht erschienen. Der Richter sandte sofort einen Boten zu der Matrone des Kindergerichtshofes, deren persönlicher Obhut und Pflege das Kind einstweilen anvertraut war. Dann begann er die Verhandlung.

Zu seinem Erstaunen verweigerte der Angeklagte, nachdem er die Personalfragen beantwortet hatte, jede Aussage zur Sache. Sein Verteidiger erhob sich und erklärte, daß das auf seinen Rat hin geschehe. Richter Mc Guff wurde sehr ärgerlich, fest entschlossen, diesen Widerstand des Alten zu brechen. Aber der Zufall wollte es, daß der Angeklagte gleich die erste Frage des Staatsanwalts, ob er etwa beabsichtige, sein in der Voruntersuchung gemachtes Geständnis zu widerrufen, kopfschüttelnd verneinte, noch ehe der Verteidiger ein Wort sagen konnte. Das besänftigte den Groll Seiner Ehren im Augenblick. Er erklärte, daß es natürlich das gute Recht jedes Angeklagten sei, die Aussage zu verweigern, und daß ihm dieses Recht selbstverständlich vor einem amerikanischen Gericht gewährleistet werde. Er werde also ihn nicht zur Sache selbst fragen, bitte ihn jedoch in seinem eigenen Interesse, ihm einige andere Fragen zu beantworten. Er schob dabei in seinen Akten einen sorgfältig vorbereiteten Zettel zurecht, der eine Fülle von Namen enthielt und begann seine Fragen, die der Angeklagte in der Tat bereitwilligst beantwortete. »Spielen Sie lieber Mozart oder Beethoven?« – »Was denken Sie über die Philosophie von Buckle?« – »Haben Sie jemals komponiert? Vielleicht ein Sonett von Shakespeare?« – »Oder ein Lied von Burns?« – »Lieben Sie Dante?« – »Was halten Sie von Spencer, was von Kant?« – »Haben Sie jemals über den kategorischen Imperativ nachgedacht?«

Und so ging es weiter, eine halbe Stunde lang, in rascher Folge. Nur manchmal entstand eine Pause, wenn der Angeklagte die Aussprache des Richters durchaus nicht verstehen konnte. So gebrauchte er einige Zeit, um zu begreifen, daß mit Naitzi gemeint war: Nietzsche und daß mit Toostoah – den Seine Ehren augenscheinlich für einen Franzosen hielt – eigentlich Tolstoi gemeint sei. Der Zweck dieser Übung war der, die außerordentliche Bildung und Belesenheit des Musikprofessors vorzuführen – und zugleich auch auf die eigene ein schönes Licht zu werfen – und dieser Zweck wurde vollständig erreicht. Die Berichte für die Abendblätter schwollen am Pressetische an; solche Zwischenüberschriften wie

»Setzt Walt Whitman in Musik«

oder

»Hält Spinoza für unmusikalisch«

konnte man sich nicht entgehen lassen.

Dann aber spielte Richter Mc Guff seinen Haupttrumpf aus, der ihm unter der Überschrift

» Konzert im Gerichtssaale«

auch spaltenlange Artikel in der gesamten Provinzpresse sichern mußte. Er winkte einem Gerichtsdiener; dieser zog unter dem Tisch das Geigenfutteral des Professors heraus, öffnete es und überreichte dem Angeklagten Fiedel und Bogen. Richter Mc Guff hatte ihm seine so oft und so inständig wiederholte Bitte, sein geliebtes Instrument doch nur auf eine einzige Stunde im Gefängnisse spielen zu können, stets kurzer Hand abgeschlagen. Nun ließ er es ihm plötzlich überreichen – die Hände des Alten zitterten, als er es anfaßte. So sicher war der Richter seines Erfolges in dieser Beziehung, daß er die Geige eine halbe Stunde früher hatte stimmen lassen, ehe sie in den Gerichtssaal gebracht wurde. Er forderte den Alten auf, zu spielen und begründete den etwas seltsamen Wunsch damit, daß es, um ein objektives Urteil zu fällen, nötig sei, gerade die Musik zu hören, die der Angeklagte seinem Opfer vorgespielt habe. »Spielen Sie, Petersen«, sagte er feierlich, »es ist vielleicht das letztemal in Ihrem Leben!«

Sam Hirschbein erhob sich rasch; man sah, daß er im Begriffe war, Einspruch zu erheben. Aber es lag so auf der Hand, daß der Alte fieberte nach dem Klange seiner Geige, daß er sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder niedersetzte. Schaden konnte es ja keinenfalls, überlegte er.

Und Lars Petersen spielte. Es war keineswegs eine Meisterleistung, nichts, das in irgendeinem Konzertsaal möglich gewesen wäre. Aber hier war kein Konzertsaal – hier stand er vor gaffenden Zuschauern, die gekommen waren, einen wilden Lüstling zu langjährigem Zuchthaus verurteilen zu sehn. Und er sollte die Musik spielen, mit der er sein armes Opfer betört hatte. Das war schon eine Sensation.

Lars Petersen spielte. Erst zitterten seine Finger so, daß er kaum fähig war, die Saiten zu greifen. Langsam kam er hinein, wurde ruhiger. Schloß die Augen, vergaß alles, was um ihn herum war. Fühlte irgendein Wunderbares – spielte, was er empfand –

Richter Mc Guff, dem selbst jede Musik völlig fremd war, der kaum einen Fiedelstrich von einem Trompetenblasen unterscheiden konnte, beobachtete scharf sein Publikum. Er stellte mit Genugtuung fest, wie da und dort ein Seidentuch zum Vorschein kam, wie irgendein Schauspieler den Kopf in die Hände vergrub, wie dort ein leises Weinen und hier ein Schluchzen vernehmbar wurde. Er unterbrach den Alten nicht – ließ ihn spielen nach Herzenslust. Das mußte das Publikum ergreifen – und gab zugleich den Zeitungsleuten Gelegenheit, ihre Berichte hübsch auszuarbeiten.

Endlich ließ er ihm die Fiedel wieder abnehmen. »Was haben Sie gespielt?« fragte er. – »Bach« – flüsterte der Alte, »Beethoven –«

Und Seine Ehren erklärte triumphierend: »Das also sind diese deutschen Schweine von Komponisten! Mit solcher Schmutzmusik verführt man elfjährige Kinder!«

Professor Petersen hatte keineswegs, wie die nun folgende Zeugenvernehmung ergab, mit dieser Musik, oder überhaupt mit irgendeiner Musik, sein Opfer verführt. Aber dieser Nebenumstand war, wie Richter Mc Guff richtig voraussah, jedem der Reporter völlig gleichgültig; sie brachten doch ihre Überschriften:

» Bach und Beethoven verführen unschuldiges Kind«

und

» Musik deutscher Klassiker macht Hure aus Elfjähriger.«

Die Zeugenvernehmung brachte dem Publikum sehr wenig, das es nicht längst aus den Zeitungen wußte. Die Lehrerinnen der kleinen Justine beschrieben diese: ein zartes, blauäugiges Kind mit wundervollen, hellblonden Locken. Ein liebes, ungewöhnlich schönes, etwas verträumtes Ding. Beide Eltern tot. Der Vater holländischer, die Mutter schottischer Abkunft – aber, wie auch das Kind, beide schon in den Staaten geboren. Die Kleine war aufgebracht worden bei einer alten Tante, die unter Tränen ihre Aussage machte und immer nur flehentlich bat, man möge ihr doch das Kind zurückgeben; sie wolle es hüten und pflegen und keine Minute mehr aus den Augen lassen.

Die Anklage baute sich eigentlich nur auf den Geständnissen der beiden Beteiligten auf. Der alte Musikprofessor hatte am hellen Mittage auf Washington Square das kleine Mädchen, auf dem Wege von der Schule nach Hause, angesprochen und war mit ihr ein wenig auf und nieder gegangen. Er hatte sie dann in der Folge öfter nach der Schule erwartet und ihr gelegentlich kleine Geschenke, Schokolade, bunte Stifte, ein paar Schleifen geschenkt. Ein- oder zweimal war er mit ihr oben auf dem Omnibus der Fünften Avenue die Stadt hinauf und wieder herunter gefahren. Etwas später hatte er sie dann überredet, mit ihm nach Hause zu kommen.

Die ganze Geschichte hatte drei bis vier Monate gedauert. Während dieser Zeit war in der Schule nichts Auffälliges an dem Mädchen bemerkt worden. Es war wie sonst sehr still und scheu, aber stets sehr artig und brav gewesen. Immer verträglich zu den andern Kindern, ob es auch an deren Spielen kaum je teilnahm und sich stets sehr allein hielt. Sehr häufig dagegen hatte die kleine Justine allerlei Kleinigkeiten in die Schule mitgebracht, die sie verschenkte, Blumen für die Lehrerinnen, Naschwerk für ihre Mitschülerinnen, dazu manche bunten Kinkerlitzchen, die sie in irgendeinem Zehncentladen kaufte. In der letzten Zeit war dann Justine öfters aus der Schule geblieben. Sie hatte sich mit Krankheit entschuldigt – Nasenbluten, Erkältung, was es grade war. Und die Lehrerinnen setzten so starkes Vertrauen in das Mädchen, daß sie es nie nach dem vorgeschriebenen Entschuldigungszettel fragten.

Als dann das Fehlen in der Schule immer häufiger wurde, schrieb die Klassenlehrerin doch schließlich an die Tante, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Das wiederholte sich mehrere Male. Am Ende hatte die Schulvorsteherin die Empfindung, daß irgendetwas nicht in Ordnung sei; sie machte sich also auf und stattete der Tante einen Besuch ab. Diese, die Witwe eines Bankbeamten, die von den Zinsen eines kleinen Vermögens lebte, empfing sie sehr freundlich. Die guten Damen plauderten eine halbe Stunde lang über die süße Justine, von deren Lieblichkeit sie beide gleich entzückt waren. Erst als sie im Begriff war, sich zu verabschieden, dachte die Schulvorsteherin wieder an den Zweck ihres Besuches, machte der Tante milde Vorwürfe, daß sie keinen einzigen der Schulbriefe beantwortet habe, und bat sie, sich doch in Zukunft die kleine Mühe zu machen, in Krankheitsfällen einen Entschuldigungszettel zu schreiben, da das die Schulordnung nun einmal verlange.

Da stellte sich denn heraus, daß weder die Tante einen solchen Brief erhalten habe, noch daß Justine während des letzten halben Jahres auch nur einen einzigen Tag krank gewesen war.

Zur Rede gestellt, blieb das Kind, nach einer kurzen Bestürzung und begreiflichen Aufregung im Anfang, durchaus ruhig und gleichmütig. Nicht ein einziges Wort war aus ihm herauszubringen. Wo die Briefe hingekommen seien? Woher es das Geld für die Blumen und andere Sachen genommen habe? Wo es sich herumgetrieben habe an den Tagen, als es die Schule schwänzte?

Keine Antwort. Weder freundliches Zureden, noch Scheltworte und Drohungen nutzten da etwas. Die Schulvorsteherin ging so weit, nach Zustimmung der völlig fassungslosen Tante, das Kind durch den Schuldiener tüchtig durchprügeln zu lassen – aber die Kleine biß die Zähne aufeinander, schrie nicht, weinte nicht – und sagte kein Wort.

Über ein Woche lang dauerten diese Vernehmungen und Verhöre – aber nichts wurde erreicht. Schließlich mußte man es aufgeben, aus dem kleinen Mädchen etwas herauszuholen.

Die Schulvorsteherin aber war eine Frau, die nicht so leicht etwas fahren ließ, das sie sich einmal vorgenommen hatte. Bei irgendeinem andern Kinde wäre ihr Eifer vermutlich ein viel geringerer gewesen, aber dieses bildschöne, kluge, stille Kind hatte ihr Interesse in hohem Grade geweckt. Sie setzte sich daher mit einem ihr bekannten Polizeioffizier in Verbindung, und von nun an wurde jeder kleine Weg des Kindes von allen Polizisten und Geheimagenten – deren die untere Stadt ja eine erstaunliche Menge zählt – aufs genaueste beobachtet. Dennoch dauerte es über zwei Monate, bis etwas ermittelt wurde. Auch das war wenig genug: ein Schutzmann hatte beobachtet, wie die Kleine auf dem Schulwege etwa eine Minute lang mit einem alten Herrn sprach. Man beschloß, noch nichts zu unternehmen, sondern nur still zu beobachten, um Justine und den Herrn – wer immer der war – in möglichste Sicherheit zu wiegen. Diese Beobachtungen zogen sich dann durch weitere Monate hin, während der Justine genau wie früher sich als das reizendste und liebenswerteste Geschöpfchen zeigte, das die Schule kannte. Nur war sie vielleicht noch verträumter und noch stiller wie früher und stets sehr übermüdet. Aber das Resultat der weiteren Überwachung war ein klägliches: nur ein- oder zweimal sah man den Herrn – dessen Persönlichkeit man bald feststellte – dem Kinde auf der Straße flüchtig guten Tag sagen – und es war augenscheinlich, daß diese Begegnungen keineswegs verabredet waren. Schon hatte man die Beobachtung als völlig zwecklos aufgegeben, als plötzlich ein Zufall alles ans Licht brachte.

Bei einer nächtlichen Streife war einer Polizeiabteilung ein eben aufgegriffener Schwerverbrecher mitten auf der Straße wieder entsprungen. Der Kerl rannte für sein Leben trotz der hinter ihm her knallenden Schüsse – und die Schutzleute und Detektive rasten hinter ihm her.

In der elften Straße sprang er in ein zufällig offen stehendes Haus und war dort für den Augenblick verschwunden. Die Pfeifen der Verfolger hatten inzwischen eine ganze Anzahl von Beamten herbeigeführt; man umstellte das Haus nach allen Regeln der Kunst. In weniger als drei Minuten war der Hinterausgang, der Keller und das Dach besetzt, so daß ein Entwischen unmöglich schien.

Dann begann man die gründliche Durchsuchung des Hauses – ein Zimmer nach dem andern. Um es kurz zu machen: den berüchtigten Einbrecher ›Gip‹ Chajes Gurski, Haupt der ›Bowling-Green-Crackers‹-Bande, bekannt als ›Kosher Kid‹, fand man nicht. Aber man fand in dem Zimmer des Musikprofessors Lars Petersen ein nur mit einem dünnen Seidenhemdchen bekleidetes kleines Mädchen, das ganz augenscheinlich nicht dahin gehörte. Man nahm beide natürlich mit.

Am andern Morgen vermißte die Tante ihre kleine Justine und lief in ihrer Ratlosigkeit sofort zur Schule. Die Vorsteherin benachrichtigte den ihr befreundeten Polizeileutnant; dieser telephonierte herum, da dauerte es denn nicht lange, bis man die Identität des in der elften Straße aufgegriffenen Kindes festgestellt hatte.

Justine weigerte sich auch jetzt noch, irgend etwas zu sagen. Sie wurde zwar sofort der Obhut ihrer Tante entzogen, aber auf das flehentliche Bitten dieser und das Einschreiten der Vorsteherin nicht der Kinderabteilung eines Gefängnisses überliefert, sondern von der Matrone des Kindergerichtshofes einstweilen – das heißt bis zur gerichtlichen Erledigung des Falles – in ihrer Privatwohnung aufgenommen, wo sie freilich strenge genug bewahrt war. Ihr Schicksal stand von vornherein fest: unter allen Umständen mußte sie in eine Zwangserziehungsanstalt gebracht werden. Dort würde es ihr ergehn, wie fast allen andern – nach einer entsetzlichen Jugend würde sie schließlich dem Leben übergeben werden, völlig zerbrochen an Leib und Seele. Geknechtet von rohen, bigotten Erziehern, die nur den einen Wunsch hatten, den Teufel aus ihren Zöglingen auszutreiben – und damit bequem ihren Unterhalt zu verdienen – gescholten, gestoßen, getreten und gepeitscht, Tag um Tag, umgeben von einer Horde zurückgebliebener, erblich belasteter, teils idiotischer Kinder, in denen alle Verbrechen nur durch die Peitsche mühsam zurückgehalten wurden – mußte Justine van Straaten ohne Gnade der schmutzigen Gosse zugetrieben werden. Das wußten alle recht gut, sowohl die verzweifelte Tante, die Vorsteherin, die Lehrerinnen, die Matrone wie auch die Polizisten und die Gerichtsbeamten, die mit dem Fall irgend etwas zu tun hatten. Sie wußten es alle und bedauerten es alle sehr tief – es war am Ende unmöglich, diesem süßen Geschöpfchen sein Mitleid zu versagen. Dennoch – daran war nun einmal nichts zu ändern. Und schließlich, wie Richter Mc Guff zu sagen pflegte: man muß die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat.

Diese entsetzliche Zukunft des kleinen Mädchens führte Seine Ehren dem Publikum eingehend zu Gemüte. Er setzte auseinander, wie ausgezeichnet einerseits solche Anstalten von Staats wegen geleitet würden, wie alles geschehe, um mit äußerster Strenge die verbrecherischen Instinkte der Zöglinge auszurotten und sie zur Religion und zur Moral zurückzuführen – wie aber auf der andern Seite die Resultate dank der unheimlichen Ansteckungsgefahr untereinander geradezu klägliche seien. Es gelang ihm sehr gut, das Mitleid seiner Zuhörer und der Presseleute zu gewinnen – und damit zugleich das Empfinden des Abscheus gegen den widerlichen Schuft hervorzurufen, dessen niedrige Lust das arme Geschöpf in diesen Höllenpfuhl trieb. Er hatte sogar den Erfolg, daß der Musikprofessor laut schluchzte und weinte – er wandte sich daher an ihn mit der Frage, ob er denn niemals früher das bedacht habe? Jetzt sei es – leider – viel zu spät!

In diesem Augenblicke sah er, wie die große, starkknochige Matrone des Kindergerichtshofes hinten in den Saal trat. Er rief sie sofort vor seinen Tisch. »Wo ist Justine?« fragte er.

»Weggelaufen!« erklärte die Matrone.

Diesmal konnte Richter Mc Guff seinen Ärger nicht unterdrücken. Er schnaubte sie an, schalt sie pflichtvergessen, drohte, sie vor Gericht zu stellen. Vor allem Publikum hagelte er auf die würdige Dame eine Fülle saftiger Schimpfworte herunter, die überall im Saale ein Kichern und Meckern hervorriefen.

Aber die Matrone war viel zu lange in ihrem Amte, kannte sich viel zu gut aus, um sich von ihm imponieren zu lassen.

»Euer Ehren irren,« erklärte sie ruhig, als der Richter endlich zu Ende kam, »Euer Ehren irren gründlich, wenn Sie annehmen, daß ich auch nur die geringste Verpflichtung hatte, das Mädchen bei mir aufzunehmen. Euer Ehren wissen recht gut, daß ich in meinem Privatheime nicht die Möglichkeit besitze, jemanden ganz sicher zu bewahren – ebensowenig wie Euer Ehren selbst! Euer Ehren hatten die Pflicht, das zu tun – nicht ich! Sie hätten das Kind ins Gefängnis bringen müssen – da wäre es sicher gewesen. Euer Ehren wissen recht gut, daß ich mich nur in Ausnahmefällen dazu verstehe, für kurze Zeit ein Kind bei mir aufzunehmen – und dann jede Verantwortung ausdrücklich ablehne. Euer Ehren wissen ferner, daß ich das auch in diesem Falle tat – und nur auf die dringendsten Bitten Euer Ehren selbst und der Schuldamen mich schließlich bereit erklärte.« – Sie wandte sich mit einer raschen Bewegung zur Zeugenbank: »Ist es nicht so, meine Damen?«

Richter Mc Guff wußte in der Tat recht gut, daß es so war. Er hatte damals den vereinten Bitten der Tante und der Lehrerinnen nachgegeben, weil solche Milde gegenüber dem Kinde, dessen Bild alle Blätter gebracht hatten, einen sehr guten Eindruck machen mußte. Nun tat es ihm leid, aber er konnte nichts mehr daran ändern.

»Hat in dieser Zeit jemand das Mädchen gesehn?« fragte er.

»Ihre Tante hat sie jeden zweiten Tag auf eine halbe Stunde besuchen dürfen,« antwortete die Matrone, »mit Ihrer Erlaubnis, Euer Ehren.«

»Hat sie je mit der Kleinen allein gesprochen?« fragte er weiter.

»Nein, nur in meiner Gegenwart. Es waren durchaus harmlose Gespräche,« sagte die Matrone. »Ferner besuchte sie vorgestern, ebenfalls mit einem Erlaubnisschein Euer Ehren, der Anwalt Sam Hirschbein. Auch er sprach mit ihr in meiner Gegenwart. Außer diesen beiden hat das Kind niemanden gesehn und mit niemandem gesprochen; ist überhaupt bis heute morgen aus dem Zimmer, dessen Fenster vergittert ist, nicht hinausgekommen.«

Der Richter fragte: »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen während dieser letzten Unterredung?«

Die Matrone nickte: »Herr Hirschbein sprach sehr still und ruhig zu der Kleinen, fragte sie gar nichts. Aber es war augenscheinlich, daß er bald ihr Vertrauen gewann. Ehe er ging, forderte er sie auf, doch einmal alles aufzuschreiben – das möchte vielleicht dem Angeklagten von Nutzen sein. Justine versprach ihm das. Sie ließ sich von mir Papier, Tinte und Feder geben und hat in der Tat eine Art Bericht niedergeschrieben. Noch heute morgen arbeitete sie daran. Sie bat dann um einen Briefumschlag, adressierte diesen, gab die Blätter hinein und verschloß ihn. Dann gab sie mir den Umschlag. Hier ist er!«

Sie zog aus der Tasche einen Brief heraus. »Geben Sie her!« rief der Richter.

»Verzeihen Euer Ehren,« zögerte die Matrone, »dieses Schreiben ist an Herrn Rechtsanwalt Sam Hirschbein gerichtet.«

Einen Augenblick besann sich Richter Mc Guff. Natürlich stand ihm die richterliche Gewalt zu, den Brief sofort zu beschlagnahmen. Aber er überlegte, daß er das ja jeden Augenblick tun könne, und daß es einen viel besseren Eindruck auf sein Publikum mache, wenn er den Brief dem Anwalt überreichen lasse.

Er richtete sich auf: »Einem amerikanischen Richter ist jedes Briefgeheimnis heilig (hier konnte einer der Reporter ein Lachen nicht unterdrücken, das er jedoch schnell in ein lautes Husten umwandelte). Geben Sie den Brief Herrn Hirschbein.« Er wandte sich an den Anwalt. »Herr Verteidiger, beabsichtigen Sie, den Inhalt dieses Schriftstückes dem Gerichte bekannt zu geben?«

»Natürlich,« sagte Sam Hirschbein. »Es ist ja nur zu dem Zwecke geschrieben.«

Richter Mc Guff wartete einen Augenblick; aber der Anwalt machte keine Miene, den Brief zu öffnen, schob ihn vielmehr unter seine Akten. – So wandte er sich wieder an die Matrone.

»Wann und wie ist Justine fortgelaufen?« fragte er.

»Ich verließ mit ihr meine Wohnung um viertel nach neun, um pünktlich zur Verhandlung zu erscheinen,« antwortete sie. »Wir fuhren mit der Untergrundbahn; Justine, wie immer still und folgsam, war dicht an meiner Seite. Am Astorplace stiegen wir aus. Da riß sie sich plötzlich von meiner Hand los und sprang in den weiterfahrenden Zug zurück. Es war keine Möglichkeit, sie zurückzuhalten. Ich begab mich sofort auf die nächste Polizeistation und setzte mich mit dem Präsidium in Verbindung. Zurzeit sind alle Schutzleute Neuyorks bereits angewiesen, auf das Mädchen zu spähen. Da ihr Bild einige Male in allen Zeitungen erschienen ist, denke ich, daß sie nicht weit kommen wird. Es ist Befehl gegeben, daß jeder Schutzmann, der sie sieht, sie sofort Euer Ehren vorführen soll.«

Richter Mc Guff entließ diese Zeugin und wandte sich nun zu den Geständnissen. Er suchte sie aus den Akten heraus und begann sie vorzulesen, wobei er nicht verfehlte, wo ihm das nötig erschien, zu kommentieren. Der Musikprofessor hatte gleich am nächsten Tage, völlig gebrochen durch die plötzliche Verhaftung, die Nacht in dem entsetzlichen Stinkloch des Polizeigefängnisses und die übliche Behandlung der Schutzleute, ein summarisches Geständnis abgelegt, das dann in späteren Verhören immer mehr in Einzelheiten ergänzt wurde. Das kleine Mädchen hatte dagegen zunächst ihre Taktik, nicht ein Wort zu sagen, durchaus beibehalten, hatte dies sogar getan, als ihr der Richter das Geständnis des Professors vorhielt. Man hatte sie erst dadurch zum Sprechen veranlassen können, daß man ihr einen Brief ihres alten Freundes brachte, in dem dieser sie von dem Versprechen, nichts zu sagen, ausdrücklich entband.

Aber auch dann noch waren ihre Aussagen äußerst dürftige. Sie gab nur zu, die Briefe der Vorsteherin an ihre Tante abgefangen und vernichtet zu haben. Sie gab zu, statt zur Schule zu gehn, den Professor besucht zu haben, auch später fast jede Nacht bei ihm verbracht zu haben. Von ihm habe sie auch das Geld bekommen, mit dem sie die kleinen Geschenke für die Lehrerinnen und Mitschülerinnen gekauft habe. Sie gab endlich zu, daß alles sich genau so verhalten habe, wie es Professor Petersen in seinem Geständnis, das man ihr vorlas, niederlegte.

Richter Mc Guff wurde allmählich des Vorlesens müde; er gab die Akten dem neben ihm sitzenden Schreiber, der sie mit monotoner, schleppender Stimme zu Ende las, wobei ihm der Richter befahl, hier und da einen Passus zu überschlagen. Dann aber faßte der Richter noch einmal das ganze Ergebnis der Untersuchung in einem kurzen Resumé zusammen.

Es ergab sich folgendes Bild für den Richter:

Professor Lars Petersen hatte es verstanden, das unschuldige Kind mehr und mehr für sich zu gewinnen. Seit Justine einmal in seiner Wohnung gewesen war, schien sie völlig unter seinem Einfluß zu stehn. Der alte Lüstling überhäufte das Kind mit Geschenken – die freilich nie aus seiner Wohnung herauskamen. An solchen Geschenken sind zu erwähnen: zwei Kleider, drei seidene Hemdchen, seidene Unterwäsche. Verschiedene Ringe, Halsketten, Armbänder. Eine Reihe von Büchern. Bar Geld schien ihr der Angeklagte wenig gegeben zu haben, und, nur – wie er glaubhaft versicherte, auf ihren eigenen Wunsch – die paar Dollar, für die sie die kleinen Geschenke für die Schule erstand. Professor Petersen gab ihr Unterricht in Musik, im Singen, in Sprachen, und schließlich im Tanzen. Alles das aber war nur der Köder, um das bedauernswerte Geschöpf zu umgarnen. Wie die ärztliche Untersuchung ergab und wie auch von den Beteiligten nicht geleugnet wird, hat zwischen ihnen ein intimer Umgang stattgefunden. Mehr noch, dieser Umgang artete in so naturwidrige Dinge aus, daß –

»Sie werden bemerkt haben, meine Damen und Herren,« unterbrach hier Richter Mc Guff seinen Vortrag, »daß ich während der Vorlesung des Geständnisses einige Stellen überschlagen ließ. Es handelt sich da um so widerliche Scheusäligheiten, daß die gute Sitte es mir verbot, amerikanischen Ohren derartiges vorzusetzen. Ich bin nicht prüde und bin stets für die breiteste Öffentlichkeit. Aber es widersteht dem Empfinden jedes anständig denkenden Menschen, in einem solchen Pfuhle von Unflat herumzuwühlen.«

Einer der Zeitungsleute erhob sich, trat vor den Richterstuhl und bat Seine Ehren, diese Dokumente der Presse für kurze Zeit zur Einsicht zu überlassen. Seine Ehren übergab sie ihm sofort, wobei er erklärte, daß er als selbstverständlich voraussetze, daß die Herren keinerlei Mißbrauch damit treiben würden. Er wußte gut, daß die Reporter sie sofort kopieren würden, und daß bis zum Schlusse der Sitzung ein jeder der Zuhörer genaue Kenntnis von ihrem Inhalt haben würde – diese kleine Konzession mußte er schon einem so ausgewählten Publikum machen. Dann gab er das Wort dem Vertreter der Anklage.

Dieser Herr, der bis dahin wenig in die Verhandlung sich eingemischt und nur gelegentlich eine nebensächliche Zwischenfrage gestellt hatte, nahm nun umständlich seinen Kaugummi aus dem Munde und klebte ihn wie üblich unter die Tischkante, um ihn später wieder benutzen zu können. Er hielt eine recht lange, ziemlich langweilige Anklagerede, während der die Reporter eifrig die Geständnisakten kopierten. Er appellierte an das Gericht, die Stadt von solchen Wüstlingen, die auf Kinder jagten, zu befreien. Dieser widerliche Rohling, der da auf der Bank sitze, sei vielleicht nicht der einzige: man müsse ein scharfes Exempel geben. Die Eltern, die zitterten, ihre unmündigen Kinder allein zur Schule zu schicken, müßten von diesem Alp befreit werden, müßten wieder ruhig atmen können. Endlich beantragte er eine Strafe von zwanzig Jahren Zuchthaus.

Schon während seiner Rede war ein Zivildetektiv in den Saal getreten, der nur den Schluß der Rede abwartete, um mit langen Schritten sich zum Richtertisch zu begeben. Er teilte mit, daß soeben auf seinem Polizeirevier die telephonische Mitteilung eingelaufen sei, daß die gesuchte Justine van Straaten, zwölf Jahre alt, aufgefunden worden sei. Freilich nur – als Leiche. Das Mädchen sei mit einem Fährdampfer der vierzehnten Straße über den Hudson gefahren und dann, schon auf der Hobokener Seite, in den Fluß gesprungen. Man habe sofort den Dampfer angehalten, aber die Strömung habe das Kind mitgerissen. Es sei dann, eine halbe Stunde später, von einem Motorboot der Hafenpolizei aufgefischt worden. Wiederbelebungsversuche seien erfolglos geblieben – außer Kleidchen, Strümpfen und Schuhen sei nichts bei der Leiche gefunden worden. Es bestehe nicht der geringste Zweifel, daß es sich um das gesuchte Schulmädchen Justine van Straaten handle.

Diese Mitteilung platzte so plötzlich in den Saal, daß sie eine ungeheure Aufregung veranlaßte. Der Angeklagte war aufgesprungen und hatte starr der Erzählung des Agenten zugehört, wobei er sich mit beiden Händen an der Rampe hielt. Die Tante schrie gellend auf und fiel in Weinkrämpfe, während im Publikum, das infolge der letzten Erklärung des Richters und der Rede des Staatsanwalts sehr gegen den Angeklagten eingenommen war, Verwünschungsrufe laut wurden.

Eine bekannte Operettendiva rief mit schallender Stimme in den Saal: »Er ist schuld an ihrem Tod! Er ist ein Mörder! Man soll ihn zum elektrischen Stuhl schicken!«

Sie wußte, warum sie das tat – beim Theater braucht man genau so gut Reklame wie als Richter. Und die Reporter schrieben; die Abendblätter würden in ihren Berichten die Zwischenüberschrift haben:

Lillian Lorraine von den »Follies« fordert Hinrichtung!

Seine Ehren unterbrach auf fünf Minuten die Sitzung und drohte, den Saal räumen zu lassen, wenn in dieser Zeit die Ruhe nicht wieder hergestellt sei. Zugleich ließ er die Tante, die sich nicht beruhigen konnte und immer wieder neue Schreikrämpfe bekam, hinausschaffen.

Als die Verhandlung wieder aufgenommen wurde, erteilte Richter Mc Guff dem Verteidiger das Wort. Sam Hirschbein erhob sich und erklärte, daß die Verteidigung in tatsächlicher Beziehung alles das, was die Untersuchung erwiesen, und was der Vertreter der Anklage vorgetragen habe, ohne jeden Widerspruch zugäbe. Es könne bei dem einen oder anderen Punkte vielleicht ein kleiner Zweifel sein, es sei auch wahrscheinlich, daß dies oder jenes mißverstanden sei, doch sei dies alles viel zu unwesentlich, um darüber zu streiten: in der großen Linie seien die Ausführungen des Staatsanwaltes durchaus den Tatsachen entsprechend. Doch gäbe es manche Geschehnisse, die man von zwei verschiedenen Seiten ansehn könne, und die dann ein völlig anderes Gesicht annähmen. So sei es auch hier. Er wolle nun zunächst seine Rede unterbrechen, um dem Angeklagten selbst Gelegenheit zu geben, die Geschichte des Verbrechens – oder der fortlaufenden Verbrechen – so mitzuteilen, wie sie ihm selbst sich darstelle.

Seine Ehren nickte befriedigt und erteilte sofort dem Professor das Wort. Es war ihm sehr lieb, daß der Angeklagte nun selbst wieder ein wenig agieren sollte – das würde das Interesse des Publikums und der Presse von neuem anfachen.

Der Musikprofessor sprach zunächst so undeutlich, daß ihn kaum die neben ihm auf der Bank sitzenden Gerichtsdiener verstehn konnten. Sam Hirschbein lehnte sich über die Rampe, hing an seinem Munde und wiederholte öfter laut einen Satz, den der Angeklagte vor sich hin geflüstert hatte. Trotzdem verstanden der Richter und die Zuhörer einstweilen nur kleine Bruchstücke dessen, was der Angeklagte erzählte.

Er erzählte von seiner Jugend, von dem elenden Dasein eines armen Musikstudenten, der eigentlich nur von seinen Idealen gelebt hatte. (›Some ideals!‹ brummte der Richter.) Er war ausgewandert, weil der Markt in Europa so voll war von andern, die begabter waren wie er und mehr konnten – oder doch wenigstens grade soviel wie er. In den Staaten hoffte er mehr Raum zu finden. Er hatte gearbeitet sein ganzes Leben hindurch – immer in Hoffnungen gelebt, immer Enttäuschungen erfahren. Er hatte geheiratet – eine schwedische Frau; mit der hatte er ein kleines Mädchen, das er abgöttisch liebte. Als es elf Jahre alt war – ah, es war so blond und blauäugig wie die: kleine Justine – war es zugleich mit der Mutter verunglückt. Unter den Zug gekommen, auf der Westseite in der zehnten Avenue, da, wo die Eisenbahn mitten durch die Straße fährt.

Damals wurde er sehr krank. Er konnte nicht mehr arbeiten, lief Tag und Nacht durch die Straßen Neuyorks – und immer zur Unglücksstelle. Er hatte Wahnvorstellungen und besonders den fixen Gedanken, sich an derselben Stelle unter die Räder zu werfen – ein paar Mal retteten ihn die Leute im letzten Augenblicke. Dann brachte man ihn auf viele Monate in eine Nervenheilanstalt; die Musikergewerkschaft veranlaßte das. Er wurde als geheilt entlassen – und war auch geheilt. Bis auf ein kleines. Schon in der Anstalt – in der sich seine Ideen stets nur um die Verlorenen bewegten – setzte sich in ihm der Gedanke fest, daß er eigentlich nie seine Frau, sondern nur sein Töchterchen geliebt hatte. In der Folge vergaß er dann seine Frau so vollständig, daß er sich kaum daran erinnern konnte, wie sie eigentlich ausschaute, während das Bild seines Mädchens immer lebendiger in ihm wurde. Oder vielmehr: in seinen Träumen schmolzen die beiden in eins zusammen. Es war nur ein Wesen, blauäugig, hellblond, elfjährig, lieb und süß – aber dies Traumgeschöpf war zugleich seine geliebte Frau. Und die Erinnerungen an die glücklichen Stunden mit seiner Frau erlebte er nur mit dem Traumbild des kleinen Mädchens.

Er nahm seinen Beruf wieder auf; freilich beschränkte er sich nun auf Stundengeben. Er lebte völlig abgeschlossen, verkehrte mit niemandem.

Da sah er eines Tages ein Mädchen – das ihn an seine Tochter erinnerte – –

»Justine?« unterbrach ihn der Richter.

Der Professor schüttelte den Kopf. Nein, die war es nicht. Es war lange vor ihrer Zeit. Es war eine Schülerin, die ihm die Mutter ins Haus brachte.

Seine Ehren horchte auf. »Also war Justine nicht die erste! – Waren da noch andere kleine Mädchen, Herr Petersen, die Ihrer Tochter glichen?«

Der Angeklagte nickte. Ja, einmal hatte er eins auf der Straße getroffen und angesprochen. Und noch später war ein kleines Mädchen da, das mit seinen Eltern eine Zeitlang in demselben Hause wohnte –

»Das sind drei!« rief der Richter Mc Guff. »Drei vor Justine! Besinnen Sie sich, waren es nicht noch mehr?«

»Nein«, flüsterte der Angeklagte. Man sah, wie ihm die Unterbrechungen dieser lauten Stimme weh taten.

»Das heißt also: drei weitere Opfer geben Sie zu!« fuhr Seine Ehren fort. »Wenn wir nachforschen wollten, würden wir vermutlich noch mehr finden! – Haben Sie mit diesen drei armen Kindern dasselbe getrieben wie mit Justine?«

Der Angeklagte sah ihn hilflos an.

»Reden Sie!« herrschte ihn der Richter an.

»Nein, nein!« stotterte der Professor. »Gar nichts! Sie sahen wohl meiner Tochter ähnlich – aber dann war immer etwas Fremdes da. Nur Justine –«

Mc Guff unterbrach ihn: »Sie leugnen also? – Ich sage Ihnen, Professor, daß Sie nur durch ein offenes Geständnis vielleicht Ihre Lage verbessern können! Wie war es?«

Der Angeklagte preßte die Finger ineinander. »Verstehn Sie doch«, flüsterte er fast unhörbar, »es war doch ein ganz anderes! Es war mein Kind nicht – keines von diesen!«

Da triumphierte die Stimme Seiner Ehren: »Aber Justine, in der fanden Sie ihr Kind wieder, wie es leibte und lebte?«

»Ja«, sagte der Professor.

»Und darum –« die Stimme des Richters rollte tief in gerechter Entrüstung – »und darum waren Sie zu ihr wie ein guter Vater zu seinem wiedergefundenen Kinde?! – Ich danke Ihnen, Professor!«

Es schien, als ob der alte Professor die plumpe Ironie Seiner Ehren durchaus nicht begriff.

»Ja«, sagte er still. »Ja, Euer Ehren.«

Dann erzählte er, wie er Justine traf. – Man hörte die Federn der Reporter über das Papier fahren – so still war es im Saale. Richter Mc Guff blickte umher mit großer Genugtuung: ah, es war schon eine Sensation, obwohl ihm die Hauptzeugin weggeblieben war!

– Er traf Justine – und sie war so, wie sein eigen Kind war. Er wußte recht gut, daß sie das nicht war, daß sie Justine van Straaten hieß und bei ihrer Tante in der neunzehnten Straße wohnte. Dennoch war sie – sein eigen Kind, das zurückkam zu ihm, nach so vielen Jahren. Sein Traumkind, das zugleich – seine geliebte Frau ihm war.

»Ich war sehr glücklich in dieser Zeit,« sagte er.

»Was haben Sie gemacht mit ihr?« fragte der Richter.

Oh, er hatte nur einen Gedanken gehabt: den, sie glücklich zu machen! Er wußte, daß dieses Glück in Stücke brechen mußte, sowie auch nur eine Seele darum wußte – und darum hatte er ihr immer wieder eingeschärft, nie, nie darüber zu sprechen.

Er hatte unbedenklich all seine Ersparnisse genommen und verausgabt. Er hatte sein Zimmer geschmückt und stets für Blumen gesorgt – für sie. Er hatte ihr alles gekauft, was nur irgendwie ihr Freude machen konnte.

Gewollt – gewollt hatte er gar nichts. Nichts beabsichtigt. Alles was kam, kam ganz von selbst – und keines wußte wie.

Einmal, das verstand er gut, mußte alles ein Ende nehmen. Einmal mußten sie bezahlen, er und sie, für soviel Glück.

– Die kleine Justine habe nun schon gezahlt, sagte er. Und er würde auch zahlen – jeden verlangten Preis. Denn kein noch so hoher Preis sei hoch genug – für soviel Glück.

Dann setzte er sich.

Richter Mc Guff überlegte, ob und was er hierauf erwidern solle. Aber er fand nichts Rechtes im Augenblick. So lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, zuckte die Achseln und sagte jovial: »Wir haben Ihre Lamentationen angehört, Professor. Ich muß Ihnen im Namen des Publikums danken, daß Sie uns mit Einzelheiten verschont haben! Haben Sie etwas zu bemerken, Herr Staatsanwalt?«

Der verneinte, und so gab er dem Verteidiger wieder das Wort.

Sam Hirschbein stand auf. Er sagte:

»Ich glaube nicht, daß Euer Ehren viel von dem Seelenleben des Angeklagten begriffen haben, das er so schlicht vor Ihnen entrollte –«

Schon hier unterbrach ihn Richter Mc Guff. »Gott sei Dank – gar nichts!« lachte er. »Ich bin ein Amerikaner, der für Religion, Moral und die Sterne und Streifen einsteht! Schweine sind Schweine, und ich bin nicht zum Richter gewählt worden, um mich mit dem Seelenleben von Schweinen zu befassen!«

»Ich dachte mirs«, begann der Anwalt wieder. »Aber ich hoffe, daß unter den Zuhörern der eine oder die eine sein wird, die vielleicht etwas davon begriffen haben. Menschen, die fühlen, daß außer diesen schönen Dingen, die Euer Ehren allein maßgebend sind, es auch noch andere Sachen in der Welt gibt, die eines gewissen Interesses würdig sind. Ich möchte den Worten des Angeklagten nichts hinzufügen; sie waren so einfach und klar, daß sie jedem, der überhaupt ein Gehör für solche Dinge hat, verständlich genug sind. Nur das eine möchte ich betonen. Die Anklage baut sich lediglich auf den Geständnissen des Professor Petersen auf, wie sie uns verlesen wurden. Irgendwelche Zeugen für das, was in seinem Zimmer geschah, sind nicht vorhanden; das Geständnis des kleinen unglücklichen Mädchens ist nichts als ein summarisches Bestätigen alles dessen, was der Angeklagte selbst mitteilte. Die Anklage nimmt jedes Wort des Professors als völlig wahr an, schenkt ihm in jedem einzelnen Punkt vollen Glauben. Dann aber muß sie auch den Worten Glauben schenken, die der Angeklagte soeben hier gesprochen hat. Darnach aber ist der Seelenzustand des Professors seit vielen Jahren ein schwer leidender. Ich stelle daher den Antrag, die Verhandlung zu vertagen und einige bedeutende Psychiater als Sachverständige zu laden.«

Richter Mc Guff erklärte: »Das Gericht zieht sich zurück, um über den Antrag des Verteidigers zu beraten.«

Er stand auf, stieß den Stuhl zurück, griff ein paar Akten auf, ging zur Tür. Er öffnete diese, schloß sie hinter sich und öffnete sie sofort wieder. Würdig begab er sich zurück auf seinen Platz, ließ sich nieder und verkündete: »Der Antrag der Verteidigung ist abgelehnt. Das Gericht hält die Sachlage für völlig geklärt und hat nicht die geringste Veranlassung, das Vorverfahren wieder zu eröffnen. Ich ersuche den Verteidiger, fortzufahren.«

Anwalt Hirschbein lächelte: »Ich habe nichts anders erwartet,« sagte er. »Dies ist ein amerikanischer Gerichtshof und –«

Richter Mc Guff rief: »Ganz gewiß ist er das! Und wenn es Ihnen nicht paßt, so gehn Sie dahin zurück, woher Sie gekommen sind! Ihnen wäre wohler – und uns auch!«

Die zustimmenden Rufe aus dem Publikum unterbrach Seine Ehren nicht. »Geh nach Palästina!« krähte die helle Stimme eines bekannten Schauspielers, der schon lange auf eine Gelegenheit lauerte, um, wie seine Kollegin Lillian, einen besonderen Satz in den Zeitungen zu bekommen.

Sam Hirschbein wartete ruhig. Dann begann er wieder: »Ich glaube nicht, daß irgendein Wort, das ich für den Angeklagten sprechen würde, diesem auch nur ein kleines bißchen nützen könnte. Darum will ich einen andern für ihn sprechen lassen: eben das kleine süße Mädchen, Justine van Straaten, das ihm sein wiedererstandenes Töchterlein war – und seine geliebte Frau zugleich.«

Er zog den Brief heraus, den die Matrone mitgebracht hatte, hielt ihn hoch in der Hand. »Euer Ehren sehn, daß ich ihn bisher nicht geöffnet habe. Ich habe keine Ahnung von dem Inhalt; ich werde Wort für Wort ihn vorlesen und dann zu den Akten überreichen. Ich bin überzeugt, Euer Ehren, daß kein Verteidiger der Welt besser für meinen Klienten plädieren könnte.«

Er riß den Umschlag auf, entfaltete die Blätter und las:

»Dies schreib ich nun hin, weil der Anwalt sagte, daß es besser ist. Und ich fühle auch, daß es besser ist. Ich weiß es alles viel besser, wenn ich allein bin. Die Matrone sagt, ich müsse immer die Wahrheit sagen, wenn sie mich fragen werden bei Gericht. Aber ich weiß nicht – man kann nie die Wahrheit sagen, wenn die Gerichtsleute fragen. Es ist immer ganz anders. Und nie, wie es wirklich war. Auch, wenn ich schreibe, brauch ich nicht aussagen vor Gericht, und man wird es lesen. Dann brauch ich nicht hingehn. Aber ich wollte so gerne hingehn, um den Professor noch einmal zu sehn. Aber dann fragen sie mich, und dann wird alles falsch. Darum will ich nicht hingehn. Aber sehr vielmale Grüße dem Professor und viele Küsse und vielen, vielen Dank. Ich will nicht zum Gericht gehn. Und auch nicht in das Haus, von dem die Matrone erzählt. Ich will das nicht tun, Ich weiß schon, was ich tun will.

Nur viele Küsse dem lieben Professor. Und bitte ihm sagen, daß niemand in der Welt ihn so lieb hat wie ich.

Auch viele Grüße für die Tante und die Lehrerinnen. Ich habe sie auch lieb, und es tut mir sehr leid, daß ich ihnen soviel Kummer mache. Sie sollen mir verzeihn, bitte. Und so viele gute Grüße für den Professor und Dank und Küsse für alles Gute.

Die Matrone sagt, daß ich schweres Unrecht getan habe, und ich müßte es bereuen. Ich kann es aber nicht bereuen, weil es kein Unrecht war. In dem Hause, in das sie mich schicken wollen, soll ich immer bereuen. Und darum will ich nicht hingehn. Und ich will auch nicht leben ohne den Professor.

Was ich nur weiß, das lehrte mich der Professor. In der Schule habe ich auch gelernt, aber das war alles nichts. Sie wissen nicht, was das ist – Schönheit. Die Lehrerinnen wissen es nicht. Und die Tante weiß es auch nicht. Ich weiß es, weil der Professor es zeigte. Alles war schön, was er tat. Der liebe Professor hat mir immer Märchen erzählt und viele Geschichten. Dann saß ich auf seinem Knie. Und sie waren so schön, alle. Und er wußte noch mehr – und immer mehr – und das war die Welt, worin wir lebten. Der Professor sagte es – es sei eine Traumwelt nur für mich und ihn. Darin lebten wir. Er hat mir so viel geschenkt – und immer das, was ich gerne mochte. Aber nicht darum habe ich ihn lieb. Ich hätte ihn lieb, auch wenn er mir nie etwas gegeben hätte. Der Professor spielte auf seiner Geige und auch auf dem Klavier. Und die Schönheit lebt auch in den Tönen, sagte er. Davon aber wußte niemand etwas in der Schule. Auch Singen ist schön. Und Tanzen ist schön, sehr schön, dann fühlt man überall die Musik. Auch ich bin schön. Meine blauen Augen und mein blondes Haar. Und mein Mund ist schön und meine Beine und meine Arme und mein ganzer Leib. Das hat der Professor gesagt. Es haben auch andere gesagt in der Schule und auch meine Tante, daß ich süß sei und ein so hübsches Gesicht habe. Und so etwas. Aber das war doch ganz was anderes. Denn dann sagten sie es nur so – und ich konnte es doch nicht fühlen. Aber bei dem Professor, da fühlte ich es sehr tief. So wie die Musik. Wie den Duft der Blumen und den Klang der Märchen. Das alles war so voll von Schönheit – und so war ich. Und der Professor sagte, daß die Schönheit das Glück sei. Und darum waren wir so glücklich. Der Professor sagte auch, daß es alles enden müsse, wenn nur ein Mensch davon erführe. Und das war auch richtig. Denn die Menschen, sagte er, wissen nicht, was Schönheit ist und was Glück ist, und darum hassen sie die, die glücklich sind. Und zerschlagen alles. Und so ist es auch gekommen. Und alles, alles ist nun so häßlich.

Keinem Menschen hat der liebe Professor etwas zuleide getan. Er war gut und liebte nur alles Schöne. Und ich war auch nur lieb zu allen Menschen und tat ihnen recht Gutes, wenn ich nur konnte. Warum wollten sie uns nicht allein lassen? Unser Glück tat niemandem etwas Böses – und darum kann man es nicht bereuen. Das, was die Menschen gegen uns tun, das ist schlecht. Und was der Professor tat mit mir und ich mit ihm – das war immer schön und immer gut. Ich bin froh, weil ich gut weiß, daß es durch mich war, daß der Professor glücklich war. Und ich bin so sehr, sehr dankbar, weil ich so selig glücklich war durch ihn. Und weil ich weiß, was Glück ist und was Schönheit ist.

Dies alles ist die reine Wahrheit. Und was die Leute aufschreiben bei Gericht, das ist immer alles Lüge. Sie wissen nicht, was Schönheit und Glück ist, und darum müssen sie es immer anders verstehn und immer Lügen schreiben. Aber dieses ist allein die Wahrheit.

Der Professor wird es Ihnen auch sagen. Und bitte ihn vielmals grüßen, und ich schicke viele Küsse für den Professor. Ich denke immer an das eine Märchen von der kleinen Seele, die hinflog durch den Ätherraum und immer suchte nach der andern Seele, die sie liebte. Und dann schließlich fand sie die. Und bitte ihm sagen, daß ich auch fliegen will durch den Ätherraum und suchen will und suchen, bis ich ihn finde!

Justine van Straaten.«

Der Anwalt ließ das Blatt sinken. »Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen!« sagte er. Er setzte sich. Den Brief gab er, auf dessen Bitten, dem Angeklagten.

Wieder erhob sich Richter Mc Guff, wieder ging er durch die kleine Tür hinter dem Richtertisch, um sofort zurückzukehren.

Er sprach volle zehn Minuten lang. Er zählte die wichtigsten Punkte der schriftlichen Geständnisse auf, ging dann auf die Verteidigungsrede des Angeklagten und den Brief des Mädchens ein. Wenigstens drei andere Opfer seiner viehischen Lust habe der alte Verbrecher eingestanden. Wie teuflisch er es verstanden habe, die armen Kinder in sein Netz zu ziehen, erhelle zur Genüge aus dem haarsträubenden Blödsinn des Schreibens der kleinen Justine, das auch den letzten Funken gesunden Menschenverstandes vermissen lasse. Er pries sich glücklich, die Stadt Neuyork von dieser Giftpest befreien zu können und bemerkte zum Schluß, daß er hoffe, daß selbst dieses infame Verbrechen ein Gutes stiften möge: nämlich das, das anständige Publikum aufzurütteln! Jeder echte Amerikaner, der von diesem Prozesse lese, habe die Pflicht, sofort an den Senator oder Abgeordneten seines Kreises zu schreiben, um diesen zu veranlassen, sobald wie möglich die schwebende Bill des Einwanderungsverbotes durchzutreiben. Zum Schluß sprach er das Urteil aus: vierzig Jahre Zuchthaus.

Professor Lars Petersen hatte von alldem nichts gehört. Er starrte in den Brief der kleinen Justine, den ihm ein Gerichtsdiener auf Befehl des Richters dann mit Gewalt fortnehmen mußte.

Der Richter Mc Guff hob die Sitzung auf. Der Angeklagte wurde hinausgeführt; viele der Zuhörer begaben sich zum Richtertisch, um Seiner Ehren die Hand zu schütteln. Die Prediger gratulierten ihm, und die Politiker und viele Damen und Herrn der Gesellschaft und der Theaterwelt. Oh, es war ein Triumph!

Und nur die kleine schnippische Ivy Jefferson sagte: »Well, you are a damned fool after all, Judge!«

Aber Seine Ehren achtete nicht darauf. Dies war ein großer Tag für Richter Henry Taft Mc Guff.


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