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XII. Lise im Walde

Als die kleine Lise, so erzählte die Großmutter, an einem Sonntagmorgen allein zu Hause war, fühlte sie plötzlich eine sehr große Lust, auszugehen.

»Signora Eleonora Duse!« sagte sie zu ihrer großen Puppe, »bitte ziehen Sie sich an, wir wollen ein wenig die schöne Morgenluft genießen.«

Denn die kleine Lise nannte ihre große Puppe, ›Signora Eleonora Duse‹, weil ihre Mama einmal zu dem Onkel Dichter gesagt hatte, daß sie niemanden auf der Welt lieber sähe, als die Signora Eleonora Duse. Früher hatte ihre große Puppe Katrine geheißen, aber die Lise fand, daß sie viel schöner geworden war, seitdem sie Signora Eleonora Duse hieß. Wenn sie ihre Puppe aber so lieb hatte, daß sie ihr einen Kuß geben mußte, dann sagte sie, ›Düschen‹ zu ihr, und wenn sie ihr bös war, nannte sie sie nur ›Signora‹. Das klang sehr verachtungsvoll, fand die kleine Lise.

Sie band ihrer Puppe den großen Hut auf, sie selbst aber setzte sich gar keinen Hut auf. Nur die Schnürriemen band sie noch ordentlich fest, weil Sonntag war, obwohl niemand da war, der es gemerkt hätte. Dann ging die Lise in den großen Garten hinunter. Sie hielt sich gar nicht lange auf, nur einmal blieb sie stehen, um ein Stiefmütterchen zu pflücken.

»Düschen,« sagte sie, »das schenk ich dir, weil übermorgen dein Geburtstag ist.«

Sie steckte ihr die Blume auf den Hut.

»Sag mal, Düschen,« fuhr sie nachdenklich fort, »hast du denn eigentlich überhaupt wirklich übermorgen Geburtstag?« Die Puppe antwortete nicht und darüber ärgerte sich die Lise.

»Signora,« sagte sie, »ich werde meine Mama fragen, ob Sie übermorgen wirklich überhaupt eigentlich Geburtstag haben! Und wenn Sie eigentlich überhaupt wirklich übermorgen gar keinen Geburtstag haben, dann werde ich Ihnen auch überhaupt wirklich gar nichts schenken.«

Die Lise lief durch den Garten, daß ihre blonden Haare im Winde flatterten. Sie lief an den Tulpenbeeten vorbei und an den großen Pfingstrosenbüschen. Die mochte sie nun gar nicht leiden, weil sie so dick waren. Man konnte sich auch nichts Rechtes dabei denken, meinte die Lise, bloß daß sie der Tante Emilie glichen, die auch so dick war und auch ein so rotes Gesicht hatte. Bei den Heliotropen aber blieb sie stehen und schnupperte mit ihrem Näschen in der Luft.

»Signora Eleonora,« sagte sie, »wenn Sie übermorgen aber doch wirklich Geburtstag haben, dann werde ich Sie zu Vanilleeis einladen!«

Sie nahm sich vor, wenn die Mama sie mitnahm, um den Geburtstag ihrer Puppe zu feiern, die Portion Eis für die Signora auch mit aufzuessen.

Um die Kürbisbeete machte sie einen großen Umweg. Denn da arbeitete sicher der Gärtner und es war gar nicht nötig, daß der sie sah, weil sie doch heute aus dem Garten herauslaufen wollte, durch das kleine Törchen, das ganz hinten an der Mauer war. Nur bei den Stachelbeeren machte sie noch halt, die mochte sie am allerliebsten, wenn sie noch hart und ganz grasgrün waren. Sie aß welche und steckte sich noch die ganze Tasche voll. Dann lief sie hinten zur Gartenmauer. Da war das Pförtchen unter dem großen Holunderbaum, dessen weiße Blüten tief herunterhingen. Die Lise drückte auf die Klinke, aber es nutzte nichts, das dicke Eisenschloß versperrte die Türe. Sie riß an dem Schloß und schlug auf die Pforte und stieß mit beiden Füßen; aber die dumme Türe rührte sich nicht.

»O, du häßliche alte Türe!« rief die Lise. »Ich habe noch nie so eine scheußliche alte Türe gesehen!«

Sie warf einen langen Blick auf die Mauer. Aber die war so hoch, nein, da konnte sie gewiß nicht hinüberklettern! Ach, der eklige Gärtner mit seinem roten Bart, warum hatte er nur heute gerade die Türe verschlossen? Die Lise wünschte, daß ihm alle seine Kürbisse faul werden möchten, so böse war sie auf den Gärtner.

Sie faßte noch einmal an die Klinke, so stark sie konnte. Da ritzte sie ein Nagel in die Hand, daß kleine rote Bluttröpfchen über die weiße Haut liefen.

Das tat weh und die kleine Lise erschrak. Sie setzte sich in das Gras unter den Holunderbaum und begann bitterlich zu weinen. Sie faßte ihre große Puppe fest in den Arm und schluchzte und jammerte zum Steinerweichen.

Über ihr im Holunderbusch saß eine große schwarze Spottdrossel. Als sie die Lise weinen hörte, fing sie laut an zu pfeifen. Das klang, als ob sie lache über das Mißgeschick des kleinen Mädchens und die Lise ärgerte sich noch mehr und rief:

»Sei still, du dummer Vogel, sei still!«

Die Drossel war aber gar nicht still, sie glaubte gewiß, daß es ein sehr schönes Duett sei, wenn sie pfiff und die Lise schrie.

Die Lise hielt sich beide Ohren zu und schrie immer noch mehr, bloß um die Drossel nicht zu hören. Von dem vielen Schreien aber wurde sie müde, da lehnte sie ihr Köpfchen an den Holunderstrauch.

Als nun der Vogel wegflog, wurde das kleine Mädchen auch ruhiger, nur die Tränen liefen ihr noch langsam über die Wangen. Dann machte sie die Äuglein zu und alles war so still um sie her.–

 

* * *

 

– Da merkte die Lise plötzlich, wie etwas an ihrem Kleide zerrte. Sie blickte auf und sah, daß es ihre große Puppe war, die Signora Eleonora Duse, die sie schon ganz vergessen hatte. »Lise,« sagte die Puppe, »Lise, was schläfst du denn? Wir wollten doch heute morgen spazieren gehen!«

»Ach, liebe Signora Eleonora,« antwortete die Lise, »wir können ja nicht hinaus aus dem Garten! Der eklige Gärtner mit seinem struppigen roten Bart hat die Türe in der Gartenmauer verschlossen!«

»Wenn es das nur ist!« lachte die große Puppe. »Probier mal, ob dieser Schlüssel paßt.«

Dabei zog sie aus ihrer Tasche einen ganz winzigen goldenen Schlüssel, den sie der Lise reichte. Die sprang gleich auf und steckte ihn in das Schloß. Obgleich nun das Schlüsselloch viel größer war, als der kleine Schlüssel, so sprang das Schloß doch sofort auf. Die Lise sprang mit beiden Beinen in die Luft und stieß einen Juchzer aus.

»Düschen! Düschen!« rief sie, »du bist die goldigste Puppe, die ich je gehabt habe! Und ob du nun übermorgen überhaupt wirklich Geburtstag hast oder nicht, das ist ganz gleichgültig, ich werde dich doch einladen zum Eisessen und die Mama so lange bitten, bis sie es erlaubt!«

Sie nahm ihre Puppe auf den Arm und küßte sie dreimal auf den Mund. Dann huschte sie rasch durch das Pförtchen hindurch.

»Warte ein wenig,« sagte die Puppe, »du siehst ja noch ganz verweint aus! Gib mal dein Taschentuch und halt mich ein wenig hoch.«

Die Lise tat, wie ihr geheißen, und die Puppe putzte ihr ganz vorsichtig die Äuglein aus.

»Auch die Nase! Auch die Nase!« rief die Lise lustig.

»Nein,« sagte Signora Eleonora Duse würdevoll, »das kannst du alleine tun!« Da nahm die Lise das Taschentuch, setzte die Puppe auf den Boden und putzte sich alleine die Nase.

Dann steckte sie das Tuch in die Tasche und wollte die Puppe wieder aufheben. Die sprang aber ganz von selbst auf und sagte:

»Weißt du Lise, ich brauche nicht immer getragen zu werden. Das ist recht langweilig! Ich will jetzt selbst gehen; wenn ich müde werde, will ich dirs schon sagen!«

Die beiden gingen nun Hand in Hand in den Wald hinein. Da kamen zwei wunderliche Gestalten über den Weg, ein Herr und ein altes Weib. Das alte Weib war länglich rund und hatte einen großen schmutzigen, schwarzen Mantel um. Der Herr war auch nicht ganz rein, er hatte einen langen dünnen Leib und einen großen krumm gebogenen Hals, aber nur einen ganz kleinen Kopf.

»Guten Tag, Fräulein Lise!« sagte der Herr, »wie geht es Ihnen?«

»Danke!« sagte die Lise. »Wer seid ihr denn?«

»Kennst du uns nicht?« antwortete das schmutzige alte Weib. – »Ich bin doch die Kohlenschaufel aus der Küche, und das ist mein Mann, der Herr Stocheisen.«

»So?« sagte die Lise, »und ihr spaziert am Sonntagmorgen ganz vergnügt hier herum? Wie soll denn das Feuer im Herd angemacht werden? Macht nur schnell, daß ihr nach Hause kommt, die Köchin braucht euch!«

»Die Köchin braucht uns! Die Köchin braucht uns!« riefen die beiden voller Schrecken und liefen so schnell, wie sie konnten, fort, um nicht zu spät zurückzukommen.

Die Lise guckte ihnen nach und lachte über die wunderlichen Sprünge, die die beiden machten. Dann ging sie mit ihrer Freundin, der Puppe, weiter. Da sie aber so große Schritte machte, bat die Puppe sie, doch ein wenig langsamer zu gehen, well sie das Gehen noch nicht recht gewohnt sei und schon am fange, zu ermüden.

»Wollen wir uns etwas ausruhen?« schlug Lise vor. »Ich glaube, da vorn ist eine Bank.«

Damit war die Signora einverstanden. Kaum aber näherte sie sich der alten Steinbank, als eine scharfe Stimme ihnen zurief: »Besetzt!«

Jetzt erst bemerkte Lise, daß auf der einen Seite der Bank ein Federhalter saß. Er hatte einen langen schwarzen Gehrock an, aus dem nur oben der Kopf und unten die Füße herausguckten.

»Bitte, Herr Federhalter,« sagte sie, »es ist ja noch genug Platz auf der Bank! Dürfen wir uns nicht etwas setzen? Meine Puppe – –«

Da fühlte sie, daß sie in die Finger gezwickt wurde.

»Lise,« sagte die Puppe leise, »ich finde es gar nicht fein, daß du allen erzählst, daß ich eine Puppe bin!«

»Meine Freundin ist so müde geworden,« verbesserte sich die Lise.

»Hm!« machte der Federhalter, »wollt ihr euch nicht wenigstens mal vorstellen?«

»Ich bin die Lise,« sagte das kleine Mädchen, »und hier ist meine Puppe –«

Wieder wurde sie gezwickt!

»Au!« rief die Lise. »Meine Freundin, Signora Eleonora Duse.«

»Bitte nehmen Sie Platz, meine Damen!« erwiderte der schwarze Herr mit einer höflichen Verbeugung. »Ich bin der Füllfederhalter von dem Onkel Dichter.«

»Was ist das für ein komischer Wald!« sagte die Lise, während sie ihrer Puppe auf die Bank half und sich selbst setzte. »Sagen Sie mal, Herr Federhalter –«

»Füllfederhalter,« verbesserte der Herr im Gehrock.

»Herr Füllfederhalter – verzeihen Sie! –« fuhr die Lise fort. »Sagen Sie mal, wie soll denn der gute Onkel dichten, wenn Sie sich hier im Walde herumtreiben?«

»Herumtreiben?« rief der Füllfederhalter. »Herumtreiben? Erstens treibe ich mich niemals herum, sondern ich ergehe mich, zweitens dichtet der Onkel Dichter selbst überhaupt gar nichts, sondern ich dichte und drittens seid ihr beide die dümmsten Geschöpfe, die jemals in den Wald gekommen sind!«

Die Lise war starr, wie der Herr Füllfederhalter so zornig wurde und die Puppe war ganz blaß, so ärgerte sie sich!

»Sie wissen wohl gar nicht, wen Sie vor sich haben?« sagte sie. »Ich bin die Signora Eleonora Duse, von der der Lise ihre Mama gesagt hat, daß sie niemanden lieber sähe!«

»Ja! das hat sie wirklich gesagt!« fiel die Lise ein.

»So, das hat sie wirklich gesagt?« höhnte der Herr Füllfederhalter. »Ist das denn ein Grund, um mich hier zu beleidigen?«

»Wir wollen Sie ja gar nicht beleidigen!« sagte die Lise, »aber Sie müssen auch nichts gegen meinen Onkel Dichter sagen und erst recht nichts gegen meine Mama, die die allerbeste Mama ist, die ich je gehabt habe.«

Der Füllfederhalter zupfte sich den Gehrock zurecht und reichte der Lise die Hand.

»Fräulein Lise!« sagte er. »Für Ihre verehrte Frau Mama hege ich die allergrößte Hochachtung, weil sie so vorzügliche Pfannkuchen bäckt. Was aber Ihren Herrn Onkel betrifft, von dem ich der Füllfederhalter bin, so muß ich Ihnen sagen, daß er ein Dummkopf ist!«

»Was?« rief die Lise. »Er bringt mir doch immer Bonbons mit!«

»Davon lassen Sie sich nur nicht täuschen, Fräulein Lise,« fuhr der Füllfederhalter fort. »Ich kenne ihn besser. Ein Dummkopf ist er! Nichts kann er! Alles muß ich für ihn dichten! Jetzt bin ich gerade wieder dabei, ein schönes Sommerlied für ihn zu dichten! Nachher sagt er dann, er hätts gemacht! So ein Dummkopf!«

Der Füllfederhalter regte sich dabei so auf, daß ihm die Tinte fortwährend aus dem Munde lief.

»Ich blute!« rief er. »Ich blute! Bitte verbinden Sie mich doch.«

Aber die Lise hütete sich wohl, ihn zu verbinden, da sie sich ja die ganzen Finger schmutzig gemacht hätte. Da putzte sich der Federhalter mit dem Rockärmel selbst die Tinte ab.

»Wollen Sie uns nicht das Gedicht aufsagen, das Sie gemacht haben, Herr Füllfederhalter?« frug die Lise höflich.

»Es freut mich, daß Sie so viel Interesse für Poesie haben!« erwiderte der Federhalter. »Es ist ein sehr schönes Gedicht, auf das ich sehr stolz sein kann. Bitte hören Sie nur zu:

»Im Sommer! Im Sommer!
Da weht ein kühler Wind –«

»Es weht ja gar kein kühler Wind!« sagte die Signora Eleonora Duse.

»Unterbrechen Sie mich doch nicht, Sie dumme Gans!« brauste der Füllfederhalter auf. Dann begann er noch einmal:

»Im Sommer! Im Sommer!
Da weht ein kühler Wind.
Im Grase kriecht der Eidechs
Mit seinem grünen Kind!«

»Es heißt: » die Eidechse!« sagte die Lise.

»So?« rief der Herr Federhalter, »und wenn es nun ein Mann ist? He? Dann muß man doch der Eidechs sagen! Wo war ich doch gleich stehen geblieben?«

»Im Grase kriecht der Eidechs
Mit seinem grünen Kind.«

»Im Gras der grüne Eidechs
Das ist ein rechter Mann.
Der Brombär! Der Brombär!
Der brommt so laut er kann.«

»Es heißt die Brombeere,« sagte die Lise bescheiden. »Und brummen kann sie auch nicht!«

»Ich bitte mich nicht immer zu unterbrechen!« schrie der Füllfederhalter. »Was kann ich dafür, daß du so wenig von Naturgeschichte verstehst? – Der Brombär ist eben der Mann von der Brombeere und er heißt gerade deshalb Brombär, weil er so gut brommen kann!

Der Brombär! Der Brombär!
Der brommt so laut er kann.

Der Blattlaus! Der Blattlaus!
Der hinkt auf einem Bein!«

»Weshalb hinkt sie denn?« fragte die List.

»Sie hinkt überhaupt nicht! Er hinkt!« sagte der Füllfederhalter. »Und er hinkt, weil er eben eine Mißgeburt ist. Alle Blattläuse sind Mißgeburten, wußtest du das nicht? – Aber hör nur weiter:

Er legt sich auf dem Ohre,
Da schläft es ein.«

»Was schläft ein?« fragte die Lise.

»Was? Das Bein natürlich! Das alte Hinkebein von dem Blattlaus schläft ein, weil es so krumm ist und so müde. Darum schläft es ein, das ist doch ganz einfach!«

»Ja,« sagte die Lise, »das ist ganz einfach.«

Der Füllfederhalter fuhr fort:

»Es raschelt in dem Grase.
Was fliegt denn da herbei?
Der Hase! Der Hase!
Der legt noch schnell ein Ei!«

»Verzeihen Sie vielmals, Herr Füllfederhalter, aber das geht doch nicht!« sagte die Lise. »Hasen können doch nicht fliegen, und Eier legen bloß die Hühner und die Hasen nur zu Ostern, aber doch nicht drei Wochen nach Pfingsten!«

»Ach, du naseweises Ding!« rief der Federhalter. »Hasen können nicht fliegen? Aber wenn sie in einem Luftballon sitzen, dann können sie doch wohl fliegen, nicht wahr? Und dann hat der Hase eben vergessen in seinem Kalender nachzusehen, deshalb legt er das Ei so spät.

Der Hase! Der Hase!
Der legt noch schnell ein Ei!

Das ist von Schokolade
Und innen Marzipan
Der Brombär! Der Blattlaus!
Die kommen schnell heran.

Das Ei, das ißt der Eidechs
Mit seinem grünen Kind.
Im Sommer! Im Sommer!
Da weht ein kühler Wind!«

»Nun?« frug der Füllfederhalter, als er fertig war. »Wie finden Sie das Gedicht?«

»Sehr schön,« sagte die Lise, »nur –«

»Nur – was?« fragte der Federhalter.

»Nur – – etwas komisch, entschuldigen Sie, Herr Füllfederhalter. Ich habe noch nie Eidechsen gesehen, die Marzipan essen!«

»Und ich finde das Gedicht recht dumm!« rief die Signora Eleonora Duse. »Der Onkel Dichter wird sehr unzufrieden mit Ihnen sein!«

Jetzt aber wurde der Füllfederhalter ganz wild. Er sprang auf und schrie:

»Was verstehen Sie denn davon, Sie dumme Puppe Sie? Jawohl, Sie sind eine recht dumme Puppe, die innen mit Watte und Werg ausgestopft ist und nicht einmal Fleisch und Blut hat!«

»Ach! Ach!« machte die Signora, dann fuhr sie mit beiden Armen in die Höhe und sank ohnmächtig zurück. Lise fing sie auf, sie war nun aber auch böse auf den Federhalter.

»Was sind Sie denn so eingebildet!« rief sie ihm zu. »Sie haben ja selbst kein Blut!«

»Dummes Ding! Dummes Ding!« kreischte der Füllfederhalter. »Ich werde dir zeigen, ob ich Blut habe. Bis oben bin ich gefüllt.«

Mit diesen Worten riß er sich mit beiden Händen den Kopf ab, da drang aus dem Halse ein langer, schwarzer Strahl hervor, der sich gerade über die Lise und ihre Puppe ergoß, so daß beide ganz voll Tinte wurden. Die Lise sprang auf, nahm ihre Puppe in den Arm und lief weg, so schnell sie konnte. Der häßliche Federhalter aber setzte sich seinen Kopf wieder auf den Hals, lachte ihnen nach und rief:

»So, nun habt ihr wohl gesehen, daß man einen dichtenden Herrn Füllfederhalter nicht beleidigen darf. Und dem Onkel werde ich es auch sagen, er soll dir nie wieder Bonbons mitbringen!«

Die Lise drehte sich rasch noch einmal um, machte ihm eine lange Nase und rief:

»Alte Klatschbürste!«

Dann aber machte sie schnell, daß sie weiter kam. Sie kamen bald zu einer kleinen Quelle, daneben war ein Schild angebracht, darauf stand:

»Reinigungsanstalt für Puppen und kleine Mädchen mit Tintenflecken.«

»Ah –« sagte die Lise, »das trifft sich ja gut! Wo ist denn die Reinemachefrau?«

»Das bin ich!« quakte eine fettige, tiefe Stimme, und Lise sah mit Schrecken eine große, alte Warzenkröte vor sich stehen. »Zehn Pfennige die Person,« fuhr sie fort, »das ist billig genug!«

Lise suchte in ihren Taschen, sie hatte aber gar kein Geld bei sich. Für den Groschen, den ihr der Papa gestern geschenkt hatte, hatte sie sich gleich im Automaten Schokolade gekauft.

»Liebe Kröte,« sagte sie, »ich habe leider mein Portemonnaie vergessen. Wann Sie aber eine Handvoll Stachelbeeren haben wollen?«

Dabei holte sie die Stachelbeeren heraus, die sie vorhin im Garten gepflückt hatte.

Die Kröte nahm eine Stachelbeere und versuchte sie.

»Sie sind noch sehr grün und sauer!« bemerkte sie.

»O,« sagte Lise, um sie zu überreden, »so sind sie wirklich am allerleckersten! Außerdem kann man so gute Stachelbeertörtchen davon machen!«

»Na!« sagte die Warzenkröte. »Gib mal her! Und nun legt euch der Länge lang ins Gras, damit ich euch ordentlich rein machen kann!«

Das kleine Mädchen legte sich hin und die dicke, alte Kröte krabbelte ihr gleich auf das Kleid. Sie schob ihre breite Warzenzunge aus dem Maule heraus und begann die Tintenflecken abzulecken. Das kitzelte die Lise schrecklich, aber sie hielt doch still, weil sie nicht so schmutzig wieder nach Hause kommen wollte.

Der Kröte schien das Fleckenlecken sehr vielen Spaß zu machen. Sie schmatzte ganz laut, gerade wie die Tante Emilie.

»Schmeckt es gut?« fragte die Lise.

»Sehr gut!« grunzte die alte Kröte, »es ist echte Hohenzollerntinte, sie geht kaum aus! Und wenn ich nicht die beste Tintenfleckenableckerin in der ganzen Welt wäre, so würdet ihr nie im Leben die Flecken wegbekommen!«

Als die Lise ganz rein geleckt war, begann die Warzenkröte die Signora abzulecken, die noch immer in Ohnmacht lag. Sie war gerade damit fettig, als sie bemerkte, daß die Puppe auch auf der rechten Backe einen großen Tintenspritzer hatte. Ehe noch die Lise es hindern konnte, streckte die dicke Kröte ihre lange Warzenzunge aus und leckte die arme Signora Eleonora Duse über das ganze Gesicht. Der Flecken ging weg, aber die Puppe kriegte einen solchen Schreck, daß sie wieder aus ihrer Ohnmacht erwachte. Sie fing jämmerlich an zu schreien, als sie die alte Kröte über sich hocken sah; die Lise hob sie rasch auf und tröstete sie.

»Still! Düschen, still!« sagte die Lise. »Sie tut dir ja nichts. Es ist nur die Reinemachefrau hier und eine sehr gute, alte Kröte.«

Das sah denn die Puppe auch ein und beide bedankten sich herzlich bei der braven Kröte.

»Könnten Sie mich nicht auch Ihrer Mama empfehlen?« fragte die Kröte.

»Ach –« sagte die Lise, »das möchte ich ja wirklich sehr gern tun, aber meine Mama mag nun mal gar keine Kröten leiden!«

Die Kröte seufzte, dann sagte sie:

»Das ist schlimm, aber sagen Sie ihr doch, daß zwischen Kröte und Kröte ein ganz gewaltiger Unterschied sei.«

»Da haben Sie recht, liebe Frau Kröte!« sagte die Lise, gab der Kröte die Hand und machte einen recht schönen Knix. Die Signora Eleonora Duse gab der guten Kröte auch die Hand und machte eine tiefe Verbeugung. Dann gingen sie beide weiter in den Wald, die Lise nahm sich aber vor, daß sie heute abend ihrer Mama doch mal sagen wolle, daß zwischen Kröte und Kröte ein gewaltiger Unterschied sei.

»Nun, Eleonora,« frug die Lise nach einer Weile, – »hast du dich wieder etwas erholt? Der häßliche Füllfederhalter war auch gar zu frech!«

»Danke!« sagte die Signora Eleonora Duse, »es geht schon besser! – Ich habe nie diese Dichter leiden können, sie sind so undankbar!«

Da wurde sie plötzlich von einem merkwürdigen Geräusch unterbrochen, das sehr schnell näher zu kommen schien. Erst klang es wie lautes Ziegenmeckern, aber bald konnte die Lise ganz deutlich zwei Stimmen unterscheiden.

»Nein!« sagte die eine Stimme. »So geht es nicht! Der soll Sieger sein, der die wenigsten Beulen am Kopfe hat.«

»Wer zählt denn die Beulen?« meckerte die zweite Stimme.

»Jeder bei sich selbst!« rief der erste. »Oder jeder bei dem andern, das ist ganz gleichgültig!«

»Nein!« sagte der andere, »dann fudelst du wieder! Wir müssen einen Unparteiischen haben!«

Bei diesen Worten sah die Lise zwei komische Kerle ankommen. Bis zum Leib waren sie ganz nackt, unten jedoch hatten sie struppige Fellhosen an. Wie sie aber genau zusah, bemerkte sie, daß es gar keine Hosen waren, daß die beiden Kerle vielmehr richtige Ziegenbockbeine hatten und einen Schwanz noch dazu! An der Stirne hatte jeder auch noch zwei kurze Hörner. Die beiden sahen recht wild aus, aber doch ganz gutmütig, genau so wie auf dem Bild, das der Papa in seinem Arbeitszimmer über dem Sofa hängen hatte.

Trotzdem hielt es die Lise, nachdem sie mit dem ekligen Federhalter so trübe Erfahrungen gemacht hatte, für besser, recht höflich zu sein; sie sagte daher artig guten Tag und stellte sich und ihre Freundin den beiden vor.

»Famos!« rief der eine, »daß wir euch treffen! Ich heiße Hans Faun, und das ist mein Bruder Paul Faun, wir sind Zwillinge und die Söhne von Papa Stuck. Wir wollen uns ein wenig boxen, will einer von euch vielleicht Unparteiischer sein?«

»Sehr gern!« sagte die Lise. »Ihr müßt mir nur sagen, was ich zu tun habe.«

»Ganz einfach,« sagte Paul Faun, dessen Bocksbeine ein wenig rötlicher waren, als die seines Bruders. »Wir laufen dreißigmal mit den Köpfen gegeneinander. Hernach mußt du dann zählen, wer die meisten Beulen hat!«

»Herrgott,« sagte die Signora, »das kann ich nicht mit ansehen, ich glaube, ich kriege zu viel davon!«

Die Lise fand, daß ihre Puppe nun doch etwas sehr zimperlich war.

»Signora,« sagte sie kühl, »dann drehen Sie sich bitte herum!«

Die beiden jungen Faune lachten, dann liefen sie mit den Köpfen aneinander, daß es krachte. Es schien ihnen aber gar nicht so sehr weh zu tun, denn sie blieben ganz vergnügt dabei. Die Lise zählte ganz langsam und jedesmal, wenn es wieder losgehen sollte, klatschte sie in die Hände. Bald lag der Paul und bald der Hans im Rasen; immer standen sie wieder auf, rieben sich etwas den Kopf und sprangen wieder wie die Ziegenböcke aufeinander.

»Dreißig!« sagte die Lise. »Jetzt seid ihr fertig. Und nun kommt her, damit ich die Beulen zählen kann!«

Sie setzte sich ins Gras und die beiden Faune streckten sich lang vor ihr aus. Hans Faun legte seinen Kopf in ihren Schoß und die Lise fing an die Beulen zu zählen. Sie mußte ordentlich suchen, weil der Kerl so struppige Haare hatte.

»Hi!« grinste der Faun. »Wie nett das krabbelt!«

»Ruhig liegen bleiben!« ermahnte die Lise und gab ihm einen Klaps. Endlich war sie fertig und nun kam der Paul Faun dran. Jeder hatte aber gerade dreißig große Beulen am Kopf, so daß gar keiner gesiegt hatte. – Da wollten sie gleich wieder von vorn anfangen, weil das Kopfboxen der allerbeste Spaß sei und weil nachher das Beulenzählen auch so nett krabbelte. Die Lise erklärte aber, das es für heute genug sei, nächsten Sonntag wolle sie wieder Unparteiische sein. Damit waren die beiden Boxkerle einverstanden, sie machten ein paar Kratzfüße und sprangen wieder laut meckernd in den Wald hinein.

Die Lise schaute ihnen nach, dann blickte sie sich nach ihrer Puppe um. Aber die war nirgends zu sehen. Die Lise war ganz entrüstet; das fand sie doch sehr häßlich, daß ihr ihre Puppe weggelaufen war.

»Signora!« rief sie, »Signora! – Wo stecken Sie denn?«

Keine Antwort kam.

»Signora Eleonora Du-u-u-s-e!« rief sie noch lauter. »Eleonora Du-u-se!«

Nur das Echo antwortete:

»Du-u-se!«

»Düschen! Düschen!« jammerte die Lise. »Liebes Düschen, wo bist du denn?«

Da hörte sie aus weiter Ferne eine schwache Stimme rufen: »Hier! – Hier! – Hilf mir! Hilf mir!«

Die Lise lief Hals über Kopf in die Büsche hinein, in der Richtung, aus der der Hilfeschrei kam. Je weiter sie kam, umso schwieriger war es, vorwärts zu kommen. Dornenranken hingen sich in ihr Kleid und zerkratzten ihr Hände und Gesicht. Das Gestrüpp wurde so dicht, daß sie schließlich gar nicht mehr wußte, wie sie sich durchzwängen sollte. Aber sie zwängte sich doch durch, bis sie auf eine freie Stelle kam, die rings von Dorngestrüpp eingeschlossen war. Da sah sie eine Menge Gurken an langen Stengeln und mitten zwischen den Gurken saß ein großer Igel, dessen spitze Stacheln gar gefährlich anzusehen waren.

»Habt Ihr nicht meine Puppe gesehen?« fragte die Lise ganz außer Atem.

»Deine Puppe?« antwortete der Igel, »da ist sie ja! Die letzte Gurke in der zweiten Reihe!«

Jetzt erst bemerkte die Lise, daß die Gurken alle richtige Gesichter hatten und daß die letzte Gurke in der zweiten Reihe allerdings einige Ähnlichkeit mit der Signora hatte.

»Was hast du denn mit meiner Puppe gemacht?« fragte sie.

»Ich habe sie geheiratet,« erwiderte der Igel ruhig und steckte sich eine Pfeife an. »Es ist meine Frau, Gurke die XVIII. Ich habe sie erst in eine Gurke verwandelt und dann geheiratet. Ich will dich auch in eine Gurke verwandeln und dann heiraten. Du wirst auch meine Frau: Gurke, die XIX.«

»Ich will dich aber nicht heiraten und ich will nicht verwandelt werden und deine Frau Gurke, die XIX., werden!« rief die Lise.

»Warum denn nicht?« wandte der Igel ein. »Du hast es sehr gut bei mir, du wirst jeden Tag zweimal begossen. Wenn du schön reif bist, wirst du natürlich abgepflückt und dann wird Gurkensalat aus dir gemacht. – Paß mal auf, die da ist schon reif!«

Der Igel sprang auf und befühlte eine Gurke, die vor Schrecken laut weinte. Dann holte er sich sein Essigfläschchen und sein Ölfläschchen, Pfeffer, Salz und Senf herbei und stellte alles neben einer großen Salatschüssel vor sich hin. Endlich nahm er ein langes Messer, das vorsorglich er noch erst an einem Steine wetzte.

»Weißt du,« sagte der Igel zur Lise, »jetzt kriegt sie die grüne Haut abgezogen, du sollst mal sehen, wie appetitlich sie wird!«

Ohne sich im mindesten an das Jammern und Wehklagen der armen Gurke zu stören, brach er sie ab und schälte sie mit seinem scharfen Messer, dann schnitt er die Scheiben in die Salatschüssel, tat Essig und Öl, Salz, Pfeffer und Senf hinein und begann mit Löffel und Gabel alles schön durcheinander zu rühren.

»Ich esse jeden Tag Gurkensalat,« sagte der Igel, »es ist das beste Essen, das es gibt! Willst du mal probieren? Gerade so schön wirst du selbst nächstens auch schmecken!«

Aber die Lise probierte gar nichts, sie hatte einen großen Schrecken und das kann man wohl begreifen, denn es ist eine sehr unangenehme Aussicht, nächstens als Gurkensalat angemacht und von einem ekligen Igel aufgegessen zu werden! Sie fing leise an zu weinen, aber die Gurkenfrauen weinten noch viel mehr, sie begannen alle zusammen ein Klagelied zu singen:

»Wehe! Wehe! Schöne Gurke!
Leben ist nur Schall und Rauch!
Eben noch im grünen Staate
Jetzo schon in dem Salate,
Gleich darauf in Igels Bauch!«

»Wie gefällt dir das Lied?« fragte der Igel die Lise. »Ich habe es selbst gemacht und probe es jeden Abend mit meinen Gurkenfrauen. Ich finde, es schmeckt viel besser, wenn man sich dabei was vorsingen läßt. – Also du willst nichts mit haben? – Na, dann werde ich allein essen!«

»Guten Appetit, Herr Igel!« sagte die Lise aus alter Gewohnheit.

»Danke! Hab ich so wie so!« schmatzte der Igel. »Hm! schmeckt meine Frau heute zart!«

Dann aß er und aß, daß auch nicht ein kleines Scheibchen in der Salatschüssel zurückblieb. Als er fertig war, stellte er seine Sachen wieder fort und sagte zur Lise:

»Na, gefällt dirs hier im Igelland? – Nachher wollen wir dich auch verwandeln. Das geht ganz leicht, ich ärgere dich so lange, bis du grün wirst. Dann wirst du eingepflanzt und tüchtig begossen, daß du gut Wurzel schlägst! Ich glaube in ein paar Wochen wirst du mal einen ganz hervorragenden Salat abgeben, ich freu mich schon darauf. – Aber erst wollen wir jetzt ein kleines Mittagsschläfchen halten.«

Damit streckte sich der Igel lang aus und war gleich darauf fest eingeschlafen.

Lise sah sich um, wie sie wohl rasch wieder durch das Dorngestrüpp aus dem alten Igelland herauskäme. Wer sie sah nirgends einen Ausweg. Da hörte sie, wie Gurke, die XVIII., die eben die Signora Eleonora Duse war, leise sprach:

»Lise! Komm mal rasch her!«

Die Lise lief heran und beugte sich über die Gurke.

»Du kannst mich befreien,« sagte diese, »reiße mich nur rasch aus der Erde, ich bin noch nicht ordentlich festgewachsen!«

Die Lise zog und zog, schließlich gab es einen Ruck und die Lise fiel mit der Gurke hinten über.

»Leise,« sagte die Gurke, »daß der Igel nicht aufwacht! Jetzt mußt du mich tüchtig anblasen und brav streicheln, damit meine Gurkenhaftigkeit verschwindet!«

Das tat die Lise auch, und je mehr sie blies und je mehr sie streichelte, um so mehr verwandelte sich die Gurke wieder in ihre Puppe. Schließlich hatte sie ihre ganze Gurkennatur abgestreift, nur einen grünen Fleck behielt sie noch im Gesicht, den die Lise durchaus nicht fortblasen konnte.

Als die Lise sah, daß die Rückverwandlung so gut geglückt war, dachte sie daran, auch die übrigen Gurkenfrauen zu erlösen, die Signora aber hielt sie ab.

»Laß nur sein,« sagte sie, »das wird dir nichts mehr nützen. Die stecken alle schon zu lange in der Erde und sind schon viel zu sehr vergurkt!«

Das tat der Lise nun sehr leid, aber es war nichts daran zu ändern, denn wenn man schon zu sehr vergurkt ist, dann muß man eben eine Gurke bleiben und nachher Gurkensalat werden; das sah sie wohl ein.

»Machen wir, daß wir fortkommen,« sagte die Puppe, »sonst wacht der Igel auf und dann vergurkt er uns alle beide!«

Aber das war leichter gesagt als getan. Rings um die Lichtung standen die Dornbüsche und die Lise sah nirgends einen Ausweg. Sie begriff gar nicht mehr, wie sie vorhin durchgekommen war, denn auch dort hatte sich das stachlichte Gestrüpp wieder geschlossen.

»Wir müssen eine Brücke drüber bauen,« sagte die Signora Eleonora Duse.

»Aber wie denn?« fragte die Lise. »Wir haben ja keine Balken!«

»Nimm mal die große Wasserkanne, mit der der Igel seine Gurkenfrauen begießt!« fuhr die Puppe fort. »Dann begießen wir eine Gurke, vielleicht wächst sie hinüber.«

Die Lise holte die große Kanne und die Signora nahm eine kleine. Sie begossen Gurke, die XV., weil die am nächsten an dem Dorngestrüpp stand. Kaum drang das Wasser in die Erde, als die Gurke zu wachsen begann. Der Stengel wuchs und die Gurke wuchs, immer höher und höher und bald war sie so groß, daß sie sich weit über das Dorngestrüpp hinüberbog.

Die Lise kletterte hinüber und half auch der Signora herauf. Für die war es sehr schwer, weil ja die Puppen so wenig Übung im Klettern haben, aber schließlich kam sie doch hinauf. Als sie ganz oben war, bemerkte die Lise, daß sie noch immer die Wasserkanne in der Hand hatte. Da nahm sie die Kanne und warf sie in großem Bogen hinunter, dem alten Igel gerade auf seinen Stachelleib.

Der Igel erwachte und fing an zu schreien. Dann bemerkte er die Flucht der beiden und wurde sehr ärgerlich.

»Mein Gurkensalat läuft mir fort, mein guter Gurkensalat!« rief er. »Wartet nur, ihr Ausreißer, ich werde euch schon einholen und dann gleich anmachen und aufessen!«

Schnell nahm er seine Salatgabel und kletterte den beiden nach, den Gurkenstengel hinauf über das Dorngestrüpp. Er kletterte sehr gut und die Lise und ihre Puppe hatten kaum Zeit, von dem Dorngestrüpp hinab in den Wald zu springen, als ihnen der Igel schon nachgesetzt kam. Die Lise nahm die Hand der Puppe und beide liefen, so schnell sie konnten.

Allein wäre nun die Lise ganz gut fortgekommen, aber die arme Signora mit ihren kurzen Beinchen konnte gar nicht recht mit, so daß der Igel immer näher und näher kam. Er schwang schon die große Gabel in der Luft und rief:

»Lauft nur! Lauft nur! – Gleich hab ich euch, dann werdet ihr angemacht – angemacht!«

Die Lise bückte sich und nahm die Puppe auf den Arm. Durch diese Verzögerung kam der Igel so nahe, daß er sie mit der Salatgabel auf die Beine schlagen konnte. Schon glaubte die Lise, er würde sie erwischen, da sah sie zum Glück die Gartenmauer vor sich und darin die Pforte. Sie sprang rasch hindurch und schlug sie zu, gerade dem Igel vor der Nase. Dann drehte sie geschwind den kleinen goldenen Schlüssel um, so daß das Schloß zuschnappte.

Als sie nun mit ihrer Puppe in Sicherheit war, fühlte sie sich so müde und außer Atem, daß sie sich gleich unter dem Holunderbaum hinsetzte. Die große, schwarze Drossel war auch wieder da, aber diesmal pfiff sie kein Spottliedchen und lachte auch das kleine Mädchen nicht aus. Sie sang ganz manierlich und die Lise hörte zu:

»Lischen! Lischen! Schlafe du ein!

Sonniger Morgen am Sonntag im Sommer,
Unterm Holunder
Zeigt seine Wunder,
Leise küßt dich ein lieber, ein frommer,
Zauberseliger Traum – –.
Fern allem Kummer,
Wiegt dich in Schlummer
Rauschend der alte Holunderbaum!

Lischen! – Lischen! – – Schlafe du ein!«

Da schlief das kleine Mädchen schon, und ihre Puppe, die Signora Eleonora Duse, schlief auch ganz fest in ihrem Arm.

»– – Lise! Lise!« rief jemand, da wurde sie wach. Sie blickte auf und sah über sich das Gesicht des Gärtners mit dem roten, struppigen Bart, den sie gar nicht leiden mochte.

»Also da steckst du, du wilde Range!« sagte der Gärtner. »Den ganzen Garten habe ich durchgesucht, um dich zu finden! Na, lauf nur, daß du ins Haus kommst, deine Mama ängstigt sich schon und die Suppe wird kalt!«

Da sprang die Lise auf und eilte schnell durch den Garten ins Haus, damit ihre Mutter sich nicht mehr ängstige und die Suppe nicht noch kälter werde.


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