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VII. Fürst Daniel Sobolefskoi hat ein ruheloses Wanderleben geführt, Da ist wohl kaum eine Stadt in Eu- ropa, welche er nicht gesehen hat, durch welche er nicht müden Schrittes einhergegangen, abgestumpft gegen die neugierigen Augen und dreisten Worte, gleichgültig wider die kriechende Unterwürfigkeit, welche seinen goldgefüllten Händen gilt. Mit glanzlosem Blick schaut er die Wunder des Nordens und des Südens, ein kranker, wunschloser und lebensüberdrüssiger Mann. Was hindert ihn am Sterben? Wer wehrt es ihm, seinem elenden Dasein ein Ende zu machen? Er hat oft darüber nachgedacht, aber sein kindlich frommer Glaube hat das Haupt triumphierend über die Schlange gehoben, welche ihn versuchend aus Pistole, Gift und Wassertiefe angeschillert hat. Soll er seine ewige Seligkeit dahingeben, um dem Leiden zu entrinnen, welches doch nur für eine kurze Spanne Erdenlebens über ihn verhängt ist? Soll er das Ziel all seiner Sehnsucht, seine Mutter, welche er mit leiblichen Augen nie geschaut, auch im Glanz des Himmelreichs nicht schauen – nur darum, weil er verzagt und kleinmütig eine Last von sich geworfen, welche Gott ihm nach seinem unerforschlichen Ratschluß auferlegt? Und was sollte aus so vielen armen, bedürftigen Menschen werden, welche Fürst Sobolefskoi fast täglich antrifft, welchen er als Arzt hilft und Gutes tut, deren Tränen er trocknet und deren Dank er errötend abwehrt? Es ist seine Mission auf Erden, kraft seines Wissens und der goldenen Schätze, welche ihm geworden, ein Tröster und Helfer zu werden, und er freut sich neidlos des fremden Glücks, wie ein Kind, welches hinter dem Fenster anderer einen Christbaum brennen sieht und weiß, daß auch ihm dereinst die Lichtlein daheim angezündet werden. Ja, Daniel hilft gern, denn er weiß, daß auch ihm geholfen werden wird, daß eine Stunde schlägt, früher oder später, in welcher eine lichte Frauengestalt zu ihm herniederschwebt, allem Herzeleid ein Ende zu bereiten. Und so wandelt er ohne Murren, aber auch ohne Freude den dornenvollen Weg, welcher zwischen all dem bunten Leben der Welt dennoch so öd und einsam ist.

Deutschland ist ihm stets lieb und sympathisch gewesen, jahrelang hat er sich in seinen Grenzen aufgehalten, bis ihn seine krankhafte Unruhe wieder fortgetrieben. Ungern hat er sich der Notwendigkeit gefügt, welche ihn zur Regulierung seiner Angelegenheiten bei einem fallierenden Bankhaus nach Paris geführt.

Sobolefskoi hat sein zweiunddreißigstes Lebensjahr erreicht, aber er zieht sich von der Welt und Geselligkeit zurück, als trage er bereits die grauen Haare eines Greises. Die Menschen sind ihm gleichgültig, und ihr Wesen und Treiben ist nicht tatenreich genug, um ihn zu interessieren. Da kommt der Sommer des Jahres 1870 und erfüllt den Sturm, welcher über die Ufer des Rheins in die deutschen Gaue braust, mit gellendem Kampfgeschrei! Der gallische Hahn nimmt heimtückischen Flug, dem preußischen Königsaar die Augen auszuhacken, und Jungfrau Germania greift voll klirrenden Zorns zum Schwert und schlägt den Räuber ihres Friedens nieder.

Da überzog sich der blaue Himmel plötzlich mit dräuenden Wolken, und die Donner rollten über das Schlachtfeld, und die ehernen Siegesschritte der deutschen Armee stampften den welschen Übermut in Grund und Boden. Näher und näher brausten die schwarz-weiß roten Wogen gegen die Weltseele Paris heran, immer furchtbarer gellte das deutsche »Hurra!« in die Ohren der buhlerischen Seine-Niçe, welche plötzlich mit bleichen Wangen aus ihren Träumen der Selbstüberhebung und prahlenden Siegesgewißheit emporschrak und mit gitternden Händen Wall und Schanze um ihr bedrohtes Lager baute.

Aus Paris flüchtete, wer da flüchten konnte. Daniel Sobolefskoi aber blieb. Mit einem gewissen grausigen Behagen sah er der welterschütternden Katastrophe entgegen, welche die Tore von Paris zu ihren Zeugen machen wollte. Die Entsetzen einer Belagerung schreckten ihn nicht, und der Gedanke an ausbrechende Revolution reizte ihn, sich mitten hineinzustürzen in die Gärung, sich und seine schlaffen Nerven schütteln zu lassen von dem Wirbelsturm der Schrecknisse und zu hohnlachen, wenn derselbe stolze Eichen in den Staub splittert nnd über den verkrüppelten Dornbusch machtlos hinwegsaust. Der Dämon seiner Seele stachelte den Fürsten auf, in dem belagerten Paris zu bleiben, und als das Elend mit seinen hohlen Wangen durch die Gassen schlich, und das Gespenst des Hungers und der Verkommenheit vor den Toren hockte, da erntete der gute Engel die Früchte dieses Bleibens und machte Sobolefskoi auch hier zum Retter und Helfer von vielen Tausenden, welche durch seine Barmherzigkeit das Leben fristeten.

Der kleine, mißgestaltete Mann ward zu einer der populärsten Persönlichkeiten, vor welcher der Pariser Pöbel anerkennend, den Hut zog, welcher er im Park von Monseaux eine jubelnde Ovation brachte, und welche aus ihrem stets von Bettlern belagerten Haus keine Nationalfahne herauszuhängen brauchte, sich vor Rocheforts Demolierungswut zu schützen. Die beste Samariterflagge, viel sicherer wie das weithin leuchtendste Kreuz, war die lebendige Mauer, welche sich um das kleine maison russe auf dem Boulevard der Port Royal aufbaute. Zerlumpte Frauen und Kinder, vor Kälte zitternd, im eisigen Winde erstarrt, mit weinenden Augen und leerem Magen, bilden ununterbrochen Queue und blicken sehnsüchtig nach den Parterrefenstern, ob sich das schwarzstruppige Haupt des russischen Doktors bald zeigen werde. Und öffnet sich die Scheibe, oder tritt er selber aus der Haustür, der kleine Fürst Sobolefskoi, so deucht es den Hungernden und Frierenden, als sei dieses häßliche Antlitz mit den mild und erbarmungsvoll blickenden Augen plötzlich schön geworden wie das eines Engels, welcher mit nimmerleeren Händen seine Gaben streut.

Und die Männer und Väter all jener Beglückten, die auf den Wällen Wacht fürs Vaterland gestanden haben, die kennen den Russen und begrüßen ihn wie ihresgleichen, wenn sie ihm begegnen.

Es war ein bitterkalter Tag. Der Januar hatte im eisglitzernden Königsmantel seinen Einzug gehalten und alle Schrecken mit sich gebracht, deren Vorahnung den Übermut der »Weltseele« nicht hatte dämpfen können. Jetzt aber, wo der Donner der Geschütze wie in heiligem Zorn über das Häusermeer rollte, wo das Sausen und Zischen der von allen Seiten heranfliegenden Bomben und Granaten ihm ein entsetzliches Todesurteil sprach, wo Kälte, Hunger, Elend nnd Aufruhr ihre

 

Schreckensherrschaft geltend machten, jetzt neigte die kokette Sünderin an der Seine das Haupt angstzitternd und reuevoll in den Staub. Wohin man blickte, die Panik, Verwirrung und Verzweiflung.

Fürst Sobolefskoi hatte die Kirche in der rue St. Jacques besucht und dieselbe noch nicht wieder verlassen, als ein Geschoß dicht vor derselben platzte und die Menge in höchste Aufregung versetzte. Alles flüchtete sich mit einem Geschrei der Todesangst in die Häuser, nur die in einen Pelz gehüllte Gestalt des kleinen Russen wandelte unbekümmert ihren Weg, wie in kecker Herausforderung der Gefahr, mitten auf dem Straßendamm.

Trommelwirbel erklingt hinter ihm. In zügellosen Haufen stürmt ein Bataillon Nationalgarde an ihm vorüber, der Pöbel folgt lärmend und verlangt zum Stadthaus: »La paix! la paix!« gellen einzelne Summen dazwischen. Man erkennt Sobolefskoi und reißt ein paar rohe Gesellen von ihm zurück, welche mit gemeinen Schimpfreden nach seinen: Pelz gegriffen haben. Unbekümmert schreitet der Bucklige weiter. Eine Granate krepiert ganz in seiner Nähe in dem Garten von Luxembourg, die Bäume krachen und brechen mit ihrer Schneelast zusammen. Daniel beachtet es kaum. Seine Gedanken sind weit weg, und seine Stimmung ist so niedergedrückt und trübe, wie seit Jahren nicht. Die einzige Hoffnung, zu einem Bild seiner Mutter zu gelangen, ist heute gescheitert. In Petersburg hat er vergeblich die höchsten Summen für ein Bild der Sängerin Eglantina Ruzzolane geboten. Umsonst, Photographien existierten zu ihrer Zeit noch nicht, und außerdem war Eglantina eine noch allzu unbekannte Anfängerin, um nach fünfundzwanzig Jahren noch in der Erinnerung eines stets wechselnden Publikums zu leben. Da hatte der Fürst nach dem Maler geforscht, welcher die Porträts in Miskow ausgeführt hatte. Richtig, aus seines Vaters Bild stand ein unbekannter, französischer Name, und Daniel schrieb nach Paris und forschte nach Mr. Jules Villiard. Er erhielt die Antwort, daß dieser Maler hier existiert habe, vor wenigen Monaten gestorben sei und seine versiegelte Hinterlassenschaft erst in drei Jahren geordnet werden könne, wenn sein einziger Sohn aus Japan zurückkehre. Aus den drei Jahren jedoch wurden beinahe sieben Jahre und erst jetzt, in diesem Schreckenswinter, war die Zeit gekommen, da die Skizzenmappen des Verstorbenen geöffnet werden konnten. Sobolefskoi hatte es für selbstverständlich angenommen, daß die Porträts seiner Eltern, welche von durchaus gleichen Leisten eingerahmt waren, zur selben Zeit und von der Hand des nämlichen Malers angefertigt waren. Wer aber ein so engelhaft schönes Antlitz, wie dasjenige der Fürstin, welches Daniels Phantasie nach jenem einen kurzen und schreckhaften Schauen vorschwebte, verewigen durfte, der nahm in seiner Skizzenmappe solche Züge zum eigenen Andenken und Entzücken mit sich. Darum setzte Sobolefskoi auf die losen Blätter der »Studienköpfe« und Aufzeichnungen Mr. Villiards seine größte und letzte Hoffnung, und darum war seine Enttäuschung eine um so schmerzlichere, als der Sohn des verstorbenen Künstlers nach wochenlangem Suchen, bei welchem der Fürst ihm voll nervöser Erregung Hilfe leistete, selbst nicht die flüchtigsten Bleistiftkonturen fand, welche auf das Antlitz Eglantinas gedeutet werden konnten!

Und dennoch war Mr. Villiard der Schöpfer der beiden Gemälde, welche das Sterbezimmer des Kammerherrn geschmückt hatten, das bewies ein vortreffliches Aquarell, welches das imposante, alte Strandschloß, mit der stürmischen See zu Füßen, in Gewitterbeleuchtung zeigte. Daniel entsann sich, in einem Saal, welcher zu Lebzeiten seiner Eltern bewohnt wurde, das große Ölgemälde, sicherlich nach diesem Entwurf geschaffen, gesehen zu haben.

Voll Wehmut ruhte sein Blick auf dem Bildchen, dessen Karton vielleicht die Hand seiner Mutter gehalten, bei dessen Aufnahme sie vielleicht voll warmen Interesses dem Pinsel des Künstlers zugeschaut. Er kaufte Mr. Villiard junior die Skizze ab und verließ mit schwerem Herzen dessen Wohnung, in welcher

abermals eine seiner liebsten Hoffnungen zu Grabe gelegt worden war. –

Sobolefskoi trat in ein Kaffeehaus, sich einen Augenblick auszuruhen und einem Trupp Kommunisten aus dem Wege zu gehen, welche die Marseillaise brüllten und ein Schild trugen, welches die Bürger von Paris aufforderte, das Gefängnis Mazzas zu stürmen und Fleurens zu befreien.

Auch aus dem Café drang Daniel ein wüster Lärm entgegen, zwei Offiziere der Mobilgarde begegneten ihm auf der Treppe, erkannten ihn und faßten ungestüm seinen Arm: »Allons donc, mon prince! Kommen Sie! Helfen Sie uns, ein Massacre zu verhüten! Wir allein dringen nicht mehr durch bei der wütenden Menge!«

»Was geschieht? Ich beschwöre Sie, meine Herren!« Schon zogen ihn die beiden Kapitäne aufgeregt mit sich fort nach dem großen Konzertsaal, welcher in einem Quergebäude nach dem Hof zu gelegen war.

»Vier arme Teufel, welche man für Spione hält und lynchen will! Allem Anschein nach sind es auch preußische Offiziere, aber wir müssen verhüten, daß sie unter den Fäusten des Pöbels fallen!«

Die breiten Glastüren des Saales schlugen schmetternd auseinander, ehe die Herren sie erreichten. Eine wild erregte Menschenmenge drängte sich hervor, vier anständig gekleidete Zivilisten, mit Taschentüchern geknebelt, mit sich reißend, mit geballten Fäusten bedrohend und tätlich mißhandelnd.

»An die Laterne mit den Spionen! Nieder mit ihnen! Schlagt sie tot, die Hunde!« wüteten die Stimmen durcheinander,

»Halt! Ruhe hier!«

Wie mit einen: Zauberschlag veränderte sich das Bild, als die Zwergengestalt des Russen mit hocherhobener Hand dem Menschenstrom entgegentrat. Höhnende Worte, ein wüstes Geschrei: »Es sind Spione, petit bossu!« und dann drängen sich andere vor, welche Sobolefskoi als ihren Wohltäter kennen und seine Partei nehmen. Ein lebhafter Wortwechsel her und hin. Die Offiziere ziehen die Säbel und verlangen die Auslieferung

 

der Gefangenen, und der Fürst unterstützt ihre Worte durch seinen energischen Befehl.

»Ihr seid Verräter, wenn ihr die deutschen Kanaillen verschont!«

»Wir schonen sie nicht! Wir stellen sie vor das Kriegsgericht!«

»Für solche Schandbuben sind unsere Kugeln zu gut!«

»So werden wir sie aufknüpfen!«

»Wo bringt ihr sie hin?«

»Zum General Trochu. Er soll feststellen, ob diese Männer preußische Spione sind, oder nur Gefangene von Champigny, denen der General dieselben Freiheiten gewährt, welche unsere Landsleute in Deutschland genießen! Wollt ihr, wider alles Völkerrecht, Leute ermorden, welche unter dem Schutz des Gouverneurs und aller Ehrenmänner Frankreichs stehen? Schmach und Schande über jeden, welcher an seinen Gefangenen zum Mörder werden will!«

Daniel hatte die Worte laut, mit seiner eigenartig akzentuierten Sprache gerufen, und dabei war er furchtlos neben einen der Gefesselten getreten, hatte das Tuch von seinen Handgelenken gelöst und es mit Verachtung zu Boden geworfen. »Der Russe hat recht! Hört auf ihn, er ist Bürger von Paris geworden! – Zu Trochu! en avant! wir ziehen mit vor das Gouvernement!«

Und abermals erhob Sobolefskoi ruhige, aber bestimmte Einsprache, wählte zwei der Rädelsführer zur Begleitung bis zum Montmartre, wo die Unbekannten vorläufig von den beiden Offizieren abgeliefert werben sollten. Die Menge fügte sich, und die beiden Mobilgardisten schlugen mit ihren Schützlingen ihren Weg durch eine kleine Nebengasse ein.

 

In einer der kellerartigen Wachtstuben auf dem Montmartre gehen die Offiziere ab und zu, wärmen für kurze Zeit ihre frosterstarrten Glieder oder werfen sich, todmüde und gleichgültig gegen alles, auf die breiten Strohschütten, auf welchen den Verwundeten zeitweise die Notverbände angelegt werden. Die Matratzen sind untauglich geworden, Blutlachen haben ihre unheimlichen Schatten auf die Dielen geworfen.

Von der Decke hängt eine qualmende Öllampe und leuchtet den Führern der Nationalgarde, welche an hölzernem Tisch vor ihren Glühweinbechern sitzen und das Unglück ihres Vaterlandes beim Kartenspiel vergessen. Die Kanonen donnern ihnen die Musik dazu, und der Sturm peitscht die Schneemassen bis weit in das Zimmer hinein, wenn die Tür sich öffnet.

Und sie öffnet sich in diesem Augenblick, um unter ihrer tiefen Wölbung die bekannte, kleine Mißgestalt Sobolefskois auftauchen zu lassen, welchem, die dicke Schneeschicht von den Füßen stampfend, ein Offizier der Festungsbesatzung folgt.

Überrascht blicken die Spieler auf, stoßen die Stühle zurück und treten den Ankommenden mit vollendeter Liebenswürdigkeit entgegen.

»Alle Teufel, Prinz, Sie sind seit dem siebenundzwanzigsten Dezember der erste Gast, welchen wir in den Kasematten empfangen! Was führt Sie so direkt in der Hölle Rachen? Wollen Sie mit den blauen Bohnen, welche uns die jenseitigen Schützengraben herüberwerfen, Federball spielen, oder beabsichtigen Sie bei vierundzwanzig Grad Kälte eine rotflammende Granate für Ihr Knopfloch zu pflücken? Gleichviel, und auf alle Fälle willkommen in unserem Barackenlager!«

Daniel schüttelte die dargereichten Hände und beantwortete die scherzenden Fragen mit seinem müden, stets höflichen Lächeln, der junge Kapitän jedoch, dessen Bekanntschaft er auf so eigentümliche Weise in dem Café gemacht, nahm lebhaft seinen Arm und zog ihn zu den dampfenden Punschgläsern. »Ich weiß, warum Sie kommen, Fürst Sobolefskoi, und ich werde Ihnen sofort Bericht erstatten! Trinken Sie mit mir auf das Wohl der Stunde, welche Sie gestern zum Retter ein paar harmloser, armer Kerle gemacht! Da hier ... das einzige Portefeuille, welches bei den vermeintlichen Spionen gefunden wurde! Hahaha! Hotelrechnung und Notizen über die gleichgültigsten Ereignisse der letzten Tage ... Reporter des ›Punch‹ oder der ›Times‹, voilà tout

Die Unterhaltung ward über das angeregte Thema allgemein, und Daniel griff nach dem dicken Taschenbuch, welches ihm sein Nachbar zuschob, und schlug es auf, »Welch ein Glück, daß wir der Unschuld einen Dienst leisten konnten. Befinden sich die vier Herren wieder auf freiem Fuß?«

»Das nicht. Wir haben alle Ursache, selbst den ehrlichsten Gesichtern zu mißtrauen. Recherchen über die Wahrheit der Aussage können wir in diesen bewegten Tagen nicht anstellen, behalten infolgedessen die unbekannten Herren als Logierbesuch in den Baracken.«

»Das wird die Leute an der Ausübung ihres Berufs hindern und sie dadurch schädigen!«

Der Franzose zuckte die Achseln, »Der Krieg nimmt keinerlei Rücksichten. Indessen ... wenn Sie das Maß Ihrer Güte vollmachen wollen, so verwenden Sie sich bei Trochu für Ihre Schützlinge, wohl möglich, daß er sie Ihren wachsamen Augen zu etwas größerer Freiheit anvertraut! Wenn Sie –«

Der Sprecher vollendete nicht, ein Krachen und Dröhnen ging durch den gewölbten Raum, daß die Wände erzitterten und der Fußboden zu wanken schien. Die Offiziere sprangen auf. Ein kurzes, erregtes Hin und Her. »An die guerre d'embuscade! man hat eine Salve gegeben! Verzeihen Sie, Fürst, wir hoffen sogleich wieder zu Ihrer Verfügung zu stehen!« Und hastig nach Säbel und Mütze greifend, wilde Flüche gegen den Feind auf den Lippen, stürmten die Nationalgardisten die drei steinernen Stufen zu der Ausgangstür empor.

Daniel verharrte gelassen auf seinem Platz. Begleiten durfte er die Offiziere nicht, so gern er es getan hätte. Er blätterte mechanisch in dem Taschenbuch des englischen Reporters und schlug auch die zusammengelegte Ledertasche auseinander, welche, nach ihrer Steifheit zu schließen, Photographien enthielt.

Die Öllampe schwankte und warf ein unsicheres Licht herab, die Hand des Russen aber zuckte zusammen, jählings neigte er sich vor und starrte aus das Bildchen, welches sich seinem Blick darbot.

Träumt er! Kann es möglich sein? Aus einem zauberhaft lächelnden Kindergesicht, umwallt von goldblonden Locken, schauen ihn die Augen seiner Mutter an: dieselben träumerisch ernsten, rätselhaft dunklen Augen, welche er auf dem Herzen trägt. Daniels Dinger zittern, als er den Karton umschlägt. Ein zweites Bildchen. Behaglich dick und nur mit einem Hemdchen bekleidet, liegt ein etwa dreijähriges Baby in den Kissen. Kleine, rebellische Haarstrippchen über der Stirn, ein Stumpfnäschen und kreisrund abstehende Ohrchen. »Jolante« steht mit Tinte quer über der Photographie. Und der Kleinen gegenüber im Zwillingsrahmen die Mutter der beiden Kinder. Ein zartes, vornehmes Gesicht, mit hellen Augen und blondem Haar. Sie ist ihm ebenso fremd, wie ihr ältestes Töchterchen dem Beschauer bekannt erscheint. Er schlägt das Blatt wieder zurück und blickt wie gebannt in die dunklen Augen der kleinen Unbekannten. Wie mag sie heißen? Vielleicht steht es hinter der Photographie, Daniel versucht das Bildchen aus dem Lederausschniit hervorzuziehen, es sitzt sehr fest und weicht erst der Gewalt. Aber Sobolefskoi hat sich nicht getäuscht.

»Lena Dern von Groppen, zehn Jahre,« steht von derselben Hand, die auch »Jolante« geschrieben, auf dem weißen Papier, welches Namen und Firma eines deutschen Photographen in einer deutschen Stadt trägt.

Betroffen schaut Sobolefskoi darauf nieder. Dern von Groppen ist ein bekannter preußischer Name, wie kommt ein Engländer zu solcher Verwandtschaft? und hier? was ist das?! Der Atem stockt ihm, hier hat sich der Atlas auf dem Karton verschoben, als Daniel das Bildchen herausgezogen, und nun schaut eine Ecke beschriebenen Papieres dahinter vor. Der Fürst wirft einen schnellen Blick um sich her, er ist ganz allein. Hastig zieht er das Geschriebene hinter dem Futter hervor und mustert es. Teils eine Zeichenschrift, teils kurze, unverständliche, deutsche Silben und hier ... Aufzeichnungen, ein kleiner Plan ... Zahlen – –

Ein deutscher Spion!

Sobolefskois Herzschlag stockt. Hie Aufregung treibt ihm kalte Schweißtropfen auf die Stirn, schnell entschlossen schiebt er die verdächtigenden Zettel in seine eigene Brusttasche. Wie ein Stich geht es ihm durchs Herz. Soll er der Nation, welche ihm Gastfreundschaft gewährt, die Treue halten und an dem Deutschen zum Verräter werben? Sein Leben liegt in seiner Hand; ein Wort genügt, und diese blonde Frau mit ihren beiden Kindern steht allein in der Welt. Wieder kehrt sein Blick zu den Bildern zurück. Er starrt sekundenlang regungslos in Lenas dunkle Augen, und dann ringt sich ein Atemzug fast keuchend aus seiner Brust. »Gefunden!« jauchzt es in seinem Herzen, und durch seine Seele zieht es wie Glockenton und Engelstimmen, und ihm deucht es, als öffne das süße Kindergesicht die Lippen und flüstere ihm wie eine selige Verheißung zu: »Sei getrost, du armer Schmerzensreich, all deinem Leid mach' ich ein Ende!«

 

Fürst Gobolefskoi begab sich persönlich zu General Trochu und erbat die Freilassung der vier englischen Reporter, welche er im Café Honoré aus den Händen des Pöbels befreit hatte. In liebenswürdigster Weise wurde ihm dieselbe bewilligt. Und die Stunde kam, in welcher Daniel seine Schützlinge in seinem Hause gastlich aufnehmen konnte.

Sein Blick überflog scharf prüfend die vier Unbekannten.

»Zuvor eine Frage. Welchem der Herren darf ich diese

Brieftasche als persönliches Eigentum zurückerstatten?« Und da der Besitzer sich mit etwas hastiger Verneigung meldete, ging es wie ein Lächeln der Befriedigung über des Russen finstere Züge: Groß, elegant, mit dunklem Vollbart und geistvollem Auge stand Lenas Vater ihm gegenüber. Trotz des reduzierten Anzugs ein vollendeter Kavalier.

»Darf ich Sie bitten, mir für einen Augenblick in das Nebenzimmer zu folgen.«

Die Tür schloß sich, und Fürst Sobolefskoi griff langsam in die Brusttasche, »Hier, Ihr Portefeuille, Herr von Dern- Groppen, und hier etliche Papierstreifen, welche ich aus demselben entfernte, ehe ich es General Trochu als Beweis für die harmlose Natur Ihres hiesigen Aufenthaltes vorlegte.«

Ein Erbleichen ging über das Antlitz des deutschen Offiziers. »Mein Fürst,« stotterte er in momentaner Fassungslosigkeit. Daniel aber trat dicht an seine Seite, »Mit diesen verhängnisvollen kleinen Zetteln schenke ich Ihnen und Ihren Herren Kameraden zum zweitenmal das Leben, und ich tue noch mehr denn dies, ich ermögliche Ihnen in den nächsten Tagen die Flucht uno gebe Sie der Zernierungsarmee zurück; ich bin Ihr Freund, und ich helfe Ihnen mit Einsatz aller Kräfte.«

Groppen umschloß die dargereichte Hand mit fast krampfhaftem Druck. »Wie sollen wir jemals diese Schuld bei Ihnen tilgen, wie soll ich Worte finden, Ihnen zu danken!« stieß er tiefatmend hervor.

Sobolefskoi schüttelte mit seinem müden Lächeln das unschöne Haupt, sein Blick traf das Auge des preußischen Offiziers, wie der eines bittenden Kindes. »Wohl weiß ich, daß meine Handlungsweise Ihren Dank verdient, und ich bin weit entfernt, denselben abzulehnen. Im Gegenteil, ich fordere ihn. Es gibt absonderliche Heilige in der Welt, und einer ihrer närrischsten bin ich, dem entspricht meine Bitte. Sie kennen mich dem Namen nach, Herr ... Herr Kapitän?«

»Rittmeister des ϯϯϯ Husaren Regiments, Dern von Groppen, mein Fürst.«

»Ich danke Ihnen. Also Sie kennen mich, Herr Rittmeister, und was Sie vielleicht noch nicht wissen, ist mit kurzen Worten gesagt. Ich bin Russe, bin gesegnet mit allen Glücksgütern der Welt, bin inmitten all meiner Herrlichkeiten ein armer, einsamer, verlassener Mann. Liebe und Freundschaft fand ich nie, eine Heimat habe ich nie im Schoß meiner Familie besessen. Mein Herz und meine Seele aber lechzen danach, ein Daheim zu finden. Ich schenkte Ihnen zweimal Ihr Leben, schenken Sie mir dafür einen Bruder, einen Bruder in Ihnen selbst! Seien Sie mein Freund, nehmen Sie mich auf in Ihrem Hause, ich ersehe aus den Bildern in Ihrem Tagebuch, daß Sie verheiratet sind. Mein ganzes Leben, all mein Hab und Gut, meine wandellose Treue sei die Mitgift, welche ich Ihrem Hause zutrage, dafür aber lassen Sie mich eine Heimat finden, welche meiner Einsamkeit ein Ziel setzt, eine Heimat mit all der Güte und Freundlichkeit, welche ich bisher voll heißer Sehnsucht gesucht, niemals aber gefunden habe! Nehmen Sie mich auf in den Schoß Ihrer Familie, und Gott und die Engelshände meiner verklärten Mutter werden Sie dafür segnen!«

Einen Augenblick hatte sich hohe Betroffenheit und Überraschung in Groppens Zügen gemalt, er schien die seltsame Bitte des Fürsten kaum zu begreifen, dann aber war es, als ob die weiche, wehmutsvolle Stimme des mißgestalteten Mannes sein innerstes Herz getroffen, und in einer leidenschaftlichen Aufwallung von Dankbarkeit, Mitgefühl und Rührung breitete er die Arme aus und zog Daniel Sobolefskoi an seine Brust.

»Mein Bruder und mein Freund! Diese Stunde hat meinem Hause ein teures und liebes Familienmitglied geschenkt! Willkommen bei den Meinen! Lassen Sie es sich durch ungezählte Jahre hindurch beweisen, daß der Lebensretter des Vaters für Weib und Kind der liebste Freund auf Erden ist!«

Die Hände verschlangen sich in festem Gelöbnis, und es deuchte Daniel Sobolefskoi, als habe Geistermacht urplötzlich Zentnerlasten von seiner kranken Brust gewalzt, als sei das Tränenkrüglein des Schmerzensreich leicht geworden, wie nie zuvor im Leben.


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