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V.

Die Erinnerung an die Schreckensszene, welche sich ehemals in diesem Raum abgespielt hatte, schien dem kleinen Fürsten in diesem Augenblick vollständig entschwunden. Er strebte mit starrem Blick dem verhüllten Bild der Mutter entgegen und hatte für nichts anderes Sinn und Interesse, als die dunklen Schleier zu heben, um endlich das Antlitz derjenigen zu schauen, an welcher sein einsames kleines Herz voll schwärmerischer Sehnsucht hing.

Draußen heulte der Sturm wilder denn je, riß an den Fensterläden und peitschte die Eiskörner prasselnd gegen Mauer und Scheiben. In dem Kamin fauchte und schrillte es wie unheimlicher

Geisterspuk, und hinter dem Holzgetäfel der Wand trieben ein paar Mäuse raschelnd ihr Spiel.

Daniel sah und hörte nicht, was um ihn her geschah, er faßte die schwere Wollportiere und zog sie beiseite. Ein Stück Goldleiste des Rahmens, etwas schwarzer Hintergrund und die Falten eines weißen Gewandes wurden sichtbar, aber so sehr das Kind sich auch bemühte, das Gemälde vollständig zu enthüllen, es gelang nicht. Kurz entschlossen wandte er sich um und faßte einen der geschnitzten Sessel, ihn heranzuschieben: vergeblich, die schwachen Ärmchen waren nicht imstande, das wuchtige Möbel von der Stelle zu rühren, ob auch die Anstrengung die Adern noch so hoch auf der Stirn des Knaben schwellen ließ. Ratlos, fiebernd vor Aufregung schaute er sich um und eilte hastig zu einem kleinen Taburett, welches, auf drei zierlichen, goldenen Beinchen stehend, mühelos fortzubewegen war.

Daniel erfaßte und trug es vor das Gemälde, dann kletterte er, den Leuchter in der Hand haltend, auf den gepufften Atlasstoff und schob mit der freien Rechten nun die Wollfalten beiseite. Atemlos, mit bebenden Lippen und eiskalten Händchen starrte das Kind in das Antlitz der so unaussprechlich geliebten, ihm ewig fernen und fremden Mutter, und strahlendes Entzücken leuchtete aus den dunklen Augen und hob die kleine Brust in tiefem, wonnesamem Seufzer, als seien Zentnerlasten von Kummer und Herzeleid durch diesen Augenblick von ihr genommen.

Wie war sie so schön, wie war sie gut und milde, wie lächelte sie gleich dem Marmorengel in der Kapelle voller Liebe zu ihm nieder! Wie ein Heiligenschein deuchte ihm die Pracht der goldenen Locken, welche ihr geneigtes Haupt umwallten, wie tausend zärtliche Worte schwebte es um ihre Lippen, und die Augen, welche wie in ergebungsvoller Sehnsucht verklärt in die seinen schauten, die schienen ihm zuzurufen: »Hab Dank, du lieber, kleiner Daniel, daß du zu deiner Mutter kommst!«

Ihre Hand, welche auf den weißen Atlasfalten ruhte, hielt ein vierblättriges Kleeblatt, ein Pflänzlein, welches ihr wohl ganz besonders teuer war, zwischen den schlanken Fingern.

Daniel sah es, sah alles, jeden kleinsten Pinselstrich des Gemäldes, aber sein Blick kehrte immer wieder zu dem lieblichen Antlitz zurück, und Auge ruhte in Auge, und in seinem Herzchen quoll es heiß und übermächtig auf und verlangte voll haltloser Sehnsucht an die Brust der Mutter! Küssen wollte er ihr liebes Angesicht, nur einmal küssen, wie andere Kinder ihr lebendes Mütterchen herzen, und Daniel strebte dicht zu dem Bilde heran und drückte seine Lippen auf die kühle Leinwand. Da durchschauerte ihn eine tiefe, unaussprechliche Glückseligkeit, er war nicht mehr allein und verlassen, er hatte gefunden, was er mit heimwehkrankem Herzen gesucht.

»Liebes, liebes Mütterchen!« schrie er jauchzend auf und tastete erschrocken nach einem Halt. Unter seiner heftigen Bewegung hatte der unsichere Stuhl geschwankt, der glatte Atlas glitt unter den Füßen fort, und in schwerem Sturz schlug Daniel auf den harten Parkettboden nieder. Der Leuchter klirrte auf der Erde, und dann war es dunkel und still in dem Zimmer. Einen Moment war der Kleine wie betäubt, dann starrte er mit angsterfülltem Blick in die Dunkelheit, welche ihn umgab, und wollte schnell emporspringen, sich nach der Tür zu flüchten. Ein jäher, furchtbarer Schmerz im Rücken ließ ihn mit leisem Schmerzenslaut zurücksinken, wie an allen Gliedern gelahmt, lag er hilflos auf dem harten Boden, und jede Bewegung verursachte ihm erneutes Weh.

Fahles Mondlicht fiel dämmernd durch die unverhüllten Fenster, kommend und gehend, je nachdem der Sturm das zerrissene Gewölk unter ihm vorüberjagte, und erst jetzt seiner ganzen Situation eingedenk, erschauerte Daniel durch Mark und Bein. Wie allein er ist! Wie es um ihn her saust und heult, wie es an das Fenster klopft und mit wilder Stimme unverständliche Worte ruft! Schatten huschen über den Fußboden, und dort drüben in der Ecke raschelt und knuspert es. Und auch dicht hinter ihm an der Wand beginnt ein wunderbares Knistern! Der kleine Fürst hat längst wieder die Augen geschlossen: das Entsetzen treibt ihm kalten Angstschweiß auf die Stirn, und die Schmerzen im Rücken werden immer schlimmer, wenn er sich regt, und wie ein Blitz zuckt ihm erst jetzt das Bewußtsein durch den Sinn: »Du bist in der unheimlichen, gefürchteten Stube, in welcher dein Vater einst mit blutendem Haupt gestorben!« Auf derselben Stelle hat er gelegen, wo jetzt Daniel selbst, und wie die Erinnerung an jenes grauenvolle Bild in des Kindes Phantasie lebendig wird, da sträuben sich vor qualvollem Entsetzen seine Haare, und die Verzweiflung reißt ihn mit geöffneten Augen empor, daß er entfliehe.

Und wie er halb betäubt vor Schmerz sich auf die Knie emporgerafft, da schüttelt ihn abermals ein jäher Schreck. Das Zimmer ist plötzlich mit rotflackerndem Licht erfüllt, und an dem schwarzen Vorhang vor seiner Mutter Bild züngeln die Flammen empor, welche das niedergefallene Licht entzündet. Höher und höher klettert die verderbende Glut, und ein gellender Schrei entringt sich den Lippen des Knaben: »Meiner Mutter Bild, mein einziges, verbrennt!«

Er sieht, wie die Funken bereits den goldenen Rahmen umsprühen, wie die leichten Florstreifen gleich Feuergarben aufflammen, und in Todesangst, außer sich, alles vergessend in dem Gedanken, das teure Kleinod zu retten, springt er auf die Füße. Ein paar Schritte taumelt er nach der Tür und bricht abermals wie von einem Blitz getroffen zusammen. Seine Füße scheinen leblos, und seine Schmerzen werden unerträglich, aber der leidenschaftliche Wunsch, das Gemälde vor dem Untergang zu retten, stählt seine Nerven und erhält ihm das Bewußtsein. Er entsinnt sich, daß sein Vater an einem Schellenzug hier an der Wand gezogen, wenn er Bedienung brauchte. Nichtig, dicht vor ihm, im grellzuckenden Licht sieht er die goldenen Quasten herniederhängen.

Daniel beißt die Zähne zusammen und schiebt sich unter wildem Schmerz langsam bis an die Schellenschnur heran. Mit zitternder Hast erfaßt er den Klingelzug und zieht so stark und unaufhörlich daran, wie seine schwindenden Kräfte ihm erlauben.

Gott sei gelobt, er hört den schrillen Glockenton erschallen, welcher schnell Hilfe bringen wird.

Sein Ärmchen sinkt kraftlos hernieder, er wendet das Haupt nach dem Bild seiner Mutter. Die Vorhänge sind bereits in Flammen aufgegangen, jetzt brennen sie oben an der Tapete und dem Rahmen weiter. Ringsherum brennen die Goldleisten, auch die Leinwand glimmt, und rotes Licht frißt gierig an den weißen Atlasfalten empor. Umglüht von grellem Feuerschein steht die lichte Frauengestalt und blickt lächelnd zu ihrem Kind herüber. Sie lebt... sie bewegt sich... tritt aus dem Rahmen und schwebt auf ihn zu...

»Mütterchen!« hallt es wie ein Hauch von Daniels Lippen, sein Kopf sinkt zurück, aber er sieht noch, wie seine Mutter sich lächelnd neigt und ihn in die Arme nimmt: »Sei getrost, mein kleiner Schmerzensreich!« flüsterte sie durch das Knistern und Sausen der Flammen, »ich habe ein hartes Schicksal über dich gebracht, aber ich komme dereinst und nehme alles Weh und alles Herzeleid wieder von dir!«

Da lächelt das arme, häßliche Kinderantlitz wie verklärt, und er lehnt voll süßen Friedens das Köpfchen an die Brust der Mutter, und dann ist es still, ganz still um ihn her.

 

Als der seit Jahren nicht mehr vernommene Glockenton aus den Zimmern des verstorbenen Fürsten durch den Korridor schrillt, hat die Dienerschaft zuerst ein bleicher Schreck erfaßt. Man hat sich bekreuzt und an bösen Spuk geglaubt. Gleicherzeit aber ist Miß Jane angstvoll herzugelaufen und hat gerufen: »Wo ist Daniel? Der kleine Fürst hat sich heimlich aus dem Zimmer entfernt!«

Da schlägt die Glocke noch einmal schwach an, und alles stürmt die Treppe empor nach dem Sterbezimmer Sobolefskois. Rauch dringt ihnen entgegen und Brandgeruch, und wie sie den Schlüssel im Türschloß erblicken und die breiten Eichenflügel aufreißen, da schauen sie in lohende Flamme.

Bewußtloß liegt Daniel neben dem Schellenzug ausgestreckt. Außer sich vor Angst hebt ihn die Gouvernante auf ihre Arme und stürmt mit ihm nach dem Schlafgemach. Das Feuer wird bald gelöscht, aber das Gemälde der Fürstin ist fast vollständig zerstört, auch das Gesicht hat gelitten, nur die Augen sind seltsamerweise verschont geblieben. Miß Jane nimmt schnell das herausbrechende Stückchen Leinwand an sich, in den verkohlten Trümmern wird es niemand vermissen, und durch Janes Herz zieht es wie eine wehmütige Ahnung, was den verwaisten Knaben in dieses Zimmer getrieben.

 

Die nächstfolgenden Tage sind doppelt reich an Sorge und Angst. Daniel liegt in einem hitzigen Nervenfieber, und jede Minute würfelt um Leben und Tod. Aber sein elender, kleiner Körper ringt mit erstaunlicher Fähigkeit gegen die Gewalt der Krankheit, und seine Rekonvaleszenz tritt schneller ein, als bei Gräfin Arlowsk. Aber mit dem wiederkehrenden Bewußtsein des kleinen Fürsten offenbart sich ein neuer Jammer, von dessen Existenz keine Menschenseele eine Ahnung gehabt. Der Arzt untersucht den schmerzenden Rücken des Kindes und wird leichenblaß bei der entsetzlichen Entdeckung, welche er macht.

»Einen Schaden fürs Leben?« schluchzt Miß Jane, an allen Gliedern zitternd, »allbarmherziger Himmel, wenn das unglückliche Geschöpfchen noch zum Krüppel wird, habe ich in Ewigkeit keine ruhige Minute mehr!« – »Hätte ich das Unglück geahnt und sofort energisch einschreiten können, wäre vielleicht noch Rettung gewesen! Aber bei der Schwäche und Gebrechlichkeit dieses Körpers hat sich das Übel zu rapide festgesetzt! Wir müssen jegliche Kur versuchen und das beklagenswerte Kind selbst die Folter eines Streckbetts durchmachen lassen, gebe Gott, daß wir noch Hilfe bringen können!«

Aber so gewissenhaft der Arzt auch alle Mittel und Wege einschlug, das Unheil abzuwenden, und so rührend geduldig Daniel auch alle Qualen ertrug, so verriet dennoch die trostlose Miene des Mediziners, daß allmählich jegliche Hoffnung schwand. Und hätte er auch noch mit vagen Vertröstungen über die Wahrheit hinwegtäuschen wollen, so wäre doch der immer sichtbarer hervortretende runde Rücken des Knaben der traurigste Gegenbeweis gewesen. Gräfin Arlowsk war zuerst – und wohl zum erstenmal in ihren Leben – fassungslos! Sie rang die Hände und weinte Tränen der Verzweiflung, den letzten Zweig eines so stolzen Geschlechts als dürres und verkrüppeltes Reislein unter einem einzigen Wetterstrahl des Schicksals zusammenbrechen zu sehen. Dann erfaßte sie ein grenzenloser Zorn und Haß gegen diejenigen, welche ein solches Elend durch Leichtsinn und Nachlässigkeit verschuldet hatten. Abermals entließ sie alle Personen ans der Umgebung des fürstlichen Erben, und Miß Janes heiße Tränen und selbst ihr Flehen auf den Knien vermochten nicht, diese Strafe von ihrem Haupt zu wenden.

In den letztvergangenen Wochen, welche sie voll Todesangst an dem Schmerzenslager Daniels verlebt hatte, war ihr der Knabe lieb und teuer geworden, und auch Daniel hatte, was sonst noch nie an ihm bemerkt worden war, eine besondere Vorliebe für das blasse, schlanke Fräulein an den Tag gelegt. Und nun kniete Miß Jane in dem Reisekleid neben ihm, schlang die Arme um die jammervolle, kleine Figur und nahm schluchzend Abschied. Auch in den Augen des Kindes spiegelte sich das Herzeleid dieser Trennung. Vergeblich hatte er die Tante gebeten, seine gute Jane doch bei ihm zu lassen, und so nahm er ihren Kopf in seine beiden mageren Händchen und sagte voll ungewohnten Trotzes: »Weine nicht, du Liebe! Wenn ich erst groß bin und meinen eigenen Willen habe, rufe ich dich zurück!«

Jane küßte ihn voll Zärtlichkeit, »Wirst du mich nicht vergessen bis dahin, Darling? Nein? Well, so will ich dir schon jetzt zeigen, wie treu ich es mit dir meine. Mein Daniel hat so bitterlich geweint, weil seines Mütterchens Bild verbrannt ist, aber sieh, alles haben dir die Flammen doch nicht genommen! Deine Jane hat ein weniges noch aus ihnen gerettet und wird es dir nun zum Andenken schenken. Blick her! Ein Stückchen Stirn mit blondem Lockenhaar und darunter die allerschönsten dunklen Augen, welche man finden mag, die sehen dich nun immer an und grüßen dich von deiner treuen Jane!« Und die Engländerin nahm das Stückchen Leinwand, welches sie aus dem verkohlten Bildnis der Fürstin gerettet, unter ihrem Hutschachteldeckel hervor und reichte es ihrem Zögling,

Wie erstarrt unter dem Einfluß dieser plötzlichen, unfaßlichen Freude, schaute Daniel auf das Kleinod, welches ihm entgegengeboten wurde. »Oh, Jane!« murmelte er, und dann faßte er zaghaft nach dem Bruchstück des Bildes und betastete und streichelte es, als müsse er sich überzeugen, daß ihn kein Traum täusche.

»Hebe es gut auf und laß es ja nicht die gnädigste Tante sehen, sonst nimmt sie es dir fort, und deine Freude ist vorüber!« mahnte Jane eindringlich.

Daniel hob das Gesichtchen, ein fremder, zorniger Ausdruck beherrschte es, und die Zähne bissen sich knirschend aufeinander. Dann war's, als erschrecke er vor seinen eigenen Gedanken. Hastig und wild wie stets, schüttelte er den Kopf. »Sorge dich

nicht, Jane, ich verwahre es gut! Hinter dem Bild der heiligen Barbara über meinem Bett werde ich es befestigen, dann kann ich es alle Abend und jeden Morgen sehen. Dir aber will ich's bis in den Tod gedenken, was du mir in dieser Stunde Gutes getan, und alle Heiligen sollen dich segnen dafür, und in ein paar Jahren kommst du wieder und gehst nie mehr von mir!«


Die Jahre schlichen langsam und einförmig dahin. Daniel war ein verwachsener, unschöner Knabe, dessen Wesen und Charakter sich immer eigenartiger gestalteten. Die guten und bösen Mächte kämpften einen steten, erbitterten Kampf um seine Seele, und die Gegensätze berührten sich so schroff und unvermittelt in all seinem Tun und Handeln, daß es unmöglich war, aus ihnen auf das Gemüt des jungen Menschen selbst zu schließen. Stundenlang lag er in dem sonnendurchglühten Dünensand, regungslos vor sich hinstarrend auf die ruhmlose, immer wechselnd Pracht des Meeres. Und wenn sich am Horizont schwarze Wolken ballten, und die Flut sich aus bleigrauer Trägheit emporraffte zu wild aufschäumendem, donnerndem Zorn, dann brandete auch hinter der finster brütenden Stirn des Knaben die Leidenschaft in tausend phantastischen Plänen der Rache und des Zorns gegen alle, welche ihn so elend gemacht, dann ballte er selbst die Hände gegen Jane und verfluchte sie und ihre Nachlässigkeit, denn sie war daran schuld, daß er krank und verkrüppelt war, daß er nie als Soldat hinaus zum Kampf ziehen konnte, daß er sich auf sein Roß schwingen durfte, es zu bändigen, wie andere Knaben seines Alters, daß er durch seine stets wiederkehrenden Asthmaanfälle selbst unfähig war, zu lernen und zu studieren, um dem Vaterland wenigstens durch Kopf und Geist nützen zu können, da er es nicht mit starker Faust vermochte!

Wenn aber das Wetter vorübergezogen war, und die See still und blau in süßem Frieden dalag, wenn die Sonne durch die Wolken trat und die Tränenperlen an den Blumenköpfchen vergoldete, dann schlug Daniel, wie in stummem Leid gebrochen, die Hände vor das Antlitz und schämte sich seiner Treulosigkeit. Dann begriff er nicht, wie er jemals auf seine gute Jane, welcher er das Heiligtum jener beiden liebevollen Augen, den einzigen Tröster seines Schmerzes, verdankte, wie er auf die Jane hatte zürnen können! Dann folterte ihn die Reue, dann bat er ihr alles voll rührender Innigkeit ab, bis ihn der nächste Seelensturm schüttelte und ihn an Gott und der Welt verzweifeln ließ. Jäh aufquellende, oft grausame Leidenschaft des Denkens und eine rührendweiche, liebevolle Barmherzigkeit, wenn es zum Handeln kam, bildeten die Gegensätze seines Charakters.

der junge Fürst das zwanzigste Lebensjahr erreicht, bestimmte ihn Gräfin Arlowsk, zu seiner Bildung eine Reise in das Ausland zu unternehmen. Da trat der Einsame zum erstenmal in die bunte Welt hinaus. Zuerst blendete und betäubte sie ihn, dann gewöhnte er sich resigniert an ein Leben voll Luxus, Glanz, Abwechslung und Amüsement, ohne ihm Geschmack abgewinnen zu können.

Miskow hatte ihn manches Genusses und mancher lärmenden Zerstreuung beraubt, aber es hatte ihn auch vor den zahllosen Gifttropfen bewahrt, welche die Welt mitleidslos in das empfindsame Herz eines jungen Mannes träufelt. Daß er ein Krüppel, untauglich zu Dienst und Arbeit sei, das hatte er bereits in der Weltvergessenheit seines Strandschlosses erfahren, daß er aber ein häßlicher, ausfallend häßlicher Zwerg war, die Zielscheibe manch rohen Spottes und manch frecher Schmähung, das lehrte ihn erst die Fremde, und das wurde zu einem herberen Weh für ihn, als all die unsäglichen Schmerzen, welche er je erduldet. Und diese Wermutstropfen nährten in ihm den bösen Dämon und machten ihn bereits als Jüngling zu einem pessimistischen, weltverachtenden Sonderling.

Ein wundersamer Entschluß keimte in seiner Seele, ein ungestümes Verlangen, das zu erforschen und zu ergründen, was ihm als qualvolle Krankheit das Leben vergällte. Umsonst war alles Protestieren seines Gouverneurs, Daniel studierte Medizin. Bei den berühmtesten Professoren des In- und Auslandes ward er Schüler, und wenn sein schwacher Körper anfänglich auch oftmals in tiefer Ohnmacht vor den Operationstischen zusammenbrach, so setzte sein eisernes Wollen und sein stets wachsender Eifer dennoch durch, daß seine Lehrmeister schließlich die Hand auf das Haupt das jungen Fürsten legten und sein Können und Wissen groß und erstaunlich nannten. Mit rastlosem Fleiß studierte Sobolefskoi die gottgesegnetste aller Wissenschaften,

er erreichte in wenigen Jahren das, wozu sonst die ganze Kindheit und Jugend ihre Kraft einsetzen muß, und da er sein Doktorexamen bestanden und zum erstenmal rettend an ein Krankenlager getreten war, da war es ihm, als ob Geisterlippen ihn segnend auf die Stirn geküßt.

Er kam in die Heimat zurück und ward majorenn, und an demselben Tag, welcher ihn zum unumschränkten Herrn von

 

Millionen, von einem der edelsten Namen, von allem machte, was eines Menschen Herz begehrt, da kam ein Brief aus dem Kabinett des Zaren und berief den Fürsten Daniel Sobolefskoi an seinen Hof.

Ein süßer, feiner Duft entströmte dem Schreiben, »ein Hauch jener Luft, welche Kronen umweht!« wie Gräfin Arlowsk enthusiastisch ausrief, und sie umarmte den Neffen zum erstenmal in ihrem Leben und sprach voll stolzer Genugtuung: »Er wird dich zu seinem Kammerhern machen, Daniel, und das goldene Tressenkleid wird alles zudecken, was die Natur an dir gesündigt!«

Der Erbe von Miskow antwortete nicht, er starrte zum Fenster hinaus in die blutrot untergehende Sonne und deckte mit geheimem Frösteln die Hand über die Augen. Über die schimmernde Pracht dieses Höflingskleides hatte er einst das Blut des Vaters strömen sehen.


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