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Fünfter Teil.
Helenas Schönheit


 

1

Das heißt also einfach,« sagte Menelaos, »daß wir sie nicht finden können.«

»So ist es«, sagte Eteoneus. »Die Leute haben die ganze Gegend nach allen Richtungen durchsucht, wohl zehn Meilen im Umkreis, und niemand hat von ihr gehört oder sie vorbeigehen sehen.«

»Es ist sehr merkwürdig, daß ein junges Mädchen in einem zivilisierten Lande bei hellem Tage aus dem Hause gehen und vollständig verschwinden kann!«

»Ich habe die Vorstellung, daß sie nicht weit gegangen ist«, sagte Eteoneus. »Es klingt allerdings unwahrscheinlich, da sie sich schwerlich hier in der Nähe verbergen kann, aber wenn sie plötzlich hereinkäme, würde ich mich gar nicht wundern.«

»Aber ich!« sagte Menelaos. »Sie ist auf der Suche nach Orest, und der wird sich in dieser Gegend nicht aufhalten.«

»Woher weißt du das?«

»Die Unverschämtheit würde er nicht haben,« sagte Menelaos.

»Um die Verwirrung voll zu machen,« sagte Eteoneus, »fehlte nur noch, daß er in dem Augenblick hier auftauchte, wo Pyrrhus ankommt.«

»Das wäre nicht das Schlimmste – das Schlimmste ist, wenn ich Pyrrhus mit der Nachricht empfangen muß, daß meine Tochter auf und davon gegangen ist. Wir müssen sie finden, unbedingt, Eteoneus. Pyrrhus kennt mich in erster Linie als den Mann, dem seine Frau durchgegangen ist, und wenn ich ihm nun sagen muß, daß meine Tochter auch fort ist – das kann ich nicht, das kann ich einfach nicht!«

»Es ist kaum zu hoffen, daß sie Pyrrhus entgegengegangen ist. Wie sie diesen Mann haßt!«

»Was schlägst du zunächst vor?« fragte Menelaos.

»Ich bin am Ende meiner Weisheit. Ich habe nichts vorzuschlagen.«

»Du mußt, Eteoneus! Wir können uns unmöglich so bloßstellen!«

»Das brauchst du auch nicht – du wirst schon irgendeinen Ausweg finden. Aber ich fürchte, ich kann dir nichts nützen; ich habe keine Spur von ihr gefunden, und offen gesagt, mir lag auch nichts daran. Während wir sie suchten, fragte ich mich die ganze Zeit, was in aller Welt wir mit ihr anfangen sollten, wenn wir sie fänden.«

»Sie nach Hause bringen! Das war dein Auftrag.«

»Gewiß, aber was dann? Ich sollte meinen, es wäre leichter für dich, Pyrrhus zu sagen, daß Hermione augenblicklich gerade abwesend ist, als sie in Ketten zu präsentieren, oder wie du sie sonst zu bändigen gedenkst. Wenn wir sie zurückbringen, so bringen wir sie als Gefangene. Du solltest sie lieber gehen lassen. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich bedenke, wohin wir gekommen sind, Menelaos. Dies ist nun wohl der letzte Dienst, den ich dir leiste – daß ich versuche, deine durchgegangene Tochter einzufangen. Ich werde froh sein, wenn Pyrrhus kommt und ich gehen kann.«

»Ich kann dich unmöglich entbehren, solange wir Hermione nicht gefunden haben! Du denkst doch nicht etwa daran, mich vorher zu verlassen?«

»Nun, Menelaos, ich würde alles tun, was man billigerweise erwarten kann; aber ich bin meines Amtes sehr müde, und ich glaube nicht, daß Hermione jemals zurückkehrt. Du verlangst, daß ich zeitlebens bleibe.«

»Das möchte ich in der Tat am liebsten, aber ich will nicht mehr verlangen als der Augenblick fordert. Ich will dir einen Vorschlag machen: du bleibst, bis wir Hermione gefunden haben, ob sie nun hierher zurückkehrt oder nicht; in dem Augenblick, wo wir mit Sicherheit wissen, wo sie ist, kannst du gehen. Wenn wir sie nicht finden, bevor Pyrrhus kommt, bleibst du, bis er wieder abreist. Du meinst, daß er jeden Tag kommen kann; in dem Augenblick, wo er unser Haus verläßt, bist du frei. Das wird mir auf jeden Fall über das Schlimmste hinweghelfen, und ich werde dir beweisen, daß ich nicht undankbar bin.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Eteoneus. »Die Sache scheint mir etwas kompliziert … Meinst du, ich darf gehen, sobald wir wissen, wo Hermione ist?«

»Gewiß.«

»Gott sei Dank, dann kann ich jetzt gehen! Was sagst du dazu! Hier ist sie!«

»Wo?«

»Unmittelbar hinter dir – in der Tür.«

»Was bedeutet das, Hermione? Wo bist du gewesen?«

»Darauf kommt es jetzt nicht an. Ich muß mit dir und Mutter sprechen.«

»Wir haben auch ein Wort mit dir zu sprechen. Ich nehme an, daß du dir darüber klar bist, welchen Verdruß dein Betragen –«

»Sei vernünftig, Vater! Wo ist Mutter?«

»Helena! – Oh, Helena! Hermione ist hier!«

»Ich kann jetzt wohl gehen?« sagte Eteoneus.

»Das brauchst du nicht«, sagte Hermione. »Du darfst alles hören, was ich zu sagen habe. Ich möchte sogar, daß du es hörst.«

»Hermione, mein liebes Kind!« sagte Helena, »ich bin so froh, daß du wieder zu uns zurückgekehrt bist!«

»Ich bin nicht zu euch zurückgekehrt – ich bin nur hereingekommen, um euch etwas mitzuteilen, und ihr werdet nicht froh sein, wenn ihr es hört.«

»Deine Manieren haben sich inzwischen nicht gebessert«, sagte Menelaos. »Wenn du so zu Pyrrhus sprichst, wie zu deinen Eltern, brauchst du keine Angst vor ihm zu haben. Er ist ein tapferer Mann, aber ich glaube nicht, daß er es fürs ganze Leben mit dir wagen wird.«

»Du erwartest noch immer, daß Pyrrhus dich besucht?« fragte Hermione.

»Er kann jeden Augenblick kommen.«

»Er kommt nicht«, sagte Hermione. »Das wollte ich euch mitteilen.«

»Kommt nicht?« fragte Menelaos. »Er hat die Einladung angenommen, und Eteoneus meldete, daß er unterwegs sei. Wie ist es damit, Eteoneus?«

»Er kann jetzt nicht kommen«, sagte Hermione.

»Nun, das ist vielleicht ebensogut«, sagte ihr Vater. »Aber ich möchte wissen, warum nicht?«

»Er hat Orest beleidigt.«

»Was hat das damit zu tun? Orest hat nicht zu entscheiden, wer unser Gast sein soll! Was willst du uns mitteilen?«

»Orest und ich trafen Pyrrhus auf der Landstraße und –«

»Was hattest du mit Orest zu tun?« fragte Menelaos.

»Die Frage hat jetzt keine Bedeutung«, sagte Hermione. »Wir beide gingen zusammen, als wir Pyrrhus begegneten. Ich erriet, wer er war, aber ich sagte nichts. Er hielt an, um nach dem Wege zu fragen, und bevor ich es hindern konnte, hatten sie ihre Namen genannt. Pyrrhus wurde sofort steif und sagte, da er als Gast zu dir käme, ja, sich tatsächlich schon als deinen Gast betrachtete, fühlte er sich verpflichtet, mir seinen Schutz anzubieten. Orest fragte, vor wem er mich schützen wolle, und Pyrrhus sagte, vor einem Manne, der die Hand gegen seine eigene Mutter erhoben hätte. Bevor mir klar wurde, was geschah, hatten sie schon ihre Schwerter gezogen.«

»Sie haben also wirklich gekämpft?« fragte Menelaos.

»Pyrrhus ist tot.«

»Hermione! Pyrrhus war mein Gast! Du willst doch nicht sagen, daß Orest einen Menschen getötet hat, der auf meine Einladung hin in mein Haus wollte?«

»Orest tötete ihn, Vater, unter den Umständen, die ich dir soeben berichtete.«

»Nun, das zeigt, was für eine Auffassung Orest von der Gastfreundschaft hat«, sagte Eteoneus. »Ich werde es nie bereuen, daß ich ihn nicht einließ. Wenn es bei solchen Greueltaten einen Unterschied gibt, so ist dies noch ein Stück ärger als die Tötung Klytemnestras. Sie hatte doch wenigstens selbst ein Verbrechen begangen.«

»Dies werde ich nie überwinden!« sagte Menelaos. »Wenn ich sofort tot umfallen könnte, würde ich es als eine Gunst des Schicksals hinnehmen. Ich stand keineswegs auf freundschaftlichem Fuße mit Pyrrhus oder seinem Vater. Ich lud ihn ein, mich zu besuchen, und er kam sogleich in vollem Vertrauen zu mir. Und da kommt ihm nun ein Verwandter von mir entgegen und tötet ihn. Wie soll ich mich vor andern und vor mir selber rechtfertigen?«

»Wußte Orest, daß Pyrrhus der Gast deines Vaters war?« fragte Helena.

»Ja«, sagte Hermione.

»Ich bin es Pyrrhus schuldig, daß ich seinen Leichnam suche und ehrenvoll bestatte«, sagte Menelaos. »Und dann werde ich wohl die Rache an Orest zu vollziehen haben. Wenn ich es nicht tue, werden die Menschen mich für mitschuldig halten und glauben, daß ich meinen früheren Feind in die Falle gelockt hätte.«

»Du kannst an Orest nicht Rache nehmen!« sagte Hermione. »Er hat nichts Unrechtes getan. Ich habe alles mit angesehen, und wenn er anders gehandelt hätte, würde ich ihn verachten. Pyrrhus beleidigte ihn – diese Beleidigung traf auch mich. Verstehe mich nicht falsch, ich versuche nicht, Orest zu verteidigen; er bedarf keiner Verteidigung. Pyrrhus kam weder in meinem noch in sonst jemandes Interesse. Ich bin froh, daß Orest ihn getötet hat. Wenn er es nicht getan hätte, würde ich es getan haben. Das habe ich mir an dem Tage vorgenommen, als Vater mir sagte, er wolle mich mit ihm verheiraten. Wenn man die Menschen zur Notwehr zwingt, so handeln sie in Notwehr!«

»Klytemnestra!« sagte Menelaos.

»Meine korrekte und ehrbare Tochter!« sagte Helena.

»Ich sehe, wir sind zum äußersten gekommen«, sagte Menelaos. »Ich wüßte nicht, welche neue Katastrophe jetzt noch über mein Haus hereinbrechen könnte. Da ist weiter nichts zu sagen; wenn Hermione hiernach Orest noch will, so müssen wir zugeben, daß sie das Schlimmste von ihm weiß, und über Geschmack läßt sich nicht streiten. Darf ich dich fragen, Hermione – nur zu meiner Orientierung – ob du noch daran denkst, die Frau dieses Mörders zu werden?«

»Ich denke nicht nur daran,« sagte Hermione, »ich bin es bereits.«

»Das dachte ich mir«, sagte Helena.

» Was bist du bereits?« rief Menelaos.

»Seine Frau. Ich sagte dir ganz ausdrücklich, daß ich ihn heiraten würde. Als wir Pyrrhus trafen, waren wir noch nicht verheiratet, und das war unangenehm, obgleich der Streit dadurch wahrscheinlich nicht vermieden worden wäre. Aber ich machte Orest klar, daß die Leute über unser Zusammenreisen reden würden, wenn sie von dem Totschlage sprächen, und schlug ihm vor, sofort zu heiraten. Das taten wir dann.«

»Du kannst das Haus verlassen!« sagte Menelaos. »Eteoneus, willst du so gut sein und ihr das Tor öffnen?«

»Danke, Eteoneus. Ich hatte nicht die Absicht, so lange zu bleiben; ich habe Orest warten lassen. Lebt wohl.«

»Einen Augenblick!« sagte Helena. »Menelaos, wir sind zum äußersten gekommen, wie du sagtest. Wir haben unsre Ansicht über das, was Hermione und Orest getan haben, aber da sie es auf eigene Verantwortung taten, haben sie auch allein die Folgen zu tragen. Das versteht sich von selbst, und wir könnten uns mit ihnen aussöhnen.«

»Ich werde mich nie mit Hermione und Orest aussöhnen!«

»Selbstverständlich wirst du es! Wie unsinnig! Hast du denn nicht selbst auch hin und wieder Fehler begangen? Ich jedenfalls. Es ist nur ein Gradunterschied. Wir erhalten dafür unsre Strafe – oder auch nicht, aber es ist nicht Sache unsrer Freunde und Verwandten, uns zu strafen. Überlaß doch dem Himmel auch seinen Teil, Menelaos! Wenn etwas einmal geschehen ist, so tut man am besten, damit Schluß zu machen und das Leben neu anzufangen. Wenn du versuchst, das rächende Schicksal zu spielen, so verdirbst du nur deinen Charakter. Orest ist vielleicht ein Verbrecher – das ist seine Sache. Aber mir scheint, er ist ernstlich in Not, und Hermione auch, da sie gewillt ist, sein Los zu teilen. Das geht allerdings uns beide an; wir sollten unsern Kindern helfen, wenn sie in Not sind.«

»Orest ist nicht mein Kind.«

»Nun, du bist sein nächster männlicher Verwandter und der einzige, bei dem er Zuflucht suchen kann. Du brauchst seine Tat nicht zu verzeihen – das tu ich auch nicht; aber wir brauchen sie nicht wieder zu erwähnen. Wir beide haben versucht, für Hermiones Bestes zu sorgen, und es ist uns mißlungen. Laß uns ihr jetzt, wo sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hat, mit gutem Willen zur Seite stehen. Hermione, soweit es sich um mich handelt, steht dies Heim immer dir und deinem Manne offen.«

»Das tut es nicht!« sagte Menelaos.

»Ihr werdet natürlich nicht hier wohnen wollen,« fuhr Helena fort, »es würde augenblicklich nicht behaglich für euch sein, und auch für uns nicht; übrigens müssen junge Leute ihr eigenes Heim haben. Aber wenn ihr den Wunsch habt, uns zu besuchen, dies ist der Ort, wo du aufgewachsen bist, Hermione, und ich glaube, ihr werdet hier mehr Liebe finden als irgendwo anders, wieviel Freunde ihr auch finden mögt.«

»Für Hermione mag dies gelten,« sagte Menelaos, »aber nicht für Orest. Er ist nicht hier aufgewachsen, und wenn er anderswo nicht mehr Freunde findet als hier, so kann er nur einpacken. Mach ihm das klar, Hermione, daß die Freundschaft der Familie sich auf dich beschränkt; ihn nehmen wir nicht auf.«

»Wenn ich einen andern Vorschlag machen darf,« sagte Helena, »so würde ich sagen, wir bitten Hermione, daß sie Orest sofort hierher schickt. Wir haben Mißverständnisse genug in diesem Hause gehabt, und ich meine, das Verständigste ist, wir sprechen uns jetzt mit Orest aus. Schick' ihm keine Botschaften durch Hermione oder sonst jemand, Menelaos; sprich selbst mit ihm!«

»Ich werde ihm nicht erlauben, das Haus zu betreten – und also werde ich auch nicht mit ihm sprechen.«

»Würdest du denn etwas dagegen haben, wenn ich mit ihm spräche? Meine Schwester ist es, die er getötet hat, und wenn irgend jemand an Pyrrhus' Tode schuld ist, so bin ich es, die den ersten Anstoß zu seinem Kommen gab. Ich beanspruche für mich das Recht, mit Orest zu sprechen, Menelaos.«

»Ich weiß nicht, was da zu sprechen wäre, Helena. Er wird wahrscheinlich die Gelegenheit benutzen, dir eine Strafpredigt über dein Betragen zu halten, oder er wird nachweisen, wo ich unrecht gehandelt habe.«

»Vielleicht fragt er mich, warum du ihm nicht halfst, seinen Vater zu rächen«, sagte Helena. »Wenn er das tut, werde ich ihm erklären, daß ich dich davon zurückhielt. Wenn er mir sagt, daß ich Fehler gemacht habe, so werde ich dies zugeben und ihm Auskunft erteilen über das, was er etwa noch nicht von meiner Vergangenheit weiß. Orest schreckt mich nicht; mich verlangt sehr, ihn zu sehen. Wie bald, denkst du, daß du ihn herschaffen kannst, Hermione?«

»Nicht hierher, Helena!« sagte Menelaos.

»Der Zweck würde ganz verfehlt sein, wenn ich ihn anderswo träfe; und es wäre auch kaum schicklich für mich, ihm außer dem Hause und ohne deinen Schutz zu begegnen. Wie bald denkst du, Hermione?«

»Ich möchte ihn nicht kommen lassen, wenn Vater es nicht will.«

»Da hast du recht,« sagte Helena, »aber Vater hat nichts mehr dagegen.«

»Ich wüßte nicht, daß ich das gesagt hätte.«

»Verzeih! Ich dachte, du fändest es auch passender, wenn ich ihn hier spreche, als außer dem Hause und allein.«

»O ja, wenn du das meinst«, sagte Menelaos.

»Nun also, wie bald denkst du, Hermione?«

»Ich möchte nicht, daß er kommt, Mutter. Ich weiß nicht, was ihr mit ihm tun würdet.«

»Mein liebes Kind, er ist hier absolut sicher. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ihm nichts geschehen wird.«

»Ich weiß nicht, was ihr zu ihm sagen würdet, und ich möchte nicht, daß er mit euch zusammenkommt«, sagte Hermione. »Er ist jetzt vollkommen glücklich – abgesehen von seinem persönlichen Unglück.«

»Das ist es immer, was uns Menschen am Glücklichsein hindert, mit Ausnahme von den wenigen, die sich um das Unglück anderer quälen. Du meinst doch nicht, daß Orest zu diesen gehört. Schick' ihn her, Hermione. Ich verspreche dir, daß du ihn wiederbekommen sollst. Könnte er morgen hier sein?«

»Es wäre verständig von dir, wen du ihn herschicktest«, sagte Menelaos. »Es kommt schließlich auf dasselbe hinaus. Deine Mutter möchte ihn sehen. Ich versichere dir, ich werde ihn nicht lange aufhalten und wir werden ihm nichts zuleide tun.«

»Sagt mir, wann er kommt,« sagte Eteoneus, »damit ich dem neuen Torhüter sage, daß er sich abwendet und tut, als ob er ihn nicht sähe. Man kann einen solchen Menschen nicht in aller Form als Gast des Hauses empfangen.«

»Was redest du von einem neuen Torhüter?« fragte Helena. »Wir sind mit dem alten vollkommen zufrieden.«

»Eteoneus verläßt uns«, sagte Menelaos. »Er möchte sein Amt niederlegen, und ich habe versprochen, ihn gehen zu lassen, sobald Hermione zurückkehrt. Ich erwartete sie nicht so schnell, sonst hätte ich es ihm nicht versprochen. Ich habe bis jetzt noch keinen Ersatz für ihn.«

»Könntest du nicht bei uns bleiben, Eteoneus?« fragte Helena. »Du bist mein ältester Freund hier, du öffnetest die Tür dieses Hauses, als ich es als junge Frau betrat.«

»Und als du von Troja zurückkehrtest«, sagte Eteoneus. »Ich kann jetzt nichts weiter für dich tun, und es ist Zeit, daß ich gehe.«

»Du darfst nicht gehen – wir müssen noch darüber sprechen«, sagte Helena. »Du überlegst es dir noch einmal.«

»Du wirst schon bleiben«, sagte Menelaos. »Ich sehe es kommen.«

»Ich habe es mir überlegt, Helena, und ich möchte lieber nicht mehr darüber sprechen.«

»Das tut mir leid,« sagte Helena, »aber du mußt es ja am besten wissen. Du sagst mir noch Lebewohl, bevor du gehst, nicht wahr?«

»Das tu ich sicherlich«, sagte Eteoneus.

»Das gibt dir den Rest, Alter«, sagte Menelaos. – »Und du schickst uns morgen Orest, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Hermione. »Ich werde ihn nicht schicken. Ich warte nur noch, um mich von Eteoneus zu verabschieden, und dann gehe ich. Ich werde nicht zurückkehren. Wir haben in Wahrheit hier nichts zu suchen, daran können schöne Worte nichts ändern. Ich möchte jedenfalls nicht zurück; wir würden uns nie verstehen.«

»So mach', daß du fortkommst!« sagte Menelaos. »Was stehst du noch hier herum und sagst uns ein über das andere Mal, daß du nicht mit uns einverstanden bist? Hast du überhaupt irgendwelches Gefühl für das, was du und dein Mann getan habt? Glaubst du, daß irgendein Mensch danach fragt, ob du mit ihm einverstanden bist oder nicht? Wir haben dir erlaubt, dies Haus zu betreten, und haben dich nicht wie eine Geächtete behandelt. Wenn du das nächste Mal bei Freunden einkehrst, wirst du den Unterschied schon empfinden!«

»Menelaos! Menelaos!« sagte Helena. »Hermione soll nicht fort, ehe sie mir versprochen hat, mir ihren Mann zu schicken. Wenn sie das tut, so glaube ich, werden wir eines Tages zur Verständigung kommen – alle miteinander. Nicht mit dem Mörder meiner Schwester will ich sprechen, sondern mit ihrem Sohn. Wenn Hermione ihn so verzweifelt liebt, so muß etwas Gutes an ihm sein, von dem ich nichts wußte. Ich will gern meinen Irrtum bekennen, falls ich mich in ihm geirrt habe; ich möchte mich selbst davon überzeugen.«

»Er ist ein vortrefflicher Mensch, und ihr würdet ihn sicher sehr schätzen, wenn ihr wüßtet, wie er in Wirklichkeit ist. Das Schlimme ist, daß ihr ihn nie gekannt habt und nie kennenlernen wolltet.«

»Gewiß wollten wir ihn kennenlernen!« sagte Menelaos. »Wir sagten dir, du solltest ihn einladen, aber du konntest ihn nicht finden. Es war nicht unsre Schuld, daß du nicht wußtest, wo er war.«

»Es war auch nicht Hermiones Schuld,« sagte Helena, »und wir sehen jetzt, daß auch Orest kein Vorwurf traf. Tatsache ist, wie du sagtest, mein Kind, daß wir Orest nicht kennen. Willst du ihn bitten, morgen zu kommen?«

»Ich werde ihm die Einladung bestellen«, sagte Hermione. »Ich weiß nie, was er vorhat.«

 

2

Es ist freundlich von dir, daß du gekommen bist, Orest«, sagte Helena. »Ich hörte, daß du augenblicklich sehr beschäftigt bist, doch ich hatte so sehr den Wunsch, dich zu sehen, nachdem Hermione uns von eurer Heirat erzählt hat.«

»Ich kann leider nicht sagen, daß ich gern gekommen bin«, sagte Orest. »Du hast allen Grund, mich zu hassen. Ich fürchtete mich vor einer Begegnung mit dir.«

»Ich hasse dich nicht,« sagte Helena, »und du hast keinen Anlaß, mich zu fürchten. Ich möchte mit dem Manne meiner Tochter Freundschaft schließen; nur aus diesem Grunde ließ ich dich bitten zu kommen.«

»Du wolltest nicht, daß ich Hermione heiratete«, sagte Orest.

»Nein, ich wollte es nicht.«

»Du wolltest, daß sie Pyrrhus heiratete.«

»Ja, das wollte ich.«

»Dann kann ich nicht an diese plötzliche Freundschaft glauben.«

»Mein lieber Orest, es stand von vornherein bei mir fest, daß ich mit meinem Schwiegersohn in Freundschaft leben würde, wenn die Wahl einmal getroffen wäre. Die Freundschaft ist also nicht plötzlich; nur die Heirat war es. Ich wollte, du wüßtest, wie oft dein Name seit meiner Rückkehr in unserm Hause genannt wurde. Ich drang darauf, daß Hermione dich einlüde; uns lag sehr daran, dich kennenzulernen; aber sie wußte nicht, wo du warst. Wir nahmen innigen Anteil an deinem Geschick; wir fühlten die furchtbare Verantwortung, die auf deinen Schultern lag. Ich möchte dir jetzt sagen, wie tief ich dein Leid empfinde.«

»Ich komme mir vor wie ein Heuchler, wenn ich deine Teilnahme annehme«, sagte Orest. »Ich habe dich nicht für einen Freund gehalten.«

»Wie konntest du das, da du mich nicht kanntest? Aber ich bin es – und darf ich dich auch zu meinen Freunden zählen?«

»Wie könntest du das? Ich habe deine Schwester getötet.«

»Ich weiß.«

»Und nun habe ich auch Pyrrhus, euren Gast, getötet.«

»Auch das weiß ich.«

»Das sind die schlimmsten Verbrechen in den Augen der meisten Menschen.«

»Auch in meinen Augen, mein lieber Neffe, aber du hast sie nicht aus Bosheit gegen mich begangen, nicht wahr? Ich dachte, du hättest andere Gründe gehabt.«

»Aber du willst doch nicht Freundschaft schließen mit dem Mann, der deine Schwester getötet hat!«

»Mit dem Mann, der meine Tochter geheiratet hat.«

»Ich muß gestehen, du bist großmütig!«

»Durchaus nicht, es ist nur natürlich. Versteh mich nicht falsch, Orest; was du getan hast, erscheint mir unsagbar grauenhaft. Du wirst schwer dafür gestraft werden, durch die Behandlung, die die meisten Menschen dir zu teil werden lassen, und noch mehr durch deine eigenen Gedanken. Ich kann dir nicht sagen, wie leid du mir tust. Ich würde alles getan haben, dich von einer solchen Handlungsweise zurückzuhalten, ebenso wie ich versucht habe, Hermione von der Heirat mit dir zurückzuhalten. Aber geschehen ist geschehen, und wir können jetzt ungehindert Freunde sein und gegenseitig Anteil nehmen an den Folgen unsrer Fehler. Um meinetwillen traure ich über das, was du getan hast, und auch um deinetwillen. Je mehr wir Freunde sind, desto mehr beklage ich dein Handeln. Ich wollte nicht, daß Hermione dein Unglück teilen sollte.«

»Auch ich wollte ihr alles ersparen, aber sie wollte nicht«, sagte Orest. »Es liegt darin eine Art Gerechtigkeit, denn sie ist dein Kind, und, da wir nun einmal von unsern Missetaten sprechen, muß ich dir sagen, daß du an dem ganzen Unheil schuld bist. Mein Vater warb für seinen Bruder um deine Hand, und er fühlte sich immer etwas verantwortlich für die Gefahren dieser glänzenden Heirat und verpflichtet, Menelaos beizustehen. So fing das Ganze an – mit deiner Schönheit. Agamemnon opferte seine Tochter, um den Aufbruch der Flotte zu ermöglichen. Ich finde, daß meine Mutter danach das Recht hatte, ihn zu verlassen. Aber sie hatte das Gefühl, sie müßte ihn töten, um ihr Kind zu rächen. Sie war sich über ihre Pflicht nicht im klaren, daher verfolgte sie ihn nicht; doch sie war entschlossen, ihn zu strafen, wenn er zurückkehrte. Ich weiß, sie hatte unrecht, allein ich achte ihre Beweggründe. Darum wurde es mir so furchtbar schwer, meinen Vater zu rächen – aber mir blieb natürlich keine Wahl. Und nun habe ich deinen Gast im Kampfe getötet. Iphigenie – Agamemnon – Klytemnestra – Pyrrhus. Das ist die blutige Konsequenz deines Betragens. Meine Mutter gab dir die Schuld. Sie sagte, du seist unerhört schön. Das bist du auch. Aber sie sagte weiter, daß, wohin du auch kämest, die Menschen anfingen unrecht zu tun. Ich kann das jetzt verstehen. Kannst du ruhig schlafen? Ich nicht. Aber das, was ich getan habe, scheint dir gewiß dilettantenhaft und belanglos. Daher kannst du mich so heiter begrüßen. Du hast so viele Menschen dazu gebracht, schreckliche Dinge zu tun, die ohne dich ein stilles und harmloses Leben geführt hätten. Alle die Männer, die tot in Troja liegen – ihre erschlagenen oder verhungerten Kinder – die gefangenen und entehrten Frauen! Wir können nie wirkliche Freunde werden; ich könnte mich nie dazu bringen, den Anblick deiner Schönheit zu genießen, während ich weiß, welche schlimmen Wirkungen sie hervorgerufen hat.«

»Wir wollen nicht über deine Meinung streiten, Orest«, sagte Helena. »Es ist im wesentlichen auch meine Meinung und ist die, die ich von dir erwartete. Wohin ich kam, ist immer Unheil gefolgt. Wäre ich nicht gewesen, so hätte dein Vater nicht sein eigenes Kind geopfert, meine Schwester hätte nicht ihren Gatten erschlagen, du hättest nicht deine Mutter getötet, noch Pyrrhus – und du hättest Hermione nicht geheiratet.«

»Oh, Hermione hätte ich auf jeden Fall geheiratet! Das ist kein Unheil, und du bist dafür in keiner Weise verantwortlich. Ich habe Hermione geheiratet, weil ich sie liebe.«

»Das gilt im allgemeinen als ein guter Grund«, sagte Helena. »Ich nehme an, eure Vereinigung war vorherbestimmt – du würdest sie geheiratet haben, ob du ihre Mutter schätztest oder nicht.«

»Ja – nein! Ich meine, wenn man liebt wie Hermione und ich, so kann man nicht anders.«

»Du hast Paris nie gesehen, nicht wahr? Natürlich nicht. Er empfand in diesem Punkt ebenso.«

»Und du warst gewiß nicht mit ihm einverstanden?«

»Doch, das war ich.«

»Dann hast du inzwischen deine Ansicht geändert?«

»Nein, ich bin noch der Ansicht. Daher bin ich froh zu wissen, daß es Liebe war, die dich in den Ehestand trieb. Ich fürchtete, es könnte Hermione gewesen sein. Sie machte kein Geheimnis aus ihrer Absicht, dich zu haben.«

»Oh, du darfst ihr nicht unrecht tun! Wir –«

»Was für ein Unrecht tue ich ihr?«

»Du deutest an, daß sie mich gezwungen hätte, sie zu heiraten.«

»Hat sie das nicht? Ich meine, du sagtest, du hättest nicht anders gekonnt? Waren es ihre Reize oder deine, die dich zwangen?«

»Oh – wenn du es so meinst.«

»Ich hatte natürlich unrecht«, fuhr Helena fort. »Es waren deine Reize, die sie zwangen.«

»Ich erhebe keinen Anspruch auf irgendwelche Reize«, sagte Orest.

»Nun, was es auch war, Paris fand dasselbe an mir und ich an ihm. Ist es nicht seltsam, wie die Liebe unsern Willen zwingt! Wir hätten nicht anders handeln können.«

»Oh, bitte sehr! Eine solche Theorie würde deine Leidenschaft für jenen trojanischen Schurken ebenso heilig machen wie jede andre Liebe!«

»Ich sprach von keiner Theorie«, sagte Helena. »Ich stellte nur eine Tatsache fest. Du sagtest mir, wie du und Hermione empfunden hättet; ich sagte dir, wie Paris und ich empfanden. Warum nennst du ihn einen Schurken? Du hast ihn nicht gekannt. Unsre Liebe war entschieden nicht anders als jede andre Liebe; sie schien uns heilig. Wenn es dir angenehmer ist, so will ich Menelaos zum Vergleich heranziehen. Als er mich heiratete, sagte er auch, er hätte nicht anders gekonnt. Jetzt denkt er anders und wollte, er hätte es nicht getan. Aber damals hatte er recht.«

»Wenn du nicht anders konntest,« sagte Orest, »so kann man dir logischerweise nicht die Schuld geben an dem Unheil, das daraus folgte. Dein Argument ist geistreich, aber ich glaube, es hält nicht stand. Wer ist denn für alles verantwortlich?«

»Das habe ich mich oft gefragt,« sagte Helena, »aber ich weiß es immer noch nicht. Ich könnte behaupten, Menelaos sei schuld, aber dann müßte ich Menelaos zu verstehen suchen, und je mehr man versteht, je schwieriger wird es. Daher habe ich gelernt, was einmal geschehen ist, als geschehen hinzunehmen. Wir müssen die Folgen auf uns nehmen, aber es hat keinen Sinn, darüber zu debattieren, als ob es erst geschehen sollte, und ich habe keine Neigung, den Täter zu verurteilen.«

»Das ist ein höchst gefährlicher Grundsatz! Das hieße, alle Missetäter unbestraft lassen!«

»Niemals – es sei denn, daß man an das sittliche Gefühl im Menschen nicht glaubte. Ich halte noch immer an dem Glauben fest, daß wir, wenn wir eine Handlung getan haben, wissen können, ob sie recht oder unrecht war – wir wissen es an den Folgen, die sie für unser Leben hat.«

»Im allgemeinen wohl«, sagte Orest. »Aber in der praktischen Welt, in der menschlichen Gesellschaft, möchte man zwischen Verbrechern und andern unterscheiden.«

»Das wollte ich gern,« sagte Helena, »aber ich bezweifle, daß irgend jemand dazu imstande ist – jedenfalls nicht, bevor er den Verlauf ihres Lebens lange Zeit beobachtet hat. Nimm dich selbst, zum Beispiel: ich weiß nicht, ob du ein Mörder bist oder ein ungewöhnlich pflichtgetreuer Sohn.«

»Ich habe versucht, meine Pflicht zu tun,« sagte Orest, »aber was ich tat, macht mich wahnsinnig unglücklich.«

»Kein Wunder«, sagte Helena. »Du bist wahrscheinlich etwas von beiden, – ich meine, deine Taten waren sowohl gut als böse. Du handeltest aus den höchsten Motiven, die du hattest, aber vielleicht waren sie nicht hoch genug. Deine Sittlichkeit ist über alle Kritik erhaben, aber vielleicht fehlte es dir an Erfahrung. Ich habe beobachtet, daß die meisten Menschen glauben, ohne weiteres handeln zu können, wenn sie sich im Recht wissen. Ich habe aus meiner Erfahrung gelernt, daß wir, gerade wenn wir uns sicher im Recht glauben, doch lieber vorsichtig sein sollten. Wir haben wahrscheinlich immer noch etwas übersehen. In der Liebe können wir nicht anders, wie du ganz richtig sagtest, – ich meine es in bezug auf alle andern Dinge. Dein Vater hatte einen, wie mir scheint, – wie mir wenigstens damals schien, – veralteten Glauben an Opfer. Ein Gott war für ihn ein Wesen, von dem man kaufte, was man brauchte. Daher opferte er mit dem reinsten Gewissen seine Tochter in der Hoffnung, der Flotte dadurch günstigen Wind zu verschaffen. Dein Vater und mein Mann verstanden alle beide so gut wie nichts von Seefahrt. Menelaos steuerte geradewegs nach Ägypten, als er nach Sparta wollte. Ich bewog ihn endlich selber, ein paar Opfer zu bringen. Die waren jedenfalls gut gegen seinen Eigensinn und seinen Hochmut, ob sie nun den Wind beeinflußten oder nicht. Hochmut ist eine schlimmere Sünde als die, deren dein Vater sich schuldig gemacht hatte, doch die Folge seines Opfers war weit furchtbarer. Ich stehe da vor einem Rätsel. Du findest, daß es unrecht von mir war, nach Troja zu entfliehen, obwohl du zu meiner dankbaren Genugtuung begreifst, daß ich nicht anders konnte. Aber Menelaos war nach deiner Ansicht vermutlich gezwungen, einen großen Krieg anzufangen, Hunderte in den Tod zu schicken und eine ganze Stadt zu zerstören, nur weil seine Frau ihm davongegangen war. Du findest, daß ich die Schuld habe. Das kann ich nicht einsehen. Ich finde, sein Hochmut war schuld und sein Mangel an Verständnis. Er, nicht ich, verursachte all das Sterben, obwohl er mit reinem Gewissen handelte und ganz mit sich zufrieden ist, während ich wußte, daß ich etwas Verhängnisvolles beging, obwohl ich nicht anders konnte. Wer von uns ist in Wirklichkeit verantwortlich für das Elend, das daraus folgte? Ich meine, ein anständiger Mann könnte seine Frau verlieren, ohne einen Krieg herbeizuführen.«

»Findest du nicht, daß eine Frau dafür gestraft werden sollte, wenn sie ihren Mann verläßt?«

»Es kommt auf die Frau an, und auf den Mann«, sagte Helena. »Ich müßte den besonderen Fall kennen.«

»Nun, ich dachte an dich«, sagte Orest.

»Vielleicht sollte ich gestraft werden – vielleicht bin ich gestraft, aber nicht von Menelaos. Er veranlaßte seine Freunde, Troja zu zerstören und sich töten zu lassen, aber er selbst und ich sitzen wieder friedlich zu Hause. Ich weiß, er hat das Gefühl, daß er etwas ausgerichtet hat, und ich glaube, es ist besser, wenn wir ihn nicht fragen, was.«

»Weshalb nicht?«

»Aus demselben Grunde, aus dem ich dich nicht fragen würde, was du damit ausgerichtet hast, daß du deine Mutter getötet, oder was sie damit ausrichtete, daß sie deinen Vater tötete. Es ist gütiger, die Menschen nur nach ihren Absichten zu fragen; sähen wir die wahre Bedeutung von dem, was wir getan haben, so wäre es uns vielleicht nicht mehr möglich weiterzuleben.«

»Du weißt nicht, wie furchtbar du mein Gefühl verwirrst!«

»Doch, ich weiß es«, sagte Helena. »Ich tue es absichtlich. Du hieltest mich, als du herkamst, für eine schlechte Frau und dich selbst für einen Märtyrer der Pflicht. Du hattest recht in bezug auf dich selbst. Du bist ein Märtyrer dessen, was du für deine Pflicht hieltest. Auch deine Mutter war es. Aber nach dem, was ich gesagt habe, bist du nicht mehr so sicher. Du hältst mich wahrscheinlich auch weiterhin für schlecht, aber du siehst, daß es vielleicht nicht so leicht zu beweisen wäre, wenn wir die Sache erörterten. Über mein eigenes Verhalten, Orest, bin ich längst unsicher geworden. Aber ich will nicht den Kopf hängen lassen über irgend etwas, was ich getan habe. Ich will jede Vergeltung, die das Leben mir bringt, hinnehmen; bringt es mir keine, so werde ich dankbar sein, daß meine Taten doch nicht so schlimm waren, wie ich fürchtete.«

»Das ist ein sehr gefährlicher Grundsatz«, sagte Orest.

»Ich will nicht versuchen, dich dazu zu bekehren«, sagte Helena. »Ich wollte nur mich selbst erklären, und vielleicht dich ein wenig trösten. Ein Teil von dem Unrecht, das wir begehen, ist Verbrechen und ein Teil ist Irrtum; unsre Irrtümer sollten weniger tragisch sein als unsre Verbrechen, aber oft ist es umgekehrt. Du hast meiner Meinung nach ein paar furchtbare Irrtümer begangen, aber das ist kein Hindernis für unsre Freundschaft. Natürlich hoffe ich sehr, daß du sie nicht wiederholst.«

»Was du sagst, klingt gütig, und ich bin dankbar dafür, aber es scheint mir immer noch unmoralisch«, sagte Orest.

»Vielleicht ist es das«, sagte Helena. »Es ist das Beste, was ich zu geben habe. Jedenfalls ist kein Groll mehr zwischen uns?«

»Ich mißbillige noch immer deine Flucht nach Troja,« sagte Orest, »aber das ist längst vorbei.«

»Leider ja«, sagte Helena.

»Das klingt nicht nach Reue«, sagte Orest.

»Das soll es auch nicht«, sagte Helena.

»Menelaos grollt mir vielleicht, wenn du es auch nicht tust«, sagte Orest. »Daß ich daran gar nicht mehr gedacht habe! Es nützt nichts, daß wir versöhnt sind, wenn er in seiner Rachgier verharrt.«

»Er ist nicht rachgierig«, sagte Helena. »Er will nur das Böse strafen. Das sind zwei verschiedene Dinge, wenn sie vielleicht auch gleich aussehen. Augenblicklich will er nicht einmal mit dir sprechen, aber mit der Zeit wird er schon seinen Sinn wandeln. Im Grunde schätzt er dich; du warst von Anfang an sein erkorener Bewerber für Hermione.«

»Das sagte Hermione mir. Sie hatte gedacht, daß ihr Vater ganz auf ihrer Seite sei, aber in der letzten Zeit hatte sie das Gefühl, daß er – nun, daß er sie verriet.«

»Hermione muß nicht immer denken, daß man sie verrät, sobald man nicht mit ihr übereinstimmt. Glaubst du, daß ihr beide miteinander auskommen werdet, wenn alle diese Aufregung vorbei ist?«

»Natürlich werden wir das; die Aufregung, wie du es nennst, hat uns bei unsrer Liebe nicht geholfen.«

»Oh, meinst du nicht?« fragte Helena. »Hermione will dir helfen. Du wirst auch weiterhin hilfsbedürftig bleiben müssen.«

»Ich glaube, du mißverstehst unser Verhältnis«, sagte Orest. »Wir sind geborene Kameraden. Ich habe sie gern geheiratet.«

»Armer Junge, ist das alles?«

»Ich meine, ich hegte die Hoffnung, daß wir bald heiraten könnten, aber ich sah keine Möglichkeit, ihr das Heim zu geben, das sie verdient; man will mich nicht auf mein väterliches Erbe zurückkehren lassen. Nach dem verhängnisvollen Kampf mit Pyrrhus sah ich sofort, daß Hermione kompromittiert sein würde, wenn sie nicht meine Frau war. Oder vielmehr sie selbst, mit ihrem gewohnten praktischen Verstand, sah dies zuerst, aber ich erkannte sofort, daß sie recht hatte und war um ihretwillen gern bereit, sie unverzüglich zu heiraten – obwohl es natürlich nicht der Augenblick war, den man sich sonst für eine Hochzeit wählen würde.«

»Sie ist Klytemnestra sehr ähnlich«, sagte Helena.

»Du weißt nicht, wie schrecklich es mir ist, wenn du das sagst!« sagte Orest.

»Oh, verzeih!« sagte Helena, »es war taktlos von mir.«

»Das Schlimme ist,« sagte Orest, »daß ich die Ähnlichkeit selbst bemerkt habe, und in einem höchst unheilvollen Augenblick. Als ich Pyrrhus niederhieb, freute sie sich. Ich habe nie diesen Blick auf einem andern Gesicht gesehen – außer auf einem einzigen. Dieser Blick hat mich in so entsetzlich qualvoller Weise verfolgt, daß ich mich frage, ob mein Geist nicht durch das, was ich durchgemacht habe, gänzlich zerrüttet ist. Wenn ich meine Mutter und meinen Vater und Pyrrhus auf den Gesichtern um mich wiedererkenne, wenn all das Blut den kleinsten Tropfen Glück vergiften soll – oh, du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar das ist! Und ich kann nicht mit Hermione darüber sprechen, weil es sie betrifft; außerdem würde sie es auch nicht ganz verstehen; sie fühlt sich so absolut sicher in allem, was sie tut. Du bist der einzige Mensch, zu dem ich darüber gesprochen habe, und als ich kam, dachte ich nicht im geringsten daran, dir so etwas anzuvertrauen.«

»Ich bin froh, daß du es getan hast, Orest – ich bin stolz auf dein Vertrauen. Wenn es ein Zeichen von Geisteszerrüttung ist, daß man eine Ähnlichkeit zwischen Klytemnestra und Hermione findet, so ist mein Geist schon seit langer Zeit zerrüttet. Sie hat von ihrer Tante die Entschiedenheit des Urteils über alles, was sie überhaupt sieht; für Hermione gibt es nur schwarz oder weiß. Ich kann mir von ihr nur vorstellen, daß sie einen Mann heiratet oder ihn ermordet, dazwischen gibt es nichts. In der Verurteilung eines Menschen ist sie äußerst streng. Eins meiner Mädchen wurde kürzlich von einem erbärmlichen Liebhaber betrogen, und als es sich herausstellte, daß sie ein Kind erwartete, wollte Hermione, daß wir sie mit Schimpf und Schande aus dem Hause jagten.«

»Hermione hat mir davon erzählt«, sagte Orest. »Ich muß sagen, daß ich ganz mit ihr einverstanden war. Weitherzigkeit hat ihre Grenzen.«

»Das habe ich auch immer festgestellt«, sagte Helena. »Du und Hermione ihr müßt diese Dinge selbst in euch durcharbeiten, aber du hast recht, wenn du findest, daß sie deiner Mutter ähnlich ist. Ich habe nie gefunden, daß sie mir gleicht.«

»Nicht im geringsten!« sagte Orest.

»Sie ähnelt allerdings ihrem Vater in mancher Hinsicht,« fuhr Helena fort, »und ich hoffe, du tust, was du kannst, um die beiden wieder zusammenzubringen. Menelaos hängt sehr an ihr, sie ist der Mensch, den er am meisten in der Welt liebt; es ist oft so zwischen Vätern und Töchtern. Menelaos versuchte, sie von der Heirat mit dir zurückzuhalten, und das nahm sie übel. Da du sie gewonnen hast, kannst du es dir leisten, großmütig zu sein und die beiden miteinander auszusöhnen. Es würde nicht gut für sie noch für ihn sein, wenn sie zeit ihres Lebens Groll gegeneinander hegten.«

»Sie hat mit mir darüber gesprochen,« sagte Orest, »und natürlich möchte ich das tun, was recht ist, aber ich muß sagen, daß die Art, wie Menelaos mich beschimpft hat, nicht so leicht zu vergessen ist. Er ist von Natur heftig, nach dem, was Hermione sagt, und wenn er sich einmal in etwas verbohrt hat, so ist er schwer davon abzubringen. Hermione sagt, daß dieser Charakterzug die Hauptursache ihrer Entzweiung ist. Ich sehe in diesem Augenblick noch nicht, wie ich etwas dabei tun kann. Wenn Menelaos im Unrecht ist, sollte er zuerst entgegenkommen. Ich kann mich doch nicht bei ihm für die kränkenden Bemerkungen entschuldigen, die er über mich gemacht hat.«

»Vielleicht ist die Situation unmöglich«, sagte Helena. »Verzeih, daß ich es erwähnte. Aber du könntest Menelaos – oder auch Hermione, je nachdem, wie du es richtig findest – dazu bewegen, daß sie von sich aus eine Verständigung suchen. Wenn du es nicht kannst, so kann es niemand. Ich vertraue auf deine Klugheit.«

»Es ist schwer, wie gesagt, aber ich will natürlich gern mein Bestes tun«, sagte Orest.

 

3

Ich komme, um dir Lebewohl zu sagen, Vater. Orest und ich brechen morgen auf.«

»Es tut mir leid, Hermione – es wird mir schwer, dich zu verlieren. Und daß du mit diesem –«

»Sag' nichts gegen ihn, Vater! Du wirst ihn vielleicht eines Tages besser verstehen.«

»Das wird kein Grund sein, um ihn besser leiden zu können. Darf man fragen, wohin eure Hochzeitsreise geht – oder ist es ein Geheimnis?«

»Wir wissen es noch nicht genau. Nach Delphi, sagt Orest, aber das scheint mir nicht gerade interessant. Die Hauptsache ist, daß er von hier fortkommt. Wir werden schon einen Ort finden, der uns beiden zusagt.«

»Wann kommt ihr zurück?« fragte Menelaos.

»Wir haben nicht die leiseste Ahnung, aber so bald wird es nicht sein. Orest kann natürlich jetzt nicht nach Hause, und es tut uns beiden not, daß wir etwas von der Welt sehen.«

»Nun, du weißt, wie ich über die ganze Sache denke«, sagte Menelaos. »Ihr werdet wahrscheinlich Hungers sterben, oder würdet es, wenn ihr keine andern Reserven hättet als die deines Mannes. Ich habe Eteoneus gesagt, daß er etwas an Nahrungsmitteln und Wertsachen einpackt; einer von den Leuten wird euch die Sachen dahin bringen, wohin ihr sie haben wollt.«

»Ich danke dir, Vater, aber ich kann sie nicht annehmen. Orest wird schon sehr gut für alles sorgen.«

»Er hat nichts in der Welt,« sagte Menelaos, »und Freunde hat er jetzt auch nicht.«

»Selbst wenn dem so ist, kann ich doch dein Geschenk nicht annehmen,« sagte Hermione. »Es sei denn, daß du dich anders besonnen hast und Orest empfangen willst.«

»Ich werde nie für ihn zu sprechen sein!« sagte Menelaos.

»Du siehst, warum ich es nicht annehmen kann. Leb' wohl, Vater!«

»Du kannst wenigstens dies eine tun«, sagte Menelaos. »Wenn du je ernstlich in Not bist, so laß es mich wissen. Es hat keinen Sinn, daß du Mangel leidest, wenn Mutter und ich es vollauf haben.«

»Du wirst nie wieder von mir hören,« sagte Hermione, »wenn du meinen Mann nicht aufnimmst.«

»Ist es nicht schon genug, daß du ihn geheiratet hast?« fragte Menelaos. »Soll ich ihn auch noch lieben?«

»Du weißt ganz gut, was ich meine; solange du Orest nicht wie einen Schwiegersohn, sondern wie einen Verbrecher behandelst, kann ich mich nicht als deine Tochter betrachten.«

»Nun, dann ist nichts weiter zu sagen. Leb' wohl. Sage Eteoneus, wenn du fortgehst, daß er die Sachen wieder auspacken und in den Keller bringen soll.«

»Ach, eins wollte ich dir noch sagen; das hätte ich beinahe vergessen«, sagte Hermione. »Ich finde, daß du Mutter in manchem unrecht tust.«

»Unrecht? Mutter, sagst du? Seit wann?«

»Schon seit eurer Rückkehr – obwohl ich mir erst seit kurzem darüber klargeworden bin. Du beurteilst sie falsch und sagst Dinge zu ihr, die man als Kritik auffassen kann. Wer ein so feines Gefühl hat wie sie, muß ihre Lage bisweilen als peinlich empfinden. Ich hoffe sowohl um deinet- wie um ihretwillen, daß du versuchst, sie besser zu verstehen.«

»Ich ahnte nicht, daß der Fluch so schnell wirken würde!« rief Menelaos. »Du hast den Verstand verloren!«

»Hab keine Sorge wegen jenes Fluches, Vater – er trifft nicht. Mein Verstand ist noch derselbe, der er war und den ich, wie du immer sagtest, von dir geerbt habe. Mutter und ich stimmten in bezug auf Orest nicht überein, und im allgemeinen sind wir beide sehr verschieden, aber ich fange an, ihre guten Eigenschaften zu sehen. Es ist nichts Kleinliches an ihr. Sie ist weitherzig.«

»Ich habe nie in meinem Leben solchen Unsinn gehört. Wenn du noch bei Verstand bist, Hermione, so wirst du doch nicht behaupten wollen, daß ich anders als großmütig an deiner Mutter gehandelt habe. Nun ist sie also die Großmütige, wie?«

»Ich wollte euch nicht in Gegensatz zueinander stellen,« sagte Hermione; »ich sprach nur von ihrer Weitherzigkeit. Da du selbst jedoch davon anfängst, so muß ich sagen, daß ich allerdings in dieser Hinsicht einen Gegensatz zwischen euch bemerkt habe. Du weißt, daß sie immer sagt, man soll vorher Kritik üben und nachher schweigen! Ich hatte keine Ahnung, daß sie so vollkommen auf der Höhe ihrer Grundsätze bleiben würde, wenn es an ihr sein würde, zu verzeihen. Aber als wir erfuhren, daß Orest ihre Schwester getötet hatte, bemerktest du da, wie schnell sie sich Gewalt antat und Orest nicht aus der Familie ausstoßen wollte?«

»Das soll wohl eine Lektion für mich sein?« fragte Menelaos. »Sehr klug. Ich sehe, mein Kind, dein Gehirn funktioniert noch, aber meins ebenfalls. Orest ist von der Familie ausgeschlossen, was mich betrifft. Ich habe meine eigene Ansicht über die Weitherzigkeit deiner Mutter.«

»Darf ich diese Ansicht hören?« fragte Hermione. »Ich kann mir nichts Edleres denken als diese spontane Güte einem Menschen gegenüber, der einem ein so großes Leid zugefügt hat. Es war das erstemal, daß ich Mutter von ihrer selbstlosen Seite kennenlernte; vielleicht habe ich diese Seite schon in andern Fällen übersehen, wo sie sich ebenso großmütig gezeigt hat.«

»Davon gibt es nicht viele Fälle, auch wenn ich diesen zugäbe, was ich nicht tue. Du sagst, ich verstehe Mutter nicht. Du hast ganz recht. Das einzige, was ich an ihr verstehe, ist ihr Aussehen, und ich verstehe nicht, wie sich das so gut hält. Mir scheint, sie hat nie so brillant ausgesehen, wie in diesen letzten Wochen, wo so schwere Schläge sie getroffen haben. Es war ebenso in jener Nacht in Troja. Ihre Schönheit ist jedem kritischen Augenblick gewachsen!«

»Gewiß ist sie sehr schön,« sagte Hermione, »aber ich spreche von ihrem Charakter.«

»Von ihrem Charakter will ich auch sprechen«, sagte Menelaos. »Ich sprach zuerst von ihrer Schönheit, da diese Eigenschaft von einiger Bedeutung ist. Ich bin wirklich nicht sicher, daß sie überhaupt einen Charakter hat; ich frage mich, ob sie ein Herz hat. Weißt du – ich kann ja nun, da du verheiratet bist, vertraulicher mit dir über Mutter sprechen – ich habe nie gesehen, daß Mutter über irgend etwas erregt war. Sie sagt, sie sei leidenschaftlich verliebt in Paris gewesen. Leidenschaftlich! Ich wollte, ich hätte sie einmal in einem solchen Gemütszustande sehen können! Bevor sie mit ihm durchging, behandelte sie ihn mit der ruhigen, unpersönlichen Freundlichkeit, die sie fast für jeden hat; jedesmal, wenn sie ihn anredete, hatte ich Angst, sie könnte seinen Namen vergessen haben. Stelle dir vor, was ich empfand, als sie mit ihm davonging! Und stelle dir vor, was ich jetzt empfinde, wenn sie zu mir – zu mir, mit eherner Stirn – von der Leidenschaft spricht, die sie für Paris empfunden hat! Sie ist ein sehr selbstsüchtiger Mensch, glaube mir! Immer auf Freimütigkeit erpicht. Wer verlangt denn, daß sie freimütig ist? Als ob sie damit eine allgemeine Forderung erfüllte. Und nun dieser Wunsch, Orest sofort rufen zu lassen. Welchen Grund hatte sie, sich einzubilden, daß er gern kommen wollte?«

»Vater, ich bin die letzte, die behauptet, daß Mutter dich gut behandelt oder sich passend benommen hat. Ich meinte nur, sie hat eine gewisse Weitherzigkeit, die ich bisher nicht beachtet hatte, und du vielleicht auch nicht. Sie läßt andern ihren Standpunkt und versteift sich nicht auf etwas. Du neigst etwas dazu, weißt du, Vater, und vielleicht ist das der Grund, weshalb du nicht besser mit ihr auskommst.«

»Ich weiß nicht, was Orest sagen würde, wenn er diese Rede hörte,« sagte Menelaos, »aber sie läßt nichts Gutes für ihn hoffen. Er mag ein ebenso nachsichtiger Ehemann werden wie ich, was wird ihm das nützen? Gar nichts! Von dir wird man sagen, daß du die Weitherzige bist!«

»Vater, fällst du in deiner Rede aus dem Bilde, oder erwartest du in Wirklichkeit von mir, daß ich Mutters Beispiel nachahme? Nicht einmal Orest findet, daß ich dazu von Natur die nötige Ausrüstung habe. Seit er Mutter gesehen hat, hat er alles andere an mir gelobt als meine Schönheit.«

»Aber er hat sie ja nicht gesehen, seit er ein ganz kleines Kind war!«

»Er hat sie vor zwei Tagen gesehen – hatte eine sehr befriedigende Aussprache mit ihr. Das ist doch wirklich großartig von ihr, wenn man es bedenkt: seine Mutter war ihre Schwester, und doch war sie durchaus freundlich, wie Orest sagt, machte ihm keine Vorwürfe oder irgendeine Andeutung, daß sie ihn verurteilte – keine Silbe davon. Orest bestätigte meinen Eindruck, daß sie bei all ihren Fehlern doch eine ganz besondere Frau ist.«

»Ich sehe schon wieder, worauf du hinauswillst«, sagte Menelaos. »Wenn Helena, die am schwersten getroffen ist, Orest verzeihen und herzlich gegen ihn sein kann, warum nicht Menelaos, der schließlich durch Orests Schwert keine Blutsverwandten verloren hat, sondern nur einen unwillkommenen Gast. Nun, unsre Familie kann sich nur einen einzigen Menschen von solcher Besonderheit leisten. Ich überlasse Helena diese Rolle.«

»Du irrst dich wirklich«, sagte Hermione. »Natürlich denkst du, ich spreche in Orests Interesse, aber in Wirklichkeit geschieht es in deinem eigenen. Orest und ich gehen jetzt auf die Reise, und ob du ihn schätzest oder nicht, ist für mich nur eine Sache des Gefühls. Aber ich möchte das Bewußtsein haben, daß du und Mutter wieder ganz glücklich miteinander seid – nun ich glücklich bin, möchte ich dies auch für Mutter wünschen – und ich fange an einzusehen, daß das Haupthindernis dein Mangel an –«

»Weißt du, wie impertinent du bist?« fragte Menelaos. »Was geht es dich an, ob Mutter glücklich mit mir ist oder nicht? Und wie willst du wissen, ob ich sie verstehe? Du selbst hast noch bis zu diesem Augenblick mit ihr auf Kriegsfuß gestanden, soweit ich sehen konnte, und ich glaube, es liegt nicht in deiner Natur, die Dinge auf ihre Art zu sehen, selbst wenn du es wolltest. Du mußt bedenken, daß ich etwas länger als du Gelegenheit hatte, mit Helena und ihrem Tun und Treiben vertraut zu werden; sie ist allmählich fast zu einer Selbstverständlichkeit in meinem Leben geworden. Ich verstehe sie ganz gut. Darum sorge dich nicht. Wenn sie nicht glücklich ist, so ist es ihre eigene Schuld. Ich nehme an, du gibst noch zu, daß sie Fehler hat?«

»Was für welche sind das, Vater? Sie ist natürlich auch nur ein Mensch, aber ich möchte wissen, was du an ihr anders haben möchtest. Ihr Aussehen?«

»Wir wollen von ihrem Charakter sprechen«, sagte Menelaos. »Ich sagte dir soeben, daß ich glaube, sie hat kein Herz. Sie kann alles tun, oder das Schlimmste kann ihr zustoßen, ohne daß es sie im geringsten aufregt. Sie hat kein Gefühl. Und ich muß auch sagen, daß ich sie für gänzlich unmoralisch halte. Fast jede Sünde hat für sie eine lichte Seite. Wenn sie ihrem Manne auf und davongeht und wieder eingefangen und zurückgebracht wird, so sagt sie: ›Es war ein Irrtum von mir!‹ und tut, als ob nichts vorgefallen wäre, und sie gibt noch nicht einmal immer zu, daß es ein Irrtum von ihr war. Das ist die Weitherzigkeit, die du rühmst. Sie hat soviel Übung darin gehabt, sich selbst zu verzeihen, daß sie jetzt jedem verzeihen kann.«

»Ich wußte ja, daß du sie nicht verstehst. Ist es dir je eingefallen, dich einmal ruhig zu ihr zu setzen und mit ihr über ihre Lebensphilosophie zu sprechen? Da würde dir ein Licht aufgehen. Orest sagte heute morgen, daß er erst jetzt, wo er sie über sein eigenes Unglück hat reden hören, den Gesichtspunkt erfaßt hat, von dem aus sich ihr Leben verstehen läßt.«

»Ich habe schon soviel gegen deinen Mann gesagt, Hermione, daß ich ungern noch irgend etwas hinzufüge, aber ich muß doch, nur in bezug auf Mutter, gestehen, ich müßte erst einmal ein paar Mordtaten begangen haben, ehe ich jenen Gesichtspunkt erfassen könnte. Mutters Philosophie würde mir nichts nützen – wenn sie überhaupt eine hat; aber ich fürchte, sie bewegt sich im Leben von Punkt zu Punkt, ohne einen bestimmten Plan.«

»Orest sagte, sie machte einen so interessanten Unterschied zwischen Verbrechen und Irrtum.«

»Oh, darum handelt es sich!« sagte Menelaos. »Diesen Teil ihrer Philosophie haben wir schon oft durchgesprochen. Sie begeht alle die Irrtümer und ich die Verbrechen.«

»Nein, im Ernst – sie sagte zu ihm, daß ihre Gelassenheit, die du Kälte nennst, einfach aus ihrem Entschluß hervorgeht, die Folgen einer jeden Handlung, wenn sie einmal geschehen ist, auf sich zu nehmen. Unsre Heirat zum Beispiel. Sie gab ganz offen zu, daß sie dagegen gewesen sei, solange sie noch in Frage gestanden habe; aber da sie einmal Tatsache geworden, wünschte sie uns Glück und möchte in Freundschaft mit uns leben. Sie riet Orest, es für sein Teil ebenso zu machen. Wenn er sein Bestes getan hätte, solle er es nicht bereuen, nicht einmal, wenn die Folgen ihm Unrecht gäben. Du siehst, sie ist zu stolz, um Reue zu zeigen; sie nimmt lieber die Strafe auf sich, wenn Strafe folgt – und gewöhnlich, sagt sie, folgt keine.«

»Ich glaube nicht, daß sie überhaupt irgendwelche Reue fühlt, darin verstehst du sie falsch; aber daß sie zu stolz ist, damit hast du recht. Im übrigen verstehe ich die Sache noch nicht ganz. Orest waren ihre Lehren also sympathisch?«

»Das möchte ich nicht gerade sagen. Er findet sie gefährlich, wenn man sie nicht mit Vorsicht anwendet. Aber er sagte mehrmals, daß er gern wieder mit ihr darüber sprechen möchte; er glaubt, er könnte im ruhigen Gespräch diese Ideen für sie klären, so daß sie ungefährlich sind. Wenn er das kann, warum kannst du es dann nicht?«

»Weil ich ihr Mann bin«, sagte Menelaos. »Willst du ihn diese ethischen Diskussionen mit ihr fortsetzen lassen?«

»Dazu werden sie kaum Zeit haben, bevor wir wieder zurückkommen; und das wird, wie gesagt, nicht so bald sein. Aber er hofft, sie morgen vor unsrer Abreise noch zu sehen. Er ist, ebenso wie ich, der Meinung, daß du ihren Charakter nicht richtig zu beurteilen weißt.«

»Hermione, halte deinen Mann von ihr fern! Er ist einfach ein weiteres Opfer. Diese Frau hat nur ein einziges Ziel: zu bezaubern. Pyrrhus wäre ihr lieber gewesen als Orest, aber schließlich gibt sie sich auch mit Orest zufrieden. Das Resultat wird sein, daß du ihm nicht mehr genügst – paß nur auf! Vermutlich hat sie ihm gesagt, wie sehr sie seine Denkweise schätzt, oder dergleichen, und damit dem Narren geschmeichelt. Ich lasse mich durch solche Kniffe nicht mehr täuschen, daher tauge ich auch nicht für ihre intimen kleinen Gespräche über Lebensweisheit.«

»Mutter flirtet nicht mit Orest, wenn du das meinst. Orest ist nicht für Schmeichelei empfänglich. Und sie hat ihm nicht gesagt, daß sie ihn schätzt, sondern daß er ihr leid tut. Er fand, daß ihre Haltung von großer Selbstachtung zeugte.«

»Die hat sie«, sagte Menelaos. »Sagte dein Mann, daß er sie außerordentlich schön fand?«

»Nein, er sagte nur, daß sie weit besser aussähe, als er erwartet hatte.«

»Du siehst, er ist schon vorsichtig mit dir! Laß ihn sie nicht noch einmal sehen, Hermione! Ich habe schon zuviel Erfahrung, um nicht die Symptome zu erkennen. Er wird sie zu bekehren versuchen, und sie wird ihm durch gelehriges Zuhören schmeicheln; sie wird kein unpassendes Wort sagen, aber er wird nicht wieder von ihr loskommen. Er wird Tag und Nacht von ihr träumen und vielleicht ihr zu Ehren sein Leben wegwerfen, wie Paris es getan, obwohl ich nicht glaube, daß sie noch einmal mit einem durchgeht. Du glaubst, du hast einen guten Mann. Ich fange an einzusehen, daß es freundlich an dir gehandelt war, als ich ihn nicht in dies Haus lassen wollte. Hättest du ihn nur vor Helena geschützt!«

»Wenn wirklich Gefahr da ist,« sagte Hermione, »so wollte ich, ich hätte sie zur rechten Zeit gesehen. Es ist leichter, Orest am Anfangen zu hindern als ihn zurückzuhalten, wenn er einmal im Zuge ist. Ich dachte natürlich, es würde in seinem Interesse sein, wenn er Mutter sähe, da sie es wünschte. Du weißt, daß ich ihren Vorschlag zuerst ablehnte, und dann mußte ich Orest erst dazu überreden. Aber jetzt will er gern noch einmal zu ihr. Wie denkst du, daß ich ihn am besten davon abbringe?«

»Bring' ihn möglichst schnell von hier fort«, sagte Menelaos. »Wenn du anfängst, ihn vor ihr zu warnen, so denkt er, daß du eifersüchtig bist. Ich wollte, ich könnte ihm einiges erzählen!«

»Würde er dann nicht denken, daß du eifersüchtig bist?« fragte Hermione. »Und du wolltest doch wohl nicht mit einem andern Manne über deine Frau sprechen? Ich komme doch wieder zu meiner Ansicht zurück, daß du Mutter unrecht tust. Wenn du freundlich und herzlich mit ihr redetest – und es müßte dir jedenfalls leicht werden, wenigstens so freundlich und herzlich zu sein, wie Orest, als er zu ihr ging – so würdest du das empfinden, was für sie spricht, ganz abgesehen von der Wirkung des Zaubers, der dich eifersüchtig macht. Vergeude keine Zeit damit, daß du mit Orest sprichst, sprich mit ihr! Als Orest und ich gestern abend auf das Thema kamen, machte er eine kluge Bemerkung; er sagte, er glaubte, manche Eheleute kämen nie dazu, ihre Gedanken miteinander auszutauschen in dem Maße, wie sie es mit ihren zufälligen Nachbarn tun, weil bei den meisten Ehen zu Anfang die Vernunft ausgeschaltet wird und nur die Leidenschaft herrscht, und wenn dann die Leidenschaft schwindet, so finden sie schwer den Übergang zu vernünftigem Gedankenaustausch. Ich fand das klug beobachtet, findest du nicht auch? Ich bin froh, daß wir beide mehr durch – nun, sagen wir Überzeugung zusammengeführt wurden als durch Reize minderer Art.«

»Hm!« sagte Menelaos. »Deine Mutter würde sagen, daß Leidenschaft eine Form der Vernunft ist. Wenn sie auf ihre berühmte Liebe zum Leben zu sprechen kommt, so ist mir dabei unbehaglich zu Mute, weil ich das Gefühl habe, sie findet, daß ich sie nicht genug liebe. Wenn ich sie so liebte, wie sie es ihrer Meinung nach verdient, so würde sie sagen, daß ich durchaus die nötige Liebe zum Leben hätte. Ich hatte nie die Absicht, mit irgend jemandem darüber zu sprechen, aber es erleichtert mich, wenn ich mich einmal aussprechen kann. Als ich sie zum erstenmal sah, war sie, glaube ich, nicht schöner als jetzt, aber es kam der Reiz der Neuheit hinzu; man kann sich einen solchen Menschen nicht vorstellen, wenn man ihn nicht gesehen hat. Als sie mich wählte, hatte ich nicht etwa das Gefühl, daß es ein Traum sei oder dergleichen, nein, ich hatte einfach das Gefühl, daß sie einen Irrtum begangen hatte. Die andern Bewerber würden ebenso empfunden haben. Ich konnte nicht begreifen, daß ich diesem Wunder von Schönheit angehörte. Als wir glücklich verheiratet waren und ich sie heimführte und nun ein normales Zusammenleben mit ihr beginnen sollte, war ich in peinlicher Verlegenheit; ich hatte sie haben wollen, ich hatte sie bekommen, und nun war es, als ob sie mir halb belustigt zusähe, wie man einem Kinde zusieht, und zu sich sagte: ›Er möchte diese Schönheit anbeten! Nun, wir wollen ihn einen Versuch machen lassen. Aber er ist seiner Aufgabe nicht ganz gewachsen, der arme Junge!‹ Das war ich auch tatsächlich nicht, Hermione, und bin es auch heute noch nicht. Ich kann nicht ohne sie leben, und ich weiß nicht, wie ich mit ihr leben soll. Gewöhnliche Schönheit will menschliche Umarmungen und was man so Liebe nennt, aber wer Helena umarmt, wird beschämt und gedemütigt; man kann nicht einen Strom von Musik umarmen oder einen Lichtschein auf dem Meere. Du brauchst mir nicht erst zu sagen, ich weiß von selbst, daß sie sich nach einem Geliebten gesehnt hat, der ihresgleichen ist, aber es gibt keinen. In meinem Herzen habe ich ihr längst verziehen, besonders seit sie mit Paris nicht besser gefahren ist als mit mir. Der Grund, weshalb ich sie in jener Nacht nicht tötete, war, daß sie, als ich sie erblickte, jünger als je erschien und wunderbar jungfräulich; und es wurde mir klar, daß niemand, selbst ich nicht, sie je so geliebt hatte, wie sie es fordern konnte; und da ich ihr gegenüber versagt hatte, hatte es keinen Sinn, sie zu strafen. Natürlich sah sie auch in jener Nacht so schön aus wie je. Aber sobald es zu Worten kam, irritierte sie mich, wie sie es vor Paris' Ankunft getan hatte. Sie ist so unnahbar, sie gibt mir ein solches Gefühl meiner Unzulänglichkeit, sie ist meistens so nahe daran, mich auszulachen … Nun, dies ist mehr als ich sagen wollte. Vergiß es meinetwegen sofort. Und sage auf keinen Fall Orest etwas davon. Aber du siehst, ich verstehe Mutter von meinem Standpunkt aus, und da du ihren zu kennen glaubst, kannst du ja auch meinen hören. Es wird zwischen uns nicht mehr anders, jedenfalls nicht wesentlich. Sie wird immer schöner, je älter sie wird, und ich werde wahrscheinlich immer gereizter.«

»Du bist wirklich in sie verliebt, nicht wahr?« fragte Hermione. »Sie ist nicht annähernd so schön, wie du sie findest.«

»Ich muß noch hinzufügen,« sagte Menelaos, »daß ihr eigenes Geschlecht ihren ganzen Reiz nie hat bemerken können. Vermutlich aus Selbsterhaltungstrieb.«

»Weißt du,« sagte Hermione, »nun, da du mir das alles gesagt hast, muß ich gestehen, daß ich doch eifersüchtig auf Mutter bin. Ich meine, ich fürchte, daß ihr Zauber Orest aus dem Geleise bringt. Du hast mich überzeugt! Ich wollte, du hülfest mir, Vater!«

»Ich will alles tun, was ich kann.«

»Dann habe ich eine Idee – empfange du morgen Orest! Wenn du in der Stunde, die er sonst bei Mutter zubringen würde, mit ihm sprichst und ihm verzeihst, so will ich nachher schon für ihn aufpassen.«

»Wenn das nicht ein geschickter kleiner Anschlag ist!« sagte Menelaos. »Du hast natürlich nie daran gedacht, mich dahin zu bringen, daß ich deinen Mann empfangen muß! O nein!«

 

4

Es ist mir sehr schmerzlich, daß du fortgehst,« sagte Helena, »und ganz besonders darum, weil ich fürchte, daß ich zum Teil die Ursache bin. Ich bin nicht gewohnt, daß man mich verläßt.«

»Als Menelaos dich heimbrachte,« sagte Eteoneus, »da sagte ich ihm, daß ich zu alt sei, um mich mit neuen Ideen abzufinden, und vielleicht besser daran täte, mich zurückzuziehen. Die neuen Ideen, die ich meinte, habe ich zum Teil bei Hermione und Orest gefunden. Seitdem habe ich beständig versucht, zu sehen, woran ich war. Bald konnte ich euch folgen in dem, was ihr tatet und sagtet, bald war es mir unmöglich. Es war sehr aufreibend. Wenn ich jetzt des Morgens aufwache, so stöhne ich unwillkürlich: ›Mein Gott, muß ich nun wieder in diesen Betrieb hinein!‹ und wenn ich des Abends zu Bett gehe, kann ich vor Aufregung nicht einschlafen. Es wird Zeit, daß ich Schluß mache.«

»Es muß eine furchtbare Pein für dich gewesen sein, diese letzten Wochen«, sagte Helena. »Ich kann dir nie genug danken für die Treue, mit der du uns in dieser schweren Zeit beigestanden hast. Aber ich glaube, jetzt ist es vorbei. Wenn du bei uns bleibst, wirst du endlich zur Ruhe kommen; das können wir dir versprechen.«

»Wird denn nun nicht irgend jemand Orest töten?« fragte Eteoneus. »Das ist doch logischerweise der nächste Schritt.«

»Vielleicht, aber ich glaube, daß keine Gefahr für ihn besteht. Pyrrhus ist im offenen Kampfe gegen ihn gefallen, und man nimmt allgemein an, daß sie um Hermione kämpften. Du weißt, wie die Menschen in solchen Dingen empfinden – sie nehmen nicht Rache an dem, der die Frau gewinnt, und durch ehrlichen Kampf gewinnt. Ich finde das alles ziemlich sinnlos, das Kämpfen und all das Übrige, aber so macht man es nun einmal. Ich verstehe sehr gut, daß du dich scheust, noch weitere Begebenheiten dieser Art melden zu müssen – die Ermordung Orests zum Beispiel.«

»Und zwar nun, wo er Hermione geheiratet hat«, sagte Eteoneus. »Hätten sie ihn vorher niedergemacht, so hätte ich nichts dagegen gehabt. Allein die Schwierigkeit liegt nicht in den Geschehnissen selbst, sie liegt in der allgemeinen Atmosphäre des Hauses. Als Menelaos dich geheiratet hatte und ihr hierher kamt, ahnte mir sofort, daß irgend etwas passieren würde. Diese Ahnung wurde mit jedem Jahre stärker, bis du endlich auf und davon gingst. Das war für mich eine große Erleichterung, nicht, weil ich dich nicht mochte, sondern weil es die Luft reinigte; ich wußte nun, woran wir waren. Ich wußte, Menelaos würde dich verfolgen, ich würde das Haus hüten, er würde schließlich heimkehren, und wie groß auch unser Kummer sein würde, unser Leben würde hinfort wieder normal verlaufen.«

»Du hast recht«, sagte Helena. »Ich hätte in Troja sterben sollen.«

»Das möchte ich nicht sagen,« sagte Eteoneus, »aber du siehst selbst! Wir sind jetzt wieder an dem Punkte, wo wir waren, als du kamst. Es ist auf keine Lösung zu hoffen, soweit ich sehe.«

»Ich glaube, daß die Lösung bereits ohne unser Zutun gefunden ist«, sagte Helena. »Wir haben Sorgen wegen Hermiones Zukunft gehabt. An allen diesen Sorgen trage ich allein die Schuld, denn ich verließ Hermione, als sie meiner Führung bedurfte. Seit meiner Rückkehr habe ich deutlich gesehen, was sie durch meine Abwesenheit verloren hat, und es tut mir nur leid, daß ich die Folgen, die sich in ihrem Betragen zeigen, nicht allein auf mich nehmen kann. Was meine Liebe zu Paris anbetrifft, so behaupte ich, daß ich nichts dagegen tun konnte, und empfinde keine Reue deswegen. Daß ich meine Tochter verließ, war etwas anderes.«

»Es ist schwer, die beiden Sachen zu trennen«, sagte Eteoneus. »Meinst du, du würdest noch einmal davongehen, wenn du dich in einen andern Gast in gleichem Maße verliebtest?«

»Gewiß«, sagte Helena.

»Ich will lieber jetzt gehen, solange es noch ruhig ist«, sagte Eteoneus. »Ich könnte das Ganze nicht noch einmal durchmachen, es wäre mir einfach unmöglich.«

»Wenn du bleibst, könntest du mich beschützen«, sagte Helena. »Du weißt die Interessen meines Mannes besser zu wahren als irgend jemand, den er an deine Stelle setzen könnte. Höchstwahrscheinlich werde ich mich nicht wieder verlieben noch wird irgend jemand sein Herz an mich verlieren.«

»Darauf möchte ich mich lieber doch nicht verlassen«, sagte Eteoneus. »Ich machte Paris keinen Vorwurf, gewissermaßen auch dir nicht, da du, wie du ja auch sagst, in den Burschen vernarrt warst. Das war alles ganz natürlich, und ich konnte es recht gut verstehen. Und außerdem sah ich, daß Menelaos dich nicht verstand. Er hatte gar keine Erfahrung mit Frauen.«

»Er hat mich damals vielleicht nicht verstanden, aber jetzt macht ihm das keine Schwierigkeit. Das Schlimme bei Menelaos ist, daß er zu weich ist. Er handelt nie nach seiner Einsicht. Er weiß viel mehr, als er zu nutzen versteht, sowohl in bezug auf mich als auf andere Dinge.«

»Genau das wollte ich sagen!« rief Eteoneus aus. »Ich hatte keine Ahnung, daß du es auch erkannt hast.«

»Ja, weißt du, Eteoneus,« sagte Helena, »wir beide stimmen in unsern Anschauungen mehr überein als irgend sonst zwei Menschen hier im Hause. Wir haben beide etwas von der Welt kennengelernt und haben über das, was wir gesehen haben, nachgedacht. Du wirst mir furchtbar fehlen, wenn du fortgehst. Du könntest mir so gut beistehen – wie du es tatsächlich bisher getan hast. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, dir für das zu danken, was du zu Hermione gesagt hast.«

»Über die Frauen?«

»Ja.«

»Aber Menelaos wollte mich deswegen aus dem Hause werfen!«

»Er empfindet in diesen Dingen anders,« sagte Helena, »aber du sagtest die Wahrheit. Und Hermione hatte es nötig sie zu hören. Ich glaube, auch Menelaos wußte, daß es die Wahrheit war. Und du hast dich von Anfang an Orest gegenüber richtig verhalten. Und gegen die arme Adraste hast du dich menschlich gezeigt. Du bist wirklich ein sehr edler Mensch!«

»Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch,« sagte Eteoneus, »und ich bin nicht mehr das, was ich war. Es ist freundlich von dir, mir so etwas zu sagen – es ist tatsächlich das erste Kompliment, das mir jemand gemacht hat, seit du nach Troja gingst. Abgesehen von den verhüllten Anerkennungen, die ich mir aus den sarkastischen Bemerkungen deines Mannes herauslesen könnte, wenn ich es versuchte.«

»Oh, er hält ungeheuer viel von dir, Eteoneus! Ich glaube sogar, er verläßt sich darauf, daß du, wenn er etwas Törichtes befiehlt, dafür sorgst, daß es nicht ausgeführt wird. Wenn ein anderer an deine Stelle kommt, der seine Befehle wörtlich ausführt, so geht das Haus zu Grunde. Willst du nicht bleiben?«

»Wenn ihr beide mich so nötig braucht –« sagte Eteoneus. »Aber es sind noch andere Schwierigkeiten da. Es ist besser, ich gehe jetzt, bevor ich mich weiter einlasse.«

»Laß hören, was für Schwierigkeiten das sind,« sagte Helena. »Vielleicht finden wir irgendeine Lösung.«

»Hermione und Orest«, sagte Eteoneus. »Wir sind noch nicht fertig mit ihnen. Sie wollen auf unbestimmte Zeit verreisen, aber was heißt auf unbestimmte Zeit? Menelaos hat Orest vor ihrem Abschiede verziehen, und er ist in seine Tochter ganz vernarrt –«

»Mit Recht«, sagte Helena.

»Oh, ich weiß,« sagte Eteoneus, »aber sie werden zurückkehren, das ist die Schwierigkeit. Als Menelaos ihm verzieh, geschah es unter der Voraussetzung, daß sie auf immer Lebewohl sagten. Zuerst mußte ich alles Mögliche an Lebensmitteln und andern Sachen für Hermione einpacken, dann mußte ich es wieder auspacken, weil sie zu stolz war, es anzunehmen, und am nächsten Tage mußte ich alles wieder herholen und doppelt soviel, und es für Orest einpacken. Er war nicht zu stolz, das kann ich dir sagen. Und Menelaos nahm ihm das Versprechen ab – ohne Schwierigkeiten, nebenbei gesagt –, daß sie es uns wissen lassen, sobald Hermione irgend etwas braucht. Wir werden aus der Ferne für ihren Unterhalt sorgen, bis sie finden, daß es aus der Nähe bequemer für sie ist.«

»Orest wird nach einiger Zeit in sein Vaterhaus zurückkehren«, sagte Helena. »Ich zweifle nicht, daß dieselben Leute, die ihn jetzt verdammen, später gern von ihm regiert sein wollen. Dann wird er seiner Frau ein Heim bieten können, wie sie es sich nur wünschen kann.«

»Meinst du, daß er Lust haben wird, sich häuslich niederzulassen?« fragte Eteoneus. »Bedenke, daß er sein Lebtag auf Abenteuer unterwegs gewesen ist, zuerst auf der Flucht vor Klytemnestra, dann auf der Jagd nach Ägisth, dann auf der Lauer nach Pyrrhus. Ich fürchte, er ist zu sehr daran gewöhnt, um sein Leben zu ändern. Wenn er jetzt für Pyrrhus an sich selbst Rache nehmen könnte, so wäre er ganz in seinem Element. Aber ich kann ihn mir nicht im ruhigen Alltagsleben vorstellen. Es ist nichts Festes und Beständiges an ihm, er gehört zu den Menschen, die von der feststehenden Ordnung der Dinge reden, aber es selbst nie damit versuchen.«

»Er hatte die Anständigkeit, meine Tochter zu heiraten, als sie ohne das kompromittiert gewesen wäre.«

»Wie kannst du wissen, daß er sie geheiratet hat? Er hat es dir gesagt? Ist das ein Beweis?«

»Es ist kein Beweis, aber ich glaube ihm«, sagte Helena. »Ich mag ihn nicht, aber er sagt die Wahrheit.«

»Nun, mir können nur ihre Kinder leid tun«, sagte Eteoneus. »Das wird ein Geschlecht von Weltverbesserern werden, wie man es bisher noch nicht gesehen hat.«

»Ich nehme an, daß du bleibst,« sagte Helena, »und ich bin so glücklich über diese Aussicht, wie ich es lange nicht gewesen bin.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich bleiben will«, sagte Eteoneus.

»Aber du willst doch, nicht wahr?«

»Findest du nicht, daß ich zu alt bin?«

»Nicht im geringsten! Du kommst erst in die besten Jahre als Torhüter – du kennst die Männer gründlich und verstehst dich auch sehr gut auf die Frauen, und deine Menschenkenntnis kann uns allen jetzt zugute kommen. Und ob du nun alt bist oder nicht, Menelaos und ich möchten dich auf jeden Fall behalten. Wir lieben unsre Freunde in jedem Alter.«

»Wenn du mir so kommst,« sagte Eteoneus, »scheint mein Fortgehen eigentlich keinen Sinn mehr zu haben. Ich werde meine Vorurteile natürlich behalten.«

»Natürlich«, sagte Helena. »Was wäre ein Mann ohne seine Vorurteile?«

»Die Flucht nach Troja war nicht so schlimm«, sagte Eteoneus –

»Wie die Rückkehr«, sagte Helena. »Wir verstehen einander, Eteoneus. Ich danke dir, daß du bleibst, und ich danke dir für diese Unterredung. Wenn du mir jemals etwas sagen möchtest, was mir deiner Meinung nach von Nutzen sein könnte, so komm und sage es mir.«

»Das werde ich tun«, sagte Eteoneus. »Ich habe diese Unterredung sehr genossen. Menelaos und ich stimmen nie überein. Soll ich ihm sagen, daß ich bleibe, oder willst du es tun?«

»Keiner von uns«, sagte Helena. »Wenn du ihm sagst, daß du bleiben willst, so fragt er dich warum, und du kannst nicht gut anders sagen, als daß ich dich darum bat, und dann schickt er dich womöglich fort. Bleib' bei uns, Eteoneus, ohne ein Wort darüber zu verlieren, und dann, denke ich, werden wir Ruhe haben.«

 

5

Dies ist ein guter Platz zum Rasten«, sagte Orest. »Der Blick von dieser Wegbiegung aus ist sehr schön, und der einsame Baum hier gibt uns willkommenen Schatten. Ich habe ihn schon lange im Auge. Hätte ich gewußt, daß die Vorräte deines Vaters so schwer sind, so hätte ich mindestens die Hälfte zurückgewiesen.«

»Wir brauchen heute nicht viel weiter zu gehen«, sagte Hermione. »Was für einen Sinn hat es, darauf loszurennen, als ob wir Angst hätten, irgendwo zu spät zu kommen? Wir haben kein bestimmtes Ziel, und es macht nichts aus, wann wir ankommen. Ach, du meine Güte, wie bin ich müde!«

»Verliere nur nicht den Mut!« sagte Orest. »Der Hauptgrund, der uns vorwärtstreibt, ist, daß niemand geneigt scheint, uns aufzuhalten. Die Leute hätten uns gestern abend am liebsten gar nicht aufgenommen; ich fürchtete die ganze Zeit, daß sie sich an kein Gastrecht kehren und uns ein Haus weiter schicken würden.«

»Das Schlimme ist, daß sie alle von dir gehört haben«, sagte Hermione. »Du bist so berühmt wie meine Mutter. Sie haben Angst, daß du sie im Schlafe ermordest. Armer Orest!«

»Vielleicht«, sagte Orest. »Aber wenn sie eine Frau bei mir sehen, so nehmen sie gleich an, daß du nicht mit mir verheiratet bist. Sie glauben wohl, daß niemand mich wirklich heiraten würde. Sie nehmen nicht gern eine Frau auf, von der sie nicht recht wissen, woran sie in dieser Beziehung mit ihr sind.«

»Ist es nicht merkwürdig, wie den Menschen der Sinn für das Wesentliche fehlt,« sagte Hermione, »und wie sie sich an bloße Förmlichkeiten halten! Wenn ich einen Trauschein mitgebracht hätte, so würden sie mich herzlich aufnehmen, aber ohne den sind sie eisig. Und doch könnte ich nicht mehr deine Frau sein als ich es bin, auch wenn wir uns gar nicht hätten trauen lassen.«

»Ich fühle mich auch durchaus als verheirateter Mann«, sagte Orest. »Heimatlos, aber Glied einer Familie. Wer wohl jetzt bei deiner Mutter ist?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ohne besonderen Anlaß«, sagte Orest. »Ich kam ganz von selbst darauf. Als wir diesen Berg hinanstiegen und du zu sehr außer Atem warst, um dich mit mir zu unterhalten, erinnerte ich mich an einiges, was sie sagte, und an das, was ich ihr hatte sagen wollen, wenn wir uns wiedergesehen hätten. Hermione, das Anerbieten deines Vaters, sich mit mir auszusöhnen, kam mir sehr ungelegen, und ich habe es nur dir zuliebe angenommen.«

»Ja, es war ärgerlich für dich«, sagte Hermione. »Du wolltest diese letzten Minuten Mutter widmen. Auch sie war sicherlich enttäuscht; sie hat so selten Gelegenheit zu Gesprächen, wie sie sie gern hat.«

»Eine volle Stunde mit Menelaos zubringen zu müssen, wenn man hätte bei Helena sein können!« sagte Orest. »Sie ist geistig sehr hochstehend, nur etwas undiszipliniert. Sie beobachtet sehr fein, aber mir scheint, es fehlt ihrem Urteil an logischer Konsequenz. Mit dem, was sie über den Unterschied zwischen Irrtum und Verbrechen und über die Reue vor der Tat sagte, hat sie im wesentlichen recht, aber ihr Standpunkt ist zu individualistisch.«

»Wie klug du bist!« sagte Hermione. »Was meinst du damit?«

»Nun, sie redet so, als ob die Gesellschaft nur ein Name für eine Gruppe von Einzelmenschen wäre, und als ob jeder Einzelmensch die Hauptsache wäre, während wir jetzt wissen, daß der Einzelmensch nur eben das Atom der Gesellschaft ist. Früher konnte ich nie verstehen, was du mir über ihre Theorie von der Liebe zum Leben sagtest, aber jetzt ist sie mir vollkommen klar; sie will das Glück des Einzelnen. Aber auf das Glück des Einzelnen kommt es gar nicht an. Sie sollte auf das Wohl der Gesellschaft bedacht sein. Es ist merkwürdig, daß sie und ich einander nahe gekommen sind, denn wir haben stets nach diametral entgegengesetzten Grundsätzen gehandelt. Man kann sich nicht von seinen Mitmenschen fernhalten und nur Individuum sein, wie sie es versucht; man muß seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen, wie ich es versuche. Im voraus bereuen ist ganz schön und gut für den selbstsüchtigen Menschen, aber der sozial gesinnte kann nichts damit anfangen. Man muß das Verbrechen bestrafen und die Tugend belohnen, wenn man sich für die Ordnung in der Welt verantwortlich fühlt. Ihr sind diese Ideen fremd, glaube ich, und Menelaos fehlt es auch an sozialem Gefühl.«

»Willst du den kleineren Ranzen aufmachen?« sagte Hermione. »Ja, Vater fehlt es an sozialem Gefühl, aber seine individualistischen Zwiebäcke sind tadellos.«

»Was mir hoffnungsvoll an ihr erscheint,« sagte Orest, »ist, daß sie die Dinge unter sittlichem Gesichtspunkt betrachtet. Das ist ein gutes Zeichen, wenn ihr Standpunkt auch ein beschränkter und persönlicher ist. Du hast auch wohl bemerkt, daß ihr eigenes Betragen sich aus ihren Grundsätzen erklärt. Da sieht man, wie wenig dabei herauskommt. Man kann in der modernen Ethik nur vorankommen, wenn man sie als soziales Problem nimmt. Ein einzelner Mensch auf einer öden Insel würde weder gut noch böse sein.«

»Oh, du verstehst sie absolut nicht!« sagte Hermione. »Das ist mir nach dem, was du von ihren Reden berichtest, klarer geworden, als es dir selber ist. Ich bin sicher, Mutter würde dir auf solch ein Beispiel erwidern, daß ein einzelner Apfel auf einer öden Insel entweder ein guter oder ein schlechter Apfel ist, und ebenso ist es mit dem einzelnen Menschen. Und wenn die Gesellschaft nicht da ist, um den Apfel zu würdigen, oder wenn sie da ist und den Menschen nicht würdigt, um so schlimmer für die Gesellschaft.«

»Diese Antwort zeugt eben von geistiger Unreife«, sagte Orest. »Wenn die Gesellschaft nicht da wäre mit ihren Maßstäben und Urteilen, wie sollte man da wissen, ob der Apfel gut oder schlecht ist? Der eine mag ihn hart, der andere mürbe.«

»Du willst doch nicht sagen, daß Recht und Unrecht bloße Ansichtssache ist!« sagte Hermione. »Da bin ich auf Mutters Seite. Ich glaube, es gibt so etwas wie einen guten Apfel. Ich wollte, wir hätten einen … Orest! Wenn Recht und Unrecht Ansichtssache wären, dann hättest du nicht unbedingt recht mit – mit dem, was du tatest. Du glaubtest es nur!«

»Ich glaubte es und glaube es noch,« sagte Orest, »und der Hauptgrund, weshalb ich es glaube, ist, daß ich der Ansicht folge, die in der besten Gesellschaft in bezug auf Rache gilt.«

»Aber nicht in bezug auf Kindespflicht«, sagte Hermione.

»Du hast weder die Einsicht noch den Takt deiner Mutter«, sagte Orest. »Ich hatte zwischen zwei sozialen Pflichten zu wählen, und jede Pflicht mußte mich ins Unrecht setzen. Die Ansicht mußte, wie gesagt, hier entscheiden.«

»Wenn jede Wahl zwischen den beiden Pflichten dich ins Unrecht setzen mußte, so war vielleicht mit diesen Pflichten etwas nicht in Ordnung, meinst du nicht auch?«

»Hermione, was geschehen ist, ist geschehen, und du machst mich nur unglücklicher durch solche Fragen. Du hättest vorher so reden sollen, oder gar nicht!«

»Das ist Mutters Auffassung«, sagte Hermione. »Sie hilft einem wirklich, nicht wahr?«

»Ich glaube, es ist nicht ganz, was ich meine«, sagte Orest. »Ich wollte deine Mutter nicht zitieren.«

»Probiere einmal Vaters Zwieback«, sagte Hermione.

»Um zu unserm Thema zurückzukommen,« sagte Orest, »es ist mit der Schönheit genau dasselbe. Einige sagen, die Schönheit sei etwas Absolutes, eine Art Besitz. Du hast gehört, daß man von gewissen Frauen sagt, sie besitzen große Schönheit. Das ist natürlich verkehrt. Schönheit ist einfach eine bestimmte Wirkung – die Wirkung höchsten Beifalls – eine Ansichtssache. Es ist richtiger, zu sagen, daß solche Frauen schön sind, nicht daß sie Schönheit besitzen, oder noch richtiger, daß sie den günstigen Eindruck hervorrufen, den wir Schönheit nennen.«

»Das wird Mutter gleich sein«, sagte Hermione. »Solange sie immer denselben Eindruck macht, wird ihr diese Gabe durchaus genügen.«

»Aber tut sie das immer?« fragte Orest. »Du weißt, ich habe sie erst einmal gesehen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Hermione. »Aber je öfter du sie siehst, je mehr wird es der Fall sein.«

»Das möchte ich selbst feststellen«, sagte Orest.

»Aber gibt es nicht Bauwerke und Landschaften und andere Dinge, die immer denselben Eindruck auf Menschen machen, oder doch fast immer, so daß man die, die sie nicht mögen, merkwürdig findet?«

»Ja, und was folgt daraus?«

»Nun, ich meine, wenn sie immer denselben Eindruck machen, so ist vielleicht etwas Dauerndes und Allgemeingültiges in ihnen, in den Proportionen, in den Farben, was man Schönheit nennen könnte. Ich wollte, ich hätte Mutters Farben.«

»Du kannst ebensogut sagen, daß es in der menschlichen Natur etwas Dauerndes und Allgemeingültiges gibt. Das Leben deiner Mutter erklärt sich daraus, daß sie bestimmte körperliche Proportionen hat, die man Schönheit nennt, oder daß –«

»Oder daß die Männer alle gleich sind!« sagte Hermione. »Ich verstehe schon. Wollen wir weitergehen? Ich sehe ringsum nirgends ein Haus.«

»Zwei Meilen weiter muß eins kommen, wenn der Mann die Entfernung richtig geschätzt hat«, sagte Orest. »Wir erreichen es noch vor Anbruch der Dunkelheit.«

»So weit kann ich nicht mehr gehen, und wenn es mein Leben gälte«, sagte Hermione. »Können wir nicht draußen irgendwo übernachten, in einer Höhle oder in einem Schuppen oder so etwas? Ich habe gehört, daß man das tut.«

»Hast du von irgendeiner Höhle hierherum gehört?« fragte Orest. »Das ist die Sache. Das Land ist hier, soweit ich sehe, eine einzige kahle, sonnige Felsenebene. Laß uns unsern Weg fortsetzen, solange du noch kannst, und dann wollen wir entscheiden, was wir tun.«

»Orest, so kann es nicht Tag für Tag weitergehen! Wir werden umkommen! Ich habe versucht, frischen Mut zu behalten, aber ich kann nicht mehr.«

»Es wird schon gehen, Hermione«, sagte Orest. »Du bist etwas übermüdet und vielleicht hat dich der Empfang von gestern abend etwas mitgenommen. Eine Nacht im Freien wird uns gut tun. So brauchen wir wenigstens keine Menschen zu sehen. Wir könnten vollkommen glücklich zusammen sein, wenn wir nicht immer wieder Menschen zu begegnen brauchten.«

»Nun, ich will es noch etwas weiter versuchen.«

Er nahm die Ranzen auf die Schulter und marschierte voran, während sie langsam folgte. Als sie etwa tausend Schritte gegangen waren, wandte er sich um und sah sie an.

»Etwas anderes ist mir noch bei deiner Mutter aufgefallen«, sagte er. »Hast du bemerkt, daß sie immer, wenn sie einen anredet –«

 

6

Menelaos,« sagte Eteoneus, »ich glaube, ich habe deiner Frau Unrecht getan, und ich möchte einiges zurücknehmen, was ich von ihr gesagt habe – ich brauche wohl nicht darauf zurückzukommen. Ich habe mit ihr gesprochen.«

»Du meinst, du hast sie angesehen«, sagte Menelaos. »Ich begreife vollkommen und nehme deine Entschuldigung an. Sie hat ein überzeugendes Äußere. Du bist nicht der erste.«

 

7

Von allen Helden, die vor Troja kämpften, gelangte Odysseus zuletzt in seine Heimat zurück. Vergebens erwartete ihn sein Weib, und sein Sohn Telemach mußte zusehen, wie sein Erbe zusammenschrumpfte, und wußte nicht, ob er nun eigentlich der Herr des Hauses sei und ob er irgendwie einschreiten müsse. Die Freier drängten Penelope, einen von ihnen zu heiraten, indem sie behaupteten, Odysseus müsse längst tot sein, und sie unterstützten ihre Werbung durch wirtschaftlichen Druck, indem sie als ihre Gäste sich's auf ihre Kosten wohl sein ließen, bis sie sich zur Heirat entschließen würde. Helena hatte ihre Freier am Anfang ihres Lebens gehabt, Penelope hatte sie am Ende, als sie nicht mehr jung war, und dabei war ihre Schönheit immer nur, wie Orest sagen würde, Ansichtssache gewesen. Aus dieser Tatsache wollen einige kluge Leute schließen, daß Penelopes Geschichte, so wie sie uns jetzt erzählt wird, durch irgendein Versehen einmal von rückwärts erzählt wurde. Wie dem auch sei, merkwürdig bleibt es, daß die Freier sie durchaus heiraten wollten. Telemach glaubte, daß sie es um das Erbe täten, das seinem unerfahrenen Blick als ungeheurer Reichtum erschien. Aber Ithaka war eine unfruchtbare Felseninsel. Als er zum erstenmal auf Reisen ging, wurden ihm die Augen geöffnet. Da die lästigen Freier von weither gekommen waren, mußten sie es wissen. Was sie im Sinne hatten, bleibt uns ein Rätsel, aber daß sie die arme Penelope belagerten, ist Tatsache; denn als Odysseus endlich heimkehrte, spannte er seinen Bogen und erschoß sie, einen nach dem andern.

An einer Stelle streift die Geschichte Telemachs und seines abwesenden Vaters die Geschichte Helenas, und diese Stelle ist uns dadurch wertvoll, daß sie uns ein charakteristisches Bild ihres häuslichen Lebens gibt.

Kurz bevor Odysseus in so dramatischer Weise wieder auftauchte, hatte Telemach sich in seiner Verzweiflung entschlossen, sich bei Nacht mit ein paar zuverlässigen Leuten in einem kleinen Schiff heimlich aufzumachen und nach Pylos zu fahren, wo Nestor wohnte, und von dort eventuell nach Sparta zu Menelaos. Wenn einer von diesen beiden Freunden seines Vaters ihm irgendwelche Hoffnung auf die Rückkehr des Verschollenen geben könnte, so wollte er wieder heimfahren und noch ein Jahr geduldig warten. Wenn sie ihm aber einen bestimmten Grund geben würden, anzunehmen, daß Odysseus tot sei, so wollte er nach Ithaka zurückfahren, energisch auftreten, eine Totenfeier für seinen Vater veranstalten, seine Mutter mit irgendeinem beliebigen Freier verheiraten, die andern fortschicken und sein Erbe antreten.

Er hatte die väterliche Insel bis dahin noch nie verlassen. Als er nach Pylos kam, war Nestor gerade im Begriff, sich zu einem Festmahl niederzusetzen, inmitten von all seinen Leuten. Telemach wäre am liebsten gleich wieder abgefahren. Er hatte nicht seines Vaters Rednergabe, und es war ihm peinlich, sich Nestor zu nähern und sein Anliegen so öffentlich vorzubringen. Dann aber bedachte er, daß er ja in einer guten Sache gekommen war, und zum Glück nötigte Nestor ihn zu essen, bevor er redete. Nach dem Mahle begann der Alte selbst das Gespräch. Er gehörte zu derselben alten rauhen Generation, wie Eteoneus. Er fragte den Jüngling, ob er als ehrlicher Händler unterwegs sei oder ob er Seeräuberei treibe. Telemach war über die Frage etwas erschrocken, aber er ging auf diese Vorstellung ein und ließ den Alten glauben, daß Seeräuberei ein Lieblingssport von ihm sei – oder sein würde, wenn er erst mehr Übung hätte.

»Aber ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du irgendwelche Nachricht von meinem Vater hast. Wir haben zu Hause, ich weiß nicht seit wieviel Jahren, nichts mehr von ihm gehört; und es ist soweit gekommen, daß selbst schlimme Nachricht besser sein würde als diese furchtbare Ungewißheit. Wir haben gehört, daß Menelaos wohlbehalten zu Hause angelangt ist, und daß auch Agamemnon wieder daheim ist, aber nicht wohlbehalten. Wir haben auch erfahren, daß Ajax tot ist, und andere Einzelheiten über die Freunde meines Vaters, aber von ihm selbst haben wir kein einziges Wort gehört, obwohl er ein berühmter Mann war und viel von sich reden machte. Wenn er getötet wäre, so hätte uns doch wohl jemand die Kunde gebracht. Wo in aller Welt ist er? Willst du mir sagen, wie und wann du ihn zuletzt gesehen hast und was du sonst etwa von seinem späteren Verbleib weißt? Wenn du Schlimmes zu berichten hast, verbirg mir nichts; ich möchte die Wahrheit wissen.«

Nestor erging sich in Erinnerungen. Odysseus war sein bester Freund. Er wurde nicht müde, von ihren gemeinsamen Taten auf der Ebene vor Troja zu erzählen. Telemach fürchtete, er würde nie ein Ende finden.

»Aber als es an die Heimkehr ging,« sagte er, »waren wir alle wie toll. Es begann am Tage nach der Zerstörung der Stadt. Wie wir da feierten! Da, mitten im schönsten Gelage, ließ Agamemnon die Krieger zum Opfer zusammenrufen! Offen gesagt, die meisten von uns hatten dem Wein gut zugesprochen. Dann erklärte Menelaos, er wolle sofort nach Hause – der Krieg sei vorüber und es habe keinen Zweck, länger zu bleiben. Agamemnon bestand auf weiteren Opfern, um Athene zu versöhnen. Das war meiner Meinung nach recht töricht von ihm, denn wenn eine Göttin einmal erzürnt ist, so ist sie erzürnt, und Opfer oder sonst etwas ist Zeitvergeudung. Sie redeten hin und her, aber was sie sagten, konnte ich nicht verstehen; während sie stritten, gerieten wir andern alle in Aufregung, und es entstand ein gewaltiger Lärm, als ob der Kampf noch einmal losginge. Die Parteien waren etwa gleich groß. Die eine Hälfte war für Abfahrt, die andere für weitere Opfer. Ich war derselben Ansicht wie Menelaos, und wir waren eine ganze Flotte, als wir am nächsten Tage absegelten. Aber die Morgenluft machte uns wieder nüchtern, und je weiter wir fuhren, desto bedenklicher wurden wir. Es war wohl der Rückschlag. Als wir bis Tenedos gekommen waren, machten die meisten von uns ein paar Stunden halt und brachten sicherheitshalber Opfer, aber Menelaos fuhr weiter oder war bereits hinter dem Geschwader zurückgeblieben; wir sahen ihn nicht mehr. Dein Vater hielt uns eine richtige Rede. Er erklärte, wenn einmal geopfert werden sollte, so wolle er keine halben Maßnahmen treffen, und er kehrte um, um sich Agamemnon wieder anzuschließen. Danach habe ich nichts mehr von ihm gesehen, noch je wieder irgend etwas von ihm gehört. Die meisten andern erreichten ihre Heimat. In Lesbos landete ich noch einmal, um zu opfern – sicherheitshalber –, und ich muß sagen, wir hatten auch einen tüchtigen Sturm, der uns geradewegs in den Hafen trieb. Idomeneus – hast du je von ihm gehört? der Freier, den Helena zuerst von allen ausschlug – er hatte die günstigste Fahrt von uns allen, verlor keinen einzigen Mann und sitzt nun in Kreta, als ob nichts geschehen wäre. Aber das war ein häßlicher Streich, den Ägisth Agamemnon spielte! Du hast natürlich davon gehört, wie Orest sich rächte? Das ist der Vorteil, wenn man einen Sohn hat – er sorgt dafür, daß der Mörder seinen Lohn bekommt. Odysseus ist glücklich zu preisen, daß er einen so wackern Sohn hat, wie du es zu sein scheinst. Er wird heimkehren, wenn er nicht getötet ist, und wenn er getötet ist, wirst du den, der es getan hat, verfolgen. Wenn es nicht ein Werk der Vorsehung war, natürlich.«

Telemach war enttäuscht. Keine Nachricht von seinem Vater, und augenscheinlich auch keine Aussicht dazu, auch nicht bei Menelaos. Allein seine Neugierde erstreckte sich auch auf andere Dinge; er war jung. »Wir haben gehört, was Ägisth Agamemnon antat,« sagte er, »aber nur ganz im allgemeinen. Wir wissen nichts über die Einzelheiten.«

»Nun,« sagte Nestor, »es war eine merkwürdige Sache, wenn man bedenkt, was für ein Mann Agamemnon war und wie unbedeutend Ägisth dagegen. Wie man mir berichtete, hatte Ägisth den ganzen Anschlag gemacht und hatte die Absicht, auch Menelaos zu töten, falls er nach Mykene kommen sollte. Klytemnestra war nicht so schlimm. Sie setzte der Idee lange Zeit Widerstand entgegen, und Ägisth würde sie nicht überredet haben, wenn er nicht zuerst den Sänger aus dem Wege geräumt hätte. Du weißt von diesem Sänger? Agamemnon ließ ihn zum besonderen Schutz seiner Frau zurück. Ob es nun die Wirkung von seinem Spiel war – er spielte und sang jeden Abend – oder sein persönlicher Einfluß, Ägisth konnte bei Klytemnestra nichts erreichen, solange der Sänger da war. Daher forderte er ihn eines Tages auf, mit ihm zum Fischen zu kommen, und der Sänger ging mit, um ein wachsames Auge auf ihn zu haben, und Ägisth setzte ihn auf einem Felsen aus, der zur Flutzeit unter Wasser steht. Klytemnestra gab dann sofort nach. Der Gedanke an seine Sünden trieb Ägisth dazu, zu opfern; er war immer am Opferaltar beschäftigt, so daß Klytemnestra sich wegen des schwindenden Viehbestandes Sorge machte. Er war auch beim Opfer, als Orest ihn fand. Menelaos blieb auf göttliche Eingebung zu Hause und entging so dem Schicksal seines Bruders. Er ist jetzt mit Helena in Sparta. Man sagt, sie sei schöner denn je.«

Telemach sagte, Sparta sei sein nächstes Ziel. Vielleicht wisse Menelaos etwas von seinem Vater. Nestor meinte, das würde er wohl kaum, aber es könne ja nicht schaden, wenn er nachfragte. So setzte denn der Jüngling seine Reise fort in der Hoffnung, Nachrichten zu erhalten, und auch ein wenig getrieben von der Aussicht, Helena zu sehen, die schöner sein sollte denn je.

Als er an das berühmte Tor kam, an das einst Paris geklopft hatte, hielt Eteoneus ihn unter irgendeinem Vorwande auf und eilte zu Menelaos.

»Es steht wieder ein schöner junger Mann draußen«, sagte er. »Wollen wir ihn einlassen?«

»Eteoneus,« sagte Menelaos, »es hat Zeiten in deinem Leben gegeben, wo du nicht wie ein Narr handeltest. Ich wollte, ich könnte sagen, es wäre jetzt der Fall. Ich verstehe die Anspielung nicht. Natürlich lassen wir ihn ein! Wenn ich früher reiste, wurde ich überall gastlich aufgenommen, und ich vermute, dir ist es ebenso ergangen. Wir müssen unsererseits ebenso handeln, wenn ein Fremder zu uns kommt.«

»Na, was soll das nun bedeuten!« sagte Eteoneus, aber nicht laut.

Telemach hatte nie ein solches Haus gesehen. Das Dach war hoch, und irgendwie gelangte der Rauch hinaus und das Licht herein; es war als ob man draußen im Sonnenschein oder Mondschein wäre. Die Größe des Hauses und der Reichtum, der darin herrschte, machte ihn verlegen. Er versuchte, daran zu denken, daß sein Vater klüger war als diese Menschen hier, aber der Gedanke nahm seine Verlegenheit nicht hinweg. Man führte ihn zu den Marmorbädern, wo die Diener ihn noch mehr in Verlegenheit setzten, indem sie ihn gründlich wuschen, sein Haar salbten und ihm bessere Kleider anlegten als er zu tragen gewohnt war. Menelaos kam, um ihn zu begrüßen, eine hohe Gestalt, mit schönen langen dunklen Locken, die kein Öl brauchten, um zu glänzen. Sonst war er nicht so eindrucksvoll wie sein Haus. Telemach kam der Gedanke, daß er sich seit Troja nicht mehr genug körperliche Bewegung machte; er war ziemlich wohlbeleibt. Bei dem Festmahl, das Menelaos für den Gast veranstaltete, zeigte er, daß Mangel an Bewegung den Appetit nicht beeinträchtigt.

»Ich habe nie ein Haus wie dies gesehen,« sagte Telemach, »und obwohl ich nicht weitgereist bin, glaube ich doch kaum, daß es irgendwo in der Welt seinesgleichen hat. Dieser ungeheure Reichtum an Bronze, Gold und Bernstein, von all dem Silber und Elfenbein gar nicht zu reden! Zeus selbst kann auf dem Olymp kaum schöner wohnen.«

Menelaos setzte eine ernste Miene auf und sagte, daß niemand sich den Göttern vergleichen dürfe, aber das Haus sei in der Tat sehr zu seiner Zufriedenheit. Das heißt, das Gebäude. »Allein ich würde einen großen Teil meines Reichtums hingeben, wenn ich damit die Jahre zurückkaufen könnte, die ich fern von diesem Hause verbrachte, und die Freunde, die in Troja starben oder die auf der Heimfahrt umkamen. Wir müssen natürlich alle einmal sterben, und viele von ihnen würden ohnehin wohl schon im Grabe liegen, auch wenn es kein Troja gegeben hätte. Aber um einen Freund tut es mir besonders leid – um Odysseus. Du hast gewiß seinen Namen gehört. Er hat mehr für mich getan als irgendein andrer, und ich bin nun wieder hier zu Hause, während niemand weiß, wo er ist oder ob er überhaupt lebt. Seinem alten Vater ist gewiß das Herz gebrochen, und seiner Frau und dem kleinen Sohn, der mittlerweile herangewachsen sein muß.«

Die Erwähnung seines Vaters erfüllte Telemach mit jähem Schmerz, – jäh, weil er seine Gedanken ganz auf Menelaos' schönes Haus gerichtet hatte. Er wollte gerade seinen Namen und sein Anliegen sagen, als Helena aus ihrem gewölbten Gemach hereintrat. Wie war das möglich? Und doch konnte es niemand anders sein! Seine Mutter hatte ihm wiederholt gesagt, wie alt Helena war, und er wußte, was für Erlebnisse sie hinter sich hatte. Er hatte eine Aphrodite erwartet, eine verführerische Göttin, bezaubernd wie die Sünde. Als sie auf ihn zuschritt, sah er, daß sie jung und mädchenhaft war; so mußte Artemis aussehen. Mit ihr kam ein Mädchen, das älter aussah, aber es vermutlich nicht war. Man nannte sie Adraste. Sie brachte einen Stuhl für Helena herbei und einen Fußschemel und die Wolle zum Spinnen, die sie in einem goldenen Korbe, der auf Rädern ging, heranschob. Telemach vergaß seinen Vater, vergaß seine Mutter, vergaß die Freier. Sein ganzes Leben lang versuchte er zu bereuen, daß er vergessen konnte, aber es gelang ihm nicht.

Helena begrüßte ihn, nahm die Wolle zur Hand und begann die Unterhaltung, als ob Telemach ein alter Freund wäre oder als ob sie ihn noch gar nicht wirklich bemerkt hätte. Dann ließ sie die Hände in den Schoß sinken.

»Menelaos, wir dürfen den Fremdling wohl nicht fragen, wer er ist, bevor er es von selbst sagt; aber wenn es ihm recht ist, so möchte ich versuchen zu raten.«

Sie sah Telemach gerade an, und er fühlte sich ganz närrisch vor Glück.

»Ich hätte nicht gedacht,« sagte sie, »daß zwei Menschen sich so ähnlich sehen könnten. Du hast natürlich die Ähnlichkeit bemerkt, Menelaos.«

»Nein, das habe ich nicht«, sagte Menelaos.

»Ach, das müßtest du doch im ersten Augenblick gesehen haben!«

»Vielleicht müßte ich es, aber ich habe es nicht gesehen«, sagte Menelaos.

»So muß ich es dir sagen – Odysseus«, sagte Helena.

»Wahrhaftig, jetzt sehe ich es!« sagte Menelaos. »Und dabei sprach ich gerade, bevor du hereinkamst, von seinem Vater; ich bemerkte, wie es ihn interessierte. Wahrhaftig! Das stimmt, nicht wahr?«

Menelaos sah ihn an, und er sah Menelaos an und bemerkte auf dem Gesicht des alten Mannes einen Ausdruck, der nicht dagewesen war, bevor seine Frau eintrat. Etwas wie heitern Seelenfrieden oder doch etwas, was dem nahe kam; sagen wir einfach: stille Zufriedenheit. Telemach gab zu, daß er er selbst sei. Aber er war nicht ganz er selbst. Sie sprachen stundenlang, oder vielmehr Menelaos sprach, und da von seinem Vater keine Rede war, hörte Telemach höflich zu und beobachtete Helena und ihre webenden Hände, und seine Seele verließ ihn gänzlich. Dann sagte Helena, daß sie nun genug geredet hätten, und Menelaos sah aus, als hätte er einen leisen Tadel empfangen, an den er jedoch gewöhnt war, und er fragte Helena, ob es nicht bald etwas zu essen gäbe.

Helena trat mit einem Becher Wein zu dem Jüngling und sagte:

»Man sagt, wer von diesem Wein trinkt, der vergißt all seine Sorgen für immer. Er kommt aus Ägypten, wo man das Geheimnis der Kräuter und Heiltränke und Zaubersprüche kennt, und es ist ein Zauber darin!«

Er nahm ihn, seine Hand berührte die ihre, und sie lächelte ihm zu. Es war, wie sie gesagt hatte; er vergaß alle seine Sorgen – wie es schien, für immer. Aber er wußte, daß der Zauber nicht im Wein war.

Menelaos war an der andern Seite des Tisches mit seinem Essen beschäftigt.

Ende


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