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Vierter Teil.
Tod und Geburt


 

1

Charitas hat ihren Mann geschickt, um sich über die Art, wie du zu ihr gesprochen hast, zu beklagen, Eteoneus«, sagte Menelaos. »Leider ist dies nicht die einzige Beschwerde, die in den letzten Tagen gegen dich geführt wurde. Ich finde wirklich, daß du dich in dieser kritischen Zeit, wo du weißt, wie Schweres ohnehin schon auf mir liegt, etwas zusammennehmen und dir keine Übergriffe erlauben solltest. Ich habe dich rufen lassen, aber nun, da du hier bist, weiß ich nicht, was ich dir sagen soll. Du bist schon so viele Jahre in meinem Dienst und warst immer der einzige in meinem Hause, auf dessen korrektes Benehmen ich unbedingt rechnen konnte. Aber in den letzten Monaten hat deine Zunge dich wiederholt in Ungelegenheiten gebracht. Du selbst erzähltest mir von deinem Streit mit Orest, und ich mußte mich dagegen verwahren, daß du an meiner Frau Kritik übtest. Und nun kommt unser nächster Nachbar und sagt, daß du auch an seiner Frau Kritik übst. Was ist mit dir vorgegangen, Eteoneus? Und was soll ich mit dir machen?«

»Nichts ist mit mir vorgegangen, Menelaos,« sagte der Torhüter, »nichts als daß ich alt geworden bin. Ich glaube zwar, daß das Alter meinen Charakter nicht wesentlich verändert hat, aber wenn du glaubst, daß es doch der Fall ist, so ist es vielleicht besser, du läßt mich gehen. Zu der Zeit, wo du mit mir zufrieden warst, kamen nur Leute gewöhnlichen Schlages an deine Tür, und nur normale Ereignisse spielten sich drinnen ab. Nun aber kommen, wie du zugeben mußt, seltsame Gäste, und wir empfangen seltsame Botschaften, und was sich drinnen im Hause ereignet, ist für meine Erfahrung neu. Ich glaube kaum, daß ich mir jetzt weniger Reserve auferlege bei dem, was ich sage; ich würde vor vierzig Jahren wahrscheinlich dieselbe Kritik geübt haben, wenn dieselben Dinge sich damals ereignet hätten.«

»Ich mag nicht, wenn du von deinem Alter redest,« sagte Menelaos, »und ich möchte auch nicht daran denken, dich gehen zu lassen. Ich weiß sehr wohl, daß ich dich an deinem gegenwärtigen Posten nicht ersetzen könnte. Die jüngeren Dienstboten sind heutzutage nichts als Dienstboten – sie haben keine Anhänglichkeit für die Familie. Aber wie unentbehrlich du mir auch bist und wie sehr ich dich auch schätze, du mußt einsehen, wie peinlich es mir ist, wenn über dich geklagt wird. Es wird schon ohnehin genug an uns herumkritisiert. Der Tod meines Bruders gibt zu neuem Gerede Anlaß. Wenn ich dich nicht so hoch schätzte, würde ich dich ohne Zögern fortschicken. Statt dessen frage ich dich Mann zu Mann, was du tun würdest, wenn du an meiner Stelle wärst.«

»Nun, wenn ich an deiner Stelle wäre,« sagte Eteoneus, »würde ich erst einmal genau feststellen, worüber Charitas sich beklagt hat.«

»Ihr Mann, nicht Charitas«, sagte Menelaos.

»Oh, ich verstehe«, sagte der Torhüter.

»Er sagt, du hättest seine Frau beleidigt, als sie Helena besuchen wollte. Erstens wolltest du sie nicht einlassen. Dann gabst du auf ihre Fragen ziemlich sarkastische Antworten. Und schließlich sagtest du ihr gar, sie sei die erbärmlichste Frau, die dir je begegnet, obwohl dir schon recht erbärmliche begegnet wären.«

»Das kommt der Wahrheit näher, als man es von einer zornigen Frau erwarten sollte«, sagte Eteoneus, »besonders da ich es von dir höre, der es von ihrem Mann hat, der nichts davon weiß, als was sie ihm sagte. Sie fragte, ob Helena zu Hause sei. Ich verneinte es. Das meint sie damit, daß ich sie nicht einließ. Tatsächlich hat sie recht. Helena hat mir befohlen, zu sagen, sie sei nicht zu Hause, wenn irgend jemand käme; aber sie hat mir auch befohlen, dafür zu sorgen, daß Charitas nicht über die Schwelle gelangte, und Charitas argwöhnt so etwas. Sie sagte, Helenas beständige Abwesenheit finge an nach Absicht auszusehen. Ich tat, was mir geboten war, Menelaos, und ich tat es um so gewissenhafter, als ich deine Frau nicht besonders schätze und ihre Befehle nicht gern ausführe.«

»Wenn Helena Charitas nicht sehen wollte,« sagte Menelaos, »so trifft dich sicherlich kein Vorwurf. Aber weshalb wollte Helena sie nicht sehen – gab sie dir einen Grund an?«

»Ja,« sagte Eteoneus, »sie sagte, sie könne es nicht ertragen, mit neugierigen Nachbarn über den Tod deines Bruders zu sprechen und über die Rolle, die ihre Schwester dabei gespielt hat, und sie wäre sicher, Charitas würde sofort angelaufen kommen, sobald sich das Gerücht verbreitete.«

»Hm,« sagte Menelaos, »diese Zurückhaltung macht ihr Ehre. Sie scheint Charitas zu kennen.«

»Sie kennt ihr Geschlecht. Ich glaube übrigens, daß sie Charitas auch sonst nicht empfangen würde«, sagte Eteoneus. »Meiner Ansicht nach betrachtete sie den Mord als die beste Entschuldigung, die sie je gehabt hat, um Charitas fernzuhalten. Sie hat mir vorher dieselben Weisungen gegeben, mit anderer Begründung. Dies ist bei weitem die beste.«

»Was mag nur zwischen ihnen vorgefallen sein?« sagte Menelaos. »Sie waren sonst Freundinnen, und Charitas ist eine Frau, wie ich sie Helena zum Verkehr wünsche, sehr gesetzt und vernünftig und durchaus zuverlässig.«

»Sie hat mir nie ihre Meinung über Charitas gesagt,« sagte der Torhüter, »aber ich glaube kaum, daß sie sie für vernünftig oder zuverlässig hält.«

»Wofür hält sie sie denn?«

»Sie sagte einmal, Charitas sei ehrbar.«

»Nun also!« sagte Menelaos.

»Das sollte kein Kompliment sein«, sagte Eteoneus. »Sie meinte, Charitas hafte am Hergebrachten.«

»Das ist heutzutage schon Kompliment genug«, sagte Menelaos. »Was in aller Welt will denn diese Frau?«

»Welche?«

»Meine.«

»Nun, das ungefähr fragte ich dich, als du heimkamst,« sagte Eteoneus, »und du warst über mich erzürnt. Wenn du mir jetzt sagen willst –«

»Wir sind von unserm Thema abgekommen«, sagte Menelaos. »Du hast auf die erste Anklage geantwortet. Wie ist es mit den sarkastischen Bemerkungen?«

»Die habe ich gemacht«, sagte Eteoneus. »Die Frau wollte nicht weggehen. Sie wollte die Skandalgeschichte auf jeden Fall erfahren, und wenn ihr sonst niemand Rede stand, dann von mir. Ich verabschiedete sie mehrmals, in verschiedener, ganz höflicher Form, aber sie saß fest wie ein Blutegel, und bei meinem Bestreben, nichts zu sagen, und in meinem Ärger darüber, daß sie mich ausfragte, habe ich wohl etwas scharf geantwortet.«

»Erinnerst du dich vielleicht an irgend etwas, was du gesagt hast?«

»Ich weiß nicht recht. Ich gebe zu, daß ich bissig war … Ach ja, sie wollte wissen, ob nicht Agamemnon Klytemnestra angegriffen und Klytemnestra ihn aus Notwehr getötet hätte. Ich sagte ihr, glaube ich, ich würde Helena die Frage übermitteln, wenn sie nach Hause käme; sie würde wissen, ob der Mann ihrer Schwester diese zu töten versuchte und es ihm mißlang, oder ob die Frau ihren Mann aus eigenem Antrieb tötete. Oder so etwas. Ich weiß noch, daß Charitas sehr geärgert aussah.«

»Das klingt allerdings impertinent, und ich bin sicher, du hast es in Wirklichkeit noch schärfer gesagt.«

»Menelaos, würdest du es richtiger finden, wenn ich mit den Nachbarn über dich und deine Verwandten klatschte? Was ich über Klytemnestra denke und was ich über deine Frau denke, ist meine private Meinung – ich glaubte, wir seien uns darüber einig; über diese Dinge mit Charitas zu sprechen, gehört auf jeden Fall nicht zu meinem Dienst. Sie wollte klatschen, ich konnte sie nicht loswerden. Natürlich befriedigten meine diplomatischen Antworten sie nicht. Ich hätte ihr Mißfallen nur dadurch vermeiden können, daß ich ihr alles erzählte. Ich hoffe, du sagtest ihrem Mann, daß es nicht Sache seiner Frau sei, deine Dienstboten über deine Angelegenheiten auszufragen? Ich bin geneigt zu glauben, daß Helena sich noch schonend ausdrückte, als sie sie ehrbar nannte!«

»Gehen wir zu der dritten Anklage über«, sagte Menelaos. »Ich möchte die Sache erledigen – ich habe noch über anderes mit dir zu sprechen. Nanntest du sie die erbärmlichste Frau, die dir begegnet ist?«

»Ich halte sie allerdings dafür,« sagte Eteoneus, »aber ich ließ ihr einen Ausweg. Sie sagte, sie wolle ihren Jungen fortschicken, damit er nicht durch die schlechten Sitten dieses Hauses angesteckt würde, und ich antwortete, wenn sie ihn jetzt von Adraste trennte, so wäre sie die erbärmlichste Frau, die ich je gesehen, und ich fügte hinzu, daß ich allerlei Erfahrung in dieser Richtung gemacht hätte.«

»Aber was redet sie denn von Fortschicken und von meinem Hause? Er wohnt doch nicht hier!«

»Und ob! Dies ist sein Standquartier.«

»Du meinst, er ist hier im Hause?«

»Jede Minute, die er hier sein kann«, sagte Eteoneus. »Helena sagte mir, ich sollte ihn nicht einlassen, aber der läßt sich nicht fernhalten, und wenn wir eine fünfzig Fuß hohe Mauer um das Haus errichteten.«

»Dies ist die verzwickteste Geschichte, die mir je vorgekommen ist. Mein Haus scheint im Belagerungszustande zu sein und unser einziges Bestreben, die Familie Charitas abzuwehren. Warum wollte Helena den Jungen fernhalten?«

»Wegen Adraste natürlich.«

»Was in aller Welt meinst du? … Oh, jetzt erinnere ich mich! … Helena fürchtete, daß das Mädchen sich in ihn verlieben könnte.«

»Die Gefahr bestand«, sagte Eteoneus.

»Und du meinst, die Gefahr ist nun vorüber«, sagte Menelaos.

»Du meine Güte, nein!« sagte der Torhüter; »es ist geschehen – sie trägt ein Kind von ihm.«

»Barmherzige Götter!« rief Menelaos, »in meinem Haus? ein Kind? Das ist stark! … Gibt es denn noch eine Seele hier im Hause, die nicht eine Schande für die Gesellschaft ist? Ich nenne das geradezu –! Konnte Helena es nicht hindern?«

»Sie wollte es, daher versuchte sie den Jungen fernzuhalten,« sagte Eteoneus, »aber du weißt, wie es ist, Menelaos, wenn zwei junge Leute verliebt sind. Du bist auch einst jung gewesen.«

»Niemals!« sagte Menelaos, »niemals in diesem Sinne. Ich verstehe diesen Standpunkt nicht, obwohl ich Leute kenne, die ihn haben. Wenn so etwas recht ist, was ist dann überhaupt unrecht?«

»Nun, wenn sie verheiratet wären und die Frau mit einem andern durchginge, das würde ich unrecht nennen«, sagte Eteoneus. »Und wenn der Mann ihr verziehe und sie wieder zu sich nähme, oder sie zu sich nähme, ohne ihr zu verzeihen, das würde ich unrecht nennen, oder wenigstens einen schweren Fehler. Aber diese beiden jungen Leute lieben sich, und sonst hat keins von ihnen viel Bedeutung. Ich hatte Sorge wegen Orest und Hermione, daß sie es ebenso machen würden; ja, ich muß sagen, eigentlich habe ich keine hohe Meinung von Orest, daß er meine Befürchtungen nicht gerechtfertigt hat. Bei einem so hochstehenden Mädchen wie Hermione, für die du mir obendrein die Verantwortung übergeben hattest, wäre es eine ernste Sache gewesen; aber ich möchte wissen, was es schadet, wenn diese beiden das Natürliche getan haben? Helena ist es nicht recht, weil sie findet, Damastor ist nicht gut genug für das Mädchen. Charitas ist böse, weil sie findet, das Mädchen ist nicht gut genug für Damastor. Ich bin geneigt, von den beiden eher Helena recht zu geben, aber tatsächlich haben sie beide unrecht.«

»Und das Mädchen soll ein Kind bekommen – in meinem Hause!«

»Ja, und Charitas schickt ihren Jungen fort, so daß er das Mädchen nicht heiraten und auch das Kind nicht ab und zu sehen kann«, sagte Eteoneus. »Das ist in meinen Augen eine ungerechtfertigte Erbärmlichkeit.«

»Ich muß sehen, was sich dabei tun läßt«, sagte Menelaos.

»Man kann jetzt nichts weiter tun als abwarten«, sagte Eteoneus.

»O doch kann man etwas tun!« sagte Menelaos. »Das Kind kann anderswo geboren werden. Mein Haus hat einstweilen Skandalgeschichten genug erlebt, und ich will um keinen Preis, daß meine Tochter mit solchen Dingen in Berührung kommt. Aber wir sind noch nicht fertig, Eteoneus. Es ist noch von anderer Seite über dich geklagt worden, und deine freien Ansichten in bezug auf Adraste stimmen nur zu gut damit zusammen. Du hattest unlängst ein Gespräch mit Hermione. Ich kann nicht glauben, daß du die Dinge gesagt hast, die sie mir erzählte, und doch glaube ich dem, was sie sagt, unbedingt. Über sexuelle Fragen nun gar hast du mit ihr gesprochen! Du hast ihr von der Zügellosigkeit der Männer den Frauen gegenüber erzählt und wie die Frauen sich dabei verhalten; und um zu beweisen, daß du dich auf diese Dinge verstehst, hast du ihr von deinen eigenen Ausschweifungen in deiner Jugend erzählt. Hermione sagt, sie hätte nie so sittenlose Reden gehört, und sie war aufs tiefste empört darüber.«

»Ich erzählte ihr, wie wir die Frauen im Kriege zu behandeln pflegten,« sagte Eteoneus, »und ich deutete sehr zart an, daß die Frauen es eigentlich ganz gern mochten. Ich habe kein einziges unzartes Wort gesagt, und keine einzige Silbe, die nicht wahr ist.«

»Aber man erzählt heutzutage jungen Mädchen derlei Wahrheiten nicht, Eteoneus. Hermiones Leben ist bisher wohlbehütet gewesen, und ich möchte, daß ihr ihre jugendliche Unschuld so lange wie möglich erhalten bliebe.«

»Aber ich bitte dich, Menelaos, das ist etwas stark! Sagte ich dir nicht, als du heimkehrtest, daß Hermione voll von neuen Ideen sei, und tatest du nicht so, als ob du selbst neuen Ideen zugänglich wärest? Damals war die letzte Möglichkeit Hermiones Leben zu behüten, und wahrscheinlich war es da schon zu spät. Deine Vorstellung von ihrer Mentalität ist um eine Generation hinter der Zeit zurück. Ich bin in der rauhen Zeit aufgewachsen, an die du dich noch gut erinnern kannst. Du denkst, Hermione gehöre zu der darauffolgenden Periode, wo der Storch die Kinder brachte. Das ist nicht der Fall. Ihre Generation nähert sich schon wieder der Rauheit, in der Art, wie sie denkt und handelt, und sie tut das aus einem gewissen Pflichtgefühl. Es ist nichts Gesundes, und ich mag es nicht. Ein gesunder Mensch weiß, wozu das Geschlecht da ist; es ist kein Gegenstand für Meditation. Weißt du, wie ich dazu kam, mit deiner wohlbehüteten Tochter über diese Dinge zu sprechen? Sie brachte das Gespräch selbst darauf, indem sie von Pyrrhus anfing – sie sagte, er sei gegen Frauen ein roher Mensch, und sie wollte es damit beweisen, daß er mit Andromache lebt. Du siehst, sie hatte Interesse genug dafür, um das ausfindig zu machen. Sie war vollkommen überzeugt, daß die Männer im allgemeinen schlecht sind und die Frauen verführen. Sie hat augenscheinlich sehr viel über die Frage nachgedacht und glaubt alle die modernen Erfindungen. Woher sie auch immer diese Vorstellungen haben mag, von mir hat sie sie gewiß nicht. Ich hätte ihr viel mehr sagen können, ich bin mir nicht nur keiner unbedachten Äußerung bewußt, sondern bewundere jetzt meine Zurückhaltung. Ich sprach nur von der Brutalität, wie sie es nennt, der Männer im Kriege – wie sie zum Beispiel Ajax an Kassandra übte und wie du selbst sie damals ganz in der Ordnung fandest. Ich erwähnte nichts davon, wie die Frauen sich in Friedenszeiten betragen. Ich sagte ihr nicht, daß ein Mann von einigermaßen gefälligem Äußern, wenn er die Einladungen annähme, die er von ehrbaren Damen erhält, nicht viel Zeit für sich übrig behalten würde. Ich sagte ihr nur, daß die einzigen, die Pyrrhus' Brutalität bezeugen könnten, die davon betroffenen Frauen wären, und daß diese wahrscheinlich, wenn die menschliche Natur sich nicht verändert hätte, ihm treu ergeben wären. Das ist ungefähr alles, was ich sagte – und aus meiner Erfahrung bezeugte.«

»Das ist sehr merkwürdig«, sagte Menelaos. »Helena redete einmal in derselben Weise zu ihr, als ich zufällig dazukam. Ich möchte wissen, ob meine Frau dem Kinde diese Ideen in den Kopf gesetzt hat!«

»Ich glaube nicht, daß deine Frau ihr sagen würde, Pyrrhus sei ein roher Mensch«, sagte Eteoneus. »Wenn sie ihr das sagte, was ich dir soeben gesagt habe, so ist sie die erste Frau, die es fertig bringt, in diesem Punkt ehrlich zu sein. Aber Hermione und ich sprachen, wie ich dir schon sagte, vor deiner Heimkehr verschiedentlich über Orest, und schon damals zeigten sich bei ihr diese Ideen. Die Unschuld, in der du sie halten möchtest, gibt es heutzutage nicht mehr, Menelaos. Jetzt wollen alle alles wissen – wenigstens darüber sprechen. Übrigens würde Hermione, wenn sie nicht selbst nach dieser Richtung neigte, von Orest dahin geführt werden. Ich habe dir schon gesagt, daß er einen schlechten Einfluß auf sie hat.«

»Ich finde, du bist nicht konsequent«, sagte Menelaos. »Wenn es für dich richtig ist, mit einem jungen Mädchen freimütig über solche Dinge zu reden, warum ist es dann nicht auch ganz in der Ordnung, wenn Orest es tut? Du müßtest Orest gern haben; er ist ein Mann nach deinem Herzen.«

»Ich mag ihn gar nicht«, sagte Eteoneus. »Wenn ich mit Hermione oder sonst jemandem spreche, so versuche ich das zu sagen, was ich durch Erfahrung gelernt habe. Es steckt ein Stück Leben darin. Das war es, was Hermione abstieß. Wenn ich über die Frauen spreche, weil ich mit einer ganzen Reihe von ihnen intim verkehrt habe, so findet Hermione mich böse; aber wenn Orest, der absolut keine Erfahrung auf diesem Gebiet hat, sich darüber verbreitet, so bewundert sie seine Weisheit. Humbug! Gib acht, Menelaos, Orest hat eine unreine Gesinnung und einen ganz gefährlichen Charakter. Er ist sittenstreng, ja – aber das kommt auf dasselbe hinaus. Diese Art will über alles sprechen, aber nichts wirklich davon wissen. Wenn jemand wie ein Heiliger lebt und wie ein Heiliger denkt, so nenne ich ihn einen Heiligen. Doch wenn er über Vorstellungen brütet, die nichts mit seinem Leben zu tun haben, so traue ich seinem Leben auf die Dauer nicht. Die Hauptsache ist, daß man aus einem Guß ist. Ich traue weder Orest noch Charitas, und, ich muß sagen, auch deiner Tochter nicht.«

»Wenn deine Stimme und deine Züge nicht anders wären, könnte ich denken, Helena spräche zu mir«, sagte Menelaos. »Ich hatte keine Ahnung, daß du ihre Lebensanschauungen teilst.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte Eteoneus. »Deine Frau ist durchaus nicht mein Ideal. Sie trägt die Schuld an dem meisten Unglück, das über uns gekommen ist.«

»Ob du sie nun magst, oder nicht,« sagte Menelaos, »du redest ungefähr ebenso wie sie. Sie ist durchaus für Aufrichtigkeit, und Liebesangelegenheiten machen ihr Leben aus. Auch du bist, wie es scheint, für Aufrichtigkeit und hast mit der Enthüllung deiner Liebeserlebnisse meine Tochter gequält. Ich sehe jetzt, worauf Aufrichtigkeit schließlich hinausläuft.«

»Von mir will ich das gelten lassen,« sagte Eteoneus, »aber deine Frau verstehst du nicht. Es tut mir leid, aber sie ist dir zu schlau. Wie sie dich davon abhielt, Orest zu Hilfe zu kommen, das war einer der feinsten Tricks, die ich gesehen habe. Ein paar Anspielungen auf Klytemnestra, und wie peinlich die Ordnung der Heiratsangelegenheit sein würde, wenn du an der Hinrichtung ihres Geliebten beteiligt wärst, und du gabst wahrhaftig die Absicht auf, deinen Bruder zu rächen! Dann ein paar Andeutungen über die Anwesenheit der Mörderin deines Bruders bei der Hochzeit deiner Tochter, und du warst sofort gegen die Hochzeit entschieden. Diese Frau erreicht alles, was sie will. Sie wird dich zeitlebens um den Finger wickeln. Was ich am schlimmsten finde, ist ihre Art, die Leute ins Unrecht zu setzen. Die meisten Frauen verstehen sich darauf, aber bei ihr ist es eine Kunst. Ich kann mir denken, daß sie Priamos das Gefühl gab, sie hätte ein großes persönliches Opfer gebracht, indem sie nach Troja kam, und die Stadt sei ihr zu Dank verpflichtet. Zu mir sagt sie nichts – ich glaube, sie weiß, daß ich sie nicht mag; aber wenn sie mich mit dem ihr eigenen Blick ansieht, so habe ich das Gefühl, daß sie bereit ist, mir zu verzeihen, sobald ich sie darum bitte.«

»Dir was zu verzeihen?« fragte Menelaos.

»Das ist es eben! Was?« sagte Eteoneus. »Ich bin mir keines Unrechts bewußt. Aber das ist die Haltung deiner Frau. Wir andern sind immer im Unrecht, gleichviel, auf welchem Standpunkt wir stehen. Sie ist empört über Klytemnestra, die sich von der Konvention freimachte, und sie macht Charitas zum Vorwurf, daß sie am Konventionellen haftet.«

»Ja,« sagte Menelaos, »und sie lehnt Orest ab wegen seiner Familie, und dabei hat sie die ganze Zeit diese Adraste um sich, die ihr nur Schande gemacht hat.«

»Ich muß gestehen, daß ich in den beiden letzten Punkten mit Helena übereinstimme«, sagte Eteoneus. »Ich habe auch nichts für Orest übrig, und ich finde, daß Adraste ein famoses Mädchen ist; du kannst lange suchen, bis du einem so prächtigen Mädchen begegnest.«

»Ich habe wenig Aussicht ihr zu begegnen«, sagte Menelaos. »Ich habe sie im Hause gesehen, aber ich gebe nie acht auf die weiblichen Dienstboten. Jetzt werde ich sie fortschicken und mein Haus, so gut ich kann, vor diesem neuesten Skandal schützen. Wohin schicke ich sie am besten, Eteoneus?«

»Ich würde es Helena überlassen«, sagte Eteoneus; »sie wird es am besten wissen.«

»Aber Helena wird sie nicht gehen lassen wollen«, sagte Menelaos. »Es würde ihr gerade ähnlich sehen, wenn sie das Mädchen behielte und die Rolle der Heldin spielen ließe!«

»Höchst wahrscheinlich«, sagte Eteoneus. »In meiner Jugend faßten die Männer die Frauen energisch an, besonders ihre eigenen Frauen; sie sagten ihnen einfach, was sie tun und lassen sollten, und wenn sie ungehorsam waren, bekamen sie Prügel. Wenn Hermione einverstanden ist, könntest du ja diese Methode bei Helena versuchen. Ich würde dir nicht raten, ohne Erlaubnis deiner Frau irgend etwas in Adrastes Angelegenheit zu tun, es sei denn, daß du wirklich entschlossen wärest, jene altmodische Beweisführungsmethode wieder in Anwendung zu bringen.«

»Ich werde mit Helena sprechen, und ich werde das Mädchen fortschicken«, sagte Menelaos. »Ich danke dir für deinen Eifer, Eteoneus, aber noch kann ich mein Haus allein regieren. Ich brauche deinen Rat nicht, wie ich mit meiner Frau fertig werden soll. Du wirst sehen, Adraste geht.«

»Ich glaube kaum, daß du mich überhaupt noch brauchst«, sagte Eteoneus. »Ich möchte fort, sobald du einen andern Torhüter finden kannst.«

»Ist das dein Ernst?« fragte Menelaos.

»Allerdings.«

»Ich kann dich nicht fortlassen, ehe nicht diese Sache mit Orest erledigt ist«, sagte Menelaos. »Fasse keine übereilten Entschlüsse! Ich werde Charitas' Mann sagen, daß du dich in befriedigender Weise entschuldigt hättest, und werde für deine Höflichkeit für die Zukunft einstehen. Ich werde dafür sorgen, daß Hermione keine Privatunterredungen mit dir hat. Wenn Orest zurückkehrt, kannst du mir deinen endgültigen Entschluß über das Torhüten sagen. Ich würde mich freuen, wenn du bliebest. Unsre gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten würden mir sehr fehlen – ich bin seit so vielen Jahren daran gewöhnt. Du bist jetzt fast der einzige Mensch, mit dem ich – nun, lassen wir das!«

 

2

Menelaos sah verhärmt aus. Ob es nun die sich häufenden Familienkatastrophen waren, oder weil er jetzt seine Macht erweisen mußte, Helena zu seinem Willen zwingen zu können, was auch der Grund war, er sah abgehärmt und plötzlich gealtert aus. Er ging ein paarmal auf und ab, ohne Vertrauen zu gewinnen. Helena schien auf etwas gefaßt zu sein. Sie hatte eine undefinierbare Miene, als ob sie sich innerlich amüsierte; sie hatte nie besser ausgesehen.

»Ich möchte über zwei Sachen mit dir reden«, sagte er. »Die eine wird dir, glaube ich, angenehm sein. Pyrrhus nimmt deine Einladung an.«

»Deine Einladung«, sagte Helena.

»Nun gut, er nimmt die Einladung an und wird in kurzem hier sein. Er ist wahrscheinlich schon unterwegs. Ich hoffe, du bist zufrieden?«

»Worüber?«

»Du hast ja nun deinen Willen bekommen, nicht wahr? Dies ist gerade der rechte Augenblick, ihn zu unterhalten, wo bei uns alles so – aus dem Gleichgewicht ist!«

»Er könnte zu keiner ungelegeneren Zeit kommen«, sagte Helena.

Menelaos ging wieder auf und ab. Dazwischen blieb er vor Helena stehen, als wollte er ihr seine Meinung sagen, aber dann überlegte er sich's und ging weiter. Er tat Helena etwas leid.

»Menelaos, du weißt, daß du Pyrrhus aus eigenem Antriebe eingeladen hast – ja, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch. Ich machte zwar zuerst den Vorschlag, ihn einzuladen, und hegte sogar die Hoffnung, Hermione und er würden sich füreinander interessieren. Als du dagegen warst, begnügte ich mich mit dem Wunsch, daß Hermione ihn wenigstens sehen sollte, wenn sie auch Orest wählte. Doch als ich einsah, wie unmöglich es sein würde, ihn gastlich zu empfangen, bat ich dich, den Besuch aufzuschieben. Du wolltest nicht auf mich hören, und nun ist es dir leid, daß er kommt. Aber ich werde mein Bestes tun, ihn zu unterhalten, und er wird wahrscheinlich nicht lange bleiben.«

»Im Gegenteil,« sagte Menelaos, »wenn du dein Bestes tust, ihn zu unterhalten, wird er wahrscheinlich überhaupt nicht wieder fortgehen. Das ist es ja, was ich die ganze Zeit fürchtete. Ich denke, es ist besser, du bleibst soviel wie möglich im Hintergrunde, und vielleicht Hermione ebenfalls. Ich werde schon für seine Unterhaltung sorgen, Je mehr ich von den heutigen jungen Männern weiß, desto weniger liegt mir daran, meine Tochter in ihrer Gesellschaft zu sehn. Ich werde ihn unterhalten und werde dafür sorgen, daß er bald wieder abreist. Die eben erst vorgefallene Tragödie, in der deine Schwester eine Rolle spielte, gibt dir einen Vorwand, dich abzuschließen.«

Helena sah ihn lächelnd an, und er setzte seine Wanderung fort.

»Mir ja, aber warum Hermione? Sie hat schon allzu abgeschlossen gelebt. Der Zweck dieses Besuches war einzig und allein, ihr eine andere Vorstellung von der Welt zu geben, ihre Lebenskenntnis über diesen kleinen Kreis hinaus zu erweitern. Ich hege das volle Vertrauen, daß du sie auch in meiner Abwesenheit vor jeder Gefahr schützen kannst, die etwa darin liegen könnte, wenn sie sich ein paarmal mit Pyrrhus unterhält.«

»Das ist schon richtig,« sagte Menelaos, »aber ich sehe eventuelle Mißlichkeiten voraus. Wenn Hermione sich jetzt etwa in ihn verliebte, so könnte Orest glauben, ich hätte Pyrrhus zu diesem Zweck kommen lassen.«

»Du kannst mir gern die Schuld geben«, sagte Helena.

»Aber Orest wird auf jeden Fall zornig, wenn ich ihm sage, daß er Hermione nicht heiraten kann,« sagte Menelaos, »und ich möchte den Streit auf hohem Niveau halten, ihn nur als Prinzipienfrage behandeln. Meine Tochter kann nicht den Sohn einer Frau heiraten, die ihren Mann getötet hat. Wenn Orest hört, daß ich Hermione mit Pyrrhus verheiraten will, so wird er denken, mein Grund gegen ihn sei nur ein Vorwand, um die Verlobung zu lösen und einen berühmteren Schwiegersohn zu bekommen.«

»Ich weiß nicht, weshalb du dich darum sorgen mußt, was Orest denken könnte«, sagte Helena. »Schließlich gehört doch Hermione ihm nicht. Er hat nichts getan, um seine Ansprüche auf ihre Hand zu rechtfertigen, wenn er sie wirklich heiraten will. Hast du daran gedacht? Hermione will ihn, aber wir beide haben keinen Grund anzunehmen, daß er ebenso gesinnt ist. Behandle Pyrrhus so, wie du es tun würdest, wenn Orest gar nicht existierte; dann handelst du, wie es die Höflichkeit und auch die Selbstachtung fordert.«

»Ich wollte, ich hätte Pyrrhus nicht eingeladen!« sagte Menelaos. »Glaubst du, daß es jetzt zu spät ist, den Besuch aufzuschieben?«

»Kann der Bote ihn erreichen, bevor er aufbricht – oder kurz darauf?« fragte Helena. »Man kann ihn natürlich nicht erst an der Tür umkehren lassen. Wenn du ihm Nachricht schicken könntest, daß dein Bruder tot ist und daß meine Schwester ihn getötet hat, so wird Pyrrhus keinesfalls gern kommen wollen und froh sein, wenn er hört, daß wir ihn augenblicklich nicht bei uns haben können.«

»Das will ich tun«, sagte Menelaos. »Ich habe seinen Besuch nie gewünscht, und es ist noch nicht zu spät, wenn der Bote sich beeilt … Noch eins, Helena. Ich höre, daß eines von deinen Mädchen hier im Hause sich schlecht aufgeführt hat.«

»Keine, soviel ich weiß«, sagte Helena.

»Ja, wie heißt sie doch – Adraste – hat Unglück gehabt.«

»Wenn du das sich schlecht aufführen nennst«, sagte Helena. »Unglück ist das passendere Wort. Ein sehr angesehener junger Mann aus der Nachbarschaft hat ihr den Hof gemacht.«

»Damastor, nicht wahr? Du erzähltest mir vor einiger Zeit schon davon.«

»Ja,« sagte Helena, »Damastor ist es.«

»Ich habe ihn immer für einen sehr anständigen jungen Menschen gehalten und nie geglaubt, daß er etwas Unehrenhaftes tun würde.«

»Das würde er auch nicht geradezu, aber er hat ein gut Teil von dem, was man negative Schlechtigkeit nennen könnte. Er machte, wie gesagt, Adraste den Hof, redete ihr ein, sie seien füreinander bestimmt, schwur ihr ewige Treue und versprach ihr, sie zu heiraten. Die alte Geschichte. Er meinte alles ehrlich; er ist kein schlechter Junge. Aber seine Mutter hat ihn in Sicherheit gebracht, wie sie es nennt, und er hat sich fortschicken lassen. Kurz und gut, Adraste ist verlassen worden.«

»Willst du sagen, daß sie mit ihm gelebt hat?«

»Sie wird sehr bald ein Kind von ihm bekommen. Ich versuche, ihr, so gut ich kann, Mut zuzusprechen. Sie ist selbst fast noch ein Kind; ich wollte, diese frühe grausame Erfahrung wäre ihre erspart geblieben.«

»Ich wollte, sie hätte diesen Jungen in Ruh gelassen!« sagte Menelaos. »Wußtest du denn nicht, daß dieser Skandal im Gange war?«

»Dieser was?« fragte Helena.

»Skandal!« sagte Menelaos. »Das Wort ist dir vertraut, denke ich. Ein Weibsbild, das in meinem Hause dient, gibt sich mit dem jungen Sohn meines alten Freundes und Nachbarn ab! Wir haben ohnedies Skandal genug; mehr hält mein Ruf nicht aus!«

Er fing wieder an auf und ab zu wandern, und Helena sah an ihm vorbei in den Garten hinaus, als ob er nicht da wäre.

»Du fragtest mich, ob ich gewußt hätte, was vorging«, begann sie. »Ich wußte, daß sie ineinander verliebt waren, und, wie ich dir damals schon sagte, ich fürchtete, daß es schlimm enden würde. Ich riet Adraste, ihr Herz nicht an Damastor zu verlieren, wenn sie anders könnte. Sie konnte nicht anders. Der Junge wäre nicht fortgelaufen, wenn seine Mutter ihn nicht dazu gezwungen hätte. In meinen Augen ist Charitas die, die den Skandal anrichtet. Wenn sie sich nicht eingemischt hätte, so hätte es eine unkluge Heirat gegeben. Dank ihrer Einmischung haben wir nun eine heimliche Liebschaft und ein illegitimes Kind.«

»Gerechter Himmel, ist denn das Kind schon da?« fragte Menelaos.

»Noch nicht«, sagte Helena.

»Dann wollen wir, bevor es zu spät ist, das Mädchen an irgendeinen Ort schicken, wo das Kind geboren werden kann, ohne daß wir in die Geschichte verwickelt werden. Nachher werde ich für ihren Unterhalt sorgen, solange sie sich hier nicht sehen lassen kann. Hast du irgendeinen Ort vorzuschlagen?«

»Nein«, sagte Helena. »Und es ist auch nicht nötig. Ich wüßte keinen bessern als hier.«

»Ich glaube, du hast mich nicht verstanden«, sagte Menelaos.

»Vielleicht habe ich das nicht«, sagte Helena. »Ich dachte, du hättest mich gefragt, ob ich irgendeinen Ort wüßte, wo das Kind geboren werden könnte, ohne daß wir in die Sache verwickelt würden. Einen solchen Ort gibt es nicht. Ich bin für Adraste verantwortlich, und sie erwartet Trost von mir, denn sie ist in Verzweiflung, daß Damastor sie verlassen hat. Anständigerweise muß ich mich gewissermaßen als Beteiligte betrachten. Und ich sollte meinen, du auch.«

»Da irrst du dich gewaltig«, sagte Menelaos. »Mich trifft keine Verantwortung in dieser Sache, und ich weiß, was ich tue, wenn ich das Mädchen aus dem Hause schaffe. Es ist nicht gut für Hermione, wenn sie derlei Vorkommnisse gewohnt wird in einem Hause, das als anständig gelten will. Sie ist ohnehin voll von allzu fortschrittlichen Ideen und sollte wenigstens einigermaßen normale Verhältnisse um sich haben.«

»Wenn Hermione jetzt Adraste sehen würde,« sagte Helena, »so würde das Beispiel des armen Mädchens sie nicht zum Laster ermutigen oder zu leichtsinnigem Betragen verlocken. Sie könnte sogar jetzt, wo Adraste so mutlos und verzweifelt ist, von ihr lernen, die Liebe überhaupt zu meiden und allen Männern zu mißtrauen.«

»Du denkst zuerst an Adraste«, sagte Menelaos. »Ich denke an Hermione. Unsre Tochter hat ein Recht auf ein ruhiges und ehrbares Heim –«

»Dann ist es nur gut, daß du es aufgabst, Orest beizustehen!« warf Helena ein.

»– ein durchaus ehrbares Heim und ein gewisses Quantum von dem, was man im allgemeinen Unschuld nennt. Es ist unrecht, einem jungen Mädchen die Häßlichkeiten des Lebens aufzudrängen; sie lernt sie noch früh genug kennen. Es tut mir leid, aber Adraste muß fort. Es ist ein Unglück.«

»Das ist es!« sagte Helena.

Menelaos blieb einen Augenblick stehen und sah sie an. »Nun,« sagte er, »es ist mir schwer geworden, mit dir darüber zu sprechen, und ich bin froh, daß du mir nicht entgegen bist.«

Helena sah ihm fest in die Augen. »Wie könnte ich dir in irgend etwas entgegen sein,« sagte sie, »was großmütig und gerecht ist? Ich nehme an, daß Adraste bleibt.«

»Ich habe dir soeben mit aller Entschiedenheit gesagt, daß sie nicht bleibt!«

»Ich bin sicher, du wirst dich anders besinnen«, sagte Helena. »Ich habe volles Vertrauen zu dir.«

»Nein,« sagte Menelaos, »bei andern Gelegenheiten habe ich dir nachgegeben, aber diesmal kann ich es nicht, ich bin fest entschlossen.«

»Bist du das?« fragte Helena.

»Ich sage dir, daß ich es bin!« sagte ihr Mann.

»Dann bist du es zweifellos«, sagte seine Frau.

»Ich bin froh, daß du es einsiehst«, sagte Menelaos. »Ich dachte mir, daß du es einsehen würdest.«

»Menelaos, das dachtest du keinen Augenblick«, sagte Helena. »Du wußtest, daß ich nie darauf eingehen würde, das Mädchen fortzuschicken. Niemals werde ich das. Adraste bleibt hier im Hause, solange ich bleibe.«

Menelaos wollte seinen Augen nicht trauen; sie lachte ihn aus!

»Wenn du mich zum Zorn reizest'« sagte er, »so lasse ich das Mädchen mit Gewalt auf die Straße werfen.«

»Ich will dich nicht zum Zorn reizen,« sagte sie, »aber ich bezweifle, daß du irgend jemanden findest, der deine liebreichen Befehle ausführt. Die Leute sind alle ziemlich gutmütig, und Adraste ist außerordentlich beliebt bei ihnen.«

»Du hast die Wahl«, sagte Menelaos. »Entweder hilfst du mir, das Mädchen irgendwohin zu schicken, oder ich lasse sie aus dem Hause werfen.«

»Das tu nur!« sagte Helena. »Ich nehme deine Herausforderung an! Deine Leute werden das Mädchen mit keinem Finger anrühren. Versuch' nur einmal, den Befehl zu geben! Sie werden glauben, daß du verrückt geworden bist, und ich werde ihnen in aller Aufrichtigkeit sagen, daß ich es auch glaube. Das wird aber einen Auflauf geben! Und du wolltest jeden weiteren Skandal vermeiden! Es würde dir gerade recht geschehen, wenn Pyrrhus in dem Augenblick ankäme, wo der heldenhafte Menelaos ein krankes und hilfloses Mädchen, das im Begriff ist Mutter zu werden, auf die Straße wirft! Du könntest es ihm nachher erklären, o ja! du könntest sagen, es sei ein etwas verspätetes Reinmachen. Die Dienstboten, könntest du sagen, fingen an, sich ebenso schlecht aufzuführen wie ihre Herrschaft, und da du deine Familie nicht bessern könntest, hättest du dich entschlossen, die Dienstboten hinauszusetzen. Ich wollte, Achill könnte das hören!«

»Sehr witzig,« sagte Menelaos, »aber du bringst mich nicht davon ab. Adraste kann in aller Stille das Haus verlassen; aber wenn sie darauf besteht zu bleiben, wo sie nicht gewünscht wird, so lasse ich sie hinauswerfen!«

Er wartete, daß Helena etwas sagen sollte, aber sie sagte nichts. Sie sah vollkommen ruhig und zufrieden aus.

»Du weißt, du kannst mich nicht hindern, wenn ich entschlossen bin.«

»Wenn ich dich hindern wollte,« sagte sie, »so würde ich einfach die Männer heißen, es nicht zu tun. Ich würde ihnen deine augenblickliche Geistesgestörtheit erklären. Ich würde sie daran erinnern, daß du selbst im normalen Zustande wenig Achtung für Sitte und Herkommen hast – wie damals, als du die Opfer in Troja einstelltest. Die Männer reden noch von jenem Aufenthalt auf der Insel und in Ägypten. Aber ich würde nicht versuchen, diese Tollheit zu verhindern, wenn du dazu entschlossen wärest; du bist dein eigener Herr und mußt wissen, was du tust.«

»Nun laß uns einmal vernünftig miteinander reden, Helena«, sagte Menelaos. »Was willst du mit Adraste machen, wenn sie bleibt? Sie kann dir unmöglich von irgendwelchem Nutzen sein, solange sie ihr kleines Kind zu versorgen hat, und was für eine Zukunft hat sie, wenn das Kind aufwächst?«

»Sie wird mir immer eine Gefährtin sein – ich finde nicht leicht eine bessere, und ich habe Kinder gern«, sagte Helena. »Sie wird wie eine Tochter im Hause sein, wenn Hermione heiratet und uns verläßt.«

»Hermione wird nicht so bald heiraten«, sagte Menelaos. »Sie will Pyrrhus nicht, und ich will Orest nicht.«

»Aber Hermione will ihn, glaube ich«, sagte Helena. »Sie wird Orest heiraten. Wußtest du das nicht?«

»Ich wußte es nicht und weiß es auch jetzt nicht«, sagte Menelaos.

»Nun, es ist aber Tatsache,« sagte Helena, »und du tätest gut, dich darein zu finden. Ich wünsche es ebensowenig wie du, aber wir können es nicht hindern. Ich merkte es, als ich mit ihr sprach. Daher gab ich die Sache mit Pyrrhus auf. Du warst mir entgegen, aber du mußtest es mit der Zeit einsehen. Hermiones Gemütszustand machte die Sache unmöglich.«

»Sie soll Orest nicht heiraten! Ich habe es verboten!«

»Du hast alles getan, was du konntest,« sagte Helena, »und sie wird jetzt tun, was sie will. Mach' dir keine Sorgen wegen der Verhandlungen mit Klytemnestra; ich bin sicher, Hermione wird uns eines Tages sagen, daß sie schon verheiratet sind – oder sie wird mir ankündigen, daß ich Großmutter werde. Ich werde nicht von dir verlangen, daß du sie aus dem Hause wirfst.«

»Helena, ich möchte dir auf halbem Wege entgegenkommen«, sagte Menelaos. »Du hattest recht in bezug auf Orest, als ich noch für ihn war. Ich will dir helfen, seine Heirat mit Hermione zu verhindern, wenn du mir hilfst, Adraste irgendwo unterzubringen, so daß wir nicht ins Gerede kommen. Unsere Nachbarin Charitas, zum Beispiel –«

»In diesem Fall wird Charitas schon schweigen«, sagte Helena. »Du vergißt, daß sie den durchgegangenen Vater zu verbergen hat. Hermione gegenüber sind wir machtlos. Aber wenn wir es auch nicht wären, so lasse ich doch Adraste nicht im Stich. Es ist für mich Ehrensache. Ich habe das Mädchen lieb, und sie ist in Not. Und findest du nicht schließlich auch, Menelaos, daß es zu spät ist? Du bist von Natur gutmütig und friedliebend, und du hast dich schon in zu vieles finden müssen, um in dieser armseligen kleinen Tragödie einen unerhörten Skandal zu sehen. Du hast mich wieder zu dir genommen, und du hast nichts getan, um den Tod deines Bruders zu rächen. Ich klage dich deswegen natürlich nicht an, aber zu diesen Beweisen der Großmut paßt es schlecht, wenn du nun plötzlich gerechten Unwillen über Adraste und ihr Kind aufbringst. Nun kannst du zwar, wenn du nicht meinst, daß es zu spät ist, deinen Charakter ändern, ganz energisch werden und uns mit dem Stock regieren. Wirf Adraste hinaus, schließ mich ein, wenn Pyrrhus kommt, sorge dafür, daß Hermione Orest nicht heiratet! Du hattest noch andere Strafen in Bereitschaft, wenn wir dir nicht gehorchen, nicht wahr? Rücke nur mit allen heraus, Menelaos, denn wenn du gegen Adraste grausam bist, so werde ich deine unversöhnliche Feindin. Meine Familie hat Talent zum Haß – obwohl ich es bisher nie gepflegt habe.«

»Ich glaube schon, daß du mit Klytemnestra wetteifern könntest, wenn du wolltest«, sagte Menelaos.

»Mein lieber Mann, wenn ich wollte, könnte ich sie übertreffen! Klytemnestra handelte unnötig roh und niedrig. Aber ich werde nicht deine Feindin, wenn du mich nicht dazu zwingst – und nur aus Prinzip, nicht um eines Liebhabers willen. Ich möchte den Streit auf hohem Niveau halten.«

»Ich hoffe, daß ich mir dieses Unterschiedes bewußt sein werde, wenn du das Messer in mich hineinstößt«, sagte Menelaos. »Inzwischen lasse ich es darauf ankommen. Adraste soll fort, das steht fest. Du und ich werden Todfeinde, das steht auch fest. Möchtest du mir noch eben sagen, wie der Krieg zwischen uns anfangen soll?«

»Es gibt verschiedene Möglichkeiten«, sagte Helena, »Du könntest mich töten, indem du damit nur das in Troja Versäumte nachholtest. Das wäre eigentlich sehr passend: eine Abrechnung zwischen Agamemnons Bruder und Klytemnestras Schwester! Oder du führst deine Drohung aus und befiehlst deinen Leuten, Adraste auf die Straße zu setzen. Wenn sie dir nicht gehorchen, trägst du sie selbst hinaus. Ich rate dir zu dem ersten Verfahren.«

»Und ich nehme an, daß du in deiner gegenwärtigen resignierten Stimmung den verhängnisvollen Hieb ruhig abwartest.«

»Ja,« sagte Helena, »wenn Pyrrhus nicht vorher eintrifft.«

»Aha, so herum! Was wird er denn für dich tun?«

»Ich glaube, das hängt davon ab, um was ich ihn bitte, und das hängt natürlich wiederum davon ab, was du zu tun beschließt … Ach, Menelaos, wozu dies unnütze Geplänkel? Ich weiß ja ganz gut, daß du Adraste nichts zuleide tun wirst, und ich verstehe auch, wie peinlich dir ihre Lage ist. Es tut mir wirklich leid! Wenn ich mich überhaupt über solche Dinge aufregte, so würde für mich die Sache noch peinlicher sein, denn die Leute werden natürlich sagen, daß mein schlechtes Beispiel sie verführt hat. Wie die Dinge sich gefügt haben, tut es mir leid, daß ich dich bat, Pyrrhus einzuladen; du ludest ihn ein, weil ich es wünschte, und ich gebe jetzt zu, daß es verkehrt von mir war. Aber findest du nicht, daß alle diese Dinge belanglos sind im Vergleich zu dem, was wir beide auf dem Herzen haben? Wenn ich an meine Schwester denke, an unsre Kindheit, an das, was sie getan hat, so erscheint mir Adrastes Schicksal noch lange nicht allzu tragisch. Niedrigkeit und Verrat sind das eigentlich Tragische, nicht wahr? Und wenn man den richtigen Blick für das Leben verliert. Laß uns Freunde sein, lieber Mann! Warum wollen wir uns nicht gern daran erinnern, daß wir einst Liebende waren?«

 

3

Ist Mutter hier?« fragte Hermione. »Oh, da bist du! Vater, es ist etwas Schreckliches geschehen, und ich möchte es dir in Mutters Gegenwart sagen. Dies Mädchen, die Adraste, bekommt ein Kind!«

»Ich weiß es«, sagte Menelaos.

»Du weißt es? Und du kannst so etwas in deinem Hause geschehen lassen und so ruhig dabei bleiben? Ich machte Mutter in Gedanken Vorwürfe, während ich nach Hause eilte, – aber daß auch du die ganze Zeit darum gewußt hast!«

»Hermione, du solltest nicht so zu deinem Vater sprechen«, sagte Helena. »Es ist nicht das erstemal, daß ich deine Art und Weise tadeln muß.«

»Es gibt Schlimmeres hier im Hause als meine Art und Weise,« sagte Hermione, »und wenn auch du und Vater nicht darüber empört seid, so bin ich es. Wenn das Mädchen nach dieser Entdeckung noch hierbleiben soll, so gehe ich fort.«

»Wohin willst du gehen?« fragte Helena.

»Das weiß ich nicht – vielleicht zu Orest, wohin meine Pflicht mich ohnehin ruft. Ich kann ihm vielleicht von Nutzen sein – hier bin ich vollkommen überflüssig. Ich habe versucht, euch beide als meine Eltern zu achten und zu ehren, aber wir sind uns tatsächlich fremd, und unser Verhältnis zueinander ist im Grunde unwahr. Euer Leben wird immer verwirrter, so daß es mir bald hoffnungslos erscheint, aber ihr scheint es gerade so haben zu wollen. Für mich ist es das einzig Richtige, daß ich Orest sofort heirate und nach einfachen und gesunden Grundsätzen ein neues Leben anfange, wie es andre vernünftige Menschen führen.«

»Das sind häßliche Reden, meine Tochter«, sagte Menelaos. »Ich meine nicht dein Benehmen mir gegenüber; das Schlimmste ist, daß es dir an menschlichem Mitgefühl fehlt. Deine Mutter und ich haben in letzter Zeit schweren Kummer gehabt, für den wir nicht verantwortlich sind. Glücklicherweise können wir ihn ohne deine Hilfe tragen, aber wenn du so musterhaft wärst, wie du gern sein willst, so würdest du Teilnahme für uns empfinden, statt uns zur Rede zu stellen. Adraste ist ein neuer Kummer. Ich bin nicht dafür verantwortlich, wie du gesehen hättest, wenn du eine Minute gewartet –«

»So beweise es!« sagte Hermione. »Wirf sie aus dem Hause!«

»Du meinst, Vater soll sie einfach hinauswerfen, damit sie draußen vor Hunger und Elend umkommt?« fragte Helena.

»Ja, das meine ich!« sagte Hermione.

»Ich habe immer gesagt, daß du bisweilen deiner Tante gleichst,« sagte Helena, »aber noch nie ist mir die Ähnlichkeit so stark aufgefallen.«

»Die Ähnlichkeit interessiert mich nicht, und du brauchst nicht zu versuchen, das Gespräch abzulenken«, sagte Hermione. »Diese Enthüllung der Zustände in unserm Hause hat mir den letzten Rest von Geduld geraubt. Es war arg genug, daß du mit Paris auf und davon gingst, und arg genug, daß du es nachher durchaus wahr haben wolltest, und all das Schlimme, was man von dir erzählte; indessen, der Schauplatz deiner Abenteuer war weit weg, und die Leute brauchten nicht gerade das Schlimmste zu glauben, wenn sie nicht wollten. Aber das Mädchen hat ihre Geschichte hier im Hause aufgeführt, wo man vor den Leuten nichts geheimhalten kann. Solange sie hier ist, hat sie mit Damastor geflirtet, der ein netter Junge und ganz unverdorben war, bis sie ihn verführte. Ich sehe nicht ein, warum wir unsern guten Namen hergeben sollten, um ihre gemeinen Triebe zu schützen! Ich werde meinen jedenfalls nicht dazu hergeben!«

»Hast du mit ihr gesprochen, nachdem du davon gehört hast?« fragte Helena.

»Ich werde mich hüten, vor den Augen anderer mit ihr zu sprechen!«

»So tu es heimlich. Du könntest von ihr lernen – wir alle. Du kannst dich nicht in ihre Lage versetzen, nicht wahr? Kannst dir nicht vorstellen, wie du von einem Manne, dem du vertrautest – Orest zum Beispiel – verlassen und zum Gerede der Dienstboten würdest?«

»Das kann ich mir allerdings von mir nicht vorstellen«, sagte Hermione. »Und du auch nicht!«

»Ich versuche es auch gar nicht«, sagte Helena. »Was ich dir klarmachen wollte, ist, daß Adraste, bevor ihr dies zustieß, sich ebensowenig hätte vorstellen können, daß sie in solch ein Unglück geriete. So ist das Leben, mein Kind. Die meisten von uns urteilen hart über andere, weil es ihnen an Phantasie fehlt, um sich in ihre Lage zu versetzen.«

»Hast du sie vor dieser Gefahr gewarnt, als du sie lehrtest, die Liebe zum Leben zu pflegen?« fragte Hermione.

Menelaos lachte.

»Ich warnte sie vor der Liebe zu Damastor,« sagte Helena, »ebenso wie ich dich die Liebe zum Leben zu lehren versuchte und dir riet, Orest nicht zu lieben. Ihr beide, jede in ihrer Art, glaubtet, es besser zu wissen.«

»Es ist ein Unterschied zwischen Orest und Damastor,« sagte Hermione.

»Aber kein allzu großer«, sagte ihr Vater. »Ich bin auch deiner Ansicht, daß Adraste sich an irgendeinen Ort zurückziehen sollte, wo sie nicht soviel Aufsehen erregt wie hier; ich sprach eben mit deiner Mutter davon, als du kamst. Ich erzählte ihr auch, daß Pyrrhus unsre Einladung angenommen hat und bald kommen muß. Wir denken daran, den Besuch aufzuschieben. Doch sollte er noch vorher kommen, so möchte ich, daß du ihn mit größter Höflichkeit behandelst. Du wirst nicht allzuviel von ihm zu sehen bekommen, aber er soll einen guten Eindruck von uns fortnehmen. Das heißt, wenn er überhaupt kommt.«

»Ich bin froh, daß er vielleicht nicht kommt«, sagte Hermione. »Ich habe kein Verlangen, ihn zu sehen. Eteoneus weiß ihn zu schätzen und Adraste und Mutter, aber ich habe für diesen Typ nichts übrig. Ja, ich will nichts von ihm sehen, falls er doch kommt!«

»Das wirst du doch, wenn ich es dir befehle!« sagte Menelaos.

»Befiehl es mir, bitte, nicht, Vater«, sagte Hermione. »Es wäre mir schmerzlich, dir den Gehorsam verweigern zu müssen, aber nichts könnte mich bewegen, mit diesem Mann zu sprechen. Jedes Wort würde mir wie Verrat vorkommen.«

»Verrat an wem?« fragte Helena.

»An Orest. Vater sollte Pyrrhus sagen, daß ich mit Orest verlobt bin. Pyrrhus sucht, soviel ich weiß, eine Frau, und ich bin, vom Standpunkt moralischer Verbindlichkeit gesehen, so gut wie verheiratet.«

»Das wollen wir gleich ein- für allemal ins Reine bringen«, sagte Menelaos. »Du bist noch nicht mit Orest verheiratet, nicht wahr?«

»Noch nicht«, sagte Hermione.

»Und ich will dich nicht durch die Frage verletzen, ob du wie Adraste die gesetzlichen Formalitäten außer acht gelassen hast. Gut also. Nun laß dir gesagt sein, daß wir unter den jetzt gegebenen Umständen deine Heirat mit Orest nicht für wünschenswert halten. Wir haben jeden Gedanken an diese Heirat aufgegeben. Du bist an niemanden gebunden. Und wenn du Orest heimlich triffst, ohne meine Erlaubnis, so werde ich Orest zur Verantwortung ziehen, und dich auch!«

»Menelaos,« sagte Helena, »findest du nicht, daß wir die Sache verkehrt anfangen? Wir wünschen alle beide nicht, daß Hermione Orest heiratet, aber es hat keinen Sinn, es ihr zu verbieten. Sie ist kein Kind mehr. Im Gegenteil, sie zeigt Anlagen zu einer alten Jungfer. Und wenn du drohst, so mußt du es auch ausführen.«

»Das werde ich selbstverständlich«, sagte Menelaos. »Bis jetzt bin ich zu nachsichtig gewesen, aber ich habe etwas gelernt. Du tust immer, was du willst. Wenn nun Hermione anfängt, dir in dieser Hinsicht nachzuahmen, so bleibt von einem guten Heim nicht viel übrig.«

»Ich ahme Mutter nicht nach – es ist unrecht, so etwas auch nur anzudeuten«, sagte Hermione. »Ich halte nur dem Manne, mit dem ich in aller Form verlobt bin, mein Wort. Ich bemühe mich, so gut es geht, Anstand und Schicklichkeit aufrechtzuerhalten.«

»Unsinn«, sagte Helena. »Du meinst nicht, was du sagst, oder du weißt nicht, was du sagst. Wenn du entschlossen bist, Orest zu heiraten, um Anstand und Schicklichkeit aufrechtzuhalten, so laß es lieber bleiben. Dem Mann wird es nicht um Schicklichkeit zu tun sein – was er braucht, ist Liebe.«

»Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß ich ihn liebe, aber ich muß dich daran erinnern, Mutter, daß für Orest und mich die Liebe nicht notwendig im Gegensatz zur Schicklichkeit steht. Ich versuche für das einzutreten, was ich stets hochgehalten habe. Ich bin mir immer gleich geblieben, und ich muß sagen, du auch, aber Vater nicht. Vor einigen Wochen empfand er ganz so wie ich, jetzt empfindet er wie du. Er hat durchaus das Recht, mit dir übereinzustimmen, wenn er es kann. Aber man sollte mich auch in Ruhe lassen, wenn ich bei meinem Standpunkt bleibe.«

»Meine Haltung Orest gegenüber hat sich allerdings in den letzten Wochen verändert«, sagte Menelaos, »und wenn du das nicht begreifen kannst, so tust du mir leid. Du glaubst, daß der Einfluß deiner Mutter mich bestimmte. Dein Schicklichkeitsgefühl erlaubt dir, die Tatsache zu übersehen, daß in diesen letzten Wochen Orests Mutter meinen Bruder ermordet hat. Das würde auch die freundschaftlichsten Beziehungen stören. Du hast sehr wenig Zartgefühl, Hermione, sonst würdest du nicht so darauf erpicht sein, in diese Familie hineinzuheiraten.«

»Ich habe Zartgefühl genug, um über den Mord traurig zu sein, aber –«

»Nun, ich bin dankbar, daß du wenigstens so weit gehst«, sagte Menelaos.

»Wenn du sarkastisch wirst, sage ich nichts mehr!« sagte Hermione.

»Nein, sage nichts mehr!« sagte Helena. »Es ist schon genug gesagt. Aber ich möchte dich eines fragen, über Adraste. Als du soeben hereinkamst, bemerktest du, du wärst sogleich nach Hause geeilt, nachdem du die Sache erfahren hättest. Wer erzählte dir davon?«

»Charitas«, sagte Hermione. »Sie hat nicht geklatscht, es kam ganz natürlich. Ich sprach einen Augenblick bei ihr vor, und sie mußte mir Damastors Abwesenheit erklären. Sie ist sehr erbittert über die ganze Sache. Es scheint, du nahmst Adraste eines Tages mit dahin, und sie sah den Jungen.«

»Helena,« sagte Menelaos, »du versichertest mir, Charitas würde nicht reden!«

»Ich unterschätzte ihr Schicklichkeitsgefühl«, sagte Helena. »Sie war es also, die dir jenes Charakterbild von Adraste gab! Deutete sie irgendwie an, daß Damastor vielleicht mitschuldig war?«

»Natürlich nicht!« sagte Hermione. »Man kann doch einem bloßen Knaben nicht Schuld geben, wenn er einer solchen Person in die Hände fällt. Diese Art Frauen können alles, was sie wollen, bei einem Manne erreichen.«

»Oh, das weiß ich nicht,« sagte Menelaos, »das hängt von dem Mann ab.«

»Und von der Frau«, sagte Helena. »Weiter, Hermione – was sagte sie sonst noch?«

»Sie sagt, du hättest das Ganze angerichtet. Gleich nach deiner Rückkehr besuchtest du sie –«

»Ich besuchte sie!«

»– und legtest deine sittlichen Grundsätze in dieser Beziehung offen dar. Wenn sie verstanden hätte, wie ernstlich du es meintest, sagte sie, so wäre sie wohl auf ihrer Hut gewesen. Du sagtest zu ihr, Damastor müßte sich eigentlich in das erste hübsche Mädchen, das ihm begegnete, verlieben, und du hattest Adraste bei dir, um ihn zu verführen.«

»Was soviel sagen will, als daß Adraste die erste Schönheit war, der er begegnete. Von dir abgesehen, natürlich. Bei derselben Gelegenheit sagte mir Charitas, daß Damastor sich für dich interessiere.«

»Das konnte sie dir nicht sagen, denn es war nie der Fall.«

»Nun, und was hat sie dir denn sonst noch gesagt?«

»Das ist, glaube ich, in der Hauptsache alles – sie ließ sich dann noch im einzelnen darüber aus.«

»Sie hat einiges von dem, was ich sagte, vermutlich vergessen«, sagte Helena. »Ich wies sie darauf hin, daß sie Damastor, in ihrem Bestreben, ihn ehrbar zu halten, leicht unsittlich machen könnte. Das erwähnte sie also nicht? Sehr merkwürdig! … Welchen Zweck meint sie denn, hätte ich dabei haben können, Damastor durch Adraste zu verführen?«

»Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten«, sagte Hermione.

»Beantworte sie trotzdem«, sagte ihr Vater. »Das interessiert mich.«

»Nun, sie gab eigentlich dieselbe Erklärung dafür wie du, Vater, als wir vor einiger Zeit darüber sprachen; sie sagte, es sei das Alter bei Mutter. Frauen eines gewissen Typus versuchten, ihre Reize für andere spielen zu lassen, wenn sie älter werden.«

»Das klingt nach Charitas, aber nicht nach deinem Vater.«

»Genau das sagte er – nicht wahr, Vater?«

»Er hat es ebensowenig gesagt, wie er es denkt«, sagte Helena. »Er will ja, daß ich, wenn Pyrrhus kommt, auf meinem Zimmer bleibe. Später einmal mag ich in seinen Augen vielleicht dahin kommen, meine Reize für andere zu gebrauchen, aber jetzt noch nicht.«

»Das war auch meine Ansicht«, sagte Hermione. »Ich sagte es ihm.«

»Es ist mir natürlich schmeichelhaft, wenn ihr Frauen darüber streitet, was ich sage und denke,« sagte Menelaos; »aber augenblicklich interessiert mich mehr das, was Charitas sagt. Ich bekomme auf diese Weise ein Bild von meinem Hauswesen, wie es sich nach außen hin darstellt.«

»Sie sprach nicht von deinem Hauswesen«, sagte Hermione; »sie sprach nur von Mutter und natürlich von Damastor und jenem Mädchen.«

»Wir wissen, was sie über das Mädchen sagte. In welcher Weise gedenkt sie für ihr Enkelkind zu sorgen?« fragte Helena.

»Für ihr was?«

»Es wird ein Kind erwartet, und Charitas ist die Großmutter dazu. Hast du dir die ganze Situation noch nicht klargemacht? Charitas hat das getan – da sitzt der Stachel. Sie denkt an das Alter, weil sie zuerst Großmutter geworden ist.«

»O nein, da irrst du dich; sie betrachtet dies Kind nicht als ihr Enkelkind; sie sprach davon wie von – nun, wie von einer Krankheit. Ich glaube kaum, daß sie für das Kind sorgen wird.«

»Ich glaube es auch nicht«, sagte Helena. »Dein Vater und ich werden es tun müssen, und vielleicht ist das für das Kind ebensogut.«

»Das fällt mir gar nicht ein!« sagte Menelaos. »Ich habe dir gesagt, daß Adraste das Haus verlassen muß – Hermione, ich sagte das gerade deiner Mutter, als du hereinkamst.«

»Ja, das tat er. Du siehst, mein Kind, wie unrecht du hattest, so zu deinem Vater zu sprechen. Er war vollkommen deiner Meinung. Wir haben noch nicht Mord genug gehabt; du und Charitas und Menelaos, die drei Stützen der Gesellschaft hier, ihr alle wollt Adraste und ihr Kind töten. Ich kämpfe mit euch um ihr Recht zu leben. Aber ich bin nicht darauf eingeschworen, das Mädchen hier zu behalten, wenn es sich anders besser für sie einrichten läßt. Ich sehe eine solche Möglichkeit. Sie sollte zu Damastor. Wenn Charitas uns sagen will, wohin sie Damastor geschickt hat, so schicke ich Adraste sofort dahin.«

»Das wird sie dir nie sagen!«

»Wahrscheinlich nicht, aber ich sehe nicht ein, warum nicht, mein Kind. Du wirst sagen, daß ich kein Urteil darüber habe, aber die Ehrbarkeit, die nach meinem Sinne wäre, würde das Mädchen zu ihrem Liebhaber schicken und ihnen gestatten zu heiraten. Du hältst es doch für richtig, daß man heiratet? Nun, das ist es gerade, was diese jungen Leute wollen.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Menelaos, »aber das ist ein ausgezeichneter Gedanke. Wenn wir sie verheiraten könnten – und an einem anderen Orte –, so wären wir aus dieser fatalen Affaire heraus. Ob es sich wohl machen ließe?«

»Sehr einfach«, sagte Helena. »Hermione hat augenscheinlich Charitas' Vertrauen. Ich mische mich in die Unterhandlungen nicht ein. Du schickst Hermione zu Charitas mit dem Versprechen, daß, wenn sie uns sagt, wo ihr Sohn ist, wir Adraste auf unsre Kosten dahin schicken und dafür Sorge tragen wollen, daß die beiden jungen Leute sich in allen Ehren verheiraten und an irgendeinem entfernteren Ort, wo kein Klatsch an ihnen haftet, ein gemeinsames Heim gründen können.«

»Das ist das Richtige!« sagte Menelaos. »Das will ich tun!«

»Aber könnt ihr denn Charitas' Standpunkt gar nicht begreifen?« sagte Hermione. »Sie will sie für immer trennen. Adraste wird Damastor nie glücklich machen – so eine Frau wie die! Wenn Charitas gewollt hätte, daß er sie heiratete, so hätte sie ihn nicht fortgeschickt. Euer Plan ist ausgezeichnet für Adraste, aber Charitas wäre damit nicht geholfen.«

»Wäre aber nicht Damastor damit geholfen?« fragte Helena. »Er liebt das Mädchen, und ich nehme an, daß Charitas ihn auch ein wenig liebt – verwundeter Stolz kann doch bei einer solchen Frage nicht einzig und allein den Ausschlag geben.«

»Charitas wird nie sagen, wo Damastor ist«, sagte Hermione.

»Ich fürchte beinahe, daß du recht hast,« sagte Helena, »aber ich möchte trotzdem, daß du die Bestellung von deinem Vater ausrichtest. Wir haben dann für die jungen Leute getan, was wir konnten, und die Verantwortung für das, was in unserm Hause geschehen ist, übernommen, obwohl ich für meine Person Adraste und Damastor nicht verurteilte. Wenn Charitas uns nicht entgegenkommen will, so hat sie die Verantwortung, und du hast dabei Gelegenheit, die menschliche Natur etwas kennenzulernen.«

»Es tut mir leid,« sagte Hermione, »aber ich weiß von vornherein, daß Charitas nicht tun wird, was ihr wollt – und ich möchte sie wirklich auch nicht darum bitten.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« sagte Menelaos.

»Ich finde, daß sie recht hat, wenn sie Damastor vor dem Einfluß dieses Mädchens schützt. Es wäre nicht sein Glück, wenn er sie heiratete.«

»Liebt er sie denn nicht mehr? Und sollten die Menschen sich nicht heiraten, wenn sie sich lieben?« fragte Helena. » Du solltest mir die Gründe entgegenhalten, die ich vorbringe. Ich bin so freisinnig, daß ich anfange konservativ zu erscheinen. Wenn die Menschen unrecht tun, so sollten sie sich bessern und rechttun – das ist doch noch immer deine Meinung, nicht wahr? Du bist der Ansicht, daß zwei Menschen nicht zusammenleben sollten, wenn sie nicht verheiratet sind. Ich hoffe, du bist auch der Ansicht, daß zwei Menschen sich heiraten sollten, wenn sie sich lieben, und nur dann. Nun, laß uns Damastor und Adraste die Möglichkeit geben, sich den Forderungen der Gesellschaft zu unterwerfen, wenn es auch etwas spät ist. Sie haben den Wunsch, es zu tun.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Hermione. »Charitas hat kein Vertrauen zu Adraste, und ich auch nicht.«

»Du kennst Adraste wohl nicht sehr gut. Aber betrachte einmal die Sache von Damastors Standpunkt aus. Als du über Pyrrhus sprachst und über das, was du seine Brutalitäten nanntest, da verurteiltest du, wie mir schien, die Männer, die Frauen verlassen. Damastor hat Adraste nicht verlassen, aber seine Mutter hat es bewirkt, indem sie ihn wegschaffte. Wäre es nicht gut, wenn Charitas ihm jetzt die Gelegenheit gäbe, so zu handeln, wie er es, glaube ich, gern möchte – wie ein ehrenhafter Mann?«

»Ich stehe auf einem andern Standpunkt«, sagte Hermione.

»Ich bin empört über dich, Hermione«, sagte Menelaos; »ich bin wirklich empört. Du sagtest mir, daß du und Orest so gut wie verheiratet wärt, daß nichts euch trennen dürfte. Adraste und Damastor sind noch mehr verheiratet als ihr, und doch findest du, daß man sie unter allen Umständen trennen müßte, ob es ihm und andern recht ist oder nicht.«

»Es ist kein Vergleich zwischen diesen Leuten und uns beiden«, sagte Hermione. »Wir haben uns redlich bemüht, ein tugendhaftes Leben zu führen, während Adraste und Damastor einfach selbstsüchtig – ja, gerade heraus gesagt, sinnlich und gemein gewesen sind. Ich hatte schon lange das Gefühl, daß unser Heim entartete, aber ich hätte nie geglaubt, es würde dahin kommen, daß du und Mutter eine so unerhörte Aufführung begünstigen und sogar von mir verlangen würdet, den Schuldigen beizustehn. Mutter spottet, wie immer, über Ehrbarkeit, aber noch schlimmer als alles, was sie sagt, ist die sittliche Laxheit, die ihr beide in dieser Frage bekundet. Damastor hätte sich nie mit diesem Mädchen einlassen sollen, aber da er nun einmal den Fehler gemacht hat, stimme ich seiner Mutter durchaus zu, wenn sie verhindern will, daß er ihn wiederholt. Für Adraste habe ich nichts als unaussprechliche Verachtung. Ich werde nichts tun, um ihre Schuld zu verdecken und ihr zu einem Platz in der Gesellschaft zu verhelfen, den sie nicht verdient. Und wenn sie hier bleiben soll, so wiederhole ich, was ich gleich zu Anfang sagte: ich werde nicht mit ihr unter einem Dache bleiben!«

»Du gibst also deine Eltern als hoffnungslos auf?« sagte Menelaos. »Du willst über mich richten, der ich diese und viele andre Sorgen zu tragen habe, und du selbst willst nicht einmal das tun, was du kannst, um mir eine davon abzunehmen? Wer ist nun selbstsüchtig, das möchte ich wissen!«

»Du«, sagte Hermione. »Du und Mutter, ihr habt euch eine Schwierigkeit nach der andern geschaffen, und nun wollt ihr, daß ich euch auf Kosten meiner Selbstachtung und mit Aufopferung meiner Grundsätze daraus befreie. Es würde nichts nützen, wenn ich mit Charitas spräche; ich würde dadurch nur den Ruf der Anständigkeit verlieren, den ich – als einzige in der Familie – noch besitze. Glaubt nicht, daß ich euch nicht lieb habe oder daß es mir Freude macht, mein Heim aus einem solchen Grunde zu verlassen. Aber ich habe ein Recht darauf, ich selbst zu sein. Die Menschen, die am meisten davon reden, daß sie ihr eigenes Leben führen wollen, – Menschen wie Mutter – verstricken gewöhnlich erst andre mit hinein, bevor sie damit fertigwerden.«

»Du brichst mir das Herz«, sagte Menelaos; »ich habe nichts getan und nichts von dir verlangt, was dich zu solchen Reden berechtigte. Wenn du dies Haus verlassen willst, so tu es. Ich werde, sobald ich kann, mit Orest sprechen. Er sollte diese Sache von unserm Standpunkt aus hören. Du wirst sie ihm in deinem Licht darstellen.«

»Hermione,« sagte Helena, »du wolltest doch nicht selbst Damastor heiraten?«

»Wahrhaftig nicht!«

»Ich habe nie verstehen können, warum Frauen so eifersüchtig sind auf Männer, die sie nicht selbst heiraten wollen«, sagte Helena. »Und auch nicht, warum ein Mord leichter zu verzeihen ist als Schönheit.«

 

4

Darf ich eintreten?« fragte Eteoneus. »Ich möchte nicht stören, aber ich sehe, daß die ganze Familie hier ist, und ich möchte lieber euch allen zugleich die Nachricht bringen.«

»Welche Nachricht?« fragte Menelaos.

»Von Orest.«

Sie sahen ihn an und schwiegen. Er wartete, daß sie ihm durch eine Frage weiterhülfen, aber schließlich mußte er von selbst fortfahren.

»Es ist teils gute Nachricht, teils schlechte. Zunächst: der junge Mann hat den Tod seines Vaters gerächt. Er hat Ägisth getötet.«

»Das lasse ich mir gefallen!« sagte Menelaos. »Ich dachte mir, daß Orest allein damit fertig werden würde, und es gewährt eine besondere Genugtuung, wenn der Sohn dem Andenken seines Vaters sein Recht zu verschaffen weiß; es zeigt, daß die Kraft des Geschlechts nicht erloschen ist. Das ist sehr gute Botschaft, Eteoneus.«

»Du gibst uns gewöhnlich erst die Tatsache und dann die Einzelheiten,« sagte Helena. »Dürfen wir nun die Einzelheiten hören?«

»Der Bote sagt, daß Ägisth in beständiger Furcht vor Rache war; er konnte nicht erfahren, wo Orest sich befand, und lebte in steter Angst, daß ihm jeden Augenblick das Messer in die Rippen gestoßen werden könnte. Klytemnestra hielt dieser Spannung gut stand, oder vielleicht empfand sie sie gar nicht, aber Ägisth wurde schließlich ganz davon zermürbt. Er nahm seine Zuflucht zur Religion. Jeden Morgen schlich er hinaus zum Hausaltar – du erinnerst dich an den Platz, Menelaos, wo dein Bruder ein paar Felsen für den Familiengottesdienst glättete –; und dort opferte Ägisth ein kleines Tier und betete um Schutz für den kommenden Tag. Klytemnestra nahm nie daran teil, sagt der Bote – sie vertraute nicht auf Opfer. So schlich sich denn der unglückliche König allein dorthin, bevor die Pflichten des Tages für ihn begannen. Orest umlauerte das Haus, bis er diese Gewohnheit seines Feindes ausgekundschaftet hatte. Und eines Morgens, als Ägisth in die Opferflamme starrte, schlich Orest sich hinzu und hieb ihm den Kopf ab. Das war alles.«

»Ich wußte, er würde sich bewähren«, sagte Menelaos. »Dies läßt ihn sehr in meiner Achtung steigen. Wenn seine Mutter nicht wäre –«

»Kannst du seine Mutter nicht außer acht lassen,« sagte Hermione, »nun, wo er sich so tapfer gezeigt hat? Du sagtest, daß diese Probe seinen Charakter zeigen würde. Nun sei gerecht, Vater, und gib zu, daß ich einen guten Gatten gewählt habe.«

»Wenn dies ihn für die Pflichten eines Gatten geeignet macht, nun, dann ist er geeignet«, sagte Helena. »Aber er wird nicht sein ganzes Leben lang Mordtaten zu rächen haben, und ich hoffe, wenn du ihn heiratest, so heiratest du ihn aus andern Gründen als wegen der Geschicklichkeit, mit der er Ägisth tötete. Wo ist er, Eteoneus? Ich möchte ihn sehen.«

»Er ist, soviel ich weiß, auf dem Wege hierher,« sagte Eteoneus, »aber ich glaube kaum, daß er hereinkommt, wenn du ihn nicht besonders einlädst. Er denkt, daß die Familie, mit Ausnahme deiner Tochter, sein Tun mißbilligt, und er ist augenblicklich – nun, ziemlich gespannt und reizbar.«

»Könntest du die Einladung wohl besorgen? Dann tu es auf jeden Fall! Du willst doch, daß er kommt, nicht wahr, Menelaos?«

»Ich möchte ihn gern sehen«, sagte Menelaos. »Ob er wohl die Waffen zurückbringt, die du ihm geliehen hast, Eteoneus? Es waren meine besten.«

»Oh, die wird er schon zurückbringen, Menelaos; ich glaube, er ist in solchen Sachen zuverlässig. Er wird, so schnell er kann, von dort fortzukommen suchen, und dies ist für ihn der gegebene Zufluchtsort.«

»Er wird nicht länger bei seiner Mutter bleiben wollen«, sagte Helena. »Dies ist der härteste Schlag, der Klytemnestra treffen konnte: ihren Geliebten auf ihrem eigenen Grund und Boden hingerichtet zu sehen, wo sie sich so mächtig glaubte.«

»Wirst du nun in die Heirat willigen?« fragte Hermione.

»Nein«, sagte Menelaos. »Ich gebe zu, daß die augenblickliche Situation dir recht gibt, aber ich habe immer noch nicht das Gefühl, daß er der Mann für dich ist. Ich weiß nicht, warum mein Herz so bedrückt ist, seit Eteoneus uns die Nachricht gebracht hat; ich bin froh über die Rache, aber ich glaube, es ist der Gedanke, daß du nun Orest wirst heiraten wollen – sonst würde mir nicht so traurig zu Sinn sein. Ich habe das Gefühl, als ob ich meinen besten Freund verloren hätte, und das war Ägisth doch nicht.«

»Eteoneus,« sagte Helena, »was sagte Klytemnestra?«

»Nichts.«

»Und was tat sie?«

»Nichts.«

Helena sah ihn so unverwandt an, daß alle sie ansahen und bemerkten, wie sie erbleicht war.

»Du hast auch noch schlimme Nachricht«, sagte sie. »Sag' uns alles!«

»Ich sehe, du hast es erraten,« sagte Eteoneus, »und das macht es leichter, es zu sagen. Klytemnestra ist tot.«

Helena stand auf, als wollte sie das Zimmer verlassen. Dann blieb sie regungslos stehen, während die andern sprachen.

»Daher wurde Orest so leicht damit fertig«, sagte Menelaos. »Wenn sie gelebt hätte, wäre sie vermutlich für ihn auf der Hut gewesen.«

»Kein Wunder, daß Ägisth in der Religion Zuflucht suchte, nun er sie verloren hatte. Ich glaube, sie haben sich wirklich geliebt«, sagte Hermione. »Wie starb sie, Eteoneus?«

»Orest tötete sie.«

»Nein!« schrie Hermione auf.

»Er tötete sie.«

»Doch nicht seine eigene Mutter!«

»Seine eigene Mutter.«

»Orest!«

»Helena,« sagte Menelaos, »das ist viel schlimmer als der Tod meines Bruders. Für solch ein Verbrechen gibt es keine Verzeihung, weder im Himmel noch auf Erden. Orest ist ein Verlorener. Klytemnestra war im Vergleich zu ihm eine gute Frau. Ich hoffe, ich werde ihn nie –«

»Ich glaube, Hermione wird ohnmächtig«, sagte Helena.

»Es ist nichts«, sagte Hermione. »Ich nehme es dir nicht übel, Vater – es ist unmöglich – selbst wenn ich es gesehen hätte, würde ich sagen, es ist unmöglich. Orest liebte sie und war ein so pflichtgetreuer Sohn – es ist einfach unmöglich!«

»Wenn du meinst, daß er es nicht getan hat, so irrst du dich«, sagte Eteoneus. »Er hat sie getötet. Eine Sohnespflicht stand gegen die andre, und er führte den Racheakt zu Ende. Er weiß, daß du es nicht billigst; niemand billigt es offenbar. Daher scheut er sich, hierher zu kommen.«

»Er darf niemals hierher kommen«, sagte Menelaos. »Meine Frau wußte, wie schwer es sein würde, der Mörderin meines Bruders zu begegnen; man kann wahrhaftig nicht von ihr verlangen, daß sie den Sohn, der ihre Schwester tötete, in unser Haus aufnimmt. Diese Heirat ist ein für allemal abgetan. Ich nehme an, daß du die Einladung an Orest zurücknimmst, Helena.«

»Nur für den Augenblick«, sagte Helena. »Orest tut mir leid. Was ich auch sonst dabei empfinden mag, ich kann nur Mitleid fühlen mit diesem ernsten und einfältigen Knaben, der glaubt, durch eine solche Tat seine Pflicht zu erfüllen. Er ist ein Verlorener, Menelaos, aber ich möchte ihn nicht noch weiter in die Verlassenheit hinausstoßen. Stelle dir vor, wie ihm zumute sein muß, wenn ihm klar wird, was er getan hat! Vielleicht sollten wir ihn doch lieber gleich rufen lassen. Ja, Menelaos, laß ihn kommen!«

»Da kann ich nicht mit«, sagte Menelaos.

»Ich auch nicht«, sagte Eteoneus. »Die modernen Anschauungen gehen zu weit. Daß er Ägisth tötete, war natürlich ganz in der Ordnung, aber wenn es so weit geht, daß man seine Mutter tötet – ich werde nie einem Menschen die Tür öffnen, der seine eigene Mutter getötet hat.«

»Ich will gar nicht, daß er kommt«, sagte Hermione. »Es wäre zu schrecklich, mit all den Menschen im Hause um uns herum. Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn erst allein sehe.«

»Du wirst ihn nirgends sehen«, sagte ihr Vater. »Für unsre Familie existiert Orest nicht … Wenn es nicht zu spät wäre! … Sobald dies Entsetzen sich etwas gelegt hat, werde ich noch einmal Botschaft an Pyrrhus schicken, und wenn er der ist, für den deine Mutter ihn hält, so kannst du ihn heiraten. Er kann gern ein paar Fehler haben, wir dürfen nicht länger wählerisch sein. Mir wäre jetzt eine Verbindung mit Pyrrhus sehr willkommen, um unser Ansehen vor der Welt wieder etwas zu heben.«

»Ich habe dir noch die Nachricht zu bringen,« sagte Eteoneus, »daß Pyrrhus wahrscheinlich in ein paar Tagen hier sein wird. Er war schneller aufgebrochen als wir erwartet hatten, und ich hatte dem Boten, deinem Befehl gemäß, gesagt, ihn nicht umkehren zu lassen, wenn er schon mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hätte.«

»Ich möchte mich zurückziehen, wenn ihr erlaubt«, sagte Hermione. »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen und muß eine Weile allein sein.«

»Bevor du gehst,« sagte Eteoneus, »muß ich dir noch etwas von Orest sagen. Ich schätze den jungen Mann ja nicht sehr, aber ich muß gerechterweise die Möglichkeit zugeben, daß er den Mord nicht selbst beging – die Möglichkeit. Einige sagen, er hätte seine Mutter nicht töten wollen und hätte daneben gestanden und dem Mord zugesehen.«

»Oh, ich hoffe, daß das wahr ist!«

»Ich sehe da keinen Unterschied«, sagte Menelaos. »Das kommt auf dasselbe hinaus.«

»Ja,« sagte der Torhüter, »viel anders ist es nicht, aber ich dachte, es wäre für Hermione doch ein gewisser Trost.«

»Wenn er sie nicht tötete,« sagte Helena, »wer tat es dann?«

»Seine Schwester Elektra.«

»Du meinst doch nicht, daß er seine Schwester für sich handeln ließ?« fragte Menelaos.

»Es ist nur ein Gerücht – der Bote sagte, niemand wisse genau, wie es geschah. Elektra wohnte nämlich nicht mit ihrer Mutter und Ägisth zusammen; ob sie es nicht wollte oder ob die beiden sie nicht haben wollten, das weiß man nicht. Sobald Orest Ägisth getötet hatte, eilte er nach dem kleinen Hause, wo Elektra wohnte – ich glaube, sie ist verheiratet oder so etwas; jedenfalls soll sie in etwas merkwürdigen Verhältnissen leben – und Elektra hatte ihre Mutter gebeten, sie früh am Morgen zu besuchen. Klytemnestra kam, ohne der gastlichen Einladung zu mißtrauen, und Elektra bewillkommnete sie herzlich. Dann führte sie sie ins Haus, wo Orest sich verborgen hielt, und dort töteten sie sie. Wer von beiden es nun tatsächlich getan hat, das wird Orest euch am besten sagen können.«

»Erzähl' uns nichts mehr davon!« sagte Menelaos. »Je mehr du erzählst, je schlimmer wird es. Durch erheuchelte Gastfreundschaft haben sie sie verraten! Haben sie ins Haus der Tochter geladen, um sie zu töten! Es gibt keine Sünde, die sie nicht begangen haben! Die Ehrfurcht vor den Eltern steht bei allen Menschen, die nicht ganz Tier sind, obenan. Gleich danach kommt die Pflicht gegen den Gast.«

»So empfand auch Orest vor langer Zeit, als ich ihn nicht einlassen wollte«, sagte Eteoneus. »Er fand uns vollkommen demoralisiert, weil wir ungastlich waren. Aber ich vermute, er und seine Schwester fanden sich entschuldigt, indem sie daran dachten, wie Klytemnestra Agamemnon bei seiner Heimkehr von Troja empfangen hatte; auch sie erwies ihm alle Ehren der Gastfreundschaft. Andrerseits könnte man sagen, daß er ihr Mann war und die Gesetze der Gastfreundschaft auf ihn keine Anwendung fanden.«

»Eteoneus,« sagte Helena, »was für einen triftigen Grund hast du, um anzunehmen, daß Elektra den Mord beging?«

»Nun, diese Vorstellung wurde nachher von Elektra selbst geweckt. Als die Rache vollendet war, ließen sie die Leichname Ägisths und Klytemnestras hinaustragen und riefen die Leute zusammen, um ihnen zu sagen, was geschehen war – ihr seht, darin folgten sie Klytemnestras Beispiel. Aber als die Menge sich versammelt hatte, konnten Orest und Elektra ihre Gedanken nicht von der toten Mutter lösen, die da lag; sie brachen beide zusammen, Elektra noch mehr als ihr Bruder, und klagten sich öffentlich an. Der Bote sagt, es sei schrecklich anzuhören gewesen. Elektra versicherte immer wieder, daß sie es getan hätte, und wenn auch Orest erklärte, daß er mitschuldig sei, widersprach er ihr doch nicht. Aber man kann nicht nach dem urteilen, was in einem solchen Augenblick gesagt wird.«

»Vater,« sagte Hermione, »ich glaube, es war Elektra. Sie drängte ihn dazu. Ich weiß, Orest hätte so etwas nicht getan. Er nimmt aus Treue die Schuld mit auf sich, aber ich bin sicher, sie ist die Schuldige. Es ist nicht annähernd so schlimm, wie es schien.«

»Es ist so schlimm, daß ich Orest nie über meine Schwelle lassen werde«, sagte Menelaos. »Du suchst immer wieder nach Entschuldigungen, aber Tatsache ist, daß er seine Mutter getötet hat. Wenn dir nicht jedes natürliche Gefühl für Recht und Unrecht abhanden gekommen ist, so mußt du wissen, daß er Unrecht begangen hat – ein so schweres Unrecht, daß hinfort für ihn kein Platz mehr in der menschlichen Gesellschaft ist. Du denkst doch nicht etwa noch daran, ihn zu heiraten?«

»Gewiß. Er ist mein Gatte.«

»Hermione, du willst doch nicht sagen, daß du einen Mann heiraten würdest, der seine Mutter getötet hat!«

»Ich werde ihn heiraten.«

»Kann ein Kind von mir moralisch so verkommen sein? Bedenk' doch, was du sagst, Hermione! Seine Frau wird ihm gleich sein, die Gefährtin seiner Sünde, verflucht wie er! Nie wirst du ein anständiges Haus betreten noch mit Freunden essen, du wirst nicht einmal in Frieden sterben noch im Grabe Ruhe finden. Wenn du glaubst, daß du ihn liebst, bedenke, daß du keine Kinder haben darfst – der Fluch muß mit euch sterben! Ich weiß, wie tief dich diese furchtbare Tat entsetzt, aber ihre ganze Entsetzlichkeit hast du noch nicht erfaßt. Denke nur ein paar Tage in Ruhe darüber nach; du wirst sehen, daß ich recht habe.«

»Was du mir über meine Zukunft sagst, ist wahr,« sagte Hermione, »aber dennoch ist es meine Zukunft. Ich gehöre zu Orest, zu seinem Fluch, zu seinem Elend. Ich könnte mich nie achten, wenn ich ihn jetzt verließe. Du kennst ihn nicht so wie ich, und vielleicht kannst du einen solchen Charakter überhaupt nicht verstehen. Du bist verwegen in der Schlacht, wie man mir gesagt hat, Mutter ist verwegen in der Liebe. Es gibt Menschen, die verwegen in der Pflicht sind – die etwas zu Ende führen, nicht, weil es angenehm ist oder weil sie es gern tun, oder weil es irgend jemand glücklich macht, sondern einfach, weil es recht ist.«

»Du nennst es verwegen in der Pflicht sein, wenn man seine Mutter tötet?«

»Unter Umständen vielleicht, aber ich dachte an mich selbst und an meine Pflicht gegen Orest. Ich werde sie durchführen.«

»Ob es irgend jemand glücklich macht oder nicht, nicht wahr?«

»Menelaos,« sagte Helena, »du sagtest sehr richtig, daß Hermione Zeit braucht, um sich über die Bedeutung aller dieser Dinge klar zu werden. Laß ihr Zeit. Du brauchst ihr nicht zu sagen, daß sie darüber nachdenken soll. Sie wird nicht imstande sein, an irgend etwas anderes zu denken. In ein paar Tagen können wir alle ruhiger darüber sprechen. Nichts erscheint von so großer Bedeutung, nach dem, was geschehen ist. Selbst eine Heirat mit Orest erscheint nicht so schlimm. Aber Orest selbst muß neue Pläne für sein Leben machen, und wir können warten, bis wir ihn sehen oder von ihm hören.«

»Bis wir von ihm hören«, sagte Menelaos. »Er darf dies Haus nicht betreten.«

»Sobald wird er jedenfalls nicht kommen«, sagte Eteoneus. »Ich erinnere mich jetzt, daß man sagte, er wolle eine Pilgerfahrt zu irgendeinem Heiligtum machen, um dort Ruhe für seine Seele zu finden. Die Reise wird ihm jedenfalls gut tun, und er wird nicht so schnell zurückkehren. Deine Familie ist viel unterwegs, Menelaos.«

»Damit ist es nun vorbei«, sagte Menelaos. »Es ist Zeit, daß wir endlich zur Ruhe kommen, und meine engere Familie bleibt, denke ich, jetzt zu Hause. Hermione mag sich das überlegen, so viel sie will, Helena, aber ich werde jetzt nach einem ganz neuen Plan verfahren. Ich werde sehen, ob Pyrrhus sie heiraten will. Du hattest von vornherein recht. Wenn er sie haben will, mag Orest auf seine Pilgerfahrt gehen und möglichst lange fortbleiben. Wenn ich an Pyrrhus allerlei zu tadeln fand, so waren es doch Fehler, die ich verstehen konnte. Man überschätzt ihn, doch er ist ein ganzer Mann, und Hermione wird bei ihm das Heim finden, auf das sie Anspruch hat. Es ist ein Glück, daß er sich so schnell zu uns aufmachte.«

»O Menelaos, es ist verkehrt von dir, die Sache mit Gewalt durchsetzen zu wollen!« sagte Helena. »Laß doch die Frage eine Weile ruhen! Hermione braucht nicht zu heiraten, wenn sie lieber bei uns bleibt, und sicher darf sie nicht jemanden heiraten, den sie nicht liebt.«

»Nun höre aber einmal, Helena, du machst mich wirklich böse! Du hast diesen ganzen Streit wegen Pyrrhus angefangen; ohne dich hätten wir überhaupt nicht an ihn gedacht. Du hast mich mit allen möglichen listigen Argumenten zu überreden versucht, und diese letzten Ereignisse sind dir dabei zu Hilfe gekommen, so daß ich mich für überwunden erkläre. Warum stellst du dich jetzt auf die andere Seite? Hermione mag es sich überlegen. Wenn Pyrrhus kommt, werde ich mit ihm sprechen. Vielleicht will er nichts mit uns zu tun haben, aber wenn er den Vorschlag in Erwägung zieht, werden wir die Frage weiter erörtern.«

»Es tut mir leid, daß meine Zukunft euch soviel Sorgen macht,« sagte Hermione, »und ich wollte, du machtest dir nicht diese unnötige Mühe mit Pyrrhus. Aber ich bin jetzt nicht imstande, etwas dazu zu sagen; du weißt am besten, was du zu tun hast. Wenn ihr erlaubt, gehe ich jetzt.«

 

»Warum Helena wohl mit ihr gegangen ist?« sagte Menelaos. »Ich möchte wissen, was sie jetzt unter sich bereden. Was, denkst du, ist der Grund, daß meine Frau über Pyrrhus andern Sinnes geworden ist?«

»Sie ist, glaube ich, nicht andern Sinnes geworden, sondern sie hat eingesehen, daß es nutzlos ist, darauf zu bestehen«, sagte Eteoneus. »Deine Tochter wird Orest heiraten. Ich weiß nicht, wie und wann, aber Orest ist jetzt so gut wie verheiratet.«

»Aber er hat absolut nichts auf der Welt! Er kann doch mit diesem Fluch, der auf ihm lastet, nicht eine Frau ernähren! Man sollte denken, dies ist am allerwenigsten der Augenblick, den er sich zum Heiraten wählen würde.«

»Ich sagte nicht, daß er ihn wählen würde – ich sagte, sie würde ihn heiraten. Ein einmal aufgerütteltes Pflichtgefühl ist eine furchtbare Sache, Menelaos. Die Frauen verstehen sich meisterhaft darauf, es mit dem, was sie eigentlich wollen, in Übereinstimmung zu bringen. Sie wird ihn heiraten, und später wird er von Zeit zu Zeit hören, was für Opfer sie ihm gebracht hat. Der arme Kerl!«

»Aber sie schien ganz gefügig, als sie fortging«, sagte Menelaos. »Sie hat eigentlich schon nachgegeben, hast du das nicht bemerkt? Und ich denke, Helena wird die Gelegenheit nutzen, wenn sie allein sind. Sie ist noch mehr für Pyrrhus als ich, und der Gedanke an Orest muß ihr jetzt entsetzlich sein.«

»Das mag schon sein, aber deine Frau ist ziemlich schlau in der Art, wie sie eine Sache fallen läßt. Sie weiß ganz genau, wann sie gewonnen hat, und auch, wann sie verloren hat. Das trifft man selten bei einer Frau. Helenas Talent, Tatsachen klar zu sehen und sich mit ihnen abzufinden, macht es so schwer, über sie die Oberhand zu gewinnen. Es war ihr unangenehm, daß du gerade jetzt die Heiratsfrage aufwarfst, ich konnte es merken. Ich glaube, sie fand, daß du deine Sache endgültig damit verdarbst. Vielleicht war Hermione geneigt, sich zu fügen; ich vermute, Helena ist in diesem Augenblick dabei, herauszufinden, ob sie es ist oder nicht.«

»Du magst recht haben«, sagte Menelaos. »Ich möchte wissen, wo du die Frauen so gut kennen gelernt hast.«

»Ich kenne sie nur allzu gut«, sagte Eteoneus, »und in diesem Hause werde ich ständig an alles erinnert, was ich gelernt habe. Ich sollte anderswohin, wo das Vergessen leichter ist. Ich habe über mein Fortgehen nachgedacht, wie du mir anrietest. Nächste Woche, wenn du mehr Zeit hast, möchte ich einmal hereinkommen und mit dir darüber sprechen.«

 

5

O er ist wirklich ganz allerliebst, Adraste! Du kannst dich glücklich preisen. Laß mich ihn nehmen – es ist eine Ewigkeit her, seit ich so ein Kleines im Arm hielt, aber ich kann es noch ganz gut.«

»Das kannst du wahrhaftig, Helena! Da saugt er schon wieder an seinem Daumen! Nimm ihn heraus, bitte, Helena!«

»Du glaubst also, du kannst ihm das abgewöhnen?«

»Muß ich das nicht versuchen?«

»Vielleicht – man lernt so viel beim Versuchen. Nun er nicht mehr so feuerrot aussieht, sondern rosig, finde ich wirklich, daß er dir ähnlich sieht, Adraste. Findest du nicht auch?«

»O nein, Helena, ich finde, er hat viel mehr Ähnlichkeit mit seinem Vater. Ich weiß nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein soll.«

»Froh, natürlich. Damastor sieht sehr gut aus, und du willst doch, daß euer Sohn euch beiden gleicht. Aber man kann über Kinder noch nicht endgültig urteilen, wenn sie erst eine Woche alt sind. Ich kann mir denken, daß seine Mutter schon jetzt einige wesentliche Charakterzüge an ihm entdeckt hat?«

»Das habe ich wirklich, Helena. Er ist der beste kleine Kamerad – ich kenne seine Art schon ganz genau. Und ich glaube, er fängt schon an, mich ein bißchen zu beachten. Wenn er das nicht tut, werde ich eifersüchtig, denn auf dich hat er die Augen gerichtet von dem Augenblick an, wo du hereinkamst. Du bist natürlich daran gewöhnt.«

»Er ist ganz allerliebst!«

»Meinst du, sie verstehen wirklich schon so früh, Helena?«

»Nun, Hermione kokettierte mit ihrem Vater, als sie erst acht Tage alt war. Es war das einzige Mal in ihrem Leben, daß sie sich dergleichen zuschulden kommen ließ. Natürlich verstehen sie, sowie sie geboren sind! Dein Junge sieht mit jedem Tage verständiger aus. Wenn er eine noch tiefsinnigere Miene aufsetzt als augenblicklich, werde ich nicht mehr den Mut haben, ihn anzusehen. Er ist dabei, mir in der Seele zu lesen … Nun, nun, armes Kind, nicht weinen! Ich gebe ihn dir wieder. Da! Warum in aller Welt weinst du denn? Du bist müde … ich komme nachher wieder, wenn du etwas hast ausruhen können.«

»Nein, geh nicht fort, Helena, ich bin nicht müde. Mitunter überkommt es mich so plötzlich – mein furchtbares Schicksal; deine Güte mit dem Kinde macht mich –«

»Unsinn!« sagte Helena. »Du hast kein furchtbares Schicksal. Du solltest sehr glücklich sein. Du hast diesen schönen Knaben, den du lieb haben und aufziehen kannst, und du hast Freunde um dich, die den Knaben wegen seiner Mutter glücklich preisen. Du wirst ihm eine wunderschöne Kindheit schaffen und eine wunderschöne Jugend; er wird immer jung und strahlend sein wie du.«

»Ach, du bist so gütig, Helena, du willst mir Mut einsprechen –, aber der arme Junge wird nur seine Mutter haben, keinen Vater, wie andere Knaben, kein vollständiges Heim. Ich hatte kein Recht, ihn zu gebären, und werde Zeit seines Lebens dadurch gestraft werden, daß ich sehen muß, was er entbehrt.«

»Ich glaube kaum, daß die Natur danach fragt, ob wir ein Recht auf etwas haben, so oder so. Daß er seinen Vater entbehren wird, in seiner Kindheit und auch später, ist allerdings wahr, und ich will nicht versuchen, die Tatsache zu beschönigen. Ich weiß auch, daß du um das Heim trauerst, das du dir geträumt hattest. Niemand könnte behaupten, daß du so glücklich bist, wie du es verdienst. Aber auch so solltest du dich zufrieden geben. Mein liebes Kind, es hätte so viel schlimmer kommen können!«

»Wie wäre das möglich?«

»Nun, wenn er dich geheiratet hätte.«

»Du meinst, das wäre schlimmer gewesen!«

»Komm, gib mir den Kleinen wieder. Er ist bei mir viel stiller, und ich werde ihm einiges erzählen, was er sich später zunutze machen kann … Ja, viel schlimmer, wenn man Damastors Charakter in Betracht zieht. Hätte er zu den großen Liebenden gehört, den unwandelbaren, von denen wir träumen, aber denen wir selten begegnen, dann wäre sein Verlust so tragisch gewesen, wie du ihn nimmst – aber dann hättest du ihn nicht verloren. Zu Anfang war er ein großer Liebender, o ja! Aber er konnte nicht standhalten. Das ist nicht seine Schuld – und auch nicht deine; er ist nun einmal so. Du weißt nicht, wie es gewesen wäre, wenn du Jahr für Jahr hättest mit ihm leben müssen, nachdem er aufgehört, dein Liebhaber zu sein, und sich auf seine Reserven als Ehemann zurückgezogen hätte. Natürlich wäre er gütig zu dir gewesen – das hättest du genossen, gewiß! – aber selbst in seiner Gegenwart hättest du dich von dem Mann verlassen gefühlt, nach dem du dich sehntest. Du hättest mit einem Fremden gelebt, dessen Ähnlichkeit mit dem Geliebten dich nur gequält hätte. Jetzt bist du viel besser daran. Nicht in den Augen der Gesellschaft, aber in Wirklichkeit. Der Knabe ist das Kind deiner Liebe, und deine Liebe ist dir zum Glück entrissen, bevor sie beschmutzt oder abgenutzt werden konnte. Aber dein Leid ist klar und bestimmt … Adraste, dieser junge Mann wird nie ein Freund von Gardinenpredigten sein; er ist eingeschlafen. Soll ich ihn in sein Bettchen legen?«

»Ja, bitte – und nimm ihm den Daumen heraus.«

»So ist's gut – da ist er schon wieder drin … Ich finde, du kannst dich glücklich schätzen, Adraste, daß dir Liebe und Leid rein zuteil geworden ist.«

»Ich kann nicht einsehen, daß es ein Glück ist, Leid zu haben, ob rein oder unrein.«

»Es ist kein Glück, es zu haben, aber wenn wir es nun einmal haben müssen, so ist es gut, wenn wir es auch in seiner ganzen Tiefe fühlen. Es zeigt, wie lebendig, wie im höchsten Sinne glücklich wir noch sind. Ich gäbe vieles darum, ein Leid zu fühlen. Ich meine es vollkommen ernsthaft, ich beneide dich. Wir haben so oft über Liebe gesprochen, du weißt, wie ich darüber denke und wie wenig ich mein Ideal erreicht habe. Auch im Leid habe ich es nicht erreicht. Jeder, der erkannt hat, wie wunderschön und wie kurz das Leben ist, möchte es kennen, – wenn auch nicht in seiner Ganzheit, so doch in seinen Höhen und Tiefen; für ihn ist das furchtbarste Schicksal, stumpf und schläfrig zu werden, in seinen Gewohnheiten dahinzuleben, den Tagen einfach ihren Lauf zu lassen. Ich habe mich immer danach gesehnt, das Leben bis in seine Tiefe kennenzulernen. Entweder ist dies nicht möglich oder ich fand den Weg nicht. Von mir will das Leben sich nicht erkennen lassen. Es stellt mich abseits, es macht, daß ich mich als Ausnahmefall empfinden muß, und das normale Schicksal, nach dem mich verlangt – ich bin überzeugt, es ist normal –, bleibt mir fern wie ein Traum.«

»Aber Helena, du scheinst doch so viel vom Leben zu verstehen. Du sagtest mir die Wahrheit über Damastor, lange bevor ich sie sehen konnte, und es ist gütig von dir, daß du mich nicht daran erinnerst, wie ich auf deinen Rat nicht gehört habe. Du könntest nicht so viel wissen, wenn du nicht mehr Erfahrung gehabt hättest, als du sagst.«

»Das ist das Schlimme; ich glaube, ich weiß in der Tat etwas vom Leben, aber nicht auf die rechte Art – nicht durch mein eigenes Gefühl. Adraste, du weißt, ich bin nicht hergekommen, um von mir selbst zu sprechen! Ich versuche dir zu zeigen, inwiefern du weniger unglücklich bist als du glaubst. Da ich die Dinge nicht tief in mir selber erfahren habe, konnte ich nur an anderen lernen, das Leben durch sie zu verstehen suchen. Wenn man lernt, die Menschen auf diese Weise zu betrachten und sich selbst, trotz allem, was sie denken, als just solch ein Beispiel der allgemeinen Menschennatur, so gewinnt man vielleicht ein selbstloseres Interesse für die Menschen, aber das Leid hat seine Schärfe verloren – und das gilt von allen Gefühlszuständen. Der Fehler ist nicht, daß man zuviel weiß; niemand ist zu weise. Aber man verlernt zu weinen, und man lernt, über die Menschheit lächeln, und vor allem über sich selbst. Die Liebe bleibt uns treuer als das Leid, und der Schmerz bleibt uns treuer; denn beide hängen mit dem Körper zusammen. Aber das Leid, das Herzeleid, wie du es empfindest, gehört nur der Seele an. Ich wollte, es wäre meiner Seele nicht so fern geblieben.«

»Helena, du machst mich traurig, wenn du so redest. Ich habe Grund genug zu wissen, daß dein Herz zart ist, daß du schnell verzeihst, daß du in deiner Gerechtigkeit sogar –«

»Ich glaube, ich bin ehrlich, liebe Adraste, und das ist alles, dessen ich mich rühmen kann. Die traurige Tatsache ist die, daß ich viele Menschen unglücklich gemacht habe, und wenn Menelaos oder Hermione meinen Nachruf schreiben, so werde ich in der Erinnerung der Menschen keineswegs als großmütig oder gerecht fortleben. Wenn ich dazu gekommen bin, das Leben als eine Komödie anzusehen, als eine ziemlich ernste und sogar traurige Komödie, so habe ich eine Entschuldigung dafür, falls ich deren bedarf: ich hätte in späteren Jahren jeden Augenblick meinen Ruf wiederherstellen können, wenn ich auf meine Tugenden hätte verzichten wollen. Hätte ich Menelaos eine Liebe geheuchelt, die ich nicht mehr empfand, so würde man mich eine musterhafte Gattin genannt haben. Das eigentlich Tragische war der Verlust der Liebe, aber die andern sehen es darin, daß ich diese Tatsache zugab. Wenn ich bei meiner Heimkehr getan hätte, als sei ich von Reue überwältigt, so hätte niemand mir geglaubt, aber man hätte es korrekt gefunden. Natürlich fühlte ich keine Reue. Meine Liebe zu Paris erwies sich nicht als das Wahre, aber sie kam der Wahrheit am nächsten, und ich bin dem Himmel dankbar dafür. Andrerseits sind die, die mich bessern möchten, selbst nicht überzeugend lebensstark, und wenn sie auch ihren Ruf bewahrt haben, so scheint ihnen ihre Seele doch oft abhanden gekommen zu sein. Die Leiden, die sie bekümmern, erscheinen mir meistens nicht als Leiden, sondern als bloße Ärgernisse und kleine Enttäuschungen. Sie wissen gar nicht, was Leiden ist! Doch – Orest weiß es. Aber Charitas zum Beispiel glaubt, sie hat Leid, weil ihr Sohn sich seine Frau selbst wählen wollte. Es ist lächerlich, dies Leid zu nennen. Und du meinst, du bist von Leid überwältigt, weil dein Geliebter kein großer Mensch war. Ich sage dir, du solltest dankbar sein für die Liebe, die dir dies Kind schenkte, und du solltest bedenken, was dir dadurch erspart wurde, daß Damastor sich von dir trennen ließ. Wie furchtbar wäre es gewesen, wenn du hättest Glück heucheln müssen, nachdem er aufgehört, das zu sein, was er einst gewesen. Du hast vom Becher des Lebens getrunken, wenige von uns dürfen ihn ganz leeren. Du hast ihn unvermischt getrunken. Manche beneiden dich darum. Denk nicht mit Bitterkeit an deine Mondscheinstunden mit ihm, an die Glut seiner Küsse, an die Leidenschaft seiner Umarmungen. Alles, was du damals empfandest, war wahr. Die Menschen, die über solche Gefühle lachen, sind unfähig geworden, sie selbst zu haben. Und daß du nur nicht diesen Knaben hier lehrst, Liebe sei gefährlich, und er solle sich vor ihr hüten, oder Vorsicht sei das Geheimnis der Lebenskunst!«

»Ich habe schon sehr viel darüber nachgedacht, wie ich möchte, daß sich sein Leben gestalte.«

»Natürlich, er ist ja auch schon ganze acht Tage alt.«

»Aber die Verantwortung ist furchtbar, Helena.«

»Welche Verantwortung meinst du?«

»Nun die, ihn richtig zu erziehen.«

»Du solltest dir nicht allzu viel Mühe damit geben. Ich an deiner Stelle würde daran denken, daß in jedem Menschenherzen von Natur etwas Gutes enthalten ist; dies Gute würde ich in dem Knaben aufsuchen und hervorlocken. Er wird irgend etwas gern haben, etwas mit seinem Gefühl ergreifen, und das, was er liebt, wird unschuldig genug sein; wenigstens solange er klein ist. Ich würde ihn einfach darin ermutigen. Wenn er gar nichts liebt, ist nichts von ihm zu hoffen. In diesem Fall würde ich ihn so zu erziehen versuchen, daß er für die Menschheit möglichst unschädlich ist. Ich würde ihm sagen, daß er kein Recht hat, die Menschen zu bessern, solange er nicht dasselbe liebt, was sie lieben. Das würde ihn abhalten, Unheil anzustiften. Aber dein Sohn wird dir und Damastor gleichen – ja, seinem Vater; Damastor war schwach, aber eine Zeitlang war er ein Liebender. Du wirst den Knaben vor den Einflüssen schützen müssen, die die Seele seines Vaters verdorben haben. Denk' einmal, was für ein Mann Damastor geworden wäre, wenn seine Mutter ihm geraten hätte, sein Herz an das erste hübsche Mädchen, das ihm begegnete, zu verlieren; wenn sie ihn ermahnt hätte, sich in die Allerschönste zu verlieben, von ihr zu träumen, die Welt nach ihr zu durchsuchen!«

»In diesem Fall hätte ich ihn natürlich nicht bekommen, nicht einmal auf kurze Zeit.«

»Doch, das hättest du. Sie hätte ihm sagen sollen, daß es nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht ist, dich zu lieben. Eine solche Erziehung würde etwas anderes aus Damastor gemacht haben … Aber ich will dir etwas sagen, Adraste. Wenn du deinen Sohn nach dieser idealen Methode, die ich dir vorschlage, erzogen hast, so wird er nicht ganz so ausfallen, wie du erwartest; er wird in manchen Dingen seine eigenen Wege gehen und dich überraschen. Und dann wirst du deinen Grundsätzen etwas untreu werden und versucht sein, wie Charitas zu handeln. Du wirst sagen: Mein lieber Junge, dazu habe ich dich nicht erzogen! Wenn dieser Tag kommt, denke an das, was ich dir jetzt sage; du wirst verstehen, daß das Leben eine Komödie ist.«

»Ich kann ihn mir nicht erwachsen vorstellen – diese kleine rosige Unschuld! Natürlich wird er seinen eigenen Willen haben – ich möchte, daß er den hat.«

»Natürlich; du möchtest, daß er seinen eigenen Willen hat, und du wirst verlangen, daß er genau das tut, was du ihm sagst. Nun, augenblicklich sieht er ja noch recht harmlos aus. Das kommt, weil wir soviel älter sind, glaube ich. Wahrscheinlich ist alles Täuschung – nur die Füßchen sind es nicht. Füße sind nichts Besonderes, wenn sie einmal gebraucht sind, aber bei so kleinen Kindern sind sie etwas Auserlesenes an Form. Im übrigen erscheinen gesunde Kinder den Erwachsenen immer schön, ob sie es sind, oder nicht. Darum ist es gut, daß sie eine ältere Generation haben. Da, nun siehst du wieder müde aus. Ich will jetzt gehen.«

»Noch einen Augenblick – bitte, geh noch nicht fort! Ich habe etwas auf dem Herzen, was ich dir sagen müßte, denn du willst ja immer, daß wir offen gegen dich sind. Ich bin dir so dankbar, daß du mir Mut machen willst und so tust, als ob alles mit mir in schönster Ordnung wäre. Das sieht dir so ähnlich. Aber du wirst mich nicht für undankbar halten, wenn ich die großmütige Absicht merke bei allem, was du über Leben und Jugend und Kindererziehung sagst. Als ich glücklich war, da war unser Gespräch anders, mehr auf gleich und gleich. Wird es je wieder so zwischen uns sein? Ich weiß, ich bin dir nicht mehr so wie sonst eine Freundin, ich bin gewissermaßen Gegenstand des Mitleids für dich geworden. Ich verdanke es dir, daß ich ein Dach über dem Kopf und dies Bett unter mir habe.«

»Sag' nicht so etwas und denk' auch nicht so etwas! Du bist mir dieselbe geblieben, die du mir warst, ein Kind meines Hauses und mir besonders lieb.«

»Nein, Helena, du kannst mich nicht täuschen. Menelaos wollte mich fortschicken.«

»Natürlich sagte er das! Nichts könnte korrekter sein. Niemand wird je behaupten können, daß mein Mann Ordnungswidrigkeiten in seinem Hause begünstigt habe. Er sagte, du müßtest unbedingt fort, und er wolle nichts weiter darüber hören. Er hörte nichts weiter darüber, und du bliebst hier. So ist Menelaos. Er ist in Wirklichkeit der gütigste Mensch, der je versuchte, die Welt in Ordnung zu halten. Er geht Entschlüssen so lange aus dem Wege, solange er jemanden haben kann, der ihm zuhört. Der wahre Grund, weshalb er mich heimbrachte, anstatt mich zu töten, war, daß er sich jemanden für sein Alter aufbewahren wollte, mit dem er reden könnte. Er hat von dir nicht halb so viel Schlimmes gesagt, wie er zu mir im Laufe eines Tages sagt. Weder er noch ich können es dir ersparen; du wirst die Rolle der Haustochter übernehmen müssen, nun Hermione fort ist.«

»Fort? Wohin? Ich habe nichts davon gehört. Hat sie Orest geheiratet?«

»Sie hat uns verlassen – ist auf und davon gegangen. Ich vermute, sie wird Orest heiraten, wenn sie es nicht schon getan hat. Jedenfalls haben wir sie verloren. Ihr Vater drohte in einem Augenblick der Erregung, sie mit Pyrrhus zu verheiraten, und Hermione nahm ihn ernst oder wollte ihn ernst nehmen. Es gab ihr einen vorzüglichen Vorwand, sich in Orests Schutz zu begeben. Wir wissen nicht, wo sie ist.«

»Sorgst du dich nicht um sie, Helena?«

»O nein, durchaus nicht. Es tut mir zwar leid, daß wir unsre Tochter nicht besser zu nehmen wußten, aber Grund zur Sorge ist nicht da. Was könnte ihr Schlimmes zustoßen? Ich glaube vielmehr, ihr Entschluß, ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, wird ihr gut tun. Sie hat genug Zeit damit vergeudet, sich um meine zu kümmern. Wenn sie ihrem Vater und mir nicht viel kindliche Ehrfurcht zeigt, so kann ich ihr daraus keinen Vorwurf machen. Nein, wenn sie nichts Schlimmeres anstellt, so bin ich ganz zufrieden … Adraste, ist Charitas dagewesen, um ihren Enkel zu sehen?«

»Kein Gedanke! Die alte Katze!«

»Da wir von kindlicher Ehrfurcht reden – du weißt, sie ist deine Schwiegermutter, durch Blut, wenn nicht durch Gesetz. Warum bittest du sie nicht, zu kommen?«

»Das sollte mir einfallen! Nach allem, was sie von mir gesagt hat!«

»Jawohl. Laß sie erst alles sagen und dann kommen. Ich an deiner Stelle würde sie darum bitten.«

»Sie würde nicht kommen.«

»Versuch' es einmal. Sie wird nein sagen. Sag' ihr, der Knabe wartet, daß sie ihn ansehen möchte. Dann wird sie kommen … Und du könntest dir auf diese Weise Damastor retten.«

»Da sieh nur! Du sagtest, ich solle mich glücklich schätzen, daß er mich nicht heiratet, und nun rätst du mir, wie ich ihn zurückgewinnen kann!«

»Ich gebe zu, ich bin inkonsequent. Ich glaube zwar, daß du ohne ihn sehr gut daran sein würdest; aber du selbst glaubst es nicht und würdest mir nie verzeihen, wenn ich dir nicht sagte, wie du seine erzürnte Mutter herumkriegen kannst. Auf diese Weise wäre es zu machen. Nun tu, wie du willst. Merke wohl, daß ich sagte ›retten‹. Wir wollen den Damastor wiederhaben, der vielleicht gar nicht existiert. Aber er könnte … Jedenfalls bin ich froh, Adraste, daß es ein Junge ist. Mädchen haben es immer schwerer im Leben.«

»Helena, findest du, daß Hermione Orest heiraten sollte?«

»Liebes Kind, sie wird Orest heiraten.«

»Aber sollte sie es tun?«

»Meinst du, ob ich es tun würde? Ich würde kurz vor der Hochzeit Gift nehmen. Er ist ungefähr genau alles das, was mir an der menschlichen Natur zuwider ist. Er sieht nichts Gutes am Leben, aber er ist bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen.«

»Helena, wenn Hermione heiratet und ein Kind bekommt, wirst du dann hingehen, um das Kind zu sehen?«

»Sofort. Ich werde nicht erst warten, bis ich eingeladen werde. Wenn sie mich nicht haben wollen, müssen sie mir die Tür vor der Nase zuschließen. Warum sollte ich nicht?«

»Aber Orest – und deine Schwester!«

»Das Kind kann nichts dafür. Wenn Hermione heiratet, werde ich mich in ihre Wahl finden. Wenn sie selbst sich auch darein finden kann, so kann sie sich glücklich schätzen. Du kennst meinen Grundsatz: vorher bereuen, nicht nachher. Und nachher hat es auch wirklich keinen Sinn mehr, Kritik zu üben. Ja, Orest und ich werden manches Mal zusammen an derselben Mittagstafel sitzen, und unsre Blicke werden sich kreuzen, und er wird über die unmoralische Tatsache grübeln, daß man mir meinen schlechten Lebenswandel gar nicht ansieht, während ich über das menschliche Gewissen und seine Geheimnisse nachsinne – wie es uns dazu bringen kann, verabscheuungswürdige Dinge zu tun, um unsres eigenen Heils willen und zum Besten unsrer Freunde.«

»Aber Helena, würdest du von Hermione sagen, was du von mir sagtest, daß es besser wäre, wenn ihr Geliebter sie verließe und sie ihr Kind allein großziehen müßte?«

»O Himmel, ist das ein Kreuzverhör! Nein, Adraste, ich würde nie dasselbe von Hermione und von dir sagen. Ich glaube kaum, daß sie ihre Möglichkeiten nützen würde, wenn Orest sie verließe. Ich bin nicht sicher, ob sie und Orest sich wirklich lieben, sich je geliebt haben oder je lieben werden. Die Fälle sind nicht gleich. Soviel ich sehe, betrachten die beiden sich nicht als Liebende, sondern als erhabene Pflichten. Hermione sieht Orest ganz sicher als eine ihrer Aufgaben an. Wenn ich jemals Gelegenheit habe, unter vier Augen mit ihm zu sprechen, werde ich ihm meine Teilnahme ausdrücken. Aber für deinen Fall gilt, was ich sagte, und ich wollte, ich könnte es auch von Hermione sagen; du bist nur mit der Gesellschaft in Konflikt geraten – und das ist schlimm genug –, aber du bist nicht im Streit mit den Dingen, auf die es in Wahrheit ankommt.«

»Willst du dem Kleinen diese Decke überlegen? Es zieht etwas.«

»Wenn er so fest schläft, macht er dir wenig Mühe. O was für eine prächtige Decke!«

»Ja, denke nur! Eteoneus kam herein, ganz ungebeten und ohne um Erlaubnis zu fragen, und tobte hier umher wie ein Wilder – sagte, das Haus ginge zum Teufel und er wolle nicht länger bleiben, und er nannte mich ein liederliches Frauenzimmer oder noch Schlimmeres und sagte, Damastor sei ein Esel. Dann deckte er dies über den Kleinen und ging hinaus.«


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