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Zur Einführung

Holbein hat auf seinem berühmtesten Erasmus-Porträt den Mann bei seiner gelehrten theologischen Arbeit dargestellt: ganz geistige Konzentration und scharfer Verstand. Aber auch einen weltmännischen Zug hat er dem Gelehrten gegönnt: es ist eine Persönlichkeit, die selbst am Schreibpult sich nicht bequem gehen läßt; Erasmus ist peinlich sorgsam gekleidet, die Hand, die auf dem Papier liegt, schmücken nicht wenige Ringe. Wie man von Buffon erzählt, daß er zu seinem Schreibgeschäft jeweilen besondere Toilette gemacht habe, so erhält man vor diesem Porträt zum mindesten den Eindruck, Erasmus habe das Bedürfnis gefühlt, seine elegante Latinität mit seinem Äußern in stilvolle Harmonie zu bringen. Nicht nur einen großen Gelehrten, auch einen aristokratisch empfindenden Menschen haben wir vor uns. Und doch: gibt uns dieses Bildnis den ganzen Erasmus? Wenn man ihn da so in seine Arbeit versunken sieht, als existiere keine Außenwelt für ihn, so möchte man denken, diesem Manne sei die ruhige Abgeschiedenheit der Studierstube das höchste Ideal, die Berührung mit der Außenwelt wenigstens eine unangenehme Störung, wenn nicht eine eigentliche Widerwärtigkeit gewesen. Und das wäre dann doch ein Irrtum, eine Verkennung des Erasmus; etwa wie wenn Herder einmal in den Fragmenten von Erasmus als dem feinsten Pedanten spricht, den vielleicht die Welt gesehen – und das deshalb, weil er Luther, dem Erwecker der deutschen Sprache, schuld gab, er täte der lateinischen Sprache Abbruch. Nein: diese feinen Augen, die so andächtig dem Schreibrohr folgen, als wenn die Paraphrase des Markusevangeliums das Wichtigste in der Welt wäre, diese Augen halten außerhalb des Studierzimmers schärfste Umschau, und nichts entgeht ihnen, weil alles sie interessiert; und der Lust am Beobachten entspricht die Fähigkeit, das Beobachtete frisch und lebendig zu schildern, ohne allen Schulstaub, mit einem ausgesprochenen Sinn für das Spannende und Dramatische der Situationen, zugleich mit spöttischem Behagen, da, wo es Verkehrtheiten und Torheiten lächerlich zu machen gilt, mit temperamentvollem Hohn, ja unter Umständen mit aufwallendem Zorn, wenn Verderbtheit von Menschen und Einrichtungen oder freche Anmaßung an den Pranger zu stellen sind. Dieselbe zierliche, gepflegte Hand, die die Resultate scharfsinniger, fleißiger gelehrter Studien fixierte, hat das Lob der Narrheit niedergeschrieben, Briefe zu den interessantesten Feuilletons ausgestaltet und aus einem Übungsbüchlein für lebendige, flüssige Latinität eine Unterhaltungsschrift hohen Ranges gemacht, voll persönlicher lebendigster Anschaulichkeit, praktischer Lebensweisheit, glücklichen Witzes, souveräner Satire. Wir sprechen von den Colloquia. Wie oft mag es bei ihrem Niederschreiben in den Winkeln des scharf- und feingeschnittenen Mundes lustig gezuckt haben!

Ein erstaunlich großes Stück Welt ist in den Rahmen dieses Gelehrtenlebens getreten, und Erasmus hat sich an seiner bunten Fülle ergötzt, als an einem nachdenksamen und vergnüglichen Schauspiel. Mag er sich auch dann immer wieder nach Stille und Ruhe gesehnt haben, im Grunde war ihm die Berührung mit der Außenwelt, mit unterrichteten, anregenden Menschen ein Bedürfnis, sein Geist brauchte den Austausch mit anderen Geistern; das Dialogisieren, sei's im persönlichen Verkehr, sei's in Briefen mit anderen, war ihm eine Lebensbedingung. Kein Wunder denn auch, daß sich ihm seine Unterweisungen in der leichten, gefälligen Handhabung des lateinischen Ausdrucks wie von selbst in lebendige Gespräche verwandelt haben. Erasmus muß in Gesellschaft ein entzückender Causeur gewesen sein. Man spürt seinen Schilderungen von Konvivien (bei denen freilich Essen und Trinken stets eine Nebenrolle spielen) förmlich an, wie wohl und behaglich ihm im Kreise geistig beweglicher, zu ernsthafter Diskussion wie zu Scherzrede aufgelegter Menschen zumute war. Nihil jucundius quam cum serio tractantur nugae heißt es im Convivium fabulosum, wo die Bedingung der Konversation dahin lautet, daß keiner etwas anderes vorbringe als lustige Geschichten, und einige dieser Geschichten machen denn auch von diesem Vorrecht der Lustigkeit reichlichen Gebrauch. Wo der Geist sich frei und ungezwungen tummeln kann, da ist es Erasmus wohl, aller Zwang ist ihm verhaßt. Das Bedürfnis nach individueller Freiheit ist wohl die stärkste Triebfeder seines ganzen Lebens gewesen. Freilich niemals im Sinne der Schrankenlosigkeit. Er ist nie der Sklave seiner Triebe geworden. Wieland, der mit schöner Gerechtigkeit im Jahre 1776 ein »Fragment« über den Charakter des Erasmus von Rotterdam niederschrieb, hat die Geistesart des Mannes sehr hübsch geschildert: Horaz und Terenz wurden, sobald er sie kennen lernte, seine Lieblingsautoren. (Ille poetarum acutissimus nennt er einmal in den Kolloquien den Horaz.) – Und da diese beiden (und bald kam auch Lucian dazu, das Triumvirat voll zu machen) seinem Geiste die erste Bildung gaben – was Wunder, daß bei einem Subjekt von so zarten Sinnen die Formen, so sie ihm eindrückten, unauslöschlich blieben? Daß die Horazische aurea mediocritas (die mit der Sokratischen σωφροσύνη) eins ist) d. i. die Liebe zu allem Gemäßigten, Ruhigen und sanften Schönen in der Natur und im Leben, und die so nahe damit verwandte Menandrische Grazie und Urbanität, und die Lucianische Feindschaft gegen alle falsche Prätension, alles Überspannte, gegen Platonische praestigias und stoisches supercilium (Wieland entnimmt diese Ausdrücke einem Briefe des Erasmus) charakteristische Grundzüge seines Geistes, seiner Sitten, seiner Sinnes- und Lebensart und somit auch seiner Schriften wurden? Und wie natürlich also, daß Erasmus, so organisiert, so gebildet, mit dieser Lebhaftigkeit und Feinheit des Gefühls und Witzes, mit dieser jovialischen Gemütsart, die ihn auch in seinem Umgang zum liebenswürdigsten Gesellschafter machte, mehr Lust hatte – Komödie als Tragödie zu spielen?

So Wieland. Über die germanica severitas macht sich Erasmus gelegentlich lustig. Alles Schwerflüssige und Schwerblütige ist seiner Natur entgegengesetzt. Er hat etwas von der leichten französischen Grazie. Nicht daß er in seinem Leben das Ernste nicht ernst genommen hätte; aber warum sollte sich die Diskussion über derartige Fragen nicht maßvoll und ruhig bewegen können, warum die Prinzipien immer auf die schärfsten, intransigentesten Kontraste gestellt werden? Ließ sich mit den Waffen einer überlegenen Logik und einer spitzen, treffenden Satire nicht am Ende ebensoviel erreichen, als mit einer wuchtigen Schroffheit, welche jeden Vergleich ablehnte und ausschloß und damit statt des Übergangs von einem schlechten Alten zu einem besseren Neuen nur den radikalen Bruch mit dem Bestehenden erzielte und hierdurch den erbitterten Kampf heraufbeschwor? Dieser Sinnesweise des Erasmus begegnet man auch in den Kolloquien auf Schritt und Tritt.

Sehen wir uns nun in dieser Schrift des Erasmus näher um. Zunächst ein Wort über ihr Entstehen und Wachsen. 1518 wurden in Basel die Familiarium colloquiorum formulae gedruckt. Beatus Rhenanus war ihr Herausgeber; erst zur Ausgabe von 1519 hat Erasmus selbst die Vorrede geschrieben. Es handelt sich um eine Sammlung von lateinischen Wendungen für alle möglichen Verrichtungen des täglichen Lebens: Gruß-, Bitt-, Frage-, Dank-, Befehls- und Empfehlungsformeln, dann um Beispiele für schwierige Konstruktionen. Lebhafte Dialoge entwickeln sich etwa bei den Redensarten für Kauf und Verkauf, und auch die Schimpfwörter kommen da zu ihrem Rechte. 1522 folgte dann, da das Büchlein unerwartet großen Beifall gefunden und Erasmus sich genötigt sah, sich desselben eifriger anzunehmen, eine neue, stark vermehrte Ausgabe. Sie führt den Titel: Familiarium colloquiorum formulae per Desid. Erasmum Roterodamum, multis adjectis non tantum ad linguam puerilem expoliendam utilibus verum etiam ad vitam instituendam apud inclytam Basileam in aedibus Joann. Frobenii anno MDXXII. Diese Ausgabe schien Erasmus würdig zu sein, dem sechsjährigen Söhnlein des Johannes Froben, Johannes Erasmius, dem Patenkind des Erasmus, gewidmet zu werden. In der Dedikation heißt es u. a., er habe dafür gesorgt, daß das Büchlein den Knaben nicht nur in das Latein einführe, sondern ihn zugleich zum Erfassen der Elemente der Frömmigkeit hingeleite. Sehr artig ist, wie Erasmus schreibt, es habe ihm einige Tage lang, während deren er sich in seiner Schreibweise dem jugendlichen Alter des Froben-Knaben habe anpassen müssen, geschienen, wieder selbst ein Kind zu werden. Diese Ausgabe von 1522 enthält nun bereits eine Anzahl auch inhaltlich interessanter Gespräche, nicht bloße Rede- und Ausdrucks-Formeln. Mitten unter den Formulae finden wir kleine Dialoge, die gewisse Lieblingsthemata des Erasmus, mehr präludierend noch, in Angriff nehmen: die Torheit der Wallfahrten in weit entfernte Länder, die Nichtsnutzigkeit des Soldatenstandes, die Frage der Indulgentien, das Kapitel vom Fasten und Beichten. Von großen Stücken enthält sodann diese Ausgabe das umfangreiche Convivium religiosum, sowie das Gespräch zwischen Pompilius und Brassicanus de incomparabili Heroe Joanne Reuchlino in divorum numero relato, bekannter unter dem Titel Apotheosis Capnionis. Reuchlin war am 30. Juni 1522 gestorben. Der Dialog muß unmittelbar nach dessen Tod entstanden sein, nachdem bereits die Dedikation der Ausgabe abgefaßt war. Das Büchlein fand in dieser Gestalt sofort weiteste Verbreitung. Es hatte bald auch seine besonderen Schicksale. Aus einer Koronis des Erasmus, einem Schlußschnörkel zu der Ausgabe von 1524, erfahren wir, daß die Kolloquien – Familiarium colloquiorum opus lautet von nun an der Titel – in Paris nachgedruckt worden waren, und zwar mit willkürlichen Änderungen des Textes. Erasmus nahm sich diesen Sykophanten vor, einen Dominikaner aus Sachsen.

Auch hier hebt Erasmus den Doppelzweck seiner Kolloquien hervor: sie sollen nicht nur der Ausfeilung des Stils und dem Vergnügen der Lektüre dienen, sondern auch zur Bildung der Sitten beitragen. Bissig fügt er bei: solange das Büchlein nur meras ineptias, bloße Spielereien, enthielt, sei es mit allgemeiner verwunderlicher Gunst gelesen worden, sobald aber ein reicherer Nutzen hinzugekommen sei, habe es den Bissen der Verleumder nicht entgehen können. Zuerst war ein Theologe aus Löwen gekommen – aus dem streng orthodoxen Löwener Professorenkreis stammte bekanntlich auch Papst Hadrian, der 1522 den Stuhl Petri bestieg –, und dieser Löwener Theologe hatte allerlei schlimme Verdächtigungen gegen die kleinen Dialoge über das Fasten und Beichten und die Gelübde in Umlauf gesetzt, was die Entrüstung des Erasmus in solchem Grade erregte, daß er an die Löwener Theologen ein besonderes Sendschreiben gerichtet hat, als Apologetik der in Frage kommenden Äußerungen in den Dialogen. Man darf, auch ohne dem Ansehen des Erasmus zu nahe zu treten, behaupten, daß diese Apologetik – was ja bei Apologetiken keine Seltenheit ist – auf ziemlich schwachen Füßen läuft. Eins läßt sich freilich hören, daß er nicht für jedes Wort, das eine der Personen im Dialog äußert, verantwortlich gemacht sein, sondern unterschieden wissen will, wer in jedem einzelnen Falle der Sprechende ist, und aus welcher Situation heraus er spricht. Fatal ist nur, daß in dem hauptsächlich inkriminierten Dialog von der pietas puerilis, der kindlichen Frömmigkeit, der Interpellator des Jünglings den Namen Erasmus führt, und daß dieser Erasmus zu den ziemlich altklugen Ansichten des jungen Gaspar über Fasten und Beichte und Klosterleben sich zustimmend verhält, ihm u. a. seine Freude darüber ausspricht, quod sis sic religiosus, ut tamen superstitiosus non sis – daß du so fromm bist und dabei doch nicht abergläubisch –, und den frommen Knaben als seinen Lehrmeister in all seiner religiösen und sonstigen Einsicht den integerrimus vir Joannes Colet nennen läßt, d. h. also den intimen Freund des Erasmus, den gelehrten Dekan von St. Paul, der mit Thomas Morus die wertvollste wissenschaftliche Bekanntschaft des Erasmus in England bildete.

So erwuchsen den Kolloquien gleich von Anfang an mancherlei Feindschaften, und sie wurden natürlich nicht weniger an Zahl, als mit den folgenden Auflagen der Schrift manche neue Dialoge hinzukamen, die den Zorn der theologischen Herren reizen mußten. Mit der Ausgabe von 1534 hatte die Sammlung diejenige Gestalt erhalten, in der wir sie heute kennen. Im Juni 1526 verfaßte Erasmus selbst in Basel die Auseinandersetzung De utilitate colloquiorum ad lectorem, das Schreiben an den Leser über den Nutzen der Gespräche. Er durchgeht hier fast sämtliche Dialoge der damaligen Sammlung, indem bei jedem der Zweck angegeben wird, den ihr Autor mit ihm verfolgte, und, wo es nötig ist, auch die Einwände ihre Widerlegung finden, die gegen einzelne Gespräche erhoben worden sind. Man wird dieses Schriftstück mit Interesse lesen. Mit Entschiedenheit betont hier Erasmus zunächst seinen pädagogischen Gesichtspunkt, den er auch sonst in allen seinen Schriften und Äußerungen über Unterricht geltend gemacht hat: man muß den Kindern das Lernen nicht zur Qual, sondern zum Vergnügen machen. Das zarte Alter wird leichter durch Ergötzliches, als durch Ernsthaftes und Erzwungenes geleitet; und ein anderes Wort: haud scio an quidquam discitur felicius quam quod ludendo discitur – ich weiß nicht, ob irgend etwas erfolgreicher gelernt wird, als was spielend gelernt wird.

Des Erasmus Verdienste um die Pädagogik hat ein Engländer, Woodward, Professor der Pädagogik an der Universität Liverpool, in einer knappen Schrift: Desiderius Erasmus concerning the aim and method of education (1904) umsichtig dargestellt.

Doch kehren wir zu des Erasmus Auslassung über den Nutzen seiner Kolloquien noch einen Augenblick zurück. Er erblickt den sittlichen Nutzen vor allem darin, daß sie den Knaben schon die Augen öffnen über das, was zum gemeinen Leben gehört. Es sei ein Teil der rechten Klugheit, die törichten Begierden und die absurden Ansichten des Volkes, des vulgus, zu kennen. »Ich meine: diese (d. h. die Begierden und törichten Ansichten) lerne man ersprießlicher aus diesem Büchlein als durch die Erfahrung, die Lehrmeisterin der Toren. Für viele sind die Lehren der Grammatik eine bittere Pille. Die Ethik des Aristoteles ist nicht für Knaben geeignet, die Theologie des Scotus noch weniger (nicht einmal – fügt Erasmus, der dem Scotus, wo es nur geht, eins abzwickt, bei – für Männer ist die Theologie des Scotus besonders nützlich, um ihnen eine gute Sinnesart beizubringen); und doch ist es wertvoll, daß schon den zarten Seelen der Geschmack für die besten Dinge eingepflanzt werde. Das ist aber doch die heiligste Art des Betrugs, wenn man durch Täuschung einem eine Wohltat erweist. Die Ärzte werden gelobt, welche in dieser Weise die Kranken täuschen. Hätte ich in diesem Büchlein nur meinen Scherz getrieben, so würden sie alle das gebilligt haben; da ich aber jetzt neben der sprachlichen Unterweisung auch einiges eingestreut habe, was den Geist zur Religion erziehen soll, da verleumden sie mich.«

Und nun, um die Nichtigkeit aller Einwände darzutun, durchgeht er seine Kolloquien. Einiges Wenige davon sei auch hier hervorgehoben. Gegen den Dialog des Freiers und der Jungfrau war der Vorwurf der Laszivität erhoben worden. Erasmus ist entrüstet darüber; nichts Keuscheres gebe es, denn nur von den wichtigsten Dingen, von dem Ernst der Eheschließung, dem Wert der Ehe usw., sei hier die Rede; und er schließt höhnend: und die, welche diese Lektüre wegen der Laszivität als schädlich für Knaben erachten, dulden, daß diesen Plautus und die Fazetien des Poggio vorgelesen werden. Wir dürfen hier eine allgemeine Bemerkung anfügen. Auch heutzutage noch gibt es Leute, welche gegen die Kolloquien des Erasmus Vorwürfe in bezug auf ihre Verstöße gegen die Sittlichkeit oder die gute Sitte erheben. Bei gelehrten protestantischen Theologen kann man auf solchen scharfen Tadel stoßen. Erasmus würde diesen Vorwurf nicht verstanden haben. Zu seiner Zeit sprach man nun einmal von sexuellen Dingen mit einer natürlichen Offenheit, über deren Verschwinden wir uns doch wohl besser nicht allzusehr freuen sollten, besonders da wir den Nutzen kaum nachzuweisen vermöchten. Gewiß: wir würden heute in einem Buch zu Schulzwecken – und diese Aufgabe der Kolloquien läßt Erasmus selbst ja nie aus dem Auge – eine ganze Anzahl dieser Dialoge unter keinen Umständen dulden. In der Vorrede zu der artigen Auswahl von zwanzig kleinen Dialogen des Erasmus, die der Oberlehrer Dr. Kersten vor wenigen Jahren in Leipzig für Gymnasien hat erscheinen lassen, steht denn auch ausdrücklich zu lesen, daß viele Stellen in den Gesprächen durchaus ungeeignet für Schüler seien, und der Herr Oberlehrer läßt demgemäß diese »unpassenden« Stellen aus, wie er andrerseits auch das »recht schlechte« Latein des Erasmus »verbessert«. Mit dieser veränderten Auffassung dessen, was für die Schullektüre heute als passend erachtet wird und was nicht, ist nun aber keineswegs gesagt, daß Erasmus mit seinen Dialogen die Geschäfte der Frivolität, ja der Unzüchtigkeit besorgt habe. Für ihn waren diese naturalia eben nicht turpia. Daß er, der ehemalige Mönch, eine ziemlich starke Kost in erotischen und sexuellen Dingen ertragen konnte, wird kein Leser der Kolloquien leugnen wollen; er kann gelegentlich an völlig unerwarteten Stellen zu Vergleichen aus dem Geschlechtsverkehr greifen, die gewiß auch durch andere zu ersetzen gewesen wären. Daneben aber wirkt es wieder geradezu befreiend, mit welcher eindringlichen Deutlichkeit er z. B. auf die Gefahr der venerischen Erkrankung mit all ihren furchtbaren Folgen hinweist. Man fängt heute auch in deutschen Landen an, die Wichtigkeit dieser Warnung einzusehen und der Geheimnistuerei den Abschied zu geben; es ist nicht zu früh, vierhundert Jahre nach Erasmus.

Ein Dialog ist betitelt: Der Jüngling und das Freudenmädchen. Erasmus rühmt diesem Stück nach: et lupanaria facio casta (er mache hier auch die Freudenhäuser keusch): sein Jüngling, in der Rolle des schlimmheiligen Vitalis, sucht eine Bekannte von früherher in dem Hause auf – sie heißt witzigerweise Lucrezia – und weiß sie durch gute Worte und eindringliche Mahnungen dazu zu bringen, das Haus der Sünde zu verlassen. Die Bußpredigt des Jünglings wirkt etwas bläßlich, und an der anhaltenden Besserung des Mädchens darf man vielleicht zweifeln; amüsant ist jedenfalls, daß gerade in diesen Dialog Erasmus sich selbst verwoben hat. Die Lucrezia fragt den Jüngling, wie es komme, daß er nicht wie die anderen, die in Rom gewesen waren, schlimmer heimgekommen sei, als er hingegangen? Da erzählt ihr der Jüngling, er sei mit einem braven Manne gereist, auf dessen Rat er ein Büchlein mit sich getragen habe: das von Erasmus ins Lateinische übertragene Neue Testament. Daraufhin ruft die unkeusche Lucrezia aus: »Von Erasmus? sie sagen, er sei ein anderthalber Ketzer (sesquihaereticum). Ja, wirft der Jüngling ein, ist denn der Name dieses Mannes bis hierher gedrungen? – Ei freilich, keiner ist berühmter bei uns. – Hast du denn den Mann schon gesehen? (man denke, diese naive Frage!) – Nein, niemals, aber ich möchte den gerne sehen, über den ich schon so viel Schlimmes hörte. – Das hast du wohl von schlechten Menschen gehört? – O nein, sondern von verehrungswürdigen Männern. – Von was für welchen? – Das kann ich nicht sagen; wenn sie es wieder erführen, so könnte mir kein geringer Teil meines Erwerbs verloren gehen. – Sag's nur, bei mir ist das Geheimnis wohl aufgehoben. – (Sie sagt es ihm ins Ohr.) – Mein Himmel, du bist ja eine fromme Hure, da du Bettlern Almosen gibst. – Oh, ich verdiene von diesen Bettlern mehr als von Euch Reichen. – Ja, ja, sie rauben es braven Matronen, um es in die Hände von schlechten Weibern auszugießen.« Kein Zweifel, daß unter den mendici Erasmus seine Spezialfreunde, die Bettelmönche, meint, deren Nichtsnutzigkeit zu brandmarken er ja nie müde wird.

Der apologetische Kommentar, den Erasmus seinen Kolloquien gewidmet hat, bot Gelegenheit, einiges hier vorweg zu behandeln, was später noch zur Sprache hätte kommen müssen. Bevor wir uns nun aber des genauern den Gesprächen zuwenden, sei noch kurz hervorgehoben, daß diese Schrift des Erasmus sofort überall herum die weiteste Verbreitung gefunden hat. Nur ein Beispiel: schon im Herbst 1527 schreibt aus Burgos Juan Maldonado an Erasmus, eine spanische Übersetzung der Kolloquien sei in den Händen jedes Mannes und jeder Frau. Die spanische Inquisition hat sich denn auch bald liebevoll mit den Schriften des Erasmus beschäftigt, und Karl V. konnte es nicht hindern. Aus dem 16. Jahrhundert kenne ich eine einzige deutsche Übersetzung von 1545, und diese bringt nur 15 Gespräche. In den folgenden Jahrhunderten sind dann auch vollständige deutsche Übersetzungen hervorgetreten. Eine solche, die wohl der lieben Schuljugend die Präparation erleichtern sollte, ist Ende des 17. Jahrhunderts, in zweiter Auflage 1705, in Berlin erschienen. Sie hat einen westfälischen Diener am göttlichen Wort, Friedr. Romberg, zum Urheber und ist von einer hölzernen Pedanterei ohnegleichen. Auch französische und englische Übertragungen liegen vor. Develay, der feine französische Übersetzer von Petrarcas »Geheimnis«, gab bei Flammarion ausgewählte Kolloquien, zwölf an der Zahl, sämtlich kleineren Umfangs, heraus, die sich fließend lesen. Develay hat dabei den Weg eingeschlagen, der für jede Übertragung dieser Dialoge doch wohl der einzig richtige ist: er verzichtet auf eine strenge Nachbildung des erasmischen Ausdrucks, der ja den pädagogischen Zweck lateinischer Stil- und Redeübungen nirgends aus dem Auge verliert, und sucht dafür den Inhalt und Fluß der Gespräche dem modernen Leser möglichst leicht zugänglich und eindrücklich zu machen.

Erasmus hat sich, wie man weiß, zeitlebens in allen seinen Schriften der lateinischen Sprache bedient; auch für seinen mündlichen Verkehr, soweit dies anging, hat er dies getan. Daß er freilich im täglichen Leben nicht ganz ohne die lebenden Sprachen auskam, ist selbstverständlich; bis auf einen gewissen Grad mußte er doch wohl, abgesehen vom Holländischen, seiner Muttersprache, des Deutschen und Französischen mächtig sein. Daß er das Englische sich nicht angeeignet hat, weiß man aus der Urkunde, durch die ihm sein Gönner, der Erzbischof Warham von Canterbury, eine lebenslängliche Pension zuerkannte als Ersatz für die Erasmus übertragene Pfarrei in Aldington, welche er eben als der »einheimischen Sprache unkundig« nicht versehen konnte. In bezug auf das Französische findet sich eine artige Stelle in einem kleinen Gespräch, das sich unter den Formulae findet: Bist du stark im Französischen? fragt da Claudius den Balbus. – So ziemlich, antwortet dieser. – Wie hast du es gelernt? – Bei keinen stummen Lehrern. – Bei welchen? – Bei Frauenzimmerchen (mulierculae, man müßte es übersetzen mit petites femmes), die gesprächiger sind als Turteltauben. – Allerdings, meint Claudius, bei diesem Spiele lernen wir leicht. Eine Praxis, die auch heute noch sich als probat erweisen soll. – Völlig wohl war es Erasmus jedenfalls nur dann, wenn er sein geliebtes Latein sprechen konnte. Er handhabt es denn auch wie eine lebende Sprache, und er drückt sich darin mit einer Leichtigkeit und Lebhaftigkeit aus, die erstaunlich ist. Er fühlt sich offenbar niemals im Ausdruck dessen, was er sagen will, irgendwie verlegen. Sein Latein ist frei von aller korrekten Pedanterie, es fällt ihm auch nicht ein, irgend einen bestimmten Stil nachzuahmen. Vor allem nicht etwa den Stil oder den Sprachgebrauch Ciceros, wie er sich in dessen Reden und Traktaten findet (zum Unterschied von Ciceros Briefstil): die strengen Ciceronianer sind für Erasmus ein Gegenstand des Gelächters. Er hat ihnen Ende der 1520er Jahre den Dialogus Ciceronianus gewidmet. In den Kolloquien findet sich in dem »Das Echo« betitelten Dialog ein lustiger Passus: Da sagt der Jüngling: Schon zehn Jahre habe ich mich abgemüht in Cicerone. Das Echo antwortet auf griechisch: One (o Esel!) – Wie kommst du dazu, mich Esel zu nennen: dicere. Das Echo: e re (weil du einer bist). – Willst du vielleicht sagen, ich sollte mich dem Cicero nicht in solcher Weise widmen, daß ich die anderen beiseite lasse (relinquam)? Echo: inquam (das meine ich). – So gefällt dir denn der nicht, der sein ganzes Leben lang nur sich damit quält, daß er werde Ciceronianus? Das Echo antwortet wieder griechisch: Anous, er ist ein Tor.

Der Wortschatz des Erasmus ist ein ungemein großer; man merkt, daß ihm die gesamte lateinische Literatur völlig geläufig ist; auch seltene Wörter, eigentliche Hapaxlegomena findet man. Er scheut sich dann aber auch nicht, neue Wortbildungen, so z. B. den Ausdruck snaphanus (Schnapphahn), zu gebrauchen. Wie gesagt: Erasmus bewegt sich in seinem Latein völlig frei und ungezwungen. Seine Kolloquien haben von Schulstaub sozusagen nichts an sich. Meistens sind es zwei Personen, die miteinander konversieren; nur selten bringt er mehrere Personen auf die Beine; dies geschieht hauptsächlich dann, wenn er ein Konvivium schildert. Wie es im täglichen Gespräch auch zu geschehen pflegt, irrt die Rede hin und wieder vom Thema ab und verbreitet sich über Nebendinge; doch wird der Weg zur Hauptsache zurück stets gefunden. Hie und da fällt Erasmus auch aus der Rolle und läßt seine Personen Dinge sagen, die ihrem Charakter wenig angepaßt sind. Im großen ganzen aber darf man den Kolloquien Natürlichkeit und Ungezwungenheit des Dialogs nachrühmen.

Die Stücke, die das Buch bilden, sind an Ausdehnung sehr verschieden. Die ausführlichsten sind diejenigen, auf denen ein besonderer Akzent der Wichtigkeit liegt: so das Convivium religiosum, die Wallfahrt, der Dialog vom Fischessen, das Seraphische Leichenbegängnis, der Epicureus. Wir wollen bei ihnen, da sie einige Hauptprobleme behandeln, zunächst stehen bleiben.

Das fromme Gastmahl führt uns nicht etwa diskutierende Geistliche, sondern eine Anzahl verheirateter Laien vor, die zu einem Freunde vor die Stadt in dessen hübsches Landgütchen gekommen sind und dort bei einfacher Verköstigung sich unterhalten. Erasmus hat selbst als Zweck dieses Gespräches angegeben, er habe hier zeigen wollen, wie überall in der Christenheit solche Konvivien beschaffen sein sollten. Reizend ist die Schilderung des Landgütchens mit seinen Gartenanlagen, mit seinen Malereien an den Wänden der Umgänge um den Garten herum, mit seinen Ausblicken auf die freundlich grüne Landschaft. Man sieht, wie Erasmus für ein solch ländliches Idyll den regsten Sinn hatte. Die Malereien im Haus verfolgen dabei durchaus den Zweck der Belehrung; sie dienen gleichsam dem Anschauungsunterricht; sie stellen dar: Bäume, Pflanzen, Tiere des Festlandes und des Wassers; daneben findet man Darstellungen aus der heiligen und der profanen Geschichte als erbauliche und mahnende Exempel zu frommem Lebenswandel. Ferner Porträte der Päpste und der Kaiser. Dann lernen wir die Bibliothek, das Studierzimmer, das Kapellchen des Mannes kennen. In dieser beschaulichen und anregenden Umgebung wird nun konversiert über alles Mögliche. Einer hat die Paulinischen Briefe in kostbarem Einbande bei sich, und es wird nun über Stellen in diesen debattiert. Auch Worte Christi werden erwogen. Dann kommt das Gespräch auf die profanen Schriftsteller des Altertums: es stehe in manchen von ihnen, auch in den Dichtern, soviel Reines und Göttliches, daß sie beim Schreiben dieser Sachen doch wohl von einem guten Geiste geleitet sein mußten. Den ganzen Scotus, meint einer, würde er an den einzigen Cicero drangeben. Scotus mache nur streitsüchtiger und lasse das Gemüt kalt, Cicero mache den Leser besser. Und vollends dann ein Sokrates! »Wenn ich etwas von solchen Männern lese, da kann ich mich kaum enthalten zu sagen: Sancte Socrate, ora pro nobis, Heiliger Sokrates, bitt' für uns!« Gegen die Sakramente und Riten der christlichen Kirche lasse sich im Prinzip nichts sagen: »aber ich verdamme gewisse gottlose und abergläubische oder, um es glimpflicher zu sagen, gewisse einfältige und ungelehrte Menschen, die da das Volk lehren, auf diese Dinge seine Zuversicht zu setzen mit Beiseitelassung dessen, was uns wahrhaft zu Christen macht.« Hinten und vorn stecke das Christenvolk in Zeremonien drin. Was nur immer gesalbt wird, von der Taufe an bis zum Tod. Ein scharfes Wort fällt dann auch gegen die übertriebene Pracht in den Kirchen. Als Beispiele werden genannt das Grab des Heiligen Thomas in Canterbury – ein Thema, das Erasmus dann in der Peregrinatio weiter ausgeführt hat – und die Certosa bei Pavia, »der Tempel aus weißem Marmor«, und auch im Innern sei alles von diesem Gestein. Das sei nichts nütze. Das Geld für solche Prachtbauten würde besser für die Armen verwendet werden. Zudem sei es auch für das beschauliche Leben der Kartäuser nicht gut; denn durch die vielen Besucher, welche die Neugierde herlockt, würden sie nur belästigt. Ästhetische Gesichtspunkte gibt es für Erasmus hier nicht, wie denn auch, um dies im Vorbeigehen zu bemerken, die bildende Kunst ihm nur wenig zu sagen hatte. Selbst einen Holbein hat er nur deshalb geschätzt, weil er sich von ihm am besten porträtiert fand, was denn freilich seinem Urteilsvermögen auf diesem Gebiete alle Ehre macht. – Über dem frommen Gastmahl ist wie ein feines Parfüm jener echt erasmische Geist ausgebreitet, der in der innigen Verbindung von christlichem Wesen mit einem freien Humanismus das Lebensideal erblickte.

Ein Prachtstück unter den Kolloquien ist das Gespräch vom Wallfahren. Hier gibt sich der Spott über die törichten weiten Pilgerfahrten und die Verehrung der merkwürdigsten, unter Umständen unappetitlichsten Reliquien ein wahres Fest. Wir haben den Dialog unserer Auswahl eingereiht. Unter der Virgo Parathalassia ist die Muttergottes von Walsingham gemeint, und der Begleiter des guten Ogygius beim Besuch der Reliquien des heiligen Thomas von Canterbury, der gelehrte und fromme Engländer Gratianus Pullus ist niemand anders als Colet selbst, der des Erasmus Gefährte bei seinem Besuch der alten Bischofsstadt gewesen war. (Vergleiche Anmerkung Seite 107/108.)

Der umfangreichste Dialog der Sammlung, die Ichthyophagia handelt, wie der griechische Titel verrät, vom Fischessen. Den Dialog führen ein Fischhändler und ein Metzger, zwei ungeschlachte Kerle, die dann aber im Verlauf des Gesprächs auf fast spitzfindige theologische Kontroversen geraten. Plausibel sucht das Erasmus dadurch zu machen, daß der Metzger hin und wieder in seiner übersetzten (Lingua populari versa) Bibel liest und sich darum in geistlichen Dingen auskennt, während der Fischhändler durch seinen geschäftlichen Verkehr mit geistlichen Herren in deren religiöse Disputierkunst eingeweiht ist und zudem erzählt, er habe vor etwa dreißig Jahren in Paris das Kollegium Montaigu besucht, von dessen schmutzig geiziger und grausamer Führung er ein sicherlich den eigenen Erfahrungen des Erasmus (wie auch einer Stelle im Gargantua) treu entsprechendes Bild entwirft. Worum es sich in diesem Dialog vor allem handelt, ist die Scheidung zwischen den göttlichen Geboten und den menschlichen Satzungen. Da werden die verkehrten Taufriten – das Eintauchen in kaltes Wasser – die Fastengebote, die äußeren kirchlichen Gebräuche usw. durchgesprochen: »jetzt sehen wir den ganzen Erdkreis um dieser Zwistigkeiten willen in seinem Innern zerrissen.« Und dann die Mißbräuche mit den Annaten, Dispensen u. dgl. Was für einen Eindruck müßte es doch auf die außerhalb des Christentums stehenden Völker machen, wenn sie statt zur menschlichen Knechtschaft zur evangelischen Freiheit berufen würden! Wieviel brüderliche Liebe geht über allen diesen einfältigen Dingen in die Brüche! Das Volk ist ganz deroutiert in seinem Urteilen und Handeln. Man sagt freilich, daß mit der Androhung der Höllenstrafen bei Unterlassen der Fasten die frechen Menschen in Schrecken gesetzt werden sollen; gut, aber andererseits werden dadurch auch die Schwachen in Gewissensängste versetzt. Man sollte sich daher mit diesen Drohungen sehr in acht nehmen. Mit all ihren Konstitutionen können, wenn nicht die Päpste, so doch die Bischöfe in die Irre gehen. Übrigens fällt auch an die Adresse der Päpste das Wort: auch der Papst kann als Mensch in Unkenntnis einer Person oder eines Tatbestandes verfallen.

Dies einige der Gedanken dieses Dialogs, der dann noch als Digression eine große Stelle gegen den Krieg enthält, auch ein Thema, das Erasmus immer wieder gerne zur Sprache bringt, denn er ist ein überzeugter Gegner aller Kriege. Laut beklagt wird der Krieg zwischen König Franz, dem humansten König in des Erasmus Augen, und Kaiser Karl, und der Fischhändler versetzt sich in die Rolle des Kaisers, der an den französischen König ein Schreiben des Friedens und der Versöhnung richten würde: »Ich habe im Krieg jetzt Glück gehabt, es hätte aber auch anders kommen können. Das erinnert uns an die Lage aller menschlichen Dinge. Jetzt gebe ich Euch wieder die Freiheit und das Leben, Ihr seid künftig mein Freund. Wir wollen gute Nachbarn sein und uns in Zukunft nicht bekriegen. Nur ein Wettstreit sei zwischen uns: wer von uns am besten und gerechtesten regiert.«

Die ganze Frage der Fasten, d. h. die des Verbots des Fleischessens war für Erasmus, um darauf noch kurz hinzuweisen, im eigentlichsten Sinne des Wortes eine Magenfrage. Er ertrug das Fischessen nicht. Da er aber andererseits als Mann von Takt durch das Nichthalten des Verbots niemandem Ärgernis geben mochte – denn an starke Gewissensbedenken seinerseits werden wir wohl kaum glauben dürfen, dafür war er innerlich doch zu frei – war es ihm ein sehr ernsthaftes Anliegen, auf diesem Gebiete Wandel geschaffen zu sehen. Für sich hat er bekanntlich durch einen Dispens Papst Klemens VII. Befreiung von den Fastengeboten erhalten. Er hätte aber gewünscht, daß eine solche private Vergünstigung überhaupt nicht mehr nötig wäre. In einem anderen Dialog sagt einer das frank und frei heraus: »Wenn ich der oberste Bischof wäre, so würde ich alle zur Mäßigkeit ermahnen, namentlich an Fasttagen. Im übrigen würde ich jedem gestatten zu essen, was er will für seines Lebens Wohlbefinden, aber maßvoll und mit Danksagung, und dafür zu sorgen, daß, was damit der Beobachtung der Fastengebote entzogen würde, durch das eifrige Streben nach wahrer Frömmigkeit wieder hereingebracht würde.« Das ist in dieser Frage der Standpunkt des Erasmus.

In den Exequiae Seraphicae, dem seraphischen Begräbnis, rechnet er in besonders eingehender Weise mit den Franziskanern ab. Man weiß: Erasmus haßte ehrlich die Möncherei. Er hatte selbst in der Kutte gesteckt, widerwillig genug, und das eigenmächtige Ablegen derselben hatte ihm vielen Ärger zugezogen, bis er dann von Leo X. die Erlaubnis erwirkte, es mit dem Tragen des Ordenskleides zu halten wie er wollte. Seine Verachtung und seinen Ingrimm hat er dann vor allem auf die Bettelmönche geworfen. Es kommt zwar auch in den Kolloquien gelegentlich ein gutes Exemplar dieser geistlichen Menschensorte vor. In dem Gespräch Πτωχοπλούσιοι (die Bettelreichen) oder Franciscani hat er in sehr schöner, gerechter Weise einen Franziskaner geschildert, wie er sein soll: der sich nichts Besonderes auf sein Ordenskleid einbildet, sondern seinen Pflichten getreulich nachgeht, und der weiß, daß nicht das Kleid den frommen Menschen macht, sondern einzig seine Gesinnung und sein Wandel. Aber das ist doch mehr nur eine Ausnahme; in der Regel ist das Bild, das er von ihnen entwirft, ein durchaus schwarzes. Sie erschienen ihm in erster Linie als diejenigen, welche die ganze religiöse Bewegung am Anfang des 16. Jahrhunderts durch ihr Vorgehen auf schlimme Bahnen brachten und, statt zur Versöhnung der Gemüter beizutragen, Öl ins Feuer gössen. Daß der Haß der Mönche gegen Erasmus ein ebenso gründlicher war, kann uns nicht verwundern. In den Exequiae seraphicae nimmt Erasmus zunächst die Sitte aufs Korn, daß sich Laien vor dem Sterben noch rasch in eine Franziskanerkutte einhüllen ließen, um so eines seligen Endes oder doch der Nichtverdammung sicher zu sein, und dann in dieser Kutte aufgebahrt zu Grabe getragen wurden. Der Philecous läßt sich vom Theotimus eine solche Beerdigung schildern. Hatte der Tote denn auch die fünf Wundmale? Das wage ich nicht zu versichern; an den Händen und Füßen sah man bläuliche Spuren, und das Kleid hatte an der Seite eine Öffnung, eine fenestella, ein Fensterchen. – Ja, hat denn niemand von den Zuschauern darüber gelacht? – Doch, aber es werden Ketzer gewesen sein, von denen heute die Welt voll ist. – Vor einer Ansteckung von solcher Ketzerei wäre ich zwar gesichert gewesen, aber gelacht hätte ich doch auch. – Und nun folgt eine bemerkenswerte Stelle über den heiligen Franz: ich habe ihn von Jugend auf verehrt, diesen der Welt nach weder gelehrten noch weisen Mann, der aber durch seine Abtötung der irdischen Triebe Gott sehr lieb gewesen ist, und wie ihn, so verehre ich auch alle, die in seinen Fußstapfen aufrichtig wandelnd danach trachten, der Welt zu sterben und Christo zu leben. – Daß der heilige Franz ein ungelehrter Mensch gewesen ist, hebt Erasmus auch an andern Stellen besonders hervor, und daß Franciscus ein schwacher Lateiner war, vergißt er nicht ausdrücklich einmal zu betonen. – Was hat nun aber dieses Treiben der seraphischen Brüder – der Pater Seraphicus aus dem 2. Teile des Faust ist uns allen geläufig – mit dem heiligen Franz zu tun, was überhaupt mit wahrer Frömmigkeit? Und nun ergeht ein furchtbares Strafgericht über diese neue Anmaßung der Franziskaner und über ihre völlige Abirrung von der ursprünglichen Lehre ihres Stifters. Die Art, wie sie hier geschildert werden mit ihrer frevelhaften Kasuistik, mit ihrer Einmischung in alle Verhältnisse, mit ihrer Politik, daß alles zu tun erlaubt sei, sobald der Orden in Gefahr steht (licet quoties periclitatur decus ordinis), diese ganze Art erinnert geradezu an ähnliche Anklagen gegen den Jesuitenorden.

Im weitern werden den Franziskanern noch furchtbare Verbrechen zur Last gelegt. So wird, und zwar mit der ausdrücklichen Bemerkung, das sei kein Märchen, sondern beruhe auf dem Bericht eines wahrheitsliebenden Polen, erzählt, wie in einer Franziskanerkirche zwei Jünglinge nachts lebendig begraben worden seien. Es sei daran erinnert, daß Erasmus in jenem großen Schreiben an den päpstlichen Protonotar Grunnius, in dem er um die Enthebung von dem Zwang des Tragens der Mönchskutte und die Befreiung von seinen Klosterpflichten beim Papste einkam, ebenfalls diese Schauergeschichte anführt: ein edler Pole, der in einer Kirche in Schlaf versunken sei, habe bei seinem Erwachen gesehen, wie zwei Franziskaner lebendig begraben worden seien.

Am Schluß der Kolloquien steht der merkwürdige Epicureus, jenes Gespräch zwischen Hedonius und Spudaeus, in dem der Nachweis zu führen versucht wird, daß keine mehr Epikureer seien als frommlebende Christen. Vom Geist geht alle wahre Lust aus; wahre Lust ist aber nur, was aus der Wahrheit stammt. Niemand lebt wahrhaft angenehm, als wer fromm lebt, d. h. wer die wahren Güter genießt. Nur die Frömmigkeit aber macht den Menschen glücklich, welche Gott, den Quell des höchsten Gutes, mit dem Menschen vereinigt. In diesem Sinne wird dann Christo, dem adorandus Christianae philosophiae princeps, der Name Epikureer vindiziert, ἐπίϰουρος (epikouros) = auxiliator, Helfer. Niemand täusche sich mehr, als wer da glaube, Christus sei von Natur traurig und melancholisch gewesen und habe uns zu einer unlustigen Lebensweise eingeladen. Die Hauptsache für den Menschen bestehe darin, daß der Tantalusstein über seinem Haupte fortgeschafft sei: der Tantalusstein des bösen Gewissens. Zu verzweifeln sei auch für den schlimmsten Sünder kein Anlaß. Mit dem Schächer am Kreuz wird exemplifiziert. Wenn der Mensch nur aus Herzensgrund sein miserere mei Deus emporsende, so werde Gott den Stein des Tantalus wegnehmen.

Mit diesem feierlichen Gespräche schließt die Sammlung der Kolloquien.

Der Dialog Merdardus oder die Predigt, eines der umfangreichen Stücke der Sammlung, bietet dadurch besonderes Interesse, weil sich hier Erasmus in höchst temperamentvoller Weise mit einem Franziskaner (von den Observanten) auseinandersetzt, der am Reichstag von Augsburg vor so erlauchter Gesellschaft gewagt hatte, in einer Nachmittagspredigt (in der diesmal die Leute leider nicht geschlafen hätten) gegen Erasmus loszudonnern. Sein Geschwätz sei zwar so dumm gewesen, erzählt der Hilarius dem Levinus, daß Erasmus, wenn er zugegen gewesen wäre, sich des Lachens nicht hätte enthalten können. Allein der Ton, in dem dann mit dem Prediger abgerechnet wird, zeigt denn doch, daß dem Erasmus die Sache gar nicht so besonders lächerlich vorgekommen sein muß. Der Mann hatte ihm vorgeworfen, er sei der Haupturheber und der Anführer des allgemeinen Tumultes, von dem jetzt die christliche Welt erschüttert werde; er habe die Trennung der Kirche in Sekten verschuldet, den Entzug der bischöflichen Zehnten, die Verachtung der Bischöfe, den Widerstand gegen des Papstes Hoheit, den Bauernaufstand. Im speziellen hatte er dann Erasmus beschuldigt, er habe im Magnifikat, dem Lobgesang der Jungfrau im Lukas-Evangelium, statt humilitas vilitas ancillae übersetzt, was dann in dem Dialog zu langen philologischen Auseinandersetzungen mit Kontrollierung des griechischen Textes Anlaß gibt. Mit einem groben Witz schließt das Gespräch: Es heiße vom heiligen Franziskus, er habe den Schwestern Vögeln – sororibus avibus – gepredigt, dieser Franziskaner in Augsburg scheine würdig zu sein, den Brüdern Eseln und Säuen zu predigen.

Ein kurzes Gespräch trägt den Titel Untersuchung über den Glauben und handelt im wesentlichen vom Glaubensbekenntnis. Der, welcher da über seinen Glauben zur Rechenschaft gezogen wird, ist, wie Erasmus selbst in seinem Hinweis auf die Nützlichkeit seiner Kolloquien, hervorhebt, ein Lutheraner (persona Lutherani); er tue das, damit um so leichter die beiden Dialogisierenden zur Eintracht zurückkehren. Es ist nun recht interessant zu sehen, wie hier Erasmus, ohne das weiter auszuführen, an dem Glaubensbekenntnis des Ketzers – denn der Bann ist gegen den Barbatius ergangen; aber er schläft deshalb doch ruhig: ich habe den Blitzstrahl nicht gespürt –, wie Erasmus an diesem Glaubensbekenntnis aufzeigt, daß es sich ja sozusagen in keinem Stück von den orthodoxen Lehren des Christentums entferne, insofern sich diese auf die Lehren von Gott, Sohn, heiligem Geist beziehen. Einzig bei dem Artikel von der Kirche gibt es einen kleinen Haken: »Ich glaube nicht an die heilige Kirche (in ecclesiam), ich glaube eine heilige Kirche (credo sanctam ecclesiam)«. An Gott soll man glauben, die Kirche aber besteht zwar aus frommen, aber doch nur aus Menschen, die aus guten böse werden, die getäuscht werden und täuschen können. Was dann die Gemeinschaft der Heiligen im Apostolikum betrifft, so wisse Cyprianus von diesem Artikel nichts. – Der Inquisitor meint: Als ich in Rom war, habe ich nicht alle gleich ehrlich glaubend gefunden. Ja, was hindert denn, daß du ganz der unserige seist? – Die Antwort lautet: Ich meine rechtgläubig zu sein, und wenn ich auch für mein Leben nicht durchaus gutstehen kann, so versuche ich doch redlich, es mit meinem Glaubensbekenntnis in Einklang zu bringen.

Auf dieser Basis hätte Erasmus eine Versöhnung sich gedacht. Er selbst hat an diesen Hauptsätzen der Orthodoxie niemals gerüttelt. Man glaubt doch, seine eigenste Stellung präzisiert zu sehen, wenn er den 17jährigen Knaben in dem schon oben erwähnten Gespräch von der kindlichen Frömmigkeit sagen läßt: Was ich in der heiligen Schrift und im Apostolikum lese, das glaube ich in voller Zuversicht, nec ultra scrutor, darüber hinaus grüble ich nicht. Wenn etwas durch allgemeinen Brauch des Christenvolkes angenommen ist, was nicht direkt der heiligen Schrift widerspricht, so behalte ich es bei, um niemandem ein Ärgernis zu sein.

Es wäre nun noch zu reden von all den vielen andern Dingen, die in den Kolloquien zur Sprache kommen. Versuchen wir, statt ins einzelne zu gehen, einige Hauptpunkte herauszugreifen. Eine wichtige Angelegenheit bildet die Ehe in den Gesprächen dieses Junggesellen. Für das Mädchen ist sie das Normale – über die alten Jungfern wird nicht artig gesprochen; nur nicht das Klosterleben, jedenfalls nicht ohne eigenste Neigung und ohne Zustimmung der Eltern. Die Dialoge Die heiratsfeindliche Jungfrau und Die reuige Jungfrau behandeln das Thema der ehescheuen Jungfrau, die ins Kloster will, bald aber dort derartiges erlebt, daß sie auf jede Weise wieder herausstrebt. In der Ehe selbst ist es dann Sache der Frau, dem Manne das Haus möglichst lieb zu machen; eher bei einem Fehltritt des Gatten ein Auge zudrücken, als durch lieblose Strenge alles gefährden. Das Kapitel der Kinderaufziehung wird in der Puerpera, der Kindbetterin, behandelt, wobei die Pflicht des Säugens aufs eindringlichste gepredigt wird. Nichts will er von Ammen wissen; durch die Natur der Milch kann bei Kindern die Anlage verdorben werden. Das Abtreiben der Milch ist überdies unter Umständen für die Mutter gefährlich. Was Erasmus nicht streng genug verurteilen kann, ist, wenn Eltern ihre Tochter einem gesundheitlich ruinierten Manne zur Frau geben. Das Kolloquium von der Ehe, die keine ist, bringen wir in Übersetzung. An Offenheit und Deutlichkeit läßt es gewiß nichts zu wünschen übrig. Wie wenig Erasmus der Syphilis gegenüber irgend welchen Spaß verstand, zeigen in diesem Gespräche die Mittel, die gegen solche Kranke vorgeschlagen werden, um sie unschädlich zu machen. Liest man diese Seiten, so begreift man erst recht, welchen Widerwillen Erasmus vor der Begegnung mit Hutten empfinden mußte, mit Hutten, der, nebenbei bemerkt, zum Kolloquium vom Ritter ohne Roß einige Züge scheint beigesteuert zu haben; oder meint man, Erasmus lasse nur zufällig dem Ritter Harpalus durch Nestorius den Rat geben, er solle sich als Devise seines Wappenschildes wählen: Omnis jacta sit alea? Auch der Frauenbildung windet Erasmus gelegentlich ein Kränzchen. Den Dialog des ungebildeten Abtes mit der gut gebildeten Frau lernen wir aus der Übersetzung kennen. Lustig ist, wie im Weibersenat die Verhandlungen rasch ins Kleinliche und Eifersüchtelnde ausarten.

Daneben dann Kolloquien, die das Frühaufstehen predigen, die Alchymie und den Gespensterglauben lächerlich machen, die von Reiseabenteuern erzählen, wie die wundervoll lebendige Schiffbruchschilderung mit dem Spott über die Heiligenanrufungen, oder das Kapitel über die Gasthäuser, wo Erasmus an dem Beispiel der Stadt Lyon die Reize der weiblichen Bedienung in einem Hotel preist und dazu in Kontrast stellt die mürrische Grobheit der deutschen Wirte und den widrigen Schmutz ihrer Tisch- und Bettwäsche. Sehr wirksam stellt Erasmus in dem Gespräch Funus zwei Totenbette und Beerdigungen einander gegenüber. Es lohnte sich, auch dieses Stück in Übersetzung vorzulegen. Vielleicht den höchsten Flug, der ihr vergönnt war, nahm des Erasmus Phantasie in der Apotheose, der Heiligwerdung des Reuchlin, mit welchem Dialog wir unsere Auswahl beschließen. Man hat den Eindruck: hier ist mehr als eine fein huldigende Fiktion; so hat sich Erasmus den Lohn eines reinen Lebens im strengen Dienste der Wissenschaft gedacht und gewünscht. Man sucht ein Motto zu diesen Gesprächen. Wie wäre es, wenn man ihnen jene trotz ihrem fraglichen Latein so erschöpfende Charakteristik des Erasmus in den Epistolae obscurorum virorum vorsetzte: Erasmus est homo pro se, Erasmus ist ein Mensch für sich.

Bildnis des Erasmus von Hans Holbein d. J.

Öffentliche Kunstsammlung, Basel


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