Georg Engel
Hann Klüth
Georg Engel

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IX

Das war ein langweiliges, hinschleichendes Mittagbrot, das da in der großen guten Stube des Lotsenhäuschens eingenommen wurde, und die beiden Kinder, Bruno und Line, atmeten heimlich auf, als Mudding endlich sagte: »So, Siebenbrod, jetzt sagst du wohl gesegnete Mahlzeit.«

Das tat der Zesnerfischer auch mit merklicher Erleichterung, denn diese beiden feingekleideten Menschen waren ihm so unbehaglich, als irgend möglich. Vor allen Dingen, weil er sich genierte, vor ihnen zu essen, so daß er auch heute im stillen einen gewaltigen Hunger spürte.

»Na, sie werden woll so bald nich wiederkommen,« dachte er.

Auch Mudding, die sich doch im Herzen so sehr über ihren Heimgekehrten freute, sprach niemals viel, und heute wurde ihr Geist noch besonders oft durch die Frage abgelenkt, ob auch alles, was ihr Bruno von sich mitgeteilt, recht und billig wäre, und ob sich seine kühnen Hoffnungen wohl erfüllen könnten.

»Ach lieber Gott – laß mich das noch erleben,« dachte sie innerlich und faltete wie von ungefähr die Hände, obwohl sich in ihrem unbewegten Gesicht nichts regte. So hatte am Tisch eine steife Gezwungenheit geherrscht, denn Hann in seinem blauen Sonntagswams vermochte gleichfalls nur, seinen Geschwistern von Zeit zu Zeit die Schüssel zu reichen, oder die Bierflaschen zu entkorken, die Siebenbrod heute extra »spendiert« hatte. In ihre Gespräche jedoch, die sie ausschließlich für sich allein führten, wagte er sich nicht zu mischen. Da klang ihm ein zu fremder, zu hoher Ton hindurch, und so saß er nachdenklich da und überlegte, wie gut die beiden zueinander paßten.

Ja, das waren frohe, lebendige Leute; die kamen in der seinen Welt zurecht, und über Bruno lachte auch Line nicht, wie stets über Hann.

Das wenigstens hatte er gleich gemerkt.

Ja, ja, so war das wohl auch alles recht gut.

Nach Tisch machte Line den Vorschlag, ein bißchen im Dorf herumzuwandern. Und als Bruno, ganz erlöst, beigepflichtet hatte, schloß sich auch Hann an.

Er hatte kaum bemerkt, daß gar keine Aufforderung dazu an ihn ergangen war.

Draußen war es noch hell.

Vom Kirchturm schlug es gerade drei, als sie sich nebeneinander auf den Weg machten.

Nichts gleicht der Feiertagsruhe eines Ostseedorfes um die Winterzeit, wenn die Sonne im blauen Luftmeer bereits blasser wird, und der Wind auf den silberblitzenden, niedrigen Dächern eingeschlafen scheint. Eine wohlige Ruhe und Stille überall. – Man hört die Schneeflocke fallen, die sich zuweilen von einer vorspringenden Schindel löst.

Als die drei in die einzige Gasse einbogen, die auf beiden Seiten von kleinen Fischerkaten besetzt ist und, lang verlaufend, bis zum Kirchhof führt, berührte Hann den Arm seines Bruders.

»Hör',« fragte er wichtig, »willst du vielleicht Vatings Grab sehen?«

Dar war doch nun wieder ein ganz dummer Einfall des Tölpels. Verstimmt blieb Bruno stehen und blickte voll Verlegenheit zu Line hinüber, die Hann mit ganz erschrockenen Augen maß: –Jetzt–an diesem einzigen freien Nachmittag unter Grabkreuzen?

Aber da fragte der junge Kaufmann bereits, ob der Kirchhof nicht doch zu dick verschneit sei, und Hann lenkte sofort schwerfällig nickend ein: »Ja, ja mit euren Stiefeln ist da wohl nicht durchzukommen – wollen's lieber lassen.«

Line atmete tief auf, sah aber doch noch öfter furchtsam auf den Friedhof hin. Weiter schritten sie, aber für die nächsten Minuten war doch die Stimmung gestört. Sie unterbrachen das Schweigen erst wieder, als unvermutet zweistimmiger Gesang auftönte, und jetzt erkannten die Spaziergänger auch, wie vor der Dorfschule zwei junge Mädchen auf und nieder wanderten, beide Arm in Arm, und eifrig, wenn auch mit halber Stimme, singend.

»Das tun sie hier öfters Sonntags nachmittags,« erklärte Hann.

Noch kehrten die beiden Frauengestalten den Ankömmlingen den Rücken, doch unterschied man bereits deutlich den Text des Liedes, der nicht gerade aufheiternd und munter klang:

»Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen.
Dann ich muß mein Leben lassen.
Ich und mancher Kamerad.«

»Ja,« sagte Hann sehr befriedigt, nachdem er andächtig gelauscht hatte, »Klara und Rosa Toll haben hier die schönsten Stimmen. Wenn sie im Kirchenchor singen, dann geh' ich jedesmal hin.«

Und in seinem inneren Vergnügen nickte er noch ein paarmal bekräftigend und übersah dabei, wie Line ihren Begleiter mit dem Ellbogen in die Seite stieß, und als der sie verwundert anblickte, wie sie mit den Augen heimlich nach dem größeren der beiden Mädchen hinüberzwinkerte.

Da mußte Bruno auflachen.

Nun begrüßte man sich gegenseitig, die Schulmeisterstöchter knicksten vor den feinen Städtern, und Line klopfte der schönen Klara Toll so mütterlich die Wange, daß die also Behandelte, die ein wenig größer als Line war, verlegen ihren Blick auf den Boden lenkte.

Darauf erkundigte sich Bruno, warum die Mädchen ein so trauriges Soldatenlied gesungen, und während die Ältere nicht mit der Sprache herauswollte, und nur ein tiefes Rot langsam in ihre Wangen stieg, begann der Rotkopf ungeniert zu plaudern: Hann Klüth hätte ihnen gestern abend davon erzählt, daß er sich morgen in der Stadt zum Militär stellen müsse, und nun hätten die beiden Schwestern gerade davon gesprochen, und mit einmal hätte Klara angefangen, das Lied zu singen. Sie aber wäre nur so zur Begleitung eingefallen.

»O – nicht doch,« stammelte Hann und machte eine Bewegung, als wolle er nach der Hand der Größeren greifen, besann sich jedoch und steckte seine Rechte plump in die Tasche.

Da schlug vom Kirchturm die Uhr, und die beiden Parteien trennten sich.

Die Sperlinge, die auf der Dorfstraße und auf den Ästen der weißen Pappeln saßen, schrien matter, der Schnee begann sich blauviolett zu färben.

»Sieh,« sagte Line zu Bruno, da sie auf die öden, knackenden Wiesen traten, die sich bis an die zugefrorene See hinabgezogen. »Da drüben.«

Da glühte im roten Licht die Klosterruine, die für die beiden jungen Menschen so viele Erinnerungen barg, herüber, von ihren Schneemassen rann purpurnes Feuer herab, wie ein ungeheurer, weißer Korallenwald standen die kahlen Eichengerippe um das Mauerwerk herum.

»Da,« sprach Line noch einmal und sah ihren Gefährten von damals mit einem flüchtigen Blicke an.

Bruno stutzte.

Plötzlich begann ihm das Herz wild zu klopfen, die Erinnerung stieg in ihm auf. Jetzt, ja jetzt hätte er die lockende Gestalt in dem grauen Pelzjackett wild an sein Herz gerissen, wenn – ja, wenn nicht dieser störende Tölpel neben ihnen gestanden, der sie beide immer so nachdenklich betrachtete.

Aus der eben verlassenen Dorfstraße trug dazu der Wind eine neue Liedstrophe herüber. Die beiden Lehrerstöchter fuhren wohl in ihrem stillen Sonntagsvergnügen fort:

»Kaum gedacht.
Ward der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab!«

»Pst! Für'n Sechser Ruhe!« rief eine heisere Stimme ärgerlich dazwischen.

Aus seiner bretternen Wachthütte, die eigentlich eine Badezelle gewesen, streckte oll Kusemann seinen geölten und frisierten Kopf heraus und legte noch den Finger an die Lippen, um auch pantomimisch anzudeuten, daß er einer Beschäftigung obliege, bei der er keine Störung vertragen könne.

»Oll Kusemann, was machst du hier am Sonntag? Und noch dazu, wo der Bodden zugefroren is und gar kein Schiff in Sicht kommen kann?« fragte Hann nähertretend und steckte seinen Kopf in den engen Spalt der Tür, die oll Kusemann ihm eben brummig vor der Nase zuschlagen wollte. »Und wozu hast du die beiden Flintens da in der Ecke?«

»I, die beöl' ich mir 'n bischen,« brummte der Lotse ausweichend und beäugelte mit seinem schiefen Blick die beiden Städter. »Für die Dinger is Öl dasselbe, was für uns Lebendige Rotspohn is.«

»Oll Kusemann,« fuhr Hann strafend fort, »auf Ludwigsburg drüben ist Jagd, und du lauerst hier bloß darauf, daß sich über das Eis fort wieder was zu dir verlaufen soll. Hast du nicht vorigen Monat erst deswegen vor Gericht gestanden?«

»Ja, aber ich bin freigesprochen,« triumphierte oll Kusemann, indem er sich schmunzelnd seinen spitzen Kinnbart strich, »und der Präsident hat mir noch eine Zigarre dafür geschenkt, weil ich so'n oller nützlicher Mitbürger wär', der die fatalen Seehunde hier wegputzt.«

Aber ehe sich noch ein anderer in das Gespräch mischen konnte, winkte der Lotse plötzlich lebhaft mit Händen und Beinen ab, sprang in die Ecke, ergriff eine der Flinten, pflanzte sich in die Türöffnung und starrte aufgeregt über das Eis des Boddens.

Über die graue Fläche fuhr im rasenden Lauf ein schwarzer Punkt.

»Das ist doch kein Seehund?« rief Hann zornig und wollte nach dem Lauf der Büchse greifen, aber der Lotse schüttelte verächtlich den Kopf: »Was sonst? – Das is einer, wie er leibt und lebt!«

Nun kam die Jagdlust über die kleine Schar. Immer gespannter Verfolgten sie den sich nähernden Farbenfleck. »Jetzt,« murmelte der Lotse und hob das Gewehr.

Da schwankte zu seiner Verwunderung ein zweiter Lauf neben dem seinen.

Line war unvermutet in die Hütte gesprungen, riß jetzt die Waffe an ihre Wange und stammelte mit blitzenden Augen: »Ich auch, ich auch.«

»Kannst du denn zielen?« stieß Bruno hervor.

»Weiß nicht.«

»Dann laß mich visieren, – so.«

Er beugte seinen Kopf dicht hinter ihren Nacken und stützte mit der linken Hand den Kolben. Ohne daß sie darauf zu achten schien, lehnte sie so voll in seinen Armen, daß sein Mund, wenn er es gewagt hätte, die Haut ihres Nackens hätte berühren können.

Oll Kusemann schmunzelte: »Wer trifft, kriegt von dem schönen Fräulein ein Küssing. – Ich treffe, bautz.«

Der Schnee stäubte auf, der Farbenfleck fuhr seitwärts; »kuck«, brummte der Lotse verblüfft und schob sich die Mütze in den Nacken.

Da krachte der zweite Schuß.

»Liegt – liegt,« schrien plötzlich Hann und oll Kusemann gleich zwei Besessenen, und im Wettlauf stürmten sie auf die beschneite Fläche, weil jeder den toten »Seehund« für seine Partei zu requirieren gedachte.

In der Hütte blieben die beiden Sieger allein. Bruno faßte sich an die hämmernde Schläfe. Ob er sich jetzt seinen Schützenlohn holte? Sachte, indem er glaubte, Line bemerke es nicht, zog er die Tür hinter sich zu, so daß das Rotlicht der scheidenden Wintersonne nur noch durch das kleine Guckfenster fallen konnte. Dann zögerte er wieder – einen Schritt kaum von ihm getrennt, stellte das Mädchen ihr Gewehr in die Ecke. Deutlich sah er die schöne Rundung ihrer Glieder, als sie sich bückte. Da kam seine kecke Wagelaune über ihn. Tausend Nerven prickelten ihm in den Armen, kaum wußte er noch, was er tat; tief aufatmend drängte er sich an ihre Seite.

Doch dieser Atemzug verriet ihn. Kräftig raffte sie sich auf und sah ihn groß an. »Weshalb hast du die Tür geschlossen?« fragte sie rauh.

Er schüttelte den Kopf und blieb wirr und unentschlossen vor ihr stehen.

Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf.

»Ich hab's nicht gern im Dunkeln,« sagte sie mit einem feindseligen Blick, und wieder schoß ihr der Gedanke an Dina widerwärtig durch den Kopf; dann lachte sie kurz und trocken auf: »Da bringen sie den Seehund.«

Sehr demütig und kleinlaut schlich oll Kusemann heran, obwohl er seinem ungelenken Gefährten bei der Ergreifung des Seeungeheuers zuvorgekommen war. Aus seinem Wams guckte ein langohriges Köpfchen heraus.

»Verfluchtet Pech,« wimmerte er, »'s richtig wieder ein Hase. Da kann man nun die besten Absichten haben, die allerreellsten, aber gegen Mallöhr is nich aufzukommen. Na adjüssing.«

So schlich er mit dem unwillkommenen Braten betrübt seinem Häuschen zu, ehrwürdig, als »oller nützlicher Mitbürger.«


In tiefer Dunkelheit fuhren Line und Bruno in einem geschlossenen Schlittenkasten heim, den man sich erst vom Krugwirt hatte borgen müssen, da ihr eigenes Gefährt auf Wunsch des Konsuls noch bei Tageshelle den Heimweg angetreten.

So hockte denn Hann, der sich willig dazu erboten, in seinem zottigen Schifferpelz auf dem Bock und schwang die Peitsche. Von drinnen hörte er undeutlich die Stimmen seiner Passagiere, doch er wendete sich nicht um: »Nich horchen,« dachte er, »das paßt sich nich.«

Aber was er sich selbst nicht verbieten konnte, das waren seine Gedanken, die immer wieder zu seinen Mitfahrenden in den klappernden Schlitten hineinstiegen.

»Passen gut zusammen,« dachte er. »Was kann er gut mit Reden fort und sie – so hübsch, und gewachsen wie so'n schieres, glattes Füllen – ja, ja, man möcht' ordentlich eins überstreichen.«

Hier stockte er, erschrak und schämte sich. Ach, es war ja das Unglück dieses nachdenklichen Bauern, daß ein schlichter, tiefer Schönheitssinn in ihm lebte, und daß er dieses junge, blühende Mädchen da drinnen von seiner Jugend an als das Übermaß weiblicher Vollendung zu verehren gewohnt war. »Und wie sie sich in den Hüften dreht,« dachte er bewundernd weiter.

»Hüh,« schrie er wütend dazwischen. Aber im nächsten Moment kehrten seine Gedanken in Wasserstiefeln schon wieder zurück. »Ob Bruno ihr aber auch gut is? Ja, ja, das ist 'ne verfluchte Geschichte, und ob er es auch ganz treu und ehrlich meint?«

»Hüh,« schrie er wieder, und der Schlitten klingelte weiter durch Dunkelheit und Mondschein.

Drinnen sprach derweil die schwarzbraune Hexe ihren Zauberspruch.

Es klapperten die Scheiben, es quietschten die Lederhüllen und ließen die kalte Luft fast ungehindert herein. Line hauchte ein paarmal vor sich hin, um im vorüberhuschenden Mondlicht ihren Atem dampfen zu sehen, dann fröstelte sie zusammen, bis sie sich endlich, Wärme suchend, in sich selbst einkauerte, ohne bemerken zu wollen, wie ihr Gefährte fast atemlos neben ihr saß, betört und bezaubert von dieser widerspenstigen Schönheit. Mit Gewalt suchte er sich von seinen schlechten Gedanken abzubringen.

»Bist du müde?« fragte er.

Er berührte zaghaft ihren Arm.

Ärgerlich zuckte sie den Ellbogen zur Höhe: »Was willst du?«

»Ich wollte dich nur einmal fragen, was du eigentlich in diesen sieben Jahren getrieben hast? – Es interessiert mich so.«

»Gott, gelernt und gelesen hab' ich, das merkst du doch wohl, und tu's auch heute noch.«

»Und zu welchem Zweck?«

»Wie du auch fragst?« lachte sie und warf die Lippen auf. »Damit ich in die Höhe kommen kann. Das ist doch selbstverständlich. Paß mal auf, so wie dir, wird's mir auch glücken. Ich bin ja nicht häßlich.«

»Nein, bei Gott, das ist sie nicht,« schoß es Bruno durch die erregten Sinne, nur wild, widerspenstig und berechnend, wie es ihm scheinen wollte, und sich näher zu ihr vorbeugend, drängte er weiter: »Willst du denn irgendeinen Beruf ergreifen?« Da traf ihn schon wieder solch ein feindseliger Blick.

»Wenn ich nicht durch eine Heirat mein Glück mache, dann gewiß. Bei Fräulein Dewitz bleibe ich nicht länger. Das kann mir keiner verdenken. Aber weißt du was?« – Sie schmiegte sich plötzlich an ihn und senkte das Köpfchen auf die Brust, als gälte es ein Geheimnis. Und es bedeutete auch wirklich eines.

»Da waren neulich die Hofschauspieler aus Schwerin im Voglerschen Saal – du, und da war eine dabei, die war nicht älter wie ich, aber so ausgelassen, und wild, und gab lauter solche Rollen, wo man die Männer anführt. Weißt du, ich glaub', das könnt' ich auch. Und wie sie im letzten Akt auftrat, da flogen aus der Offiziersloge lauter Buketts auf sie zu, bis sie endlich eine Kußhand warf. Immerfort – lauter Kußhände. Ah – das hätt' ich auch tun mögen. Wahrhaftig.«

Sie verzog den Mund und nickte wie zur Bekräftigung mehrmals vor sich hin.

Da war es heraus, das Innerlichste von ihr, jenes Abenteuernde, Irrlichtierende, das Bruno nur dunkel geahnt hatte, das ihn jetzt aber mit solcher Macht fing, daß er, halb seiner selbst beraubt, die Hände gegen die Augen preßte, um sich zurückzuhalten, sich zu zähmen.

»Hast du was?« fragte sie.

Er verneinte. »Kopfschmerzen.«

»Ja, ja, es ist auch kalt,« brach sie ab. »Wollen schlafen, ich bin müde.«

Damit lehnte sie sich in das Leder zurück, und bald verkündeten ihre regelmäßigen Atemzüge, daß ihrem Willen auch der Schlummer dienstbar wäre.

Bruno rieb sich die Stirn und sah neugierig auf sie hin.

Ob sie wirklich schlief? – Oder ob die raffinierte kleine Person ihm nur zeigen wollte, wie lieblich sie aussah, wenn das Mondlicht über sie huschte, und wie weiß die Zähne hinter den halbgeöffneten Lippen hervorblitzen konnten.

Nein – nein, er wandte sich ab, er blickte auf die Chaussee hinaus, auf deren Schneedecke die Pappeln schwarze Schatten warfen, wie lange Schlangen, die auf das Gefährt zukriechen wollten.

Aber auch dieser Anblick zerstreute ihn nicht.

Nein, nein.

Die Schläferin rührte sich. Sie saß jetzt aufgerichtet, nur der Kopf war hintenübergesunken, während die Brust sich leise hob und senkte.

Ob sie wirklich schlief?

Schon nahten die ersten Häuser der Stadt.

Da hatte Bruno ausgekämpft. Die kleine, schwarze Hexe neben ihm war stärker als er.

Ziemlich unsanft, beinahe rüttelnd fuhr er über ihren Arm.

Gegen sich selbst wollte er sie bewahren. »Wach auf, wach auf!« schrie es in ihm.

Aber die Schläferin sank, der Bewegung folgend, in voller Schlaftrunkenheit gegen die Schultern des Mannes.

Oh, wie weich rundeten sich ihre Lippen.

Er hob ihr Kinn, ruhig atmete sie fort, selbst die Grübchen in ihren Wangen konnte er bei dem trüben Lampenlicht gewahren, und leise, leise, wie ein vorsichtiger Dieb, stahl er ihr von den kostbaren Früchten.

Da gab es einen Stoß. Ruckartig hielten sie.

Ob Hann zurückgeblickt hatte?

Wie taumelnd sprang der grobkörnige Geselle von dem Schlitten herab, dann öffnete er den Schlag und grollte: »Wir sind da.«

»Schon?« gab Bruno atmend zurück, und auf Line deutend, setzte er hinzu: »Fest eingeschlafen.«

Hann starrte in dumpfem Staunen auf sie hin.

Und erst nach geraumer Zeit gelang es den beiden, das Mädchen zu wecken.

Verwundert blickte sie sich um, dehnte sich, und dann lachte sie und meinte gleichgültig: »Ah – das war geschlafen. Aber seht da oben, da lauert schon die Alte auf mich. Sie brennt noch Licht. Na, kommt gut nach Hause.«

Durch die klingelnde Haustür sprang sie die Stufen hinauf, nickte noch einmal zurück und verschwand.

Als Hann nach einer Weile im Schritt zurückkutschierte, da hielt er in seinem Fausthandschuh ein Zehnmarkstück. Das hatte ihm Bruno beim Abschied in die Hand gedrückt, halb als Geschenk, halb als Trinkgeld. Und der unbeholfene Bursche besah es sich beim Sternenlicht, kratzte sich hinter dem Ohr und seufzte tief auf.

»Hüh, Schimmels!«


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