Georg Engel
Hann Klüth
Georg Engel

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III

»Die Hyazinthen blühen,« rief Line, während sie an dem dick vereisten Fenster die Gläser mit den aufbrechenden Knollen zurechtrückte: »Sehn Sie bloß, Fräulein, die letzte ist auch rot geworden. Jetzt haben wir nur rote und weiße.«

Es war Neujahrsmorgen.

In dem gemütlichen Stübchen lag heller Wintersonnenschein. Alles prangte in dem Altjungferzimmer von Sauberkeit; der braunlackierte Fußboden, die gelblackierten Korblehnstühle, der Mahagonitisch, welcher ebenfalls Lackglanz auszahlte, ja selbst die Fensterbretter redeten in ihrem weißen Schimmer davon, daß das alte Fräulein Dewitz die Eigentümlichkeit besaß, nach jedem Besuch den etwa entweihten Glanz ihres Schmuckkästchens durch eine allgemeine Lackierung wieder aufzufrischen.

Und nun erst die beiden Betten, die man nebenan aus dem Alkoven hervorschimmern sah. Es schien beinah unmöglich, daß sich an diesem schneeigen Weiß jemals Menschenhände vergriffen haben sollten.

Die allergrößte Sauberkeit jedoch, nein, förmlich eine Art Leuchtkraft der Reinlichkeit strahlte die Besitzerin dieser lackierten Räume selbst aus.

Da saß sie in ihrem Korblehnstuhl, in dessen gelbem Lack freundlich die Sonne widerglitzerte, trug eine blankgeputzte Brille auf dem Stumpfnäschen und las Neujahrsgratulationen, die auf ihrem Schoß unwillkürlich ein höheres Weiß angenommen hatten.

Lange murmelte sie so halblaut vor sich hin. Dann wurde sie gestört.

»Sehn Sie bloß, Fräulein,« rief Line noch einmal. »Diese schönen Farben und wie sie duften; das ganze Zimmer ist voll davon!«

»Du sollst nicht Fräulein sagen,« verwies die grauhaarige Dame und schüttelte zwei große Locken, die einen glatten Scheitel flankierten.

»Tante,« verbesserte sich Line.

»Gut – so klingt es liebevoller. – Zwar, wenn wir allein sind, dann höre ich es auch gern, wenn du mich ›du‹ nennst. Vor Fremden freilich bleibt das ›Sie‹ mehr am Platz. Denn bei der heutigen Jugend, meine ich, muß man auf Respekt halten. Das ist nötig.«

»Gewiß,« bestätigte Line, die gar nicht gehört hatte, jedoch der alten Dame nie widersprach. »Darin hast du ganz recht, Tante.«

»Ja, ja,« fuhr das gute Fräulein fort und befeuchtete sich ihre Unterlippe, was sie wohl in ihren langen Dienstjahren als Handarbeitslehrerin angenommen, »du bist nun die letzte, die ich erziehe. Gott ja, wenn ich so zurückdenke, – und am Neujahrsmorgen kommt einem das so unwillkürlich – dreißig Jahre hab' ich all die kleinen Mädchen vor mir sitzen gesehn und habe sie nähen, stricken und sticken gelehrt – jede hatte ihren eigenen Knäuel, den sie bei mir kaufen mußte – und ich rechnete genau dasselbe dafür, was er mich selbst kostete. – Lieber Gott, es ist wahr, manche stellte sich gar zu ungeschickt an; aber schließlich – lernen mußten sie es eben, denn damals wurde das nicht allein von der Familie, sondern auch vom Staat verlangt. – Ja, siehst du, mein Döchting, ich hab' oft darüber nachgedacht, damals legte man noch mehr Gewicht darauf, daß in den kleinen Dingern so allmählich eine rechte Stille und Ruhe groß würde, und dazu – das weiß ich gewiß – dazu war grade mein Fach so recht geeignet. Wenn sich die frischen Gesichter beim Häkeln herabbeugten und dabei zählen mußten: ›Eins, zwei, drei – feste Masche – eins, zwei, drei – Stäbchen –‹ siehst du, dann kam ordentlich etwas Hausmütterliches in sie hinein. Es war rührend anzusehn. Jetzt ist das alles anders.«

Das alte Fräulein seufzte ein wenig, befeuchtete die dicke Unterlippe mit der Zunge und vertiefte sich in einen neuen Brief, den sie eben entfaltet hatte.

Eine Zeitlang hörte man nichts als das Murmeln von Fräulein Dewitz und das frische Knacken der Holzklötze, die in dem blankgescheuerten, weißen Ofen lustig brannten.

Dann klang ein halbes Kichern durch den Raum, und Line, die noch immer abgewandt am Fenster lehnte, reckte ihre schlanke Gestalt.

»Lachtest du?« fragte das alte Fräulein, erstaunt von ihrem Briefe aufsehend.

»Bewahre,« beteuerte Line, während sie mit ihrem Finger ein kleines Guckloch in die Eisscheiben malte.

»Aber es klang doch so.«

»Ich habe nur gehustet,« versetzte das junge Mädchen ganz ruhig, indem sie jetzt bereits durch den kleinen Kreis auf die Straße hinausblinzelte.

»Ja, ja, du mußt dich vor Zugluft in acht nehmen,« ermahnte die Tante. »Vom Zuge kommen alle Krankheiten. Viele meiner älteren Bekannten tragen dagegen auch stets ein paar Katzenhaare in der Tasche.«

Wieder setzte sie das Murmeln fort, und so merkte die alte Dame nichts mehr davon, wie sich das Mädchen geschmeidig vorbeugte, wie durch die angespannten Glieder ein kurzes, unterdrücktes Lachen bebte, und daß sich über das Gesicht jener seltsame belebende Zug verbreitete, ein Aufstrahlen, das die Lehrerin nun schon seit Jahren als unbegreiflich bei dem sonst folgsamen Geschöpf zu unterdrücken bemüht war.

Auf der anderen Seite der Straße wanderte zur selben Zeit eine untersetzte stämmige Gestalt auf und ab, ungelenk, in blauer Düffelschifferkleidung, einen ungeheuren grauen Schal um den Hals, und bis unter die blaue Mütze mit Sommersprossen bedeckt, die auch im Winter nicht abblaßten. Unter beiden Armen aber trug die Gestalt je einen mächtigen Korb, deren Deckel sie ab und zu lüftete, um dann, nach einem Seitenblick auf das wohlbekannte Blumenfenster, rasch wieder beschämt vorüberzutraben.

Das war Hann Klüth, der gegen den Widerspruch des geizigen Siebenbrod alljährlich am Neujahrsmorgen eine hochgepackte Sendung Blut- und Leberwürste sowie zwei schneeweiße, lebende Gänse in diesen Körben zu Fräulein Dewitz beförderte. Allein jedesmal bedurfte es größerer Energie, um ihn das schmale Holztreppchen hinaufzubringen. Bei Fräulein Dewitz war alles so vornehm, und wenn das alte Fräulein ihn mit wohlwollender Herablassung in einen ihrer gelben Lehnstühle niedernötigte und Line ihn lachend fragte, ob er die Gänse auch selbst gestopft hätte, oder wann er wieder einen Hecht unter dem Eise stechen würde, dann empfand Hann stets eine Unbehaglichkeit, eine innere Erniedrigung, die er sich selbst nicht gern eingestehen wollte.

Warum Line ihn wohl so fragte? – Und weshalb sie stets die Lippen zu solch eigenartigem Lächeln verzog, so oft sie seiner ansichtig wurde? Ja, ja, es war richtig, sie war bei Fräulein Dewitz eine wirkliche junge Dame geworden, die auf dem Kapitänsball und bei dem Studentenball getanzt und sehr viel gelernt hatte, aber er – Hann Klüth – das wußten alle andern man nich – und dabei lachte er während des Hintrabens wehmütig-stolz auf das schneebedeckte Trottoir hinab – er war auch gar nicht so dumm geblieben. Ja, das ahnten sie man alle nich, wieviel er ebenfalls sich herausgeklüstert hatte, während der langen Boddenfahrten bei Tage und bei Nacht. Er hatte so seine eigene Ansicht über das meiste, was man sehen und denken konnte. Sie brauchte zwar nicht die richtige zu sein, das nicht; aber er hatte doch eine. Und das Denken, – das von eins auf zwei kommen, und von da in die großen Zahlen hinein, das war nun mal sein einziges Vergnügen. Das hatte er gegen all die Püffe von Siebenbrod und die Tränen von Mudding und mit alleiniger Unterstützung des Lügenlotsen oll Kusemann durchgesetzt.

»O je – nehmens nich übel,« stotterte Hann aus seinen Gedanken heraus und starrte erschrocken auf den schlanken Studenten mit der blauen Korpsmütze, mit dem er eben während seines Trotts zusammengestoßen war.

»Donnerwetter – Mensch – nehmen Sie sich doch in acht,« schnauzte der junge Herr aufgebracht, denn es war ihm sofort klar, daß Line, welcher er gegenüber wohnte und der er um diese Zeit stets eine kleine Fensterpromenade schnitt, das lächerliche Zusammenprallen mit diesem Bauerntölpel bemerkt haben müsse.

»Nehmens nich übel,« entschuldigte sich Hann noch einmal, »ich habe Ihnen nich gesehn.«

Doch der Musensohn mußte den armen Fischer erst noch etwas gründlicher seine Überlegenheit fühlen lassen: »Was geht mich das an?« schimpfte er fort, während sein brauner Neufundländer wütend gegen Hann zu knurren begann, »soll ich Ihnen vielleicht zuerst ausweichen?«

»Je, wenn Sie mich zuerst sehen?« meinte Hann ehrlich.

»Dummkopf Sie,« schrie der Student, der es in der »natürlichen« Philosophie noch nicht so weit gebracht hatte, »wenn Sie nicht solch ein Schafskopf von einem Esel wären – – –«

»Ich weiß woll, studiert hab' ich nich,« sprach Hann gelassen dagegen, und nachdenklich setzte er hinzu, »ich dacht' mich bloß, die offenbare Straße wäre für jedwereinen da, denn wozu wäre sie sonst so breit? Und wenn ein feiner Herr von einem gewöhnlichen Mann nicht gestoßen werden möcht', daß es dann besser wär', er ging' ihm aus dem Weg.«

Das war nun eine Probe des gewundenen Denkens, das Hann sich angewöhnt hatte, für das aber ein Lehrstuhl an der kleinen Universität noch nicht existierte. Sein Gegner warf ihm deshalb auch nur einen einzigen wütenden Blick zu, und in dem Bewußtsein, die Gattung des Korbträgers jetzt erst felsenfest fixieren zu können, rief er noch verächtlich: »Kamel,« und stürzte triumphierend davon.

»Je, wieso?« sprach Hann in sich hinein und sah dem blauen jungen Mann zweifelnd nach. »Ein Kamel, als wie sie es damals in der Menagerie hier zeigten, das is ja doch ein Vieh, wie sie es in den großen Wüsten zum Transport gebrauchen, und was ja auch, wie oll Kusemann sagt, einen natürlichen Wassersack haben soll. Warum sie nun aber wohl so einen nützlichen Tiernamen als Schimpfwort anwenden? Das möcht ich wissen. – Auch ›Hund‹ und – –« Aber weiter kam er nicht in seinem Hinsinnen. Denn oben an dem Blumenfenster öffnete sich ein Flügel und eine helle Stimme rief halblaut herunter: »Hann!«

Der Schiffer zuckte zusammen.

Diese Stimme hatte noch immer für ihn etwas Weckendes, Alarmierendes. Allerdings in den langen Jahren, in denen er nun schon von Line getrennt lebte, hatte er längst eingesehen, daß der Abstand zwischen ihnen beiden ein unermeßlicher geworden. Sie, eine Stadtdame, die bei Konsul Hollander zu Tisch aß – und er, der Bootsmann von Siebenbrod, der für eine Mark die Studenten auf dem Bodden spazieren fuhr. – Ne, ne, die Zeiten, wo sie seine Braut war, wo oll Kusemann sie beide im Abendnebel getraut, und wo sie Hann vor Angst zitternd geküßt hatte, die waren vorüber. Für immer. Bloß das Drandenken, das blieb schön. Und, das tat er auch. Ohne daß einer es ahnte. An den langen Winterabenden, wenn Mudding, Siebenbrod und er neben dem Herde in der Küche saßen und Netze flickten und der scharfe Fischgeruch sich mit dem Torfbrodem mischte, dann sann er und sann. Und wenn dann eine Möwe an der Mauer mit scharfem Flügelschlag vorüberstrich, dann glaubte er, die flinke, kleine Line husche wieder durchs Haus; und wenn er die Reiher auf dem Eise tanzen sah, dann dachte er daran, wie Line tanzen konnte. Auch an den Tanz in der Schenke, ein paar Wochen nachdem der Vater gestorben, mußte er sich erinnern. Ja, ja, wie hübsch ihre Röcke damals wirbelten – hm –

»Hann,« rief die helle Stimme noch einmal. Hann fuhr zum zweiten Male empor und begann sich heftig zu schämen. Richtig, jetzt hatten ihn die »verfluchtigen Gedankens«, die so oft über ihn kamen, jetzt hatten sie ihn auf offener Straße in ihre Gewalt bekommen, so fest, daß er beinah vergessen hatte, weswegen eigentlich die Körbe an seinen Armen hingen. Nun half es nicht länger, jetzt mußte er hinauf. Ohne den Blick zu erheben, lüftete er die Mütze vor Line und stieg die schmale, gewundene Holztreppe in die Höhe.

»Oh,« rief Fräulein Dewitz, nachdem er mit einem Kompliment die Körbe vor ihr niedergesetzt, »Lining, sieh her, ich glaube gar, das ist ein Geschenk für uns. Was das wohl sein mag?«

Line antwortete nicht. Mit ihrem leisen verhaltenen Lächeln stand sie noch immer am Fenster und sah mit an, wie Hann ungeschickt in den Korb griff, um eine der Gänse am Halse in die Höhe zu bringen.

»Ei der Tausend – eine Gans,« verwunderte sich Fräulein Dewitz, obwohl dieser Transport in ihrem Haushalt schon lange vorher berechnet war. Aber die gute alte Dame glaubte den Spendern durch ihr jedesmaliges Erstaunen eine Freude bereiten zu müssen. »Und was mag wohl in dem andern Korb sein?« fuhr sie fort und leckte sich im Vorgeschmack die Lippen. »Das sind doch nicht etwa – – –?«

»Ja, Madamming,« unterbrach Hann, »Würste.«

»Nein, wie aufmerksam,« lobte die Handarbeitslehrerin, und dann machte sie mit ihrer gepflegten weißen Hand eine einladende Bewegung, damit sich Hann in den Korbstuhl ihr gegenüber niederlassen möchte.

Allein das war der gefürchtete Moment. Hann blieb stehen, versuchte wieder eine Verbeugung und begann davon zu sprechen, daß heute Neujahr sei, und daß er herzlich gratuliere.

»Ich danke Ihnen – ich danke Ihnen aufrichtig, lieber Herr Klüth,« sprach die alte Dame wohlwollend und vollführte nochmals ihre Handbewegung, die Hann jedoch nur von neuem erröten ließ.

Und bei alledem stand Line und lächelte. Mit der linken Hand hatte sie nach dem oberen Riegel des Fensters gegriffen und lehnte den dunklen Kopf an den Arm. So bot sie ein hübsches, anmutiges Bild. Ein paarmal hatte Hann nach ihr hinübergeblinzelt, jetzt erst wagte er die Augen aufzuschlagen. Er erstaunte. Nein, was sah sie doch schlank und vornehm aus in dem enganliegenden blauen Tuchkleid. – Wie groß war sie geworden, wie hatte sie sich entwickelt.

»Gratulierst du mir nicht auch?« fragte sie ein bißchen gönnerhaft.

»Ja, Lining – dir auch,« brachte er hervor. Das »du« wollte ihm gar nicht recht aus der Kehle.

»Dann gib mir doch die Hand,« forderte sie, wobei das Lächeln nicht von ihrem Antlitz weichen wollte.

Da machte Hann einen Schritt vor, und als sie nicht näher trat, noch einmal einen und streckte zögernd den Arm nach ihr aus: »Da, Lining.«

Mit einem mutwilligen Ausruf griff sie zu, heftig seine Hand schüttelnd: »Wie geht es der Mutter?« forschte sie rasch.

»Oh, bis auf die Füße is sie noch ganz gut zu Weg.«

»Und Siebenbrod?«

»I, der hat ja kurz vor Neujahr drei Schweine zu unseren dazu gekauft. Wir haben ordentlich den Koben ausbauen müssen.«

Wieder tönte von den Lippen des Mädchens ein kurzer, spöttischer Ton.

Aber die alte Dame wies sie zurecht. Dabei wäre nichts zu spotten. Siebenbrod sei nur zu achten, weil er so sparsam sei und die Wirtschaft vermehre.

»Ja, gewiß Tante,« lenkte Line sofort ein, die die alte Dame einen Moment vergessen hatte, und dann fragte sie in ihrer Eilfertigkeit Hann weiter, wie es ihm selbst ginge.

»Oh, so weit ja ganz gut, Lining, bloß –«

Er stockte.

»Nun, was denn?«

»Ich muß mich nämlich nun zu den Soldaten stellen.«

»Du?«

Mit einer plötzlichen Bewegung steifte sie ihren Arm und drehte Hann dabei etwas herum, als wünsche sie den künftigen Krieger von allen Seiten zu betrachten.

»Nun, darauf freuen Sie sich wohl schon sehr?« warf die Tante dazwischen. »Es ist doch eine Ehre, dem Vaterlande zu dienen – wie?«

Aber Hann schüttelte den Kopf und sah bekümmert auf den Fußboden: »Ne, Madamming, das tu' ich nich!«

»Nicht?« riefen beide Frauen nun wie aus einem Munde.

Hann erschrak und schlug seine hellen Augen nieder. Er merkte, daß hier etwas vorginge, was ganz gegen die Ansichten des alten Fräuleins verstoßen mochte. Anstatt jedoch nun seine Gedanken klarzulegen, wie er sie so oft bei sich selbst gehegt, etwa in der Art: »Soldaten? – Ne – werden die nicht extra dazu angelernt, wie man andere Leute ihre Kinder totschießt? Und dann – wenn ich in meinem Schifferrock einen umbring', dann werd' ich geköpft – aber in solch blau und rotem Rock krieg' ich dafür noch einen Orden. Da stimmt doch etwas nicht?«

Statt all dieser guten Gedanken brachte er nur scheu hervor: »Nein, ich möcht' lieber nich unter die Soldaten.«

Das alte Fräulein erhob sich: »So?« versetzte sie kühl. »Das ist ja sonderbar – hm –« Und mit den Worten: »Ich will nun doch mal nach der Küche sehn,« ging sie mit ihren langen, ehrbaren Schritten hinaus.

Die beiden Kinder von Moorluke blieben allein. Langsam kauerte sich Line in den verlassenen Korblehnstuhl nieder, lehnte sich zurück und ließ ihre Stiefelspitzen leise gegeneinander klappen. Dann glitt wieder einer ihrer taxierenden Blicke über den ungelenken Besuch fort, und plötzlich lud sie ihn mit einer bestimmten Bewegung ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Hann wagte es nicht. Er behielt seine Mütze in der Hand und blinzelte ehrerbietig zu ihr hinüber. Nein, wie überaus fein und zierlich er alles an ihr fand. Diese kleinen Halbschuhe, aus denen die schwarzen Strümpfe hervorlugten, und dann die schwarze Atlasschürze, die so glatt über den Hüften abschloß – – – und wie sie sich jetzt kaum merklich hin und her wiegte, das schwarze Köpfchen seitlich an die Lehne gedrückt, während ihre dunklen Augen ab und zu zu ihm herüberblitzten, das erfüllte den großen Burschen schließlich mit solcher Freude, daß er immer wohlgefälliger mit dem plumpen Haupte nickte und mit der freien Hand wohlig am Knie auf und nieder fuhr.

Mit einem Male beugte sich Line hastig vor, daß Hann beinah' einen Schrecken bekam, stützte die beiden Ellenbogen auf ihre Knie, wie sie es als Kind stets gepflegt, und über ihre Lippen kam es kurz und überlegen: »Sag', Hann, hast du schon eine Braut?«

Hann hielt den Atem an und starrte ihr grenzenlos verdutzt, ja bekümmert in das feine Antlitz. O je, wie sollte er wohl zu einer Braut kommen? Wußte sie denn gar nicht, daß er nicht auf so was ausging, ja, daß er alle Frauen ängstlich vermied, weil – ja weil– –

Er schüttelte mit einem wehen Zug um den groben Mund den Kopf und scheuerte wieder an seinem Knie auf und nieder.

»Lining – oh –«

»Na, was wär' denn dabei?«

Ihr schien die große Verlegenheit des armen Menschen Freude zu bereiten. Und dann – immer mit dem angelehnten schmalen Gesichtchen plauderte sie weiter, leise, flüsternd, damit es das gute Fräulein Dewitz in der Küche nebenan nicht vernehmen könnte. Oh, es war doch ein so lang entbehrter Genuß, endlich wieder einmal unbeobachtet, jung und frisch und ungeniert necken und schwatzen zu dürfen.

»Hann, da sind doch aber die beiden Töchter von Schullehrer Toll. Und die älteste, die hübsche, von der sie sagen, daß sie Krankenschwester werden will, die hat neulich hier erzählt, wie du mit ihr getanzt hast.«

Hann rückte hin und her.

»Lining – das wohl – ich könnt' mir auch nich anders helfen.«

»Aber die wär' doch was für dich,« fuhr sie fort. »Denk mal, wenn die nun bloß deinetwegen Krankenschwester werden wollte?« Und plötzlich faßte sie seine beiden Hände und brach in ein langes, fröhliches Lachen aus. Die Idee, Hann als Bräutigam der hübschen Schulmeisterstochter zu sehen, schien sie mit ungemeinem Behagen zu erfüllen. Merkte sie nicht, wie der arme Bursche immer blöder den Boden suchte, fühlte sie gar nicht, wie ihre Worte sich ihm immer enger und drückender ums Herz legten?

Endlich erhob er sich; er überwand sich und sagte mit gepreßter Stimme: »Lining, das alte Fräulein kommt wohl nicht wieder. Da wird es Zeit, daß ich geh'.«

Und wieder wagte er nicht, sie anzublicken, sondern stand und knöpfte langsam sein blaues Schifferwams zu.

Line erhob sich. Mit leichten Schritten ging sie um ihn herum, immer ihn messend, als wäre des Spaßes noch nicht genug. Plötzlich huschte sie dicht an seine Seite, hob ihm kräftig das Kinn auf und zwang ihn so, sie anzublicken. Seine blauen Augen sprachen förmlich von zurückgedrängtem Kummer.

»Sag' mal Hann,« begann sie, »wenn es Klara Toll nicht ist, dann möchtest du wohl lieber mich? Wie? – Weißt du noch, wie wir uns verlobt haben, und wie oll Kusemann uns eine Molle voll Goldstücke aus der untergegangenen Stadt zur Hochzeit schenken wollte?«

Ihre Hand strich an seiner Backe hin und her, etwa wie man einen großen, treuen Hund streichelt, aber als sie seinem ehrlichen, betrübten Blick begegnete, hielt sie inne.

»Na, laß gut sein, Hann,« brach sie schonend ab. »Ja, Lining,« brachte er mit Anstrengung hervor, »wir waren eben noch Kinder und sehr dumm.«

»Ja, ja, Hann,« sagte sie stiller, und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Aber die Molle voll Goldstücke, die wünsch' ich dir. Wenn du so die untergegangene Stadt finden könntest, dann –«

Ihre Augen vergrößerten sich, sie zeigte ihre spitzen Zähnchen. Dabei sah sie aus, als ob sie den Besitzer der untergegangenen Stadt mit ihren unermeßlichen Schätzen wohl liebhaben könnte. Doch Hann zerstörte den Traum.

»Kuck, Lining,« murmelte er achselzuckend, »das mit der Stadt, das is auch man so, wie alles andere. Sieh, als ich noch ganz klein war, und als du noch bei uns draußen wohntest, ja, da sah ich sie manchmal ganz deutlich unter dem Wasser. Zuweilen auch bei Nacht. Da zeigte mir oll Kusemann ordentlich erleuchtete Fenster und so was. Aber dann später, je älter man wird, desto weniger sieht man sie. Ich glaub', das is auch man so 'ne Kinderstadt–«

Damit wollte er ihr die Hand zum Abschied bieten, doch Line starrte ihn noch verwundert über seine letzten Worte an. Und achtungsvoller als sonst drang es endlich über ihre Lippen: »Hann, was du da sagtest, das war gar nicht so dumm.«

»O Lining,« wehrte er bescheiden ab, »ich dachte das bloß so – Und nun adschö.«

Er nickte, raffte die Körbe in die Höhe und wollte gehen.

Da faßte sie ihn noch einmal rasch bei der Hand und nahm gewandt einen der Briefe vom Tisch, die das alte Fräulein Dewitz uneröffnet hatte liegen lassen. »Hann,« flüsterte sie, »sieh den – weißt du, von wem der is?«

Hann schüttelte den Kopf. Wie konnte er das erraten? Der Brief war ja noch zu.

»Und die Schrift, kennst du die auch nicht?«

Hann betrachtete nochmals die feinen Schriftzüge und las den Poststempel, der Brief kam aus Hamburg. I, woll, der konnte von seinem Bruder Bruno stammen.

Eifrig nickte Line: »Ja, ja – und weißt du, was drin steht? Heute morgen erwartet ihn der Konsul schon. Er ist vielleicht bereits hier.«

»Bruno?«

Sie nickte, strich sich über die Haare und warf einen Blick in den Mahagonispiegel in der Ecke.

»Ja – aber woher weißt du denn den Inhalt?« fragte Hann ganz betroffen.

Line zuckte zusammen, blickte sich blitzschnell nach der Tür um und atmete endlich tief auf. Und während ihr das Blut die Wangen glühend färbte, bezwang sie sich und versuchte zu lachen: »Mußt es nicht weitersagen, Hann,« stotterte sie, – »ich – war so neugierig – du weißt ja– und da hab' ich den Brief in der Küche über dem Wasserdampf ein bißchen geöffnet – bloß ein bißchen. Dabei is doch nichts? Was? – Aber nicht weitersagen! – Hörst du?«

Allein Hann stand ganz niedergedonnert vor der lieblichen Verbrecherin. Er schämte sich derartig, daß er zitterte, als hätte er selbst das Unerhörte begangen.

»Aber Linning,« murmelte er, »wie konntest du das bloß – – wie –«

»O, das war doch nur Spaß.«

»Ja, aber wenn nu einer aus Spaß stehlen wollte?« sprach er in seiner philosophischen Methode weiter.

Jedoch Line war bereits wieder ganz getröstet. Sie versetzte ihm mit ihrer kleinen Faust einen neckischen Puff in die Seite, und während sie ihn lachend zur Tür hinausschob, rief sie ihm in ihrer gedämpften, kaum hörbaren Art über die Treppe nach: »I, du bist nicht klug, du dummer Junge. – Und nun grüß alle zu Haus. Auch Klara Toll. Und bring uns bald wieder was Gutes zu essen. Hörst du?«

»Ja, gern, Lining,« sprach der Schiffer vor sich hin, während er noch halb befangen die Treppen hinuntertappte. »Und wenn du mir's erlaubst, dann komm' ich auch bald wieder; aber – aber –«

Damit blieb er vor dem Hause stehen und sah noch lange bekümmert zu dem Fenster hinauf, an dessen Scheiben sich so silberne Eisblumen rankten und hinter welchem die Hyazinthen so süß geduftet hatten.

»Ja, ja,« seufzte er endlich aus seinem Traum tief auf: »Das is auch nichts anderes als so 'ne untergegangene Stadt aus den Kinderjahren. Ja, ja – aber will man nach Haus gehn.«


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