Georg Engel
Hann Klüth
Georg Engel

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XI

Zur selben Zeit saß Line im Hemd auf ihrem Bette.

Die nackten Füße ließ sie hinabhängen, die Hände hielt sie auf dem Schoß krampfhaft ineinandergefaltet, und so bohrte sie ihren Blick unverrückbar auf die nahe Bretterwand des Verschlages, als wäre dort in der Schwärze irgendeine helle Stelle und sie vermöchte auf ihr etwas Merkwürdiges zu erspähen. Sie fror nicht, sie zitterte nicht, aufgerichtet und mäuschenstill hockte sie, und alle ihre Gedanken schienen sich wie Pfeile in ein einziges Ziel einzuspießen.

Endlich seufzte sie tief auf, griff nach dem Stuhl, auf dem ein Lichtstümpfchen stand, und entzündete es. Behutsam hielt sie die Hand vor das Flämmchen, so daß ihre Finger wie in Blut getaucht erschienen, und schlich dann verstohlen mit ihren nackten Füßen in die Ecke hinter dem Bett, in der eine ehemalige Zuckerkiste stand.

In diesem Behälter wühlte Line heftig herum. Bald holte sie ein paar alte Bücher und einige vollgeschriebene Schreibhefte heraus, bald blätterte sie emsig in einem zerrissenen Volksschulatlas, immer erregt dazu murmelnd und buchstabierend. Zum Schluß band sie um alles einen Bindfaden und schlug leicht mit der Faust auf das Päckchen, als hätte sie einen festen Entschluß gefaßt.

Den Atlas aber behielt sie bei sich, eng an den Leib gedrückt. Und als sie ins Bett huschte, legte sie die verstreuten Blätter erst sorgfältig unter ihr Kopfkissen.

Licht aus.

Still lag sie da, lang ausgestreckt, die großen Augen weit offen, nur ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten, daß sie lebe.


»Das ist ein ekliger Qualm,« hustete Siebenbrod und spie ein paarmal aus, »pfui Deibel.«

»Ja, das is, wie wenn Satans Großmutter verbrannte Milch auf die Erde gießt,« brummte oll Kusemann, dessen Konturen ebenfalls zuweilen durch den weißen Brodem sichtbar wurden. Manchmal schien es auch, als tanzten die Köpfe von Malljohann und Frau Dörthe Petersen um ein paar Pferdeschnauzen herum, doch alles verschwand gleich wieder hinter dem feuchten, bleiernen Linnen.

Da brummten Glockenschläge aus der Höhe, und durch die Nebel ging ein Zittern.

Acht Uhr.

Die Equipagenpferde des Konsuls wieherten laut und durchdringend.

»Mudding – nu mach fix,« mahnte Siebenbrod. »Nu mußt du die Hände von Bruno und Paulen loslassen.«

Doch die kleine, stille Frau konnte sich noch nicht trennen. Immer wieder griff sie nach den Fingern ihrer beiden Ältesten, die nebeneinander auf dem leichten Korbwagen saßen, und nur die milchigen Gespinste verhinderten, daß nicht alle bemerkten, wie dicke, schwere Tränen über die Wangen der Witwe rollten.

»Mudding,« drängte Siebenbrod, »die Pferde friert.«

»Wo ist Hann?« fragte des Studenten harte Stimme.

»Und wo Lining?« beeiferte sich oll Kusemann ironisch hinzuzusetzen.

Zur Seite des Wagens, dicht unter dem Bollwerk knirschte etwas. Dort hatte Hann bis jetzt in seinem festgebundenen Boot gesessen und schwerfällig in sich hineingesonnen. Viel, viel lieber wäre er hinter der dicken Nebelwand versteckt geblieben, als jetzt seinem Bruder Bruno die Hand zu reichen, gegen den er seit gestern so Schweres auf dem Herzen trug. Doch auf den Ruf des Theologen trottete er folgsam heran.

»Adieu, Hann,« sagte der Student, während er ihm rasch über das Haar fuhr, »achte auf das Grab von Vater – versprich mir das.«

»Ja, ja – Pauling,« heulte Hann los.

»Adieu, Hann,« verabschiedete sich jetzt auch der andere, »bleib gesund und besuch mich bald mal – hörst du?« Er reichte ihm zögernd die Hände.

Der Schifferjunge drückte sie aus Leibeskräften. In seiner Rührung hatte er längst den Groll vergessen. »Bleib immer gut zu Weg, Bruno – immer gut zu Wege.«

»Du auch.«

»Aber wo ist Line?« schrie oll Kusemann dazwischen, der seine Tänzerin durchaus dabei haben wollte.

Keiner wußte es.

Nur Malljohann, der zuweilen etwas sah, was kein anderer bemerkte, stand unaufhörlich in seiner schlotternden Haltung da und glotzte schweigend und mit dem breiten Maul merkwürdige Kaubewegungen ausführend nach dem kleinen, kreisrunden Giebelfenster. Und je mehr die andern riefen, und je lauter sie sich wunderten, desto deutlicher erkannte Malljohann mit grinsendem Behagen, wie dort oben aus dem dunklen Kreise der Kinderkopf unbeweglich durch die Milchnebel hindurchsah.

»Hüh!« rief der Kutscher.

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, laut knackten die Räder in dem feuchten Lehmboden.

»Adschö, meine lieben Kinder,« rief die Mutter mit erhöhter Stimme.

In einer Sekunde hatte das weiße Nichts das Gefährt verschlungen. Das Rollen allein tönte noch heraus und nach diesem sich verlierenden Geräusch bog Line weit, weit den schlanken Leib aus der Bodenluke, bis sie fast auf den qualmenden Kissen zu ruhen schien. Die Hand warf sich vor, ihre Finger bogen sich, als wollte sie nach etwas Verlorenem greifen.

Alle gingen sie darauf ihren gewohnten Tagesbeschäftigungen nach. Malljohann spielte die Handharmonika, oll Kusemann verzog sich in die Wärterhütte, Siebenbrod flickte in der Küche an einem Segel, und Hann saß mit dumpfem Kopf und schweren Gedanken in seinem verankerten Boot, wo er ein Brettchen an eine der Schiffsrippen zu schlagen hatte.

Über alle aber warf der Nebel seine dichten wallenden Decken. So kam es auch, daß niemand wahrnahm, wie Line mit dem Bündel, das sie in der Nacht verschnürt, vorsichtig aus dem Hause witschte.

Geradeswegs ging sie in das Pfarrhaus, das neben dem Kirchhof lag. Und als der geschäftige winzige Pastor, der gerade mit seiner korpulenten Frau auf dem rot gepflasterten Flur damit beschäftigt war, ein Fäßchen Malaga abzuziehen, als der muntere, weinlustige Herr ihr vergnügt die Haare kraute und sich nach ihrem Begehren erkundigte, da streckte sie ihm wortlos, jedoch mit einer wilden Bewegung und klopfendem Herzen, das Bündel Bücher entgegen.

»Ich will was lernen.«

»Hm,« murmelte der Pastor und sah verdutzt von der Kleinen auf den Käse, den er gerade zum Abprobieren in der Hand hielt, »ach so – ja, ja – hm, hm.«

Und dann reichte er ihr auf jeden Fall ein Glas von dem goldbraunen, spiegelnden Malaga.

Ende des ersten Buches


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